Für Shane Case, meine teuerste Liebe

—Serena Valentino

KAPITEL I

Die Hexen im Rosengarten

Das Biest stand in seinem Rosengarten, der überwäl­tigende Duft der jungen Blüten lag schwer in der Luft und vernebelte seine Sinne.

Der Garten schien seit jeher ein Eigenleben zu führen. Dem Biest war, als ob die sich windenden Dornenranken nur darauf warteten, sich um sein rasendes Herz zu schlingen und seiner Verzweiflung ein unwiderrufliches Ende zu setzen. Es gab Zeiten, da sehnte es sich sogar danach. Doch heute Abend schwirrten ihm andere Bilder durch den Kopf, Bilder von der wunderschönen jungen Frau in seinem Schloss: Belle.

So tapfer, so edelmütig war sie bereit, als Gefangene den Platz ihres Vaters im Verlies einzunehmen. Was für eine Frau tat etwas Derartiges – was für eine Frau gab ihr Leben so leicht auf und opferte die eigene Freiheit für die ihres Vaters? Das Biest fragte sich, ob es jemals selbst zu einem solchen Opfer fähig wäre. Es fragte sich, ob es fähig wäre zu lieben.

Das Biest stand einfach nur da, vollkommen versun­ken in den Anblick seines Schlosses. Es versuchte, sich zu erinnern, wie das Schloss vor dem Fluch ausgesehen hatte. Jetzt war es verändert – bedrohlich, ein lebendiges Wesen. Selbst die Turmspitzen bohrten sich mit einer grausamen Schadenfreude in den Himmel. Wie dieses Gemäuer wohl aus der Entfernung wirkte, vermochte sich das Biest kaum vorzustellen. Es ragte bedrohlich hoch hinauf. Wie es da auf der Spitze des höchsten Berges im Königreich thronte, wirkte es wie selbst aus dem groben Gestein herausgeschnitten, umgeben von einem finsteren Wald voller gefährlicher wilder Kreaturen.

Erst seitdem das Biest gezwungen war, sein Dasein versteckt im Innern dieser kargen Mauern und seiner Ländereien zu fristen, hatte es begonnen, seine Umgebung auf diese Weise wahrzunehmen – sie wirklich zu sehen und tatsächlich zu fühlen. Mit einem Schaudern betrachtete es das Mondlicht, wie es unheimliche Schatten auf die Statuen warf, die den Weg vom Schloss zu seinem Garten säumten. Es waren große, geflügelte Kreaturen, die mit ihrer furchteinflößenden Erscheinung den alten Legenden entschlüpft zu sein schienen, die das Biest in seiner Jugend hatte lesen müssen, da seine Lehrer dies verlangt hatten. Es konnte sich nicht erinnern, ob diese Skulpturen schon existiert hatten, bevor das Schloss und seine Ländereien verflucht worden waren. Seit die Hexen ihre Zauber ausgesprochen hatten, hatte es viele Veränderungen gegeben. Die Formschnittbäumchen schienen das Biest anzuknurren, wenn es an Abenden wie diesem durch das Labyrinth der Hecken streifte, um seine Gedanken von seinen Sorgen zu befreien.

Es hatte sich schon lange an die wachsamen Augen der Statuen gewöhnt, daran, wie ihre Blicke es streiften, wenn es sie nicht direkt anschaute – und an ihre leichten Bewegungen, die es stets nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Es konnte das Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden, und hatte sich beinahe daran gewöhnt. Beinahe. Der prächtige Eingang des Schlosses erschien wie ein klaffender Schlund, bereit, das Biest zu verschlingen. Es verbrachte so viel Zeit draußen wie nur möglich. Das Schloss fühlte sich an wie ein Gefängnis, denn so groß es auch war, schnürte es ihm doch die Luft ab und presste das Leben aus ihm heraus.

Damals, als das Biest noch – wie konnte es wagen, auch nur daran zu denken! – menschlich war, hatte es viel Zeit draußen damit verbracht, zum reinen Vergnügen die wilden Tiere in seinen Wäldern zu jagen. Doch nachdem es sich in den ersten Jahren nach dem Fluch selbst in etwas verwandelt hatte, das gejagt werden musste, hatte es sich eingeschlossen und den Westflügel nicht verlassen, geschweige denn das Schloss selbst. Vielleicht war das der Grund, aus dem das Biest es nun so verabscheute, sich im Schloss aufzuhalten: Es war schon für zu lange Zeit ein Gefangener seiner Furcht gewesen.

