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BENEDIKT SCHWAN

Ohnekind

Männlich, Kinderwunsch, steril

Was es heißt,
zeugungsunfähig zu sein

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Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Martina Eisele Design unter Verwendung von Bigstock (MacroOne)
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-24617-4
V002


www.heyne.de

In Liebe für E.

Inhalt

1 Kinderwunschzentrum

2 Lagebericht

3 Azoospermie

4 Das Weltproblem

5 Schicksal

6 Kanada: Der Übervater

7 Die Jugend

8 Norwegen: Ein Land zum Kinderkriegen

9 Paartherapie

10 Adoption

11 Die Zukunft

12 Japan: Das aussterbende Land

13 Israel: Vatersein

14 Wissenschaft

15 Hilfe holen

16 Amerika: Besuch beim Erfinder

17 Psychologie

18 Entscheidungsfindung

19 Was zu tun ist

20 Cliffhanger

Literatur und Links

Danksagung

Für einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft.
Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit.

Moses Baruch Auerbacher

1 Kinderwunschzentrum

Beim Arzt.

»Wo bin ich hier nur hingeraten!«, rufe ich leise in den Raum, aber niemand antwortet. In mir macht sich ein Gefühl der Ohnmacht breit. Obwohl die Wichskabinen im Kinderwunschzentrum eigentlich ganz gemütlich aussehen.

Es liegen vor mir, gleich hinter der Tür: ein Halbsofa aus schwarzem Kunstleder, auf dem mit nicht zu unterschätzendem Geschick eine kratzige Papierfolie drapiert ist, an der ich mir später die Finger abwischen werde; eine mit einer Kunststoffwand abgetrennte Wasch- und Toilettennische mit Pissoir einer renommierten deutschen Sanitärmarke, denn dieser Raum ist nur für Männer gedacht; ein mit rustikalem Holz umbauter Heizkörper, der leicht muffige Luft ausdampft. Hinter der Sitzgelegenheit befindet sich schließlich noch ein starr gekipptes Fenster, das ich mit viel Mühe geschlossen bekomme, denn Straßengeräusche kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Der DVD-Spieler will nicht so recht. Die erste Bildplatte, die anläuft, ist ein Porno mit einer unansehnlichen blonden Frau. Mein Penis kann damit wenig bis nichts anfangen, weshalb ich die DVD wechsle. Die Auswahl ist beschränkt. Ich finde nur noch einen offenbar aus Brasilien stammenden Streifen vor, mit mehreren Frauen mit Ballon-Popos auf dem Cover, die sich einträchtig vor einem Mann in schwarzem Muskelshirt niedergekniet haben. Okay, damit kann ich arbeiten. Eine Cybersex-Sitzung via FaceTime hatte zuvor meine Frau dankend abgelehnt, was ich ihr wegen der aktuellen Uhrzeit nicht verdenke – es ist kurz nach acht. »Da musst du leider alleine durch«, hatte sie lachend gesagt.

Es will mir einfach nicht gelingen, die DVD einzuschieben. Die alte kommt zwar heraus, doch die neue will nicht hinein. Das Slot-In-Laufwerk spuckt sie immer wieder aus. Mit freiem Unterleib, minimal erigiertem Penis und einer Hose unter den Kniekehlen versuche ich, die Scheibe zu reinigen, sie wurde vermutlich von Hunderten meiner Leidensgenossen malträtiert. Schließlich und endlich läuft der Film an, und ich spule mich bis zu dem, was ich für die besten Szenen halte, vor. Nach einer guten Viertelstunde habe ich schließlich den Becher mit einigen Millilitern Sperma gefüllt.

»Normalerweise kommt bei mir mehr raus«, versuche ich die freundliche Schwester um die dreißig zum Lachen zu bringen, als ich den Raum verlasse und die Probe abgebe. Sie lächelt kurz und meint, das reiche doch für den Test dicke. »Na dann, allet schicki«, sage ich zum Abschied in einem Berlinerisch, das meine Frau für imitiert hält.

Der Warteraum des Kinderwunschzentrums, in dem ich einige Stunden später sitze, wirkt auf mich wie der traurigste umbaute Ort Berlins, Deutschlands, vielleicht Westeuropas. Zwei Stuhlreihen sitzen sich gegenüber, zum Fenster hin ist eine Ablage mit Broschüren und Zeitschriften, schlechtem Kaffee aus einem großen Thermobehälter und einigen Keksen angebracht.

Auf einem Bildschirm läuft Werbung für die Wundermethoden, die die Herren und Damen Doktoren hier offerieren. Ich lese etwas von sich nicht schnell genug bewegenden Spermien, denen man mit einer Art Erfolgsgarantie Beine machen zu können scheint. Es werden Details des menschlichen Fortpflanzungsapparats erklärt, die ich bisher weder kannte noch kennenlernen wollte. Probleme des Gebärmutterschleims haben mich zum Beispiel wirklich noch nie interessiert, doch das scheint sehr wichtig zu sein. Aber, so signalisieren die Fotos des lächelnden Ärzteteams und der Frauen und Männer mit glücklichen Kindern auf dem Schoß, die immer wieder eingeblendet werden: »Na dann, allet schicki.«

Während meiner rund einstündigen Wartezeit betreten immer wieder Paare den Raum, deren Gesichter eine merkwürdige Mischung aus Hoffnungsfreude und tiefer Müdigkeit kennzeichnet. Jeder einzelne dieser Menschen grüßt mich freundlich, als gehörten wir zu einer traurigen Schicksalsgemeinschaft. Ich sehe dich, sagen mir diese Blicke, und du siehst mich. Ich weiß, wie es mir geht, du weißt, wie es mir geht.

