DER AUTOR
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden.
Noch Tage nach der Landung schallte dumpfes Knirschen aus den Tiefen des Ozeans. Der Rumpf passte sich dem ungewohnten Außendruck an. Dann und wann kamen ohne jedes Zutun der Menschen Servomaten in die Bilgen geeilt, um die Lecks zu flicken, durch die Seewasser einströmte. Von Zeit zu Zeit schwankte das Schiff bedenklich, doch allmählich fand es einen festen Stand und wirkte schließlich weniger wie ein Wahrzeichen, das jederzeit wieder entfernt werden konnte, als wie eine bizarre geologische Formation: ein nadeldünner Hohlkörper aus stark verwittertem Bimsstein oder Obsidian; ein vor Urzeiten natürlich entstandener Meeresturm, in den die Menschen unzählige Tunnels und Höhlen getrieben hatten. Die silbriggraue Wolkendecke riss nur gelegentlich auf und gab den Blick auf einen pastellblauen Himmel frei.
Erst nach einer Woche verließen die ersten Passagiere das Schiff. Shuttles umkreisten es tagelang wie ein aufgescheuchter Möwenschwarm. Obwohl nicht alle Andockluken unter Wasser lagen, war noch niemand bereit, den Ausstieg zu wagen. Doch man nahm wieder Kontakt zu den Gruppen auf, die bereits vorher auf der Schieberwelt gelandet waren und nun von der Oberfläche aus herüberflogen. Von der nächsten Insel – sie war nur fünfzehn Kilometer entfernt – fuhren Boote über das Meer bis an den senkrecht aufragenden Schiffsrumpf heran. Bei günstigem Gezeitenstand konnte man vom Wasser aus eine kleine, nur für Menschen bestimmte Luftschleuse erreichen.
Clavain und Felka saßen im ersten Boot, das auf der Insel eintraf. Während der Überfahrt durch den feuchten, grauen Nebel sprachen sie kein Wort. Clavain fror und sah bedrückt die schwarze Schiffswand im Nebel verschwinden. Das Meer war in diesem Bereich – am Rand einer größeren Konzentration von Schieber-Biomasse – gesättigt mit schwimmenden Mikroorganismen und dick wie eine Suppe. Die ersten Organismen hatten sich bereits oberhalb der Wasserlinie an die Wand des Raumschiffs geheftet, eine unregelmäßige Kruste, fast wie Grünspan, die den Anschein erweckte, als läge die Sehnsucht nach Unendlichkeit seit Jahrhunderten hier. Clavain überlegte, was sie tun sollten, falls sich das Schiff auf Dauer weigerte, wieder zu starten. Sie hatten zwanzig Jahre Zeit, es zu überreden, sollte es allerdings beschlossen haben, hier Wurzeln zu schlagen, dann würde es sich wohl kaum davon abbringen lassen. Vielleicht hatte es die letzte Ruhestätte gefunden, an der es, ein Denkmal seiner Schuld und seiner Sühne, bleiben wollte.
»Clavain …«, sagte Felka.
Er sah sie an. »Es geht mir gut.«
»Du siehst müde aus. Aber wir brauchen dich, Clavain. Der eigentliche Kampf hat noch gar nicht begonnen. Begreifst du nicht? Was bisher geschah, war nur ein Vorspiel. Wir haben jetzt die Geschütze …«
»Nur eine Handvoll. Und Skade ist noch immer hinter ihnen her.«
»Aber sie muss sie uns erst abnehmen. Und das wird ihr nicht so leicht fallen, wie sie vielleicht denkt.«
Clavain schaute zurück, doch das Schiff war nicht mehr zu sehen. »Sollten wir dann noch hier sein, dann hätten wir ihr nicht viel entgegenzusetzen.«
»Da wären immerhin noch die Geschütze selbst. Aber bis dahin ist sicher auch Remontoire wieder bei uns. Und mit ihm die Zodiakallicht. Sie wurde nicht völlig zerstört; und ein solches Schiff kann sich selbst reparieren.«
Clavain presste die Lippen aufeinander und nickte. »Vermutlich.«
Sie nahm seine Hand, wie um sie zu wärmen. »Was hast du, Clavain? Du hast uns so lange geführt, und wir sind dir gefolgt. Du darfst jetzt nicht aufgeben.«
»Das will ich auch nicht«, sagte er. »Ich bin nur … müde. Es ist Zeit, das Kämpfen anderen zu überlassen. Ich war schon zu lange Soldat, Felka.«
»Dann such dir einen anderen Beruf.«
»Das meinte ich eigentlich nicht.« Er nahm sich zusammen und sagte etwas lebhafter. »Hör zu, ich habe nicht vor, gleich morgen oder nächste Woche zu sterben. Schließlich bin ich es euch allen schuldig, diese Siedlung zum Laufen zu bringen. Ich bin nur nicht überzeugt, dass ich noch da sein werde, wenn Remontoire hier eintrifft. Aber wer weiß? Die Zeit wartet gern mit unangenehmen Überraschungen auf. Das habe ich, weiß Gott, schon oft genug erlebt.«
Schweigend fuhren sie weiter. Das Meer war unruhig, und hin und wieder mussten sie riesige seetangähnliche Knollen klebriger Biomasse umschiffen, die erschreckend zielbewusst auf ihre Annäherung reagierten. Doch endlich kam Land in Sicht, und wenig später lief das Boot in einigen Fuß Tiefe auf felsigen Grund.
Sie mussten aussteigen und das letzte Stück ans Ufer waten. Clavain zitterte jetzt vor Kälte. Das Boot schien sehr weit weg zu sein, und von der Sehnsucht nach Unendlichkeit war nichts mehr zu sehen.