Als das Schloss verzaubert worden war, hatte das Biest geglaubt, dass seine Gedanken ihm einen Streich spielten – dass allein der Glaube an den Fluch es verrückt gemacht hatte. Aber inzwischen hatte es sich eingestehen müssen, dass tatsächlich alles lebendig war, was es umgab. Diese Erkenntnis jagte ihm eine schreckliche Angst ein. Schließlich könnte jede noch so kleine Verfehlung seinerseits die Statuen zur Raserei bringen. Dann würden seine Feinde es noch mehr für den Schmerz leiden lassen, den es so vielen zugefügt hatte, bevor es zum Biest geworden war. Die körperliche Verwandlung war nur ein Teil des Fluchs. Da war noch so vieles mehr; doch das Biest vermied es, darüber nachzudenken, um nicht vollständig von seiner Angst gelähmt zu werden.

In diesem Moment wollte das Biest nur an das eine denken, was es ein wenig beruhigen konnte. Es wollte an sie denken.

Belle.

Es blickte auf den See zur Rechten seines Gartens; dort zeichnete das Mondlicht wunderschöne silberne Muster auf das sich kräuselnde Wasser. Abgesehen von seinen Gedanken an Belle waren dies die einzigen friedlichen Augenblicke, die ihm seit dem Fluch vergönnt waren. Es verbrachte viele Stunden hier, und obwohl es manchmal in Versuchung geriet, war es stets darauf bedacht, keinen Blick auf sein eigenes Spiegelbild zu erhaschen. Das Biest war sich des Abscheus sehr wohl bewusst, den sein Anblick mit sich bringen würde.

Als der Fluch begonnen hatte, seine volle Wirkung zu entfalten, war das Biest wie besessen von seinem Spiegelbild gewesen, und zunächst hatten ihm die leichten Veränderungen seines Aussehens sogar gefallen. Nicht ohne Genugtuung hatte es festgestellt, dass die tiefen Furchen seinem jungen Gesicht etwas Furchterregendes verliehen. Doch jetzt, da der Fluch vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte, ertrug das Biest seinen eigenen Anblick nicht mehr. Jeder Spiegel im Schloss war zerstört oder im Westflügel weggesperrt worden. Seine furchtbaren Taten hatten sich in sein Gesicht gebrannt, und das Wissen darum verbreitete ein leeres, elendes Gefühl bis tief in sein Innerstes und verursachte ihm Übelkeit.

Doch genug davon.

Eine wunderschöne Frau lebte innerhalb seiner Mauern. Sie war eine bereitwillige Gefangene, jemand zum Reden, und doch konnte es sich nicht dazu durchringen, ihr gegenüberzutreten.

Die Furcht packte das Biest erneut und hielt es fest in ihrem eisernen Griff. Würde seine Furcht es nun aussperren, wo sie es doch einst eingeschlossen hatte? Die Furcht davor, hineinzugehen und dem Mädchen unter die Augen zu treten? Sie war eine kluge Frau. Wusste sie denn nicht, dass sein Schicksal in ihren Händen lag?

Die Statuen behielten das Biest im Auge, wie sie es immer taten, als es das Klacken winziger Stiefel vernahm, die sich ihm auf dem Steinweg näherten und seine Grübelei unterbrachen …

Die verdrehten Schwestern Lucinda, Ruby und Martha, ein Trio kaum voneinander zu unterschei­dender Hexen mit tintenschwarzen Löckchen, einer milchigen Blässe wie von ausgeblichenem Treibholz und rotem Schmollmund, standen in seinem Rosengarten vor ihm. Ihre Gesichter leuchteten im fahlen Mondlicht wie die höhnischen Mienen von Gespenstern. In dem dunklen Garten funkelte ihre Erscheinung wie Sternenstaub, doch das Gefieder in ihren Haaren ließ ihre vogelartigen Bewegungen grotesk erscheinen. Sie hatten etwas Nervöses an sich und bewegten sich in einer unablässigen Abfolge kleiner Zuckungen und Gesten, als ob sie, selbst wenn sie nicht sprachen, in einem beständigen Austausch miteinander stünden. Die drei schienen das Biest abzuschätzen. Und das Biest ließ sie gewähren. Es stand vollkommen still, wie so oft, wenn sie zu ihm kamen, und wartete darauf, dass sie etwas sagten. Sie erschienen, wann immer es ihnen beliebte und stets ohne Vorwarnung. Es kümmerte sie nicht, dass sie in sein Schloss und seinen Garten eindrangen. Das Biest hatte es längst aufgegeben, darauf zu bestehen, dass sie zu seinen Bedingungen auftauchten. Es hatte schnell verstanden, dass seine eigenen Wünsche für sie von keinerlei Bedeutung waren.

