Elisabeth Wagner
Praxisbuch Systemische Therapie
Vom Fallverständnis zum wirksamen psychotherapeutischen Handeln in klinischen Kontexten
Zu diesem Buch
Mit der nun auch in Deutschland vollzogenen Anerkennung der Systemischen Therapie als abrechenbares psychotherapeutisches Verfahren stellen sich für die klinische Praxis viele Fragen, z. B.:
Wie lassen sich typisch systemische Herangehensweisen wie z. B. Ziel- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext umsetzen?
Wie verstehen SystemikerInnen psychische Prozesse und wie gehen sie mit Diagnosestellungen um?
Das Buch widmet sich diesen grundsätzlichen Fragen in anschaulicher Weise und stellt in einem zweiten Teil die wichtigsten Interventionen vor, vom »systemischen Fragen« bis hin zu narrativen, visualisierenden und hypnosystemischen Techniken. Auch hier wird das Vorgehen anhand zahlreicher Fallvignetten erläutert.
Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.
Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:
www.klett-cotta.de/lebenlernen
Leben Lernen 313
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © istock/xefstock
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-89259-8
E-Book: ISBN 978-3-608-11610-6
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20452-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Systemische Konzepte haben sich in den letzten Jahrzehnten sowohl in therapeutischen wie auch in beraterischen Kontexten rasant verbreitet. Wo immer Menschen mit Menschen umgehen – von der Erziehungsberatung über die Jugendhilfe bis zur Organisationsentwicklung –, können sich systemische Ausbildungen über höchste Wachstumsraten erfreuen. Dass die Systemische Therapie in Deutschland erst 2008 als Richtlinienverfahren anerkannt wurde und erst im November 2018 die sozialrechtliche Anerkennung erlangte, tat der Attraktivität systemischer Weiterbildungen keinen Abbruch. Viele BeraterInnen und TherapeutInnen erkannten den Nutzen der systemischen Prinzipien von Ziel-, Ressourcen- und Auftragsorientierung. Das Denken in Wechselwirkungen, der Einbezug des sozialen Bezugssystems und ein breites Interventionsspektrum taten ein Übriges, um systemische Weiterbildungen für viele Professionen unverzichtbar zu machen.
Im Vergleich zu dieser dominanten Stellung im Bereich der Beratung konnten sich systemische Konzepte in Deutschland in der Psychiatrie bislang kaum durchsetzen. Nur wenige prominente VertreterInnen der Systemischen Therapie sind im psychiatrischen Kontext tätig. Vergleichsweise wenige FachärztInnen für Psychiatrie und psychologische PsychotherapeutInnen haben in Deutschland eine systemische Qualifikation. Dies könnte sich durch die nun erreichte sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie ändern.
In Österreich erfolgte im Unterschied dazu die wissenschaftliche und sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie bereits in den frühen Neunzigerjahren bald nach Inkrafttreten des Psychotherapiegesetzes. Systemische Therapieausbildungen mussten daher in Österreich von Anfang an zur Behandlung psychischer Störungen befähigen. Die Systemische Therapie ist zwar nur eine von 21 anerkannten Psychotherapiemethoden, ist jedoch unter den AbsolventInnen deutlich überrepräsentiert. Unter den aktuell in Ausbildung befindlichen PsychotherapeutInnen ist die Systemische Therapie sogar die am meisten nachgefragte Methode: Fast 15 % aller AusbildungskandidatInnen Österreichs befinden sich in einer systemischen Ausbildung, gefolgt von knapp 14% in personzentrierter Therapie und knapp 11 % in Verhaltenstherapie. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Systemische TherapeutInnen in Österreich seit Langem in diversen Gesundheitseinrichtungen tätig sind und auch in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung einen wesentlichen Beitrag leisten.