Vor ihnen lag eine mit Felstümpeln übersäte Fläche, ein Mosaik von grau glänzenden Spiegeln. Antoinette kam ihnen entgegen. Sie vermied es sorgsam, in die Pfützen zu treten. Hinter ihr erhob sich auf einer Anhöhe das erste Lager: ein kleines Dorf aus Kuppelzelten, die mit Haken im felsigen Untergrund festgemacht waren.
Clavain malte sich aus, wie es hier in zwanzig Jahren aussehen mochte.
Auf der Sehnsucht nach Unendlichkeit befanden sich mehr als hundertsechzigtausend Menschen. Sie konnten unmöglich alle auf einer Insel Platz finden. Eine ganze Kette von Siedlungen musste entstehen – fünfzig vielleicht, mit einigen zentralen Einrichtungen auf den ausgedehnteren Landflächen, wo es trockener war. Sobald diese Siedlungen standen, konnte die Arbeit an den schwimmenden Kolonien beginnen, in denen die Menschen auf Dauer untergebracht werden sollten. An Arbeit würde es nicht mangeln. Jede Hand wurde gebraucht. Clavain glaubte, sich ebenfalls beteiligen zu müssen, hatte aber nicht das Gefühl, dies sei seine Bestimmung.
Eigentlich hatte er seine Bestimmung bereits erfüllt.
»Antoinette«, sagte er, um Felka zu helfen, da sie die Frau sonst nicht erkannt hätte, »wie sieht es denn auf dem Festland so aus?«
»Es gibt schon die ersten Schwierigkeiten, Clavain.«
Er hob die Augen nicht vom Boden, um nicht zu stolpern. »Inwiefern?«
»Viele von den Leuten sind nicht begeistert von der Vorstellung, hier sesshaft zu werden. Sie haben sich Thorns Exodus-Bewegung angeschlossen, weil sie nach Hause zurück wollten, nach Yellowstone. Sie hatten nicht vor, auf einer unbewohnten Schlammkugel von einem Planeten zu stranden.«
Clavain nickte geduldig und stützte sich auf Felka wie auf einen Gehstock. »Haben Sie ihnen erklärt, dass sie tot wären, wenn wir sie nicht mitgenommen hätten?«
»Nun ja, Sie wissen ja, wie das ist. Manchen Leuten kann man es eben nicht recht machen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich wollte Sie nur etwas aufheitern, falls Sie gedacht haben sollten, von jetzt an ginge alles glatt.«
»Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Vielleicht könnte uns jetzt jemand die Insel zeigen?«
Felka half ihm, sich auf ebeneres Gelände vorzutasten. »Antoinette, wir sind nass und durchgefroren. Gibt es hier irgendwo einen Ort, wo es warm und trocken ist?«
»Sie brauchen mir nur zu folgen. Wir haben sogar Tee auf dem Feuer.«
»Tee?«, fragte Felka misstrauisch.
»Aus Seetang. Einheimisches Erzeugnis. Aber keine Sorge, bisher ist noch niemand daran gestorben, und mit der Zeit gewöhnt man sich auch an den Geschmack.«
»Dann fangen wir am besten gleich damit an«, sagte Clavain.
Sie folgten Antoinette in das Zeltdorf. Überall waren Menschen dabei, neue Zelte aufzustellen und über schlangenähnliche Energiekabel mit Generatoren zu verbinden, die wie Schildkröten aussahen. Antoinette führte sie in ein Zelt und schloss die Klappe hinter ihnen. Drinnen war es wärmer und trockener, aber Clavain fühlte sich dadurch nur noch nasser und fror mehr als zuvor.
Und das für die nächsten zwanzig Jahre, dachte er. Gewiss, sie würden vollauf mit Überleben beschäftigt sein, aber konnte man einen reinen Existenzkampf noch als Leben bezeichnen? Die Schieber mit ihrer Flut von uralten kosmischen Rätseln mochten sich als unerschöpflicher Quell der Faszination erweisen, aber vielleicht wollten sie mit den Menschen auch gar nicht in Verbindung treten. Auf anderen Schieberwelten hatten Menschen und Musterschieber bereits Kontakte geknüpft, aber manchmal hatte man erst nach jahrzehntelangen Studien den Schlüssel zu den Aliens gefunden. Bis dahin waren sie kaum mehr als träge Pflanzenmassen, die die Handschrift der Intelligenz trugen, ohne sich selbst in irgendeiner Weise als intelligent zu erkennen zu geben. Angenommen, diese Schiebergruppe wäre als erste nicht bereit, menschliche Neuralmuster in sich aufzunehmen? Dann würde es auf diesem Planeten unerträglich öde und einsam. Man würde ausgerechnet von den Wesen gemieden, von denen man sich erhofft hatte, sie könnten das Dasein erträglicher machen. Und man würde es womöglich bereuen, nicht mit Remontoire, Khouri und Thorn in die komplexe Struktur des lebenden Neutronensterns eingetaucht zu sein.
In zwanzig Jahren würden sie erfahren, ob diese Alternative tatsächlich verlockender gewesen wäre.
Antoinette schob ihm einen Becher mit einer grünlichen Flüssigkeit zu. »Trinken Sie, Clavain.«
Er nippte an dem Gebräu und rümpfte die Nase, als er die scharfen, salzigen Dämpfe roch. »Wenn ich nun einen Musterschieber trinke?«
»Felka sagt, das kann nicht sein. Und sie müsste es wissen – sie will diese Bastarde schon lange kennen lernen und weiß vermutlich ziemlich gut über sie Bescheid.«
Clavain gab dem Tee eine zweite Chance. »Das ist richtig, nicht wahr …?«
Aber Felka war nicht da. Eben war sie noch mit ihm im Zelt gewesen, aber jetzt war sie verschwunden.