Manchmal komme ich mir etwas hochmütig vor, weil ich irgendwie das Gefühl habe, überhaupt nicht hierherzugehören. Ich brauche das nicht, ich will nicht einer von denen sein, die es nötig haben, am letzten Rockzipfel der Hoffnung zu hängen. Wenn es nicht geht, geht es halt nicht.

Zuletzt betritt noch eine Frau mit drei Kindern den Raum. Beinahe hätte ich laut gesagt, dass manche Menschen wohl nicht genug kriegen können. Ich habe es nur gedacht. Wer weiß, welche Umstände dafür gesorgt haben, dass sie heute auch hier im Kinderwunschzentrum ist.

Als ich schließlich dem Arzt gegenübersitze, merke ich, wie mich eine Schwere überkommt. Der Mann ist ein netter Kerl, etwas älter als ich.

Wir reden, was mir gefällt, über ein paar Filme aus seinem Fachgebiet, darunter das Genomik-Märchen Gattaca aus den Neunzigern, ein durchaus sehenswerter Science-Fiction-Film, der sich um eine gentechnisch kontrollierte, albtraumhafte Gesellschaft dreht.

»Wenn wir nicht aufpassen, kommen wir da hin«, bemerkt er. Dann zaubert er mein Spermiogramm auf seinen Flachbildschirm. Federnd bewegt der Arzt seinen Zeigefinger über das Trackpad.

»Ja, hmm«, sagt er dann und reibt sich nachdenklich das gut und glatt rasierte Kinn. »Es sieht so aus, als sei da nichts drin.«

Ich merke, wie das Blut in mein Gesicht schießt und sich mein Herzschlag beschleunigt. Ich berappele mich kurz und sage im besten mir möglichen Journalistenton, der normalerweise darauf ausgelegt ist, investigativ auf den Putz zu hauen: »Was meinen Sie damit?«

Der Arzt erklärt mir etwas von der Spermienentstehung in den Hoden, den dafür zuständigen Hormonen. »Laut unserer Ergebnisse aus den Bluttests versucht Ihr Körper Spermien zu produzieren, das ist so auch hormonell angezeigt. Das funktioniert aber nicht. Im Ejakulat sind keine Samenzellen nachzuweisen.«

Es folgt eine mir im Nachhinein nur noch schwer erinnerliche halbe Stunde, in der mir der Arzt die möglichen Gründe für meine Sterilität, also meine Unfruchtbarkeit beziehungsweise meine Zeugungsunfähigkeit, zu kommunizieren versucht. »Das ist mit großer Wahrscheinlichkeit genetisch bedingt.« Ich frage, ob es sein kann, dass ich schon seit meiner Geburt steril bin. Das sei durchaus möglich, erwidert er.

Zu diesem Zeitpunkt bin ich einundvierzig Jahre alt. Ich erinnere mich an die vielen Versuche des letzten halben Jahrs, meine Frau endlich schwanger zu bekommen – und die Jahre davor, in der mir auch noch nie ein Treffer gelungen war, wenn auch zu jener Zeit dankenswerterweise.

Als Nächstes kommt eine Erläuterung der möglichen Prozeduren, mit denen man meiner Unzulänglichkeit abhelfen könnte. Mir werden Begrifflichkeiten an den Kopf geworfen, die ich noch nie gehört habe. »Wir haben da einen sehr guten Urologen«, sagt der Arzt. »Es wäre natürlich alles unter Vollnarkose.«

Wie er mir, der übrigens ausgebildeter Frauenarzt ist, weiter erläutert, ist es möglich, aus den Hoden operativ Spermien zu entnehmen, sollten diese denn überhaupt vorhanden sein. Die Chancen dafür stünden gar nicht so schlecht. Anschließend würden diese Spermien auf ihre Lebensfähigkeit geprüft, und es folge dann nach Eientnahme bei der Frau eine Befruchtung im Reagenzglas. Wir verabschieden uns, und er wünscht mir alles Gute, zum nächsten Besuch solle ich doch meine Frau mitbringen. Als ich in der Kühle dieses Wintertags auf der Straße stehe, fühlt sich alles taub an.

Wasserschaden.

Mir hat ein äußerst kluger und wirklich gut aussehender Sanierungshandwerker aus Berlin-Pankow – fein gezwirbelter Schnurrbart, Blaumann, selbst nach zwanzig Minuten intensiver chemischer Schimmelreinigung noch knitterfreier als viele meiner eigenen Polohemden – einmal erklärt, dass es für ein Gebäude nichts Schlimmeres gibt als Wasser. »Es greift die Substanz an. Übler ist nur noch, wenn Ihnen die Hütte abbrennt.«

Einige Monate nach meinem Besuch im Kinderwunschzentrum – ich habe das Problem, wie es meine mental-gesundheitlich unsinnvolle Art ist, zunächst in den hintersten Winkel meines Kopfs geschoben – zeigt mein iPhone beim Klingeln eine mir äußerst unangenehme Nummer. Es ist der Hausmeister unserer Wohnanlage in Berlin-Mitte, wo sich auch mein Büro befindet. Wenn der anruft, ist irgendetwas Schlimmes passiert. Er käme niemals auf die Idee, nur einmal kurz zu plauschen oder eine positive Nachricht per Sprachtelefonie zu übermitteln, obwohl ich ihm doch erst kürzlich ein hübsches Trinkgeld gegeben hatte. Freundliche Konversation macht er nach alter Berliner Tradition nur persönlich, wenn überhaupt.