Als Lehrtherapeutin für Systemische Familientherapie bin ich in zwei Ausbildungskontexten tätig: Neben der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien, in der alle entsprechend dem österreichischen Psychotherapiegesetz zugelassenen Berufsgruppen, v. a. PsychologInnen, PädagogInnen und SozialarbeiterInnen, ihre Psychotherapieausbildung absolvieren können, leite ich seit 2008 auch systemische Lehrgänge im Rahmen der Akademie für Psychotherapeutische Medizin, in der ausschließlich ÄrztInnen psychosomatisch und psychotherapeutisch weitergebildet werden. Diese Kurse werden überwiegend von AssistenzärztInnen und FachärztInnen für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie absolviert, sodass in den letzten zehn Jahren ca. 40 % aller in Wien tätigen AssistenzärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin ihre psychotherapeutische Ausbildung in einem systemischen Curriculum absolvierten. Zumindest für Wien, in geringerem Ausmaß gilt das für ganz Österreich, ist damit systemisches Denken in der Psychiatrie mittelfristig gut verankert. Allerdings schien es mir speziell in diesem Ausbildungskontext nötig, bestimmte Positionen der Systemischen Therapie zu relativieren, um sie für klinische Kontexte anschlussfähig zu machen. Wenn im Rahmen des Gesundheitssystems krankheitswertige Störungen behandelt und abgerechnet werden – egal ob von ÄrztInnen, Klinischen PsychologInnen oder anderen PsychotherapeutInnen –, sind eine radikale Infragestellung des Krankheitsbegriffes, eine strikte Auftragsorientierung und eine enge Auslegung der Position des Nicht-Wissens (vgl. Goolishian et al. 1988), wie sie in vielen systemischen Lehrbüchern vertreten werden, wenig hilfreich.
Das Ziel meiner Ausbildungstätigkeit besteht darin, ein Verständnis von Systemischer Therapie zu vermitteln, das für die Nachbardisziplinen Psychiatrie und Klinische Psychologie anschlussfähig ist. Statt radikalem Konstruktivismus geht es mir um die Vermittlung einer »angemessen erkenntniskritischen Haltung«, statt radikalem Verzicht auf Konzepte, die psychische Prozesse erklären, versuche ich eine Konzeptualisierung derselben unter synergetischer Perspektive. Als wesentliches Kriterium für professionelles psychotherapeutisches Handeln betrachte ich die Fähigkeit, die psychischen und die sozialen Aspekte, die zur Aufrechterhaltung von Problemzuständen führen, angemessen erfassen und beschreiben und auf der Basis dieses »Fallverständnisses« das konkrete therapeutische Tun erklären zu können. Neben den interventionellen Kompetenzen ist dieses »professionelle Denken«, die Anwendung theoretischen psychotherapeutischen Wissens auf den konkreten Einzelfall, das wichtigste Ziel jeder systemischen Therapieausbildung.
Die Grundlagen dieses »professionellen Denkens« sollen durch das vorliegende Buch vermittelt werden: Die zentralen Prinzipien systemischen Denkens und Handelns werden zunächst theoretisch erklärt und dann fallbezogen erläutert. Das konkrete therapeutische Vorgehen wird anhand von Fallvignetten nachvollziehbar dargestellt. Zielgruppe sind alle Systemischen TherapeutInnen, die im Rahmen des Gesundheitswesens mit behandlungsbedürftigen psychischen Störungen konfrontiert sind.
Auch wenn der Fokus des »Praxisbuches Systemische Therapie« die Behandlung psychischer Störungen ist, bleibt das Verhältnis von Systemischer Therapie und Krankenbehandlung grundsätzlich reflexionsbedürftig: In den drei einführenden Kapiteln werden daher einige grundlegende Überlegungen zu Psychotherapie und psychotherapeutischer Medizin angestellt werden: Wie lernt man Psychotherapie? Ist Psychotherapie Krankenbehandlung? Wie wirkt Psychotherapie?
Darauf folgt eine ausführliche Darstellung dessen, was Systemische Therapie ausmacht. Aufgrund der hohen Binnendifferenzierung aller Therapiemethoden sind solche Festlegungen immer problematisch und nie ganz zutreffend – dennoch sollten sie »gewagt« werden, um gedanklich auf den Interventionsteil einzustimmen. Damit eine interventionsreiche Therapiemethode wie die Systemische Therapie nicht zur trivialisierenden Anwendung verführt, sollte das professionelle Denken – die Anwendung theoretischer Konzepte auf den konkreten Fall – gefördert werden. In den Kapiteln 5 und 6 wird daher ein weiterer Bogen gespannt: Welche Konzeptualisierung des Mentalen passt zur Systemischen Therapie und wie erklären sich Systemische TherapeutInnen psychische Störungen?