»Warum ist sie eigentlich so scharf auf die Bekanntschaft?«, fragte Antoinette.
»Weil sie sich von den Schiebern etwas erhofft«, antwortete Clavain. »Als sie noch auf dem Mars lebte, war sie das Herz eines sehr komplexen Gebildes – einer riesigen lebenden Maschine, die sie mit ihrer Willenskraft und ihrem Verstand am Leben erhalten musste. Das war der Sinn ihres Daseins. Dann hat man – genauer gesagt, die Partei, der ich damals angehörte – ihr die Maschine weggenommen. Daran wäre sie fast gestorben, falls sie jemals wirklich lebendig war. Aber sie gab nicht auf, sondern kämpfte sich in ein mehr oder weniger normales Leben zurück. Doch seither dreht sich für sie alles nur um das eine: Sie sucht etwas wie jene Maschine, etwas, das sie benützen und dem sie nützen kann. Es müsste so komplex sein, dass sie nicht mit einem einzigen Geistesblitz alle seine Geheimnisse durchschaut, und es müsste auf seine Weise auch von ihr zehren.«
»Die Schieber.«
Clavain hielt den Becher immer noch in der Hand – eigentlich schmeckte der Tee gar nicht so übel. »Ja, die Schieber«, sagte er. »Ich kann nur hoffen, dass sie auch findet, was sie sucht.«
Antoinette bückte sich, hob etwas vom Boden auf und stellte es vor ihn auf den Tisch. Ein korrodierter Metallzylinder, überzogen von einem dünnen Netz aus verkalkten Mikroorganismen.
»Das ist der Sender. Sie haben ihn gestern gefunden, eine Meile von hier. Er wurde offenbar bei einem Tsunami ins Meer gespült.«
Clavain beugte sich über den Metallklumpen und sah ihn sich genau an. Es war eingedrückt und verbeult wie eine alte Proviantbüchse, die man mit dem Fuß zertreten hatte. »Könnte von den Synthetikern stammen«, sagte er. »Aber ich bin nicht sicher. Man sieht keinerlei Markierungen mehr.«
»Ich dachte, er hätte einen Synthetiker-Code gesendet?«
»Das ist richtig: es ist ein einfacher Transponder für den interplanetaren Gebrauch mit einer Reichweite von nicht mehr als ein paar Millionen Kilometern. Vielleicht haben ihn die Ultras von einem unserer Schiffe gestohlen. Wenn wir ihn zerlegen, werden wir etwas mehr darüber erfahren, aber das muss behutsam geschehen.« Er klopfte mit den Knöcheln auf das raue Metall. »Darunter befindet sich noch Antimaterie, sonst würde er nicht mehr senden. Vielleicht nicht viel, aber doch genug, um ein großes Loch in diese Insel zu reißen, wenn er nicht fachgerecht geöffnet wird.«
»Dann überlasse ich das lieber Ihnen.«
»Clavain …«
Er sah sich um; Felka war zurückgekommen. Sie war noch nasser als zuvor. Das Haar hing ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht, und der schwarze Stoff ihres Kleides klebte ihr am Körper. Eigentlich hätte sie blass und verfroren aussehen müssen, dachte Clavain, doch stattdessen waren ihre Wangen gerötet, und sie wirkte erregt.
»Clavain«, wiederholte sie.
Er stellte den Teebecher ab. »Was gibt es?«
»Du musst herauskommen. Ich will dir etwas zeigen.«
Er trat aus dem Zelt. Er hatte sich gerade so weit aufgewärmt, dass ihn die Kälte wie mit tausend Nadelstichen durchzuckte, aber etwas an Felkas Verhalten bewog ihn, das zu verdrängen, so wie er einst gelernt hatte, im Kampf Schmerzen oder Schwäche zu unterdrücken. Es war nicht wichtig; sein Frösteln konnte warten, wie die meisten Dinge im Leben; vielleicht erledigte es sich ja von selbst.
Felka schaute auf das Meer hinaus.
»Was gibt es?«, fragte er noch einmal
»Da, schau. Siehst du es?« Sie trat neben ihn und zeigte ihm, wohin er den Blick richten sollte. »Sieh ganz genau hin, dort, wo der Nebel sich lichtet.«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Jetzt.«
Da war es, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Der Wind hatte sich wohl etwas gedreht, seit sie das Zelt betreten hatten, nun trieb er den Nebel in eine andere Richtung, und da und dort entstanden kurz Lücken, durch die man weit aufs Meer hinaus sah. Clavain erkannte die Fläche mit dem Mosaik aus scharfkantigen Felstümpeln und dahinter das Boot, mit dem sie angekommen waren. Jenseits davon bildete das Meer einen waagerechten, schiefergrauen Strich, der immer mehr verschwamm, je weiter sich der Blick dem Horizont näherte, um schließlich mit dem fahlen, milchig trüben Grau des Himmels zu verschmelzen. Für einen Moment tauchte dicht hinter dieser Grenze die Spitze der Sehnsucht nach Unendlichkeit auf, ein Finger von etwas dunklerem Grau, der sich nach oben hin verjüngte.
»Es ist das Schiff«, sagte Clavain freundlich. Er wollte Felka nicht enttäuschen.