Ohne auch nur ein halbwegs dahingemurmeltes »Hallo, wie geht’s Ihnen denn so?« fällt er mit der Tür ins Haus, beziehungsweise mit dem Spülmaschinenschlauch meines Nachbarn ein Stockwerk über mir in die Küche meines Büros. »Sie haben einen Wasserschaden an der Decke.« Und in der Kammer tropfe es wohl auch.

Man kann das Gefühl, das einen überfällt, wenn man das eigene Hab und Gut bedroht sieht, kaum beschreiben. Als ich Bilder vom letzten Hurrikan in New Orleans gesehen habe, mit all den Leuten, die ihre Habseligkeiten vor dem Wasser zu retten versuchten, kamen mir die Tränen. Nun glaube ich, mich bereits in einer ähnlichen Problemlage zu befinden. Der Hausmeister macht am Telefon keine Anstalten, mich in meiner Panik zu beruhigen. Wasser ist da, kann nirgendwohin und will durch das durch, was mir gehört.

Als ich im Büro eintreffe, zeigt sich, dass die Situation nicht ganz so dunkel ist, wie es der Hausmeister mit seiner Grabesstimme intoniert hatte. Ja, in der Küche gibt es Flecken, ja, im Abstellraum tropft es von der Decke. Aber die Hauptlast des Schadens – dem Nachbarn über mir war in der Tat der Heißwasserschlauch seiner Spülmaschine geplatzt, während er den Schlaf der Gerechten schlief – traf das Buchhaltungsbüro unter mir. Als ich die Hauptmieterin dort später besuche, guckt sie mich sauer an, dabei war mein Büro ja nur eine Art Wasserweiterleitung und wir gänzlich unschuldig. Dem Haus hier wird anscheinend zu wenig Pflege zuteil, das betrifft auch die Wartung von Küchenschläuchen samt angeschlossener Armaturen, für die sich niemand zuständig fühlt.

Als die von unserer Hausverwaltung aktivierte Handwerkerfirma schließlich eintrifft, um den Schaden zu begutachten und erste Gegenmaßnahmen einzuleiten, stellt auch diese fest, dass ein Großteil des Wassers direkt ins Buchhaltungsbüro unter mir geflossen ist, während nahezu fast ein ganzer Eimer voll in der Deckenlampe steckt, die in meiner Abstellkammer hängt. Die teure Designerdeckenlampe, die ich dort angebracht habe, ist zwar für Feuchträume geeignet, aber das hier ist schon eine beachtliche Leistung. Ein später herbeigerufener Elektriker mit freundlich schlesischem Akzent kann seinen Respekt nur schwer verbergen: Das Ding hat den Wasserschaden glatt überstanden, ohne dass auch nur eine Sicherung herausgefallen wäre. Die Lampe ist also weiterhin einsatzbereit. Das waren offenkundig die besten 300 Euro, die ich in den letzten Jahren ausgegeben habe.

Am Abend nach der Wasserschadenmeldung höre ich unserem Hund beim Fressen zu. Mich besänftigt das Geräusch, wenn er sein Trockenfutter vertilgt. Es hat einen angenehmen, fast sonoren Klang, wenn der kleine Dackel mampft. Man möchte dem zuhören wie ein Baby der Atmung seiner Mutter.

Entsprechend beruhigt mich das von jeglichen Problemen der Menschheit befreite alltägliche Vorgehen unseres Vierbeiners, als ich mich in meinen schon leicht angestoßenen Sessel in unserer Wohnung fallen lasse und darüber nachzudenken beginne, warum mir das Schicksal so übel mitspielt. Karma? Habe ich irgendetwas wirklich Schlechtes in letzter Zeit getan, womit ich das hier verdient hätte?

Der Wasserschaden hat in mir auch die verdrängte Sterilität wieder an die Oberfläche gespült. Sie ist plötzlich wieder da wie ein die Geschwindigkeitsbegrenzung ignorierender 18-Tonner aus Litauen im Rückspiegel, der versucht, einen auf der Landstraße zu überholen.

Meine Frau hatte die Nachricht mit großer Gleichmut und geradezu liebevoller Stoa aufgenommen. Sie machte sogar den Scherz, dass sie ja dann keine Schuld treffe. »Ich werde alles tun, was ich tun muss«, sagte sie mit fester Stimme und schaute mir dabei direkt in die Augen, als ich sie nach dem Arztbesuch sah.

Seit zehn Jahren sind wir verheiratet. Sie ist der Mensch, der mich niemals nervt, wenn wir zusammen sind, dem ich alles, was in meiner Gedankenwelt vorkommt, anvertrauen kann. Sie hat sich niemals an meinen Stimmungsschwankungen, meinen Frisuren-Experimenten – mit neununddreißig musste ich mir unbedingt noch einmal beweisen, dass ich mir lange Haare wachsen lassen kann – oder meinem manchmal doch sehr distinguierten Garderobengeschmack gestört. Oder an meinen Gewichtsschwankungen.

Jegliche kreative Idee, die ich jemals hatte, hat sie mit nie weniger als vollstem Enthusiasmus mit mir geteilt. Es gibt keinen Menschen, der mehr an mich glaubt.

Ich weiß, welch unendliches Glück ich mit ihr habe. Trotz aller beziehungsimmanenten Streitigkeiten, die man nun mal hat, wenn man zusammenlebt, und die sich oft genug aus meinem eigenen Egoismus und dem Drang, meine Umgebung in einen unmenschlichen Perfektionismus zu zwingen, speisen.