Auf der Basis dieser Überlegungen werden dann das Wirkverständnis Systemischer Therapie im psychiatrischen Kontext sowie systemische Konzepte in der stationären Psychiatrie überblicksmäßig dargestellt, bevor wir uns im Kapitel 9 einem zentralen Spannungsfeld zuwenden: Die im medizinischen Kontext selbstverständliche Expertenhaltung steht in einem deutlichen Gegensatz zu der für Systemische Therapie typischen Auftragsorientierung. Daher wird die für klinische Kontexte adäquate Auslegung von Auftragsorientierung und Expertenschaft zunächst ausführlich reflektiert, bevor in fünf Fallverlaufsdarstellungen die Prozesssteuerung zwischen ärztlicher und therapeutischer Identität konkret dargestellt wird.
In den nachfolgenden neun Kapiteln wird das typisch systemische Vorgehen praxisnah dargestellt: Es geht zunächst um die Realisierung der Ressourcenorientierung, die bei besonders ressourcenarmen Personen, die uns in klinischen Kontexten häufig begegnen, nicht so einfach zu realisieren ist. Besonders ausführlich wird die Hauptintervention der Systemischen Therapie, das Fragen, erläutert. Weitere Kapitel widmen sich den visualisierenden Verfahren, Aufgaben und Ritualen, narrativen Techniken, der Teilearbeit, der Nutzung von Bodenankern, hypnosystemischen und emotionsbasierten Interventionen. All diese Vorgehensweisen werden in ihren Grundzügen erklärt, bevor die Anwendung mit konkreten Fallvignetten dargestellt wird. Dies soll dazu beitragen, nicht nur die »Bauanleitung« der Interventionen, sondern auch das konkrete Wirkverständnis besser erfassen zu können. Die Angemessenheit einer Intervention, oder weiter gefasst, des konkreten TherapeutInnenverhaltens lässt sich nur beurteilen, wenn wir uns über den Zweck im Klaren sind. Was will ich mit meinem konkreten therapeutischen Handeln bewirken, was ist die therapeutische Absicht, inwiefern ist das konkrete Vorgehen geeignet, dies zu bewirken?
Wie der Untertitel des Buches nahelegt, muss das Wirkverständnis psychotherapeutischer Interventionen am konkreten Fallverständnis anschließen. Welche Merkmale des Falles gilt es zu berücksichtigen, um im Sinne des Patienten/der Patientin wirksam zu werden? In den letzten Kapiteln des Buches wird daher auf Fallverständnis, Wirkverständnis und die therapeutische Beziehung noch einmal ausführlich eingegangen.
Durch die fallorientierte Darstellung systemischer Praxis bei der Behandlung psychiatrischer Störungen soll die Integration systemischen Denkens in klinische Kontexte, vor allem ins psychiatrische Versorgungssystem gefördert werden. Dafür können die Erfahrungen, die bei der systemischen Ausbildung von fast 100 (Kinder- und Jugend-)PsychiaterInnen in den letzten Jahren gesammelt wurden, hilfreich sein.
Jedenfalls fließt hier auch eine persönliche Erfahrung ein: Als ich in den Neunzigerjahren zusätzlich zur Facharztausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Wien meine Ausbildung in Systemischer Familientherapie in einem Ausbildungsinstitut nach dem Psychotherapiegesetz absolvierte, erlebte ich ein starkes Spannungsfeld: In der Abteilung für Biologische Psychiatrie lernte ich von erfahrenen PsychiaterInnen, wie psychiatrisch Erkrankte zu diagnostizieren und zu behandeln sind. Ich bewunderte ihre psychopharmakologischen Kenntnisse und die Unaufgeregtheit, mit der sie heikelste klinische Situationen managten. Obwohl viele dieser Oberärzte einer Generation geisteswissenschaftlich gebildeter Psychiater mit differenzierten psychopathologischen Kenntnissen angehörten, setzte sich in dieser Zeit durch die Pseudoobjektivierung von ICD-10 und DSM-IV-R zunehmend ein naiver Realismus durch. Eine erkenntniskritische Haltung gegenüber diagnostischen Klassifikationssystemen, die bei Jaspers noch selbstverständlich formuliert wurde, war nicht mehr Teil des offiziellen Fachdiskurses, sondern wurde nur mehr als Liebhaberei von einzelnen kritischen Geistern kultiviert.