»Ja«, sagte sie. »Es ist das Schiff. Aber du begreifst nicht. Es ist mehr als das, viel, viel mehr.«
Allmählich wurde er unruhig. »Tatsächlich?«
»Ja. Ich habe das alles nämlich schon früher gesehen.«
»Früher?«
»Lange bevor wir hierher kamen.« Sie wandte sich ihm zu, strich sich das nasse Haar aus der Stirn und blinzelte, weil ihr das Salzwasser in den Augen brannte. »Der Wolf, Clavain. Er zeigte mir dieses Bild, als Skade uns zusammenbrachte. Damals wusste ich nichts damit anzufangen. Aber jetzt ist mir alles klar. Es war gar nicht der Wolf. Es war Galiana. Sie hatte mich erreicht, obwohl der Wolf glaubte, sie unter Kontrolle zu haben.«
Clavain wusste, was geschehen war, während Felka als Geisel auf Skades Schiff weilte. Sie hatte ihm von den Experimenten erzählt, und von den Begegnungen, bei denen sie einen kurzen Blick in das Bewusstsein des Wolfs geworfen hatte. Aber davon hatte sie nie etwas erwähnt.
»Es muss eine zufällige Ähnlichkeit sein«, sagte er. »Selbst wenn du eine Botschaft von Galiana erhalten hättest, woher sollte sie wissen, was hier geschehen würde?«
»Ich weiß es nicht, aber es muss irgendeine Möglichkeit gegeben haben. Es sind Informationen in die Vergangenheit gelangt, sonst wäre dies alles nicht möglich. Wir wissen nur, dass unsere Erinnerungen an diesen Ort – die deinen oder auch die meinen – die Vergangenheit erreichen werden. Mehr noch, sie werden Galiana erreichen.« Felka bückte sich und berührte den Felsboden. »Das ist der springende Punkt, Clavain. Wir sind nicht zufällig auf diesen Planeten gestoßen. Galiana hat uns zu ihm geführt, denn sie weiß, dass es für uns wichtig ist, ihn zu finden.«
Clavain fiel der Sender wieder ein, den Antoinette ihm soeben gezeigt hatte. »Wenn sie tatsächlich hier gewesen wäre …«
Felka vollendete den Gedanken. »Wenn sie hier gewesen wäre, hätte sie versucht, mit den Musterschiebern Kontakt aufzunehmen. Sie hätte versucht, mit ihnen zu schwimmen. Vielleicht ist der Versuch gescheitert … aber nehmen wir an, sie hätte es geschafft, was wäre dann geschehen?«
Die Lücke im Nebel hatte sich wieder geschlossen, der Turm im Meer war nicht mehr zu sehen.
»Ihre Neuralmuster wären gespeichert worden«, sagte Clavain wie ein Schlafwandler. »Der Ozean hätte ihr Wesen bewahrt, ihre Persönlichkeit, ihre Erinnerungen. Alles, was sie war. Physisch hätte sie ihn wieder verlassen, aber eine holografische Kopie von ihr wäre im Meer zurückgeblieben, um irgendwann auf eine andere Intelligenz, ein anderes Bewusstsein übertragen zu werden.«
Felka nickte eifrig. »Denn das ist die Art der Musterschieber, Clavain. Sie speichern alles, was in ihren Ozeanen schwimmt.«
Clavain schaute in die Ferne und hoffte, das Schiff noch einmal zu sehen. »Dann wäre sie immer noch hier.«
»Und wir bräuchten nur in diesem Ozean zu schwimmen, um sie zu erreichen. Das wusste sie, Clavain, und diese Botschaft hat sie an dem Wolf vorbei geschmuggelt.«
Jetzt brannten auch ihm die Augen. »Sie ist doch mit allen Wassern gewaschen, diese Galiana. Aber was ist, wenn wir uns irren?«
»Das werden wir schon merken. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal, aber doch früher oder später. Wir brauchen nur zu schwimmen und dabei unseren Geist zu öffnen. Wenn sie sich im Ozean, im Kollektivgedächtnis befindet, werden die Schieber sie zu uns bringen.«
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn wir uns geirrt hätten, Felka.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie fest. »Wir irren uns nicht, Clavain. Wir irren uns nicht.«
Er hoffte wider alle Wahrscheinlichkeit, sie möge Recht behalten. Sie umfasste seine Hand noch fester, und dann machten sie beide den ersten zaghaften Schritt auf den Ozean zu.
Antoinette Bax wartete, bis die Polizeidrohne die Luftschleuse verlassen hatte. Die Maschine bestand nur aus glatten schwarzen Panzerplatten und scharfen Insektengliedern und erinnerte entfernt an eine abstrakte, aus Scherenteilen zusammengesetzte Skulptur. Sie war eisig kalt, denn sie hatte an der Außenseite eines der drei Polizeikutter gesessen, die Antoinettes Schiff eingekreist hatten. Und sie war mit einer uringelben Schicht aus gefrorenem Treibmittel überzogen, das nun allmählich auftaute und in hübschen kleinen Kringeln und Spiralen an ihr herunterrann.
»Bitte zurücktreten«, sagte die Polizeidrohne. »Vor körperlichem Kontakt wird gewarnt.«
Das Treibmittel verbreitete einen stechenden Geruch. Antoinette klappte ihr Helmvisier herunter, als die Drohne an ihr vorbeitrippelte.
»Ich weiß nicht, was du hier zu finden hoffst«, sagte sie und folgte ihr in diskretem Abstand.
»Das kann ich erst sagen, wenn ich es gefunden habe«, antwortete die Drohne. Sie hatte die Frequenz von Antoinettes Anzugradio bereits identifiziert.