Ihr Lachen war schrill und schien den winzigen Hoffnungsschimmer zu verspotten, den die Hexen in seinem verlassenen kalten Herzen ausgemacht hatten.

Lucinda sprach als Erste. So war es schon immer gewesen. Das Biest konnte nicht verhindern, fasziniert ihr Gesicht zu betrachten, während sie zu ihm sprach. Mit ihrer Porzellanhaut und der zerlumpten Kleidung sah sie aus wie eine merkwürdige Puppe, die zum Leben erweckt worden war. Ihre unbeirrbar monotone Stimme verlieh der Situation beinahe etwas Komisches.

„Nun, zu guter Letzt hast du dir ein hübsches kleines Ding eingefangen.“

Das Biest machte sich nicht die Mühe zu fragen, woher sie wussten, dass Belle in sein Schloss ge­­kommen war. Es hatte seine Theorien darüber, woher sie stets alles über sein Leben zu wissen schienen, aber es hatte nicht vor, diese Vermutungen mit den Schwestern zu teilen.

„Wir sind überrascht, Biest“, sagte Martha, die blassen blauen Augen wässrig und kugelrund.

„Ja, überrascht“, spie Ruby aus. Ein gespenstisch breites Grinsen belebte auf krankhafte Art ihre viel zu roten Lippen – wie die einer toten Kreatur, die bös­artige Beschwörungen zurück ins Leben gebracht hatten.

„Wir hatten erwartet, dich in einem inzwischen schon weiter fortgeschrittenen Zustand anzutreffen“, bemerkte Lucinda, den Kopf leicht nach rechts geneigt, während sie das Biest musterte. „Wir haben geträumt, dass du durch den Wald läufst und Jagd auf leichtere Beute machst.“

„Wir haben von Jägern geträumt, die dich zur Strecke bringen“, fügte Ruby hinzu.

Martha lachte und sagte: „Die dich zur Strecke bringen wie das Tier, das du bist, und die deinen Kopf an die Wand der Huntsmen’s Tavern hängen.“

„Aber wie wir sehen, trägst du sogar Kleidung? Du klammerst dich an die letzten Fetzen deiner Menschlichkeit, nicht wahr?“

Das Biest tat nichts, was sein Entsetzen verraten hätte – Entsetzen, nicht vor der Macht der Hexen, sondern vor seinem eigenen, finsteren Wesen, an das sie es erinnerten. Sie hielten dem Monster in seinem Inneren nur zu gern einen Spiegel vor, dem Monster, das darum kämpfte zu entkommen. Es war eine Bestie, die die Hexen töten wollte, zusammen mit allem, was sich ihr in den Weg stellte. Sie gierte nach Blut und Knochen, danach, ihr Fleisch in Stücke zu reißen. Wenn sie ihre Kehlen mit ihren Klauen zerfetzte, müsste sie nie wieder diese schrillen, höhnischen Stimmen hören.

„Genau das ist es, was wir von dir erwartet haben, Biest“, höhnte Lucinda.

Martha nickte und sagte: „Es wird niemals Belles Herz gewinnen, Schwester, egal wie verzweifelt es versucht, den Fluch zu brechen. Ich meine, es ist bereits zu weit fortgeschritten.“

„Vielleicht bedauert sie es ja, wenn es ihr zeigt, wie es früher ausgesehen hat“, spottete Ruby.

„Es bedauern, ja, aber es lieben? Niemals!“

Früher hätte das Biest allen dreien Beleidigungen an den Kopf geschleudert. Doch das schien ihre leidenschaftliche Grausamkeit nur noch zu beflügeln, und das Biest wagte es nicht, seine eigene Wut und sein Verlangen nach Blut zu entfachen. Also stand es stockstill und wartete auf das Ende ihrer kleinen Foltereinheit.