Ich habe ihr immer gesagt, dass, sollten wir uns jemals trennen, ich ihrer Nachfolgerin kein leichtes Leben machen werde, weil ich weiß, dass es nichts Besseres geben kann als das, was ich mit ihr habe.

Kinder, Kinder.

Ich habe Kinder immer gemocht und wollte immer welche, zumindest »irgendwann«. Auch wenn ich lange Zeit nie verstanden hatte, wie es Menschen schaffen konnten, derart viel Verantwortung für ein anderes, noch von ihnen abstammendes Geschöpf zu übernehmen. Ich musste stets an meine eigene Kindheit und mein eigenes Leiden in dieser denken. Mich ergriff die Angst, dass ich womöglich die gleichen Fehler machen würde, die ich meinen Eltern später einmal vorgeworfen habe.

Mit zunehmendem Alter wurde mir aber immer stärker bewusst, dass ich im Zusammenhang mit Kindern etwas tue, für das Briten und Amerikaner das wunderbare Verb »to overthink« gefunden haben. Ich grübele zu viel, denke zu viel nach, mache mir viel zu viele Sorgen. Wären alle Menschen so wie ich, wäre die menschliche Rasse längst ausgestorben. Das dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum sich mein Kinderwunsch so spät entwickelt hat. Aufseiten meiner Frau waren Kinder ebenfalls lange kein Thema, weil sie sich Ausbildung und Karriere gewidmet hat.

Zudem habe ich erst mit etwa fünfunddreißig begriffen, dass Väter und Mütter fehlbar sind, ja fehlbar sein müssen. Mit meinem Vater verbindet mich seitdem ein tiefes Band des Verstehens. Trotz der Probleme, die wir miteinander hatten, bemüht er sich ernstlich um eine gute Verbindung – heute vielleicht sogar mehr als früher – , und hat mir stets das Gefühl gegeben, dass er mich liebt und hinter mir steht. Meiner Mutter verdanke ich einen Perfektheitsanspruch, der mich in meinem Berufsleben immer weitergebracht hat, und dank ihr weiß ich, was Herzensgüte und schöpferische Selbstaufgabe sind. Entsprechend scheine ich also nicht ganz so schlecht aufgewachsen zu sein, auch wenn ich dies früher niemals zugegeben hätte.

Wie würden meine Kinder wohl aussehen? Meine Zähne sind zwar gesund, aber könnten weißer sein. Meine Augen stehen laut Aussagen einer Optikerin ziemlich eng beieinander. Ich mag mein Doppelkinn nicht, wenn ich meinen Bart abnehme. Ich weiß, dass das alles kindisch ist, aber solcherlei Nabelschau vergeht offenbar nie.

Ich stelle mir in meinen Träumen einen Sohn vor, der die gleichen dunklen braunen Augen hat wie ich (oder die blauen meiner Frau) in Kombination mit dunkel- bis mittelblondem Haar, wie es mir vergönnt ist (mit mittlerweile einigen grauen Ecken am Rand). Wahrscheinlich würde er in den Zwanzigern seine Haare verlieren, wie dies bei meinem Vater der Fall war – die Schwan’sche Glatze scheint stets eine Generation zu überspringen.

Ich bin kein Mann für Selbstmord. Okay, es kommt vor, dass ich beim Ringen mit einem Redakteur, der mich gerade zur Weißglut treibt, scherzhaft zu meiner Frau sage, dass ich jetzt ins Meer gehe, wenn wir gerade in Norwegen sind, das wir vor Jahren aus Liebe zum Wetter und der Landschaft zu unserem Zweitwohnsitz erkoren haben. Aber wegen so etwas wie Sterilität? Das Schlimmste an der Situation ist, dass sie so furchtbar real ist. Ich kann sie nicht schließen wie ein E-Mail- oder Chat-Fenster oder an den Anrufbeantworter weiterleiten wie ein unerwünschtes Telefonat.

Es ist mein körperlicher Zustand, mein Defekt, meine Unvollkommenheit, mein Mangel. Und besonders idiotisch ist, dass ich sie jetzt erst, mit einundvierzig, erfahre – oder besser: zur Kenntnis nehme. Wie entfernt kann man vom realen Leben sein, dass man glaubt, in diesem Alter überhaupt noch Kinder bekommen zu wollen? Ich wäre fast sechzig, wenn mein erstes Kind auf die Universität ginge.

Ein Nachbar in Norwegen, ein zupackender schwedischer Tunnelbauer, hat mir gegenüber einmal angedeutet, er beneide mich darum, keine Kinder zu haben. Er selbst habe die ersten zu früh bekommen und eigentlich gegen seinen Willen, die späteren scheinen dann ein Bonus gewesen zu sein. Die Art, derart locker mit Nachwuchs umzugehen, ging mir immer ab. Und jetzt ist meine Situation im biblischen Sinn voll im Eimer. Ich gehe nicht hin und vermehre mich. Ich beende die genetische Reihe mit mir. Das mag selbstbestimmt klingen, ist aber schlicht und ergreifend evolutionsbiologisch selbstmörderisch.

Wenn ich Eltern mit Kindern auf der Straße sehe, empfinde ich in letzter Zeit eine Art Neid und eine Wut auf mich, dass mir das bislang nicht gelungen ist. Wie schwer kann es sein? Bei mir – sehr.