Auf der anderen Seite erlebte ich in meiner systemischen Ausbildungseinrichtung erfahrene LehrtherapeutInnen, deren therapeutische Fähigkeiten ich hinter dem Einwegspiegel kennen und schätzen lernte, allesamt aber überzeugte Konstruktivisten, die psychologische Konzeptualisierungen und psychiatrische Krankheitsbegriffe ablehnten, als wären sie für die Behandlung völlig irrelevant, ja sogar störend, weil vom subjektiven Selbstverständnis des Betroffenen ablenkend. Naiver Realismus auf der einen Seite, Konstruktivismus mit dogmatischer Ablehnung jeglichen klinischen Expertenwissens auf der anderen Seite führten dazu, dass ich mich in beiden Welten fachlich ein bisschen fremd fühlte. In der Psychiatrie fehlte mir die erkenntniskritische Position, in der Systemischen Therapie diagnostische und klinische Kompetenz. Es dauerte viele Jahre, bis die Psychiaterin und die Systemische Therapeutin in mir eine integrierte professionelle Identität gebildet haben.
Diesen langwierigen Integrationsprozess möchte ich jungen KollegInnen erleichtern, was auch durch die Entwicklung der Systemischen Therapie in den letzten fünfzehn Jahren nahegelegt wird: Die radikalkonstruktivistische empirie- und diagnosekritische Haltung ist auch bei den bekannten deutschsprachigen VertreterInnen Systemischer Therapie nicht mehr unwidersprochen. Einen wesentlichen Beitrag dazu lieferte Kirsten von Sydow, die gemeinsam mit Beher, Retzlaff und Schweitzer jene Expertise zur Wirksamkeit der Systemischen Therapie verfasste, die 2008 zur Anerkennung als wissenschaftlich fundiertes Verfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie in Deutschland führte. In dem von ihr herausgegebenen Lehrbuch (von Sydow 2015), das stark an empirischer Forschung orientiert ist, bekennt sie sich trotz positivistischer Grundhaltung zu einem »gemäßigten Konstruktivismus« (von Sydow 2015, S. 28 f.) und kritisiert die »konzeptuelle Vernachlässigung innerpsychischer Variablen« in der systemischen Literatur. Ihre Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung affektiver Prozesse und verinnerlichter Beziehungs- und Bindungsmuster in der systemischen Fachliteratur stimme ich vollinhaltlich zu.
Daher wurden in dem Buch »Emotionsbasierte Systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und behandeln« (Wagner/Russinger 2016) psychologische Konzepte vorgestellt, die für ein differenziertes Fall- und Wirkverständnis hilfreich sind – und dies ohne unzulässige Trivialisierungen und Ontologisierungen. Psychische Vorgänge werden hier konsequent als Prozesse verstanden, als selbstorganisierte Muster in komplexen dynamischen Systemen. Wie der Titel vermuten lässt, fokussierten wir dabei die affektive Seite des Erlebens, die bislang in der systemischen Fachliteratur kaum explizit thematisiert worden ist. Das Buch sollte das Verständnis für Prozesse der Emotionsverarbeitung und Störungen derselben vermitteln und bietet darüber hinaus eine systematische Darstellung von Interventionen, die Affektwahrnehmung, -klärung und -bearbeitung fördern.
Auch Hans Lieb, der prominenteste Vertreter störungsspezifischer Systemtherapie, kritisiert das Dogma der Dekonstruktion psychischer Störungen, das in manchen systemischen Ausbildungseinrichtungen gültig scheint. Er fordert dazu auf, dass SystemikerInnen störungsbezogene Perspektiven einnehmen, ohne ihre systemische Identität zu verlieren, was vor allem heißt, dass der Störungsbegriff nicht ontologisierend verwendet, sondern die der Unterscheidung krank/gesund zugrunde liegende Beobachtungsleistung berücksichtigt wird (Lieb 2014, S. 11 f.). Ich hoffe, mit diesem Buch auch diesem Anspruch zu genügen, selbst wenn die systemtheoretische Fundierung meiner Ausführungen mehr auf der Synergetik als der soziologischen Systemtheorie Luhmanns beruht.
Wie lassen sich typisch systemische Herangehensweisen wie z. B. Ziel- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext umsetzen?
Wie verstehen SystemikerInnen psychische Prozesse und wie gehen sie mit Diagnosestellungen um?