Aber Martha war noch nicht fertig und die Qualen noch nicht zu Ende. „Für den Fall, dass du es vergessen haben solltest, Biest, dies sind die Regeln, aufgestellt von allen Schwestern: Du musst sie lieben, und diese Liebe muss mit einem Kuss wahrer Liebe erwidert werden, noch vor deinem 21. Geburtstag. Sie darf den Spiegel so verwenden, wie du es tust, um in die Welt jenseits deines Königreiches zu blicken, aber sie darf die Details des Fluchs oder wie er gebrochen werden kann, nie erfahren. Du wirst feststellen, dass sie das Schloss und seinen Zauber anders wahrnimmt als du. Die grauenerregendsten Aspekte dieses Fluches sind nur für dich allein bestimmt.“

Martha lächelte beunruhigend und fuhr fort. „Das ist dein Vorteil. Das Einzige, was Belle im Schloss oder in seinen Ländereien verängstigen wird, ist dein Anblick.“

Lucinda übernahm das Wort. „Wann hast du dich zum letzten Mal im Spiegel angeschaut, Biest? Oder hast nach der Rose gesehen?“

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte das Biest die Rose nicht aus den Augen gelassen. In letzter Zeit versuchte es, sie zu vergessen. Beinahe hatte es erwartet, dass die Schwestern es heute Abend besuchten, um ihm mitzuteilen, dass das letzte Blatt herabgefallen war. Doch sie waren nur hier, um es zu verspotten und zu peinigen, wie üblich – und um es zur Gewalt zu verleiten. Nichts sähen sie lieber, als dass es seine Seele noch weiter zerstörte.

Lucindas gackernde Stimme riss das Biest aus seinen Gedanken. „Es wird jetzt nicht mehr lange dauern … “

Martha fiel ein. „Wirklich nicht mehr lange, Biest.“

Und Lucinda übernahm den Schlussakkord. „Schon bald wird das letzte Blatt fallen, und du wirst für immer in dieser Gestalt gefangen sein, ohne Hoffnung auf eine Rückkehr zu deinem früheren Selbst. Und an diesem Tag … “

„… werden wir tanzen!“, beendeten sie einstimmig.

Endlich sprach auch das Biest. „Und was geschieht mit den anderen? Werden sie ebenfalls auf ewig zu dieser Existenz verdammt sein?“

Rubys Augen weiteten sich vor Verwunderung. „Besorgnis? Ist es das, was wir wahrnehmen?“

„Nein, wohl eher Sorge um sich selbst.“

„Ja, immer nur um sich selbst, nie um andere.“

„Warum sollte es sich um Bedienstete sorgen? Es hat früher nie einen Gedanken an sie verschwendet, außer wenn es darum ging, sie zu bestrafen.“

„Ich glaube, es hat Angst davor, was sie mit ihm machen werden, wenn es den Fluch nicht bricht.“

„Ich denke, du hast recht, Schwester.“

„Ich wüsste auch gern, was sie tun werden.“

„Wahrlich, das wird ein grausiges Spektakel.“

„Und wir werden viel Vergnügen daran finden, es zu beobachten.“

„Vergiss nicht, Biest, wahre Liebe, sowohl gegeben als auch empfangen, bevor das letzte Rosenblatt fällt.“

Und damit machten die Schwestern in ihren winzigen spitzen Stiefeln auf dem Absatz kehrt und klackerten aus dem Rosengarten. Das Geräusch wurde mit jedem Schritt leiser, bis es von dem plötzlich aufsteigenden Nebel verschluckt wurde und das Biest es nicht mehr hörte.

KAPITEL II

Die Zurückweisung

Das Biest seufzte und ließ sich auf eine Bank fallen, die im Schatten einer über ihr lauernden, geflügelten Kreatur stand. Ihr Schatten vermischte sich mit seinem eigenen – sein Gesicht und ihre Flügel – und verschmolz zu etwas, das aussah wie ein Shedu, ein geflügelter Löwe aus antiken Mythen. Es war so lange her, dass das Biest auch nur seinen eigenen Schatten gesehen hatte, dass es kaum noch wusste, wie es aussah. Nun weckte dieser Schatten seine Neugier.

Ein plötzlicher Lichtstrahl fiel auf den Schatten und scheuchte ihn davon. Zurück blieb eine neue, kreideweiße Statue mit neutralem Gesichtsausdruck. Sie war weder männlich noch weiblich – zumindest nicht, soweit das Biest dies beurteilen konnte – und stand vollkommen still, einen kleinen Messingleuchter mit brennenden Kerzen in der einen Hand, während die andere auf den Schlosseingang deutete. Es war, als ob die steinerne Figur das Biest zum Schloss zurück­beordern würde, zurück in den klaffenden Schlund.