»He, hör mal. Ich habe nichts mit dem Schwarzmarkt zu tun. Dafür lebe ich viel zu gerne.«
»Das sagen sie alle.«
»Was könnte man ins Hospiz Idlewild denn schon groß schmuggeln? Das ist doch nur ein Haufen von asketischen religiösen Spinnern. Wer sollte sich dort für Schmuggelware interessieren?«
»Sie verstehen also doch etwas von Schmuggelware?«
»Das habe ich nie …«
»Schon gut. Aber bedenken Sie, Miss Bax, wir befinden uns im Krieg. Da muss man mit allem rechnen.«
Die Polizeidrohne blieb stehen und bewegte ihre Glieder. Von den Gelenken sprangen große gelbe Eiskrusten ab. Der Körper der Maschine war ein schwarzes Ei mit zahlreichen Öffnungen, aus denen Gliedmaßen, Greifwerkzeuge und Waffen sprießten. Für einen Piloten war in seinem Innern kein Platz. Es reichte gerade für die Technik, die dafür sorgte, dass die Drohne mit dem Piloten in Verbindung blieb, der sich, von allen nicht lebenswichtigen Organen befreit, in einem Lebenserhaltungstank auf einem der drei Kutter befand.
»Du kannst dich ja im Hospiz erkundigen, wenn du willst«, sagte Antoinette.
»Das habe ich bereits getan. Aber man möchte in solchen Fällen eben ganz sicher sein, dass alles mit rechten Dingen zugeht – dafür haben Sie doch sicher Verständnis?«
»Ich habe für alles Verständnis, wenn du dafür von meinem Schiff verschwindest.«
»Hm. Und warum haben Sie es so eilig?«
»Weil ich eine Matsch … Verzeihung, einen Kälteschlafpassagier an Bord habe und nicht möchte, dass er mir vorzeitig auftaut.«
»Den Passagier möchte ich mir gerne ansehen. Ist das möglich?«
»Ich kann es dir wohl kaum verwehren.« Sie hatte mit diesem Ansinnen gerechnet und ihren Vakuumanzug bereits angelegt, bevor die Drohne an Bord gekommen war.
»Gut. Es dauert nur eine Minute, dann können Sie weiterfliegen.« Die Maschine hielt kurz inne. »Immer vorausgesetzt natürlich, dass keinerlei Unregelmäßigkeiten festgestellt werden«, fügte sie noch hinzu.
»Hier entlang.«
Antoinette zog ein Stück der Wandverkleidung auf. Dahinter öffnete sich ein Kriechgang, der zum Frachtraum der Sturmvogel führte. Sie ließ der Polizeidrohne den Vortritt und nahm sich vor, von sich aus nichts zu sagen und sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. Auch wenn sie damit wie ein verstockter Sünder wirkte, wenn sie sich plötzlich hilfsbereit gegeben hätte, wäre das weit verdächtiger gewesen. Die Milizen des Ferrisville-Konvents waren längst daran gewöhnt, dass sie nirgendwo gern gesehen waren, und hatten ihr Auftreten gegenüber Zivilisten darauf abgestellt.
»Schönes Schiff haben Sie da, Antoinette.«
»Für dich immer noch Miss Bax. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir zusammen Schweine gehütet hätten.«
»Dann eben Miss Bax. Aber ich bleibe dabei: das Schiff macht äußerlich nicht viel her, aber man sieht, dass es technisch gut in Schuss und voll und ganz raumtauglich ist. Und bei dieser Kapazität könnte es auch in diesen elenden Zeiten in den verschiedensten Handelssparten ganz legal gute Geschäfte machen.«
»Dann hätte ich doch erst recht keinen Grund, mich aufs Schmuggeln zu verlegen?«
»Nein, aber man fragt sich, warum Sie wegen eines reichlich sonderbaren Auftrags für das Hospiz auf solche Gelegenheiten verzichten. Die Eisbettler mögen einen gewissen Einfluss haben, aber nach allem, was wir wissen, sind sie nicht wirklich reich.« Die Maschine blieb wieder stehen. »Sie müssen zugeben, das ist nicht so leicht zu verstehen. Gewöhnlich werden die Eingefrorenen nicht zum Hospiz gebracht, sondern von dort weg. Außerdem ist es ungewöhnlich, überhaupt einen gefrorenen Körper durch die Gegend zu fliegen – die meisten verlassen Idlewild erst, nachdem sie aufgetaut sind.«
»Ich bin nicht verpflichtet, meinen Auftraggebern derartige Fragen zu stellen.«
»Ich aber schon. Sind wir noch nicht bald da?«
Der Frachtraum war nicht belüftet und deshalb nur durch eine Innenschleuse zu betreten. Antoinette schaltete die Beleuchtung ein. Der riesige Raum enthielt keine Fracht, wurde aber ganz ausgefüllt von einem Lagergitter, einem dreidimensionalen Gerüst, in dem normalerweise Frachtpaletten und Kapseln festgemacht wurden. Sie mussten sich mühsam durch die Stäbe hangeln. Die Polizeidrohne setzte ihre Füße so behutsam wie eine Tarantel.
»Es ist also wahr. Sie fliegen leer. Hier drin ist kein einziger Container.«
»Das ist nicht verboten.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber es ist ausgesprochen ungewöhnlich. Die Eisbettler müssen unerhört gut bezahlen, wenn sich ein solcher Flug für Sie lohnen soll.«
»Das Hospiz hat die Bedingungen gestellt, nicht ich.«
»Das wird immer sonderbarer.«
Die Polizeidrohne hatte natürlich Recht. Wie jedermann wusste, kümmerte sich das Hospiz um die Kälteschlafpassagiere der im System eintreffenden Raumschiffe. Auch wenn sie mittellos oder verletzt waren oder an irreversiblem Gedächtnisverlust litten, bei den Eisbettlern wurden sie vorsichtig erwärmt, reanimiert und so lange betreut, bis sie die Station verlassen konnten oder zumindest wieder in halbwegs menschenwürdigem Zustand waren. Manche fanden ihr Gedächtnis niemals wieder und entschlossen sich, auf Idlewild zu bleiben und ihrerseits Eisbettler zu werden. Nur eines gehörte nicht zur Praxis des Hospizes: man nahm keine Gefrierleichen auf, die nicht mit einem interstellaren Raumschiff gekommen waren.