Kapitel 1
Eine erste grobe Differenzierung von Lernprozessen betrifft die Unterscheidung von Wissen und Können. Wissensinhalte wie Latein-Vokabeln, chemische Formeln, die Anatomie des Menschen oder philosophische Theorien erwirbt man anders als Kompetenzen wie Radfahren, Schwimmen oder Klavierspiel. Im einen Fall realisiert sich der Aneignungsprozess im Wesentlichen über das explizite Denken und Erinnern, im anderen Fall im Wesentlichen über das wiederholte Tun (Üben).
Für die Psychotherapie halte ich es allerdings für sinnvoll, vier Dimensionen zu unterscheiden: Neben dem theoretischen Wissen und den interventionellen Kompetenzen (»professionell handeln«) ist die Fähigkeit, Fachwissen fallbezogen adäquat anzuwenden (»fachlich denken«), zentral bedeutsam. Diese drei Dimensionen sind in vielen Professionen zu unterscheiden. In der Psychotherapie gibt es jedoch eine weitere Anforderung, nämlich die Fähigkeit, verlässlich – also unabhängig von evtl. dysfunktionalen Beziehungsmustern der KlientInnen – eine hilfreiche professionelle Beziehung anzubieten. Die Förderung dieser Beziehungskompetenz ist damit eine weitere Zieldimension jeder Psychotherapieausbildung. Auf jede dieser Dimensionen soll im Folgenden kurz eingegangen werden.
Das theoretische Wissen umfasst Konzepte zur »Gegenstandsmodellierung« sowie die Wirkprinzipien des therapeutischen Vorgehens (»Wirkverständnis«). Beide Begriffe sollen kurz erklärt werden:
Was versteht man unter »Gegenstandsmodellierung« oder »Konzeptualisierung psychosozialer Prozesse«: Die Seele können wir nicht sehen. Die Funktionsweise der Psyche kann man sich ganz unterschiedlich erklären: Ist sie durch Triebkonflikte geprägt, wie Freud es annahm, oder durch das Streben nach Selbstentfaltung, wie es die humanistischen Therapiemethoden beschreiben? Welche Rolle spielt das Unbewusste? Welche Rolle spielen frühkindliche Erfahrungen? Die verschiedenen Therapiemethoden entwerfen ganz unterschiedliche Bilder vom Mentalen, ihre theoretischen Grundannahmen »modellieren den Gegenstand« und legen damit auch fest, was als wirksames therapeutisches Tun betrachtet werden kann (»Wirkverständnis«). Hält man unbewusste seelische Konflikte für die Ursache psychischer Störungen, kann ein kognitiv-behaviorales Vorgehen, das vorwiegend die bewussten Kognitionen modifiziert, nur für ein oberflächliches Manöver gehalten werden. Stellt man die kausale Bedeutung unbewusster seelischer Konflikte infrage, erscheint die jahrelange hochfrequente Psychoanalyse als eine unnötig aufwendige Suche nach selbst versteckten Ostereiern.
Die theoretischen Grundlagen einer Therapiemethode vermitteln somit ein jeweils spezifisches Verständnis psychosozialer Prozesse und ihrer Beeinflussbarkeit im Kontext von Psychotherapie. Die Darstellung dieser »Wirkprinzipien« wird den Hauptteil dieses Buches ausmachen. Im Unterschied zu anderen Lehrbüchern soll dies aber konsequent fallbezogen erfolgen. Die theoretischen Konzepte sollen damit nicht nur beschrieben, sondern auch »exemplifiziert« werden, um das fachliche Denken zu fördern.
Unter »fachlich denken« verstehe ich die Anwendung von theoretischem Wissen auf einen konkreten Fall. Fachlich denken kann man dementsprechend nur fallbezogen lernen. Die adäquate Unterrichtsform ist die Supervision: Hier wird anhand konkreter Fallanliegen fachliches Denken entwickelt. Häufig ist in diesem Kontext aufgrund der Zahl und der Dringlichkeit der Supervisionsanliegen der Fokus allerdings eingeengt auf die Frage »Wie mache ich am besten weiter?«, sodass eine umfassende Reflexion des Fallverständnisses ausbleibt. In diesen Fällen wird fachliches Denken wieder nur implizit gelernt. Dieses Buch soll dazu beitragen, fachliches Denken zu fördern, indem Fall- und Wirkverständnis Systemischer Therapie anhand von ausgewählten Fallvignetten dargestellt wird. Anders als in der Supervision geht es nicht darum, mittels fachlichen Denkens in einem gegebenen Fall bestmöglich handlungsfähig zu werden, sondern darum, die der Systemischen Therapie zugrunde liegenden Konzepte anhand von Fallbeispielen nachvollziehbar verständlich zu machen.