Es ist natürlich auch eine Form von Idealisierung, die viele von uns betreiben. Kinder dienen, das kann man in den Hipster-Kiezen Berlins, Hamburgs und Münchens leider direkt so beobachten, der Perfektionierung des Selbst, scheinen neben schickem Auto, schicker Wohnung und schickem Job das Stück vom perfekten Leben zu sein, das vielen meiner Generation noch fehlt. Es ist merkwürdig. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja auch »Glück« gehabt. Was ist zum Beispiel, wenn das Kind nicht so »ausfällt«, wie man es sich gewünscht hat? Ich habe mal eine Forschereinschätzung gelesen, laut der rund ein Prozent aller Kinder soziopathische Züge tragen. Das ist erstaunlicherweise ungefähr – je nachdem, welche Statistik da wieder wer auch immer gefälscht hat – genauso viel, wie es Nachwuchs mit bipolaren Störungen oder Autismus gibt, auch wenn Letzterer in den Medien mittlerweile signifikant überrepräsentiert ist. Soziopathische Kinder können keine Empathie empfinden – und, was noch schlimmer ist, suchen den Nervenkitzel und lassen ihrer Wut freien Lauf. Die Vorstellung, dass ein Vierjähriger mit einem Messer neben dem Bett seiner Eltern steht, um sie abzustechen, ist in diesem Zusammenhang Realität. Klingt nach Horrorfilm, kann aber passieren und passiert, wie ich in einem US-amerikanischen Magazin gelesen habe. Oder was wäre, wenn das Kind behindert ist? In unserem Alter, wir sind beide Anfang vierzig, ist das kein zu gering einzuschätzendes Risiko.

Aber das alles sind rein oberflächliche Gedanken. Erst wenn man selbst zum Elternteil geworden ist, kann man überhaupt einschätzen, auf was man sich da eingelassen hat. Mein bester Freund Tim, etwas älter als ich, holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück, als ich mit ihm seine Tochter abholen gehe. Es ist schön, es ist nervig, es ist – normal, meint er. Doch genau diese Normalität geht mir ab. Was soll mir das sagen?

Der Beginn meiner Reise.

Das ist es vielleicht, was ich mit diesem Buch herausfinden will. Aber es ist noch viel mehr. Es ist der Versuch, mir selbst klarzuwerden, was ich überhaupt möchte, und zu lernen, mit meinem Zustand zurechtzukommen. Auf der abenteuerlichen Reise, zu der meine Recherche schnell werden wird, werde ich viele unterschiedliche Blickwinkel kennenlernen. Schnell wird mir klar, dass es nicht nur um meine persönliche Sterilität geht oder um das Schicksal anderer Männer, die ebenfalls betroffen sind. Ich werde ein soziales Problem kennenlernen, das dafür sorgen könnte, dass ganze Gesellschaften auseinanderbrechen.

Ich werde mir in Japan ansehen, wie sich ein aussterbendes Land anfühlt, und in Kanada, was es heißt, als Mann bald 150 Kinder gezeugt zu haben. In Israel werde ich auf einen Forscher treffen, der sich um die Zukunft der Menschheit sorgt und dabei vor allem auch ein Vater ist. In Münster lerne ich erste Ansätze kennen, mit meinem eigenen medizinischen Problem ganz konkret umzugehen. In Norwegen wird mir vorgeführt, wie eine wirklich kinderfreundliche Gesellschaft aussehen könnte, und in Berlin erfahre ich, ob eine Adoption für uns eine Alternative sein kann.

Mir schießen viele Sachen durch den Kopf. Wie kommt es, dass wir immer weniger Kinder kriegen? Was können wir dagegen tun? Wie viel sollten wir dagegen tun? Wie gehen andere Männer mit ihrer Sterilität um? Wie halten sie diesen Druck aus? Und was empfinden ihre Partner dabei? Das alles sind Fragen, auf die ich Antworten finden möchte. Auch auf die, ob man als steriler Mann noch ein »vollwertiger Mann« ist. Erwidert man hierauf mit einem Nein, hat man bereits den Grund dafür, warum wir männliche Unfruchtbarkeit so dermaßen tabuisieren. Dieses Tabu will ich aufbrechen.

Und eines noch vorab: Ich will niemandem vorschreiben, schnell ins nächste Bett zu springen und jetzt, gleich, sofort zwingend Kinder zu haben, weil es bei ihm oder ihr geht. Es gibt genügend Menschen, die ein Leben ohne Kinder als eine durchaus sinnvolle Existenz erachten und das auch im gesellschaftlichen Kontext für gut und okay halten. Allerdings sollte man sich aus der Perspektive einer Person, die Kinder haben kann, sich aber gegen welche entscheidet, auch mit Menschen beschäftigen, die unfruchtbar sind und das womöglich ihr Leben lang bleiben. Es könnte eine Motivation sein, Chancen zu ergreifen, die es vielleicht nur in diesem einen Leben gibt. Man soll ja schließlich nicht gelebt haben, als habe man etwas zu bereuen.

2 Lagebericht

Mein Leben, dein Leben.

Wie kommt man als Mann erst mit Ende dreißig, Anfang vierzig auf die Idee, ein Kind zeugen zu wollen? Nun, ganz so spät war ich dann doch nicht dran. Meine Eltern waren beide fünfunddreißig, als ich geboren wurde, für die Siebzigerjahre ein erstaunlich später Zeitpunkt. Bei meiner Schwester, meiner einzigen, waren sie auch nur drei Jahre jünger.