»Na schön«, sagte Antoinette. »Mir hat man es folgendermaßen erklärt: Es sei ein Fehler unterlaufen. Beim Ausladen seien die Begleitpapiere des Mannes mit denen einer anderen Raupe verwechselt worden, die im Hospiz nur untersucht, nicht aber reanimiert werden sollte. Dieser andere Mann wollte eigentlich bis Chasm City im Kälteschlaf bleiben und erst dort aufgewärmt werden.«
»Sehr ungewöhnlich«, bemerkte die Drohne.
»Der andere Bursche war offenbar kein Freund von Weltraumreisen. Na schön, es war eben passiert. Und als der Fehler entdeckt wurde, war die falsche Gefrierleiche schon auf halbem Weg nach CC. Ein schwerer Schnitzer, den das Hospiz schnell bereinigt sehen wollte, bevor das Durcheinander noch größer wurde. Deshalb hat man mich zugezogen. Ich habe den Passagier im Rostgürtel aufgenommen und bringe ihn jetzt schleunigst nach Idlewild zurück.«
»Aber wieso die Eile? Wenn er doch eingefroren ist …«
»Der Tank ist ein Museumsstück, und er ist in den letzten Tagen ziemlich viel herumgestoßen worden. Außerdem fangen zwei Familien an, unbequeme Fragen zu stellen. Je eher die Raupen ausgetauscht werden, desto besser.«
»Ich kann verstehen, dass die Bettler die Sache diskret behandelt wissen wollen. Der makellose Ruf des Hospizes könnte Schaden nehmen, wenn so etwas bekannt würde.«
»Richtig.« Sie gestattete sich eine winzige Spur Erleichterung und war für einen Moment gefährlich nahe daran, ihre aufsässige Pose etwas zurückzunehmen. Doch dann sagte sie: »Nachdem du jetzt wirklich alles weißt, könntest du mich doch endlich weiterfliegen lassen. Oder willst du dich etwa mit dem Hospiz anlegen?«
»Ganz sicher nicht. Aber nachdem wir schon so weit gekommen sind, wäre es doch wirklich eine Schande, sich den Passagier nicht auch noch anzusehen.«
»Schön«, seufzte sie. »Wenn es unbedingt sein muss.«
Sie hatten den Tank erreicht. Er stand nicht weit von der rückwärtigen Wand entfernt, eine ganz gewöhnliche Kälteschlafkoje, matt-silbern, mit einem rechteckigen Rauchglasfenster im Deckel. Darunter war, ebenfalls von einer Rauchglasscheibe geschützt, ein Schaltpult mit Tasten und Statusanzeigen eingelassen. Unter dem Glas glommen verschwommene bunte Lichter.
»Sonderbar, dass er so weit hinten festgemacht ist«, bemerkte die Polizeidrohne.
»Finde ich gar nicht. Er steht gleich neben der Frachtluke – schnell ein- und noch schneller wieder auszuladen.«
»Zugegeben. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ihn mir etwas näher ansehe?«
»Lass dich nicht aufhalten.«
Die Polizeidrohne trippelte auf einen Meter an den Tank heran und fuhr mehrere sensorbewehrte Gliedmaßen aus, hütete sich jedoch, etwas zu berühren. Sie wollte offenbar um jeden Preis vermeiden, Hospiz-Eigentum zu beschädigen oder den Insassen des Tanks in irgendeiner Weise zu gefährden.
»Sie sagten doch, der Mann wäre vor kurzem in Idlewild aufgenommen worden?«
»Ich weiß nur, was mir das Hospiz gesagt hat.«
Die Polizeidrohne klopfte sich nachdenklich mit einer Gliedmaße gegen den eigenen Körper. »Sonderbar, weil nämlich in letzter Zeit keine größeren Schiffe eingetroffen sind. Seit die Nachricht von unserem Krieg jetzt auch in die entferntesten Systeme gedrungen ist, wird Yellowstone nicht mehr so häufig angeflogen wie früher.«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn du Zweifel hast, solltest du noch einmal mit dem Hospiz reden. Ich weiß nur, dass ich hier eine Raupe habe, die man dort zurückhaben will.«
Die Polizeidrohne fuhr ein Gerät aus, das aussah wie eine Kamera, und bewegte es dicht über dem Sichtfenster im Deckel hin und her.
»Es ist eindeutig ein Mann«, sagte sie, als hätte Antoinette das noch nicht gewusst. »Und der Kälteschlaf ist auffallend tief. Was dagegen, wenn ich das Statusfenster aufklappe und mir die Anzeigen ansehe, wenn ich schon einmal hier bin? Wenn es Probleme gibt, könnte ich eine Eskorte organisieren, mit der Sie blitzschnell zum Hospiz …«
Bevor Antoinette eine Antwort oder eine glaubwürdige Ausrede einfallen konnte, hatte die Drohne bereits die Rauchglasklappe über den Schaltknöpfen und Statusanzeigen geöffnet. Sie hielt sich an den Streben des Lagergitters fest, beugte sich vor und bewegte ihr Scannerauge über dem Display hin und her. An manchen Stellen verharrte sie kurz.