Neben der Vermittlung von theoretischem Wissen und der Förderung der Fähigkeit, dieses auf Basis einer sensiblen Wahrnehmung fallbezogen adäquat anzuwenden, geht es bei einer Psychotherapieausbildung immer auch um die Entwicklung von Handlungskompetenz. Psychotherapeutische Interventionen müssen »getan« werden, es genügt nicht, sie theoretisch beschreiben zu können. Verglichen mit dem Erlernen einer neuen Sprache geht es hier um den »Sprechakt« bzw. die Handlung. Das »Gewusste« muss nicht nur fallbezogen genutzt, sondern auch in konkretes therapeutisches Tun umgesetzt werden. Dieser Kompetenzerwerb bedarf interaktiver Unterrichtssequenzen: Eine konkrete Intervention wird erklärt, demonstriert, in Kleingruppen geübt. Im Rollenspiel oder noch besser anhand eigener »kleiner« Themen erfahren die Teilnehmenden die Wirkung der Intervention an sich selbst und können sich »im geschützten Terrain« in der Therapeutenrolle erproben.
Unter »Beziehungskompetenz« wird die Fähigkeit verstanden, auch bei dysfunktionalen (»pathologischen«) Beziehungsangeboten von KlientInnen verlässlich eine konstruktive, hilfreiche Beziehung anbieten zu können. Die Verantwortung für die Qualität der therapeutischen Beziehung liegt bei der Therapeutin. Manche KlientInnen machen es uns leicht, indem sie uns von Anfang an vertrauen, Kompetenz zuschreiben und die Kooperation für den Veränderungsprozess nützen. Aber das ist keine Bedingung, die zu Behandlungsbeginn eingefordert werden kann. Professionelle Beziehungskompetenz ist vor allem dann gefragt, wenn KlientInnen von dieser Idealnorm abweichen, was sie öfter tun, als uns lieb ist. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten werden typischerweise in der Supervision und evtl. in der Eigentherapie thematisiert. In diesem Buch wird sich ein eigenes Kapitel mit den Anforderungen an »Beziehungskompetenz« aus systemischer Perspektive beschäftigen, darüber hinaus wird in vielen Fallvignetten ein professioneller Umgang mit typischen Beziehungsschwierigkeiten dargestellt.
Nach nunmehr bald zwanzigjähriger Ausbildungstätigkeit sehe ich die größte Herausforderung im Rahmen einer Psychotherapieausbildung darin, in differenzierter Art »fachliches Denken« zu fördern. Theorievermittlung ist relativ einfach – Theorien kann man referieren, vorbereitende oder vertiefende Leseaufgaben und Reflexionsrunden sichern das Verständnis ab. Auch die Vermittlung von Handlungskompetenz wirft didaktisch keine großen Fragen auf (auch wenn sie nicht immer gleich gut gelingt). Schwieriger ist es, explizit »angemessenes fachliches Denken« zu lehren. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten.
Zuvor müssen aber einige grundsätzliche Gedanken zum Wesen (Systemischer) Psychotherapie formuliert werden.
Kapitel 2
Psychotherapie ist keine Krankenbehandlung. PsychotherapeutInnen muss man das in der Regel nicht erklären. PsychiaterInnen häufig schon, da sich ÄrztInnen traditionell für Krankheiten zuständig fühlen. In Zusammenhang mit Krankheiten und ihrer Behandlung verfügen sie über ein empirisch abgesichertes Expertenwissen. Aus medizinkritischer Perspektive kann die Überlegenheit ärztlichen Expertenwissens infrage gestellt werden, im Selbstverständnis von ÄrztInnen und der überwiegenden Mehrzahl ihrer PatientInnen ist die Zuschreibung einer Expertenrolle aber konstitutiv.