Wir haben uns also, nachdem wir mit dreißig (ich) beziehungsweise neunundzwanzig (meine Frau) geheiratet hatten, zunächst etwas Zeit gelassen. So macht man das heute ja gerne. Wir waren jung, hatten ein ausreichend schönes Leben, mochten unsere Freiheit, mussten uns einrichten in der Hauptstadt, in der weiteren Familie und im Zusammensein an sich. Es gab genug zu tun, daneben interessante Reisen, etwas später kam der Hund dazu, der unser Bedürfnis nach Verantwortung für ein drittes Lebewesen anfangs mehr als ausreichend deckte.

Dabei blieb mir immer diese Zahl Fünfunddreißig im Kopf, mit der ich spätestens Kinder haben wollte, weil das bei mir in der Familie doch ganz gut geklappt hatte. Es ist ein spätes Alter, Kinder zu bekommen, wie ich heute finde, aber eben kein wirklich zu spätes.

Das wird einem auch klar, wenn man den Geburtsanzeiger in einer der großen Berliner Tageszeitungen durchgeht. Sind die Frauen deutscher Herkunft, ist ein Alter von fünfunddreißig plus fast der Normalfall. Doch wie das Leben so spielt: Selbst mit der Fünfunddreißig wurde es bei uns nichts. Es kam nicht dazu. Weder wurden wir auf zufälligem Wege schwanger (passiert ja manchmal, selbst wenn man verhütet), noch nach ersten »richtigen« Versuchen. Zumal wir uns beide immer noch nicht so klar waren, ob wir wirklich wollten, dass sich unser in vergleichsweise ruhigen Bahnen verlaufendes Leben verändert.

Einen Plan hatte ich in meinem Kopf jedoch bereits entwickelt. Ich hätte mein Kind vermutlich in Norwegen aufwachsen lassen, damit es die Natur, das Meer und den Wind stets im Herzen trägt. Es wäre sicherlich auch oft genug mit der Großstadt (also mit Berlin) konfrontiert worden. Doch die Chance, in einer Eigenheimidylle groß zu werden, wollte ich ihm nicht nehmen.

Das hatte ich als Akademikerkind selbst erlebt, das war gut und kindgerecht. So sind die notwendigen Freiheitsgrade erlernbar, und man entwickelt eine starke Persönlichkeit.

Meine Frau gehört nicht zu jenen Angehörigen ihres Geschlechts, die ständig das Gefühl haben, dass bei ihnen die innere Uhr tickt, was den Nachwuchs betrifft. Sie mag und liebt Kinder, und es wird ihr warm ums Herz, wenn sie welche sieht. Aber sie hätte mich niemals verlassen, wenn ich gar keine Kinder gewollt hätte.

Daher gab es von ihrer Seite auch keinen Druck, wir wollten uns beide nicht stressen, das Berufsleben war schon anstrengend genug. So gingen die Jahre ins Land. Meine Dreißiger kommen mir jetzt noch vor wie im Zeitraffer. In Sachen Familiengründung tat sich zunächst nichts. Bis wir dann doch wollten – und nicht konnten. Dann kam jener schicksalhafte Tag im Dezember 2016, als mir ein netter und freundlicher Arzt möglichst nett und freundlich zu erklären versuchte, dass in meinem verdammten Ejakulat kein verdammtes Sperma enthalten ist. Warum und weshalb? So genau konnten mir das die Ärzte bisher nicht sagen. Manchmal ist dieser Zustand schlicht vererbt.

Die ultimative Verantwortung.

Als ich einem Bekannten, der selbst mehrere Kinder hat, von meiner Sterilität erzähle, reagiert er anders, als ich das erwartet hätte. Er sagt: »Das ist schlimm, aber sei auch froh.« Er erzählt vom Stress mit seiner Frau, vom Ärger mit den Kindern in Kindergarten oder Schule, von einem Leben, das augenscheinlich nicht beneidenswert ist. Er hat diesen müden Blick eines echten Erwachsenen in den Augen, der auch Elternteil ist. Einen Blick, den ich bei Kollegen bis zu diesem Zeitpunkt gerne ignoriert, ja manchmal leider entnervt wahrgenommen hatte, weil er dann faktisch bedeutete, dass ich vermutlich mehr arbeiten musste. Schließlich hatte ich keine Kinder.

Aber ich habe ja auch keine Ahnung. Ich habe nie eine Nacht mitgemacht, in der das Kind krank im Bett liegt und man zitternd immer und immer wieder übers Handy versucht, den Kinderarzt zu erreichen und sich aufgrund des steigenden Fiebers dabei ertappt, die Nummer des Notrufs ins Display zu tippen, weil jetzt endlich etwas passieren muss.

Ich habe nie erlebt, wie es sich anfühlt, wenn das Kind sich auf dem Spielplatz sein Knie aufschlägt, für seinen kleinen Körper nicht zu ertragende Schmerzen erleidet und nach dem beruhigenden Blick eines Elternteils sucht, der sofort alles so viel besser macht.

Ich habe keine Nächte durchgemacht, in denen das Baby nicht einschläft, obwohl ich am nächsten Morgen dringend um Punkt 6:30 Uhr an die Arbeit muss. Ich habe nie mit einem Kind am Esstisch gesessen und versucht, es dazu zu motivieren, endlich einen Bissen des dämlichen Gemüses herunterzubekommen, wobei kein Flehen und Bitten und Betteln hilft. Ich habe nie einen Kindergeburtstag organisiert, Hilfe beim ersten Liebeskummer geleistet (mein Sohn wäre bereits in der ersten Schulklasse seiner ersten großen Liebe aus der 2a verfallen, da bin ich mir sicher), kaltschnäuzige Kindergärtnerinnen ausgeschimpft oder versucht, dem Kind beizubringen, was gut und gerecht ist in dieser Welt.