Antoinette brach der Schweiß aus. Die Displays waren auf den ersten Blick überzeugend, doch jeder, der sich mit einem Kälteschlaftank auskannte, wäre auf der Stelle misstrauisch geworden. Sie zeigten nicht ganz die Werte eines Passagiers im normalen Kryo-Schlaf. War der Verdacht erst einmal da, dann genügten schon ein paar weiterführende Fragen und der Abruf verschiedener verborgener Anzeigen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Die Polizeidrohne sah sich die Anzeigen genau an und war offenbar befriedigt. Der Scanner zog sich zurück. Antoinette schloss kurz die Augen, doch das bereute sie gleich wieder, denn die Drohne fuhr einen dünnen Greifarm aus und näherte sich damit abermals dem Display.
»Ich würde an deiner Stelle lieber nichts anfassen …«
Die Drohne gab über die Tasten unter der Statusanzeige einen Befehl ein. Neue Lichter erschienen – stahlblaue Wellenlinien und zitternde Histogramme.
»Das sieht komisch aus«, stellte die Drohne fest.
»Wieso?«
»Fast so, als wäre der Insasse bereits to…«
Eine neue Stimme dröhnte durch den Frachtraum. »Verzeihung, Kleine Miss …«
Antoinette fluchte innerlich. Sie hatte Biest befohlen, sich still zu verhalten, solange sie mit der Drohne verhandelte. Aber vielleicht war es sogar ein Glück, dass Biest beschlossen hatte, diesen Befehl zu missachten.
»Was gibt es?«
»Eine Nachricht, Kleine Miss – direkt an uns. Absender: Hospiz Idlewild.«
Die Drohne zuckte zurück. »Was ist das für eine Stimme? Sagten Sie nicht, Sie wären allein?«
»Das bin ich auch«, antwortete sie. »Das ist nur Biest, die Unterpersönlichkeit meines Schiffs.«
»Dann sagen sie ihr, sie soll den Mund halten. Und die Nachricht vom Hospiz ist nicht für Sie bestimmt. Ich hatte eine Anfrage abgesetzt, und das ist wohl die Antwort …«
Die körperlose Stimme des Schiffes dröhnte: »Die Nachricht, Kleine Miss …?«
Sie lächelte. »Spiel das verdammte Ding ab.«
Die Drohne wandte sich vom Kälteschlaftank ab. Biest übertrug die Nachricht auf Antoinettes Helmvisier, so dass es den Anschein hatte, als stünde der Eisbettler mitten im Frachtraum. Der Pilot in seinem Polizeikutter konnte die Botschaft vermutlich über eine eigene Datenleitung abrufen.
Der Eisbettler war eine Frau, eine von den Neuen Alten. Für Antoinette war der Anblick von wirklich alten Menschen immer ein gelinder Schock. Die Frau trug die Ordenstracht mit dem Schneeflockenmotiv und einen gestärkten Schleier. Die Greisenhände mit den deutlich vortretenden Adern hielt sie vor der Brust gefaltet.
»Ich möchte mich für die Verzögerung entschuldigen«, sagte sie. »Wir haben wieder einmal Probleme mit dem Datenverkehr in unserem Netzwerk, die alte Geschichte. Kommen wir zum offiziellen Teil. Mein Name ist Schwester Amelia, und ich bestätige hiermit, dass der Körper … das eingefrorene Individuum … in der Obhut von Miss Bax vorübergehend Eigentum des Hospizes Idlewild und des Heiligen Ordens der Eisbettler ist. Miss Bax hat sich freundlicherweise bereit erklärt, für den schnellstmöglichen Rücktransport dieses kostbaren Gutes …«
»Aber der Mann ist tot«, wandte die Polizeidrohne ein.
Die Eisbettlerin ließ sich nicht unterbrechen. »… und deshalb wären wir dankbar, wenn die Behörden den Transport möglichst nicht behindern würden. Wir haben Miss Bax’ Dienste schon mehrfach in Anspruch genommen, und bisher wurden alle Aufträge stets zu unserer vollen Zufriedenheit erledigt.« Die Eisbettlerin lächelte. »Der Ferrisville-Konvent hat sicher Verständnis dafür, dass solche Vorkommnisse vertraulich behandelt werden sollten … immerhin haben wir einen gewissen Ruf zu wahren.«
Damit war die Nachricht zu Ende; Schwester Amelia verschwand.
Antoinette zuckte die Achseln. »Siehst du – was ich gesagt habe, war die reine Wahrheit.«
Die Drohne beäugte sie mit einem ihrer verdeckten Sensoren. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Körper in diesem Tank ist medizinisch tot.«
»Hör zu, ich habe dir doch erklärt, der Tank ist uralt. Die Anzeige ist defekt, das ist alles. Oder hältst du mich wirklich für so bescheuert, dass ich einen Kälteschlaftank mit einer Leiche durch das Weltall karre?«
»Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig.«
»Das mag schon sein, aber im Moment war das doch wohl alles? Du hast gehört, was die nette Eisbettlerdame sagte. Für den schnellstmöglichen Rücktransport zu sorgen, war wohl der Wortlaut, wenn ich mich nicht irre. Ich finde, das klingt ziemlich eindeutig und ziemlich amtlich.« Sie schob energisch die Klappe über dem Statuspult wieder zu.