Das beste Beispiel dafür ist der Unfallchirurg. Meine damals 13-jährige Tochter stürzte mit dem Fahrrad und konnte ihren rechten Arm nicht mehr heben. Der Assistenzart veranlasst ein CT und beruhigt – er sieht nichts. Alle atmen auf. Der Oberarzt schaut sich die Bilder noch einmal an, äußert einen Verdacht, veranlasst eine weitere Bildgebung, diesmal in einer anderen Achse, und zeigt uns die Fraktur. Ungünstige Stelle, muss sofort operiert werden, sonst droht eine dauerhafte Bewegungseinschränkung. Der Expertise des Arztes wird getraut – was hätte man seinen Erklärungen entgegenzuhalten?
Nicht überall in der Medizin ist die Expertenschaft des Arztes so unumstritten, nicht immer sind die Befunde so eindeutig. Der Unfallchirurg markiert das eine Ende des Spektrums: unstrittige Expertenschaft, er weiß, was zu tun ist, kann das dem Patienten anhand eindeutiger Befunde erklären. Das Privileg des Unfallchirurgen: Er kann sehr häufig nicht nur eine eindeutige Diagnose liefern, sondern auch eine kurative Prozedur anbieten. Er operiert, der Patient muss es nur zulassen. Zumindest in der Akutsituation reduziert sich die Compliance auf die Einverständniserklärung – »lassen Sie mich nur machen«.
Natürlich ist dieser Idealfall nicht immer gegeben. Es gibt auch in der Unfallchirurgie unklare Befunde (Experten einigen sich nicht über das zugrunde liegende Problem) oder widersprüchliche Ansichten über die geeignete Behandlung (Experten einigen sich nicht über die bestmögliche Lösung), und natürlich bedarf es in der postoperativen Phase der Kooperation des Betroffenen: Schonung, gezieltes Training, alles zur richtigen Zeit und im richtigen Ausmaß. Aber auch dazu können die ExpertInnen eindeutige Empfehlungen geben. Das heißt: medizinisches Fachwissen bezieht sich auf die Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Die Expertenrolle des Arztes verpflichtet zur Patientenaufklärung (diese Prozedur ist, wie jeder weiß, der sich schon einmal einer einfachen chirurgischen Intervention unterzogen hat, formal über eine schriftliche Einverständniserklärung abgesichert), begründet die durchzuführende Behandlung und legitimiert darüber hinausgehende Beratung (z. B. betr. Ernährung, Bewegung, Gewichtsreduktion) bzw. Schulung des Patienten.
Wie stellt sich die Situation nun bei psychischen Störungen dar?
Wenn wir an eine typische paranoide Schizophrenie, eine bipolare Störung, eine schwere Zwangsstörung oder Anorexie denken: auf den ersten Blick ganz ähnlich. Auch hier verfügt die Medizin – in diesem Fall die Psychiatrie – über gesichertes Expertenwissen und kann adäquate Behandlung anbieten. Die Krankheitsbilder sind gut definiert und lassen sich vom Zustand des Gesunden sicher unterscheiden. Ein klassisch ärztliches Selbstverständnis ist zulässig und sinnvoll, sofern der Patient bereit ist, diese Expertenrolle dem Arzt zuzuschreiben und sich der psychiatrischen Definition seines Erlebens anzuschließen. Aus »Ich bin so unglücklich und weiß nicht warum« wird dann im besten Fall eine behandelbare depressive Episode, aus »Stimmen befehlen mir, dass ich mich umbringe, weil ich für alles Unglück in der Welt verantwortlich bin« eine psychotische Episode, die psychopharmakologisch gut zu behandeln ist.
Aber wie groß ist der Anteil dieser eindeutig definierbaren und nach einem medizinischen Rational gut zu behandelnden Patientengruppe? Allen Frances, der 1994 den Vorsitz der Arbeitsgruppe für die Revision des DSM-IV innehatte und sich in den letzten Jahren zum prominentesten Kritiker des DSM-5 entwickelt hat, gibt folgende Einschätzung ab: »Wir können Patientinnen und Patienten, die an schweren psychischen Störungen leiden und etwa 5 % der Bevölkerung ausmachen, präzise diagnostizieren, und wir wissen auch ziemlich gut, wie sie zu behandeln sind. An den Grenzen zur ›Normalität‹ haben wir dagegen eine enorme Unschärfe. Gerade diese Grenzbereiche umfassen allerdings eine sehr große Anzahl von Menschen …« (Frances 2017