All das ist für mich die ultimative Verantwortung eines Menschen, das Einzige, was von ihm bleibt, wenn er stirbt. Im Judentum sagt man, dass jeder, der ein Kind bekommt, diesem Planeten eine neue Seele hinzufügt, die ein Wesen ist, das eine ganz neue Welt erschaffen kann. »Seid fruchtbar und mehret euch!«, das ist damit gemeint.

Und es stimmt: Wir alle sind Kinder unserer Mütter und Väter. Hätten sie sich nicht dazu entschlossen, eines Tages miteinander ins Bett zu hüpfen, wir wären nicht auf der Welt, wir wären keine neue Welt. Entsprechend sorgt meine Sterilität auch dafür, dass mit mir eine Linie unterbrochen wird. Das erfüllt mich mit tiefer Traurigkeit, selbst wenn ich mich (meistens) für nichts Besonderes halte. Aber die Mischung aus mir und meiner Frau hätte ich dann doch einmal gerne gesehen. Es wäre sicherlich eine sehr schöne geworden. Und sicherlich einzigartig.

Neid und Missgunst.

Wann ist es passiert, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der kinderlose Menschen beneidet werden, wie das mein erwähnter Bekannter, der Familienvater, zu tun scheint? Auch andere Menschen, mit denen ich Umgang habe, räumen diesen Umstand ein. Wie haben wir einen Zustand geschaffen, in dem Kinder gleichzeitig enorm viel Arbeit, Selbstverwirklichung, Stress, hohe Geldsummen und Lebenszeit zu kosten scheinen, anstatt einen Selbstzweck zu erfüllen, der darin besteht, überhaupt erst einmal in diesem Universum zu existieren?

In vielen sozialen Systemen, die nicht unseren modernen westlichen Vorstellungen entsprechen, ist Kinderreichtum ein Signal für Prosperität. Tatsächlich ist das auch bei gesellschaftlich hochrangig angesiedelten Menschen in Deutschland noch immer so, nicht nur wegen der Notwendigkeit vernünftiger, leiblicher Erben, sondern auch als Zeichen nach außen. Diese Familie hat eine ganz, ganz lange Zukunft vor sich, wird damit brüllend signalisiert, es gibt von uns einfach zu viele!

Man schaue sich nur zum Beispiel unsere derzeitige Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula Gertrud von der Leyen, geborene Albrecht, an. Sie ist quasi adelig von zwei Seiten her – politisch durch ihren Vater, den ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, genealogisch-hochherrschaftlich durch die Einheirat in das Krefelder Seidenwebergeschlecht Von der Leyen. Sie hat sage und schreibe sieben (!) Kinder geboren. Darunter waren zwar auch Zwillinge, aber mein Gott, das verlangt schon rein physiologisch Respekt.

Wie das praktisch familiär funktioniert, will und kann man sich kaum ausmalen. Aber es geht, funktioniert und ist Alltag. Mittlerweile ist von der Leyen einundsechzig, und alle sind aus dem Gröbsten raus, auf dass die Frau noch mal mächtig durchstarten kann.

Hat eine Doreen Z. aus Berlin-Marzahn hingegen mit fünfundzwanzig vier, fünf, gar sechs Kinder, würde man sie im Deutschland des Jahres 2019 ins Lager der aus dem gesellschaftlichen Konsens Gefallenen einsortieren. US-Amerikaner nennen das »White Trash«, wir, weniger poetisch, »asozial«.

Dabei ist es letztlich Doreen, die unseren Sozialstaat am Leben hält, und sei es nur, dass ihr Sohn Mirko Z. dafür sorgt, dass das deutsche Rentensystem nicht gleich übermorgen krachend in sich zusammenfällt – wegen seines Jobs als Polier auf der Baustelle des auch 2030 natürlich noch nicht fertiggestellten Berliner Zentralflughafens BER.

Doreen hat tagtäglich viel zu tun – gut, die Kinder versorgen sich mittlerweile bis auf die ganz Kleinen fast von selbst, aber bis es dazu gekommen ist, war es anstrengend – und sie übernimmt eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Sie tut das vermutlich zwar mit staatlicher Unterstützung, aber keineswegs auf Staatskosten. Dieser Staat – also wir alle – wird Gewinn mit Doreen machen.

Mein Leben sieht hingegen so aus: Ich erfreue mich weitestgehend an diesem, ohne mich auch nur einen Deut um Deutschlands rententechnische Zukunft zu scheren. Ich interessiere mich, wenn überhaupt, nur für meine eigene. Das ist schon recht egoistisch und etwas misslich, wenn ich einmal länger darüber nachdenke.

Und der Gewinner ist …

Vielleicht bin ich schlicht im falschen Lager und habe nicht die richtige ideologische Verbrämung für meine Sterilität. Hier ist echte Hardcore-Philosophie vonnöten.

Es gibt da beispielsweise die sogenannten Antinatalisten, Menschen also, die meinen, auf diesem Planeten existierten sowieso bereits viel zu viele Organismen der Spezies Homo sapiens. Und überhaupt sei es auch aus Umweltschutzgründen ethisch-philosophisch anzuraten, seine Gen-Linie hier und jetzt zu beenden. Kinder sollten besser nicht geboren werden, selbst wenn es ginge. Antinatalisten gewinnen also sozusagen freiwillig und jeden Tag den Darwin Award für die beste Idee, sich aus der Evolution zu katapultieren.