Es fürchtete, dass das Schloss es nun zu guter Letzt verschlingen würde, wenn es zurückkehrte.

Dennoch machte es sich auf den Rückweg und ließ die stumme Statue und die spöttischen Worte der Schwestern im Garten zurück. Das Licht des Kerzenleuchters sah nun klein aus, wie Glühwürmchen in der Ferne.

Die Statue würde sich zu gegebener Zeit selbst auf den Rückweg zum Schloss machen, höchstwahr­scheinlich, sobald das Biest weit genug entfernt war. Wenn es sie direkt anblickte, bewegten sich die Statuen nie oder kamen gar auf das Biest zu. Stets schlichen sie sich unbemerkt an das Biest heran, wenn seine Aufmerksamkeit gerade abgelenkt war. Es machte ihm Angst zu wissen, dass die Statuen sich ihm jederzeit nähern und mit ihm tun und lassen konnten, was ihnen gerade beliebte. Doch auch das war nur ein weiterer Teil des Fluches, gegen den es kämpfen musste.

Es dachte darüber nach, was die Schwestern gesagt hatten, und fragte sich, wie Belle das verzauberte Schloss sah und wie ihr die verfluchten Bediensteten erschienen.

Als das Biest durch das Foyer zum Speisesaal ging, stoppte es, um den gedämpften Stimmen zu lauschen, die aus Belles Gemach drangen, konnte aber nicht recht ausmachen, worum es in dem Gespräch ging. Es schlich gerade den Flur entlang in der Hoffnung, einen Blick auf denjenigen zu erhaschen, mit dem Belle sprach, als es hörte, wie ein Gentleman mit französischem Akzent sie einlud, mit dem Herrn des Hauses zu dinieren. Sie schlug die Tür zu und erklärte: „Ich werde nicht mit ihm speisen! Ich will nichts mit ihm zu tun haben! Er ist ein Monster!“

Monster! Unbändiger Zorn überwältigte das Biest. „Wenn sie nicht mit mir speisen will, dann wird sie eben gar nichts essen“, knurrte es, umrundete eine Ecke und erwartete beinahe, dort eine weitere lebende Statue stehen zu sehen. Doch das einzige Anzeichen, dass jemand dort gewesen war, war der kleine goldene Kerzenleuchter, den das Biest gerade noch im Garten gesehen hatte. Nun war er erloschen, doch ein dünnes Band aus Rauch kringelte sich von dem noch immer glühenden Docht empor.

„Sie hält mich für ein Monster!“ Das Biest schäumte vor Wut.

Es spürte, wie sein Zorn immer höhere Wellen schlug, wie er außer Kontrolle geriet, während es den Weg zum Westflügel hinaufstürmte. Monster! Seine Klauen gruben sich in das hölzerne Geländer, als es die lange Treppe hochjagte und sich dabei wünschte, es wäre Fleisch und Blut und nicht splitterndes Holz.

Monster!

Es gab nur wenig Licht in diesem Teil des Schlosses. Abgesehen von dem Mondlicht, das durch die zerfetzten roten Vorhänge seines Schlafgemachs fiel, war es vollkommen dunkel. Spiegel in den unterschiedlichsten Formen lagen gegen die hinterste Wand gestapelt, bedeckt von mottenzerfressenem weißen Stoff. Unter den Spiegeln waren auch einige Portraits, zum Teil zerstört in seinem Zorn und seiner Frustration. Genau wie die Hexen hatten auch die gemalten Gesichter auf dem Bild das Biest verspottet und es mit ihrer Ähnlichkeit zu seiner früheren Erscheinung aufgezogen.

Monster!

Es konnte in dem stattlichen Kamin weder ein Feuer entfachen noch die Fackeln in den Wandhalterungen entzünden. Seine Klauen kamen mit so winzigen Dingen wie Streichhölzern nicht zurecht, und den Bediensteten war es verboten, den Westflügel zu betreten. Nicht einmal die Schwestern wagten sich in diesen Teil des Schlosses. Zu Beginn war das Biest ihrem Gespött für lange Zeit entkommen, indem es seine Tage hier verbrachte und sich versteckte, während sein Zorn zu einem unvorstellbaren Ausmaß anschwoll, erfüllt einerseits von Furcht vor dem, in was es sich verwandelte, und auch von Faszination.

Denn so war es am Anfang gewesen, oder nicht?

Die kaum wahrnehmbaren Verände­run­gen in seinen Gesichtszügen, die Linien um seine Augen, die seinen Feinden Angst einjagten, wenn es sie verengte. Es war wahrhaft nützlich, mit einem einzigen Blick Furcht unter seinen Gegnern zu säen.

In jenen Tagen hatte es sich im Spiegel betrachtet und versucht herauszufinden, welche Art von Verhalten die entsetzlichsten Veränderungen in seinem Aussehen hervorrief. Stets in dem Wissen, dass dies ein fortschreitender Fluch war, der nicht nachlassen würde.

Die Schwestern schienen seinen inneren Zwang zu kennen und provozierten es damit. Sie sagten, wenn es nicht vorsichtig wäre, würde es dasselbe Schicksal erleiden wie die zweite Frau ihres Cousins. Die Schwestern redeten oft solchen Unsinn, sprachen oft in Fragmenten und verloren sich in derartigen Lachkrämpfen, dass das Biest die meiste Zeit kaum wusste, worum es eigentlich ging. Es war sich nicht einmal sicher, ob sie es selbst wussten. War das alles vielleicht nur das Gefasel eines wahnsinnigen Verstandes? Hier war es nun – verhöhnt von verrückten alten Weibern. Er, der einst ein Prinz gewesen war.

Einst. Und jetzt … jetzt konnte es sich nicht einmal einem verletzten Fremden nähern, der vielleicht des Nachts durch den Wald zu seinem Schloss gewandert kam, ohne dass er schreiend vor Angst davonlief.

Was hielt Belle von dem Wenigen, das sie beim Kerzenlicht des Verlieses von ihm gesehen hatte? Es wusste es, schließlich hatte sie es laut und deutlich gesagt. Ein Monster hatte sie es genannt! Sollten die Bediensteten sich um sie kümmern, sollten sie ihr doch Geschichten von seinen heimtückischen Untaten erzählen! Sollten sie ihr doch berichten, wie niederträchtig und abstoßend es war. Was kümmerte es das! Schließlich war es ein Monster. Und Monster hatten keine Gefühle und erst recht nicht diese eine Empfindung, diese sogenannte Liebe.

Sein Ärger und seine Verwirrung zerstreuten sich, als sein Kopf sich vor Erschöpfung zu drehen begann. Es saß auf dem Bett und fragte sich, was es als Nächstes tun sollte. Die Schwestern hatten angedeutet, dass das Mädchen seine einzige Hoffnung war, den Fluch zu brechen. Lügnerinnen! Es wäre ihm ein Leichtes ge­

Das Biest stand auf zittrigen Beinen, noch leicht benommen von dem Anfall animalischen Zorns, den es bei Belles Worten verspürt hatte. Es ging zum Kaminsims, wo es den Spiegel aufbewahrte, den die Schwestern ihm vor langer Zeit gegeben hatten. Für einen Augenblick stand es bloß dort, holte tief Luft und wappnete sich für das Kommende. Es war viel zu lange her, dass es sein eigenes Spiegelbild gesehen hatte. Es musste sehen, wie sich seine abscheulichen Taten in seinem Gesicht verewigt hatten.

Seine Pfote lag auf dem Tuch, das den Rahmen be­­deckte.­ Es riss das Tuch herunter und enthüllte den Spiegel mitsamt der getrübten Reflexion, die es aus dem Glas heraus anstarrte.

Monster!

Seine gefühlvollen blauen Augen, strotzend vor Menschlichkeit, waren die einzige Erinnerung daran, was das Biest einst gewesen war. Sie hatten sich nicht verändert. Sie gehörten ihm noch immer.

Doch in jeder anderen Hinsicht war es zu genau dem geworden, was es befürchtet hatte. Mehr noch, es war viel schlimmer, als das Biest es sich je hätte ausmalen können.

Seine Knie gaben nach, als sich das Zimmer vor seinen Augen zu drehen begann. Sein Sichtfeld verengte sich, bis es vollständig von Dunkelheit aufgesogen war, gefangen in einer quälenden, immer wiederkehrenden Vision seiner Vergangenheit – seiner selbst, wie es früher gewesen war. Bevor es zum Monster geworden war.

Bevor es das Biest geworden war.