»Ein kompliziertes Wort für eine unkomplizierte Lebenshaltung: absichtlich ohne eigene Kinder zu leben, sich also bewusst nicht zu vermehren«, schreibt dazu Welt-Autor Dirk Schümer, der sich selbst als Teil dieser Bewegung zu sehen scheint. Ergo: Er findet laut eigenen Angaben kleine Kinder zwar »wundervoll«, jedoch »nur für die Minuten, die ich mit ihnen herumalbere«. Das ist eine Haltung, die man vielleicht nachvollziehen kann, wenn man einmal einen Atlantikflug neben einem schreienden Baby verbracht hat.

Mir fielen die Antinatalisten aufgrund einer krawallig vermarkteten Klappenbroschur auf, verfasst von der Gymnasiallehrerin Verena Brunschweiger. Kinderfrei statt kinderlos heißt das Buch und soll, so steht es zumindest auf dem Titelblatt, ein »Manifest« sein. Deutschland brauche, so Frau Brunschweiger, »eine echte Frauenpolitik, keine unreflektierte pronatalistische Bevölkerungspolitik«. Dieser Satz ist insofern lachhaft, als dass wir in Deutschland deutlich unter der Erhaltungsquote von 2,1 Kindern pro gebärfähiger Frau liegen und Familien- und Kinderkriegefreundlichkeit vonseiten der Politik zwar in Sonntagsreden beschworen, aber in den seltensten Fällen auch praktisch umgesetzt wird. In Berlin sorgte das beispielsweise dafür, dass Väter und Mütter zur Einführung des Elterngelds aufgrund überlasteter Behörden hochverzinsliche Kredite aufnehmen mussten, weil der Staat einfach nicht in der Lage war, ihren Antrag rechtzeitig zu bewilligen und ihnen das geschuldete Geld zu überweisen.

Die Antinatalistin Brunschweiger sorgte insbesondere mit der Aussage für Furore, dass, wer die Welt retten wolle – und hier insbesondere das Klima – , keine Kinder haben dürfe. »Schon 2007 bin ich auf einen Artikel einer New Yorker Autorin gestoßen, in dem es heißt: ›Kein Kind wegen der Umwelt.‹ Das fand ich cool«, so die Gymnasiallehrerin zur Redaktion der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine. Es gehe um den »Kampf für ein längeres Existieren dieser Erde, samt der Tiere, Pflanzen und Menschen, die sich schon darauf befinden«. Und das sei das »nobelste Engagement«, e-mailte Brunschweiger dem Focus.

Klingt daneben? Schauen wir mal in die Literatur. Laut Berechnungen der University of British Columbia (UBC) im kanadischen Vancouver entstehen durch ein Kind in den Industrieländern im Jahr rund 58,6 Tonnen CO2 in der Atmosphäre zusätzlich. Das gilt es einzusparen, glaubt Brunschweiger. Denn: Fährt man ein Jahr lang nicht mit dem Auto, sind nur 2,4 Tonnen Kohlendioxid nicht ausgestoßen worden.

Im Umkehrschluss könnte ich als steriler Mann, der erst mal nur ein Kind bekommen wollte, also eigentlich mit knapp vierundzwanzig Autos gleichzeitig herumgondeln. Damit hätte ich auch nur ein Siebtel des Klimagases ausgestoßen, als dies Ursula von der Leyens Kinderschar Jahr für Jahr tut. Donnerlittchen. Oder, um es mit dem Zeit-Autor Tobias Haberkorn zu sagen, der sich kürzlich mit dem Antinatalisten Théophile de Giraud beschäftigt hat: »Wer nicht geboren wird, hat keine Probleme.«

Das Problem ist, dass mein persönlicher Drang, mich zu vermehren, weiterhin überwiegt. Er ist immer mal wieder aus meinen Gedanken verschwunden, taucht dann aber mit Macht erneut auf. Ich verwette mein ganzes Hab und Gut, dass ich, sollte ich noch einmal überraschenderweise Kinder bekommen, ein typischer gestresster Vater wäre. Ich hätte Angst um mein Kind in dieser furchtbar merkwürdigen, mit allerlei idiotischem Digitalkram vollgepackten Gegenwart. Ich hätte Angst vor Umweltzerstörungen, die das Kind erwarten könnten, vor sozialen Auswüchsen, Krieg und Diktatur. Aber das wäre es alles wert, wie der Rabbiner und Gelehrte Mosche ben Maimon, genannt Maimonides, im 12. Jahrhundert im arabisch besetzten Spanien schrieb: Das Potenzial einer Person ist unendlich, und unendlich ist auch die Fähigkeit, mit all diesen Situationen umzugehen. »Das Risiko einer falschen Entscheidung ist dem Terror der Unentschlossenheit vorzuziehen«, soll von Maimonides überliefert sein. Da pfeif ich auf die 58,6 Tonnen CO2. Man hört ja auch nicht mit dem Bauen von Häusern auf, nur weil die Zementproduktion einer der größten Erzeuger von Klimagas überhaupt ist.

Während ich diese Zeilen schreibe, kommt unser Hund freundlich wedelnd um die Zimmerecke gebogen und fängt an mich anzubellen. Er will offenbar um diese nachtschlafende Zeit noch einmal kurz raus, um sich zu erleichtern. Ich erfülle ihm diesen Wunsch und frage mich beim Runtergehen, wie viel CO2 ein Vierbeiner wohl im Jahr so ausstößt.