»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben«, erklärte die Polizeidrohne, »aber ich verspreche Ihnen, der Sache auf den Grund zu gehen.«
Sie lächelte. »Tu das. Danke. Schönen Tag noch. Und jetzt mach, dass du von meinem Schiff verschwindest.«
Antoinette blieb noch eine Stunde nach Abzug der Polizei auf ihrem Kurs, um den Anschein zu erwecken, als wollte sie wirklich zum Hospiz Idlewild. Dann schwenkte sie ab und beschleunigte so stark, dass ihr der Treibstoffverbrauch die Tränen in die Augen trieb. Eine Stunde später hatte sie den Hoheitsraum des Ferrisville-Konvents verlassen und entfernte sich auch von Yellowstone und seinem Satellitengürtel. Die Polizei machte keine Anstalten, sie zu verfolgen, aber das war nicht weiter verwunderlich. Es hätte zu viel Treibstoff gekostet, sie befand sich außerhalb ihrer Zuständigkeit, und da sie soeben ins Kriegsgebiet eingeflogen war, war ohnehin mit ihrem baldigen Ableben zu rechnen. Es lohnte einfach die Mühe nicht.
Derart optimistisch gestimmt, verfasste und sendete Antoinette eine verkappte Dankesbotschaft an das Hospiz. Sie würdigte die tatkräftige Unterstützung und versprach, genau wie ihr Vater es in ähnlichen Fällen stets getan hatte, sich erkenntlich zu zeigen, sollte der Eisbettelorden jemals ihrer Hilfe bedürfen.
Schwester Amelia antwortete prompt. Gute Reise und viel Glück bei deiner Mission, Antoinette. Jim wäre sehr stolz auf dich.
Das will ich doch hoffen, dachte Antoinette.
Die nächsten zehn Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Das Schiff benahm sich vorbildlich und bescherte ihr nicht einmal jene kleineren technischen Störungen, deren Behebung ihr eine gewisse Genugtuung bereitet hätte. Einmal glaubte sie, am äußersten Rand ihrer Radarreichweite zwei Phantome zu entdecken, die sie verfolgten – schwache, abgeschirmte Signaturen, die ihre Anlage nur mit Mühe registrierte. Nur zur Sicherheit aktivierte sie ihre Abschreckungsvorrichtungen, doch nachdem sie mit einem Ausweichmanöver demonstriert hatte, wie schwierig es wäre, die Sturmvogel zu rammen, fielen die beiden Räuber in die Schatten zurück und suchten sich ein anderes Opfer. Sie sah sie niemals wieder.
Nachdem das überstanden war, gab es auf dem Schiff nicht mehr viel zu tun. Sie konnte nur noch essen und schlafen, und Letzteres beschränkte sie auf ein Minimum, denn sie litt unter ständig wiederkehrenden Albträumen: Nacht für Nacht wurde sie von Spinnen von einem Linienschiff entführt, das zwischen den Karussellen im Rostgürtel verkehrte, und auf einen ihrer Kometenstützpunkte am Rand des Systems verschleppt. Dort öffneten sie ihr den Schädel und versenkten blitzende Instrumente im weichen grauen Brei ihres Gehirns. Kurz bevor sie selbst zur Spinne wurde – ihre eigenen Erinnerungen waren fast gelöscht, und alle Implantate, die sie in das Kollektivbewusstsein eingebunden hätten, befanden sich an Ort und Stelle –, kamen die Zombies. Geschwader von keilförmigen Jagdschiffen rasten auf den Kometen zu und feuerten Penetrationskapseln ab, die sich wie Korkenzieher durch das Eis fraßen. Sobald sie den Bau im Zentrum erreichten, spuckten sie heldenhafte Krieger in roter Rüstung aus, die das Tunnellabyrinth durchkämmten und die Spinnen mit der Präzision von Soldaten töteten, die gelernt hatten, kein Nadelgeschoss, keine Kugel und keine Energiezelle zu verschwenden.
Ein gut aussehender Zombie holte sie aus dem Verhör- und Indoktrinierungsraum der Spinnen, spülte im Schnellverfahren die Nanomaschinen aus, die bereits in ihr Gehirn eingedrungen waren, setzte ihr die Schädeldecke wieder auf, nähte die Kopfhaut und versetzte sie schließlich für die lange Reise zu den Zivilkrankenhäusern im Inneren System in ein Heilkoma. Auf dem Weg zur Kältestation hielt er ihre Hand.
Es war fast immer der gleiche Mist. Die Zombies hatten sie mit einem Propagandavirus infiziert, und obwohl sie die empfohlenen Medikamente zum Ausschwemmen eingenommen hatte, war sie den Traum nie ganz losgeworden. Was sie auch gar nicht unbedingt wollte.
Denn in der einzigen Nacht, in der sie von demarchistischer Propaganda verschont geblieben war, hatten sie nur traurige Träume von ihrem Vater verfolgt.
Sie wusste, dass die Zombie-Propaganda in mancher Hinsicht übertrieb. Aber nur in den Details: was passierte, wenn man das Unglück hatte, von den Synthetikern gefangen genommen zu werden, war unbestritten. Wobei Antoinette sich denken konnte, dass es auch kein reines Vergnügen wäre, den Demarchisten in die Hände zu fallen.
Doch der Krieg war weit weg, auch wenn sie sich jetzt theoretisch im Kriegsgebiet befand. Sie hatte die Flugbahn so berechnet, dass sie die Hauptfronten nicht berührte. Hin und wieder sah sie von weitem Blitze aufleuchten, ein Zeichen, dass irgendwo, mehrere Lichtstunden von ihrer derzeitigen Position entfernt, die Titanen aufeinander prallten. Aber das lautlose Feuerwerk war so unwirklich, dass sie sich dennoch vorstellen konnte, der Krieg wäre vorbei, und sie befände sich nur auf einem interplanetaren Routineflug. Und das war nicht einmal allzu weit von der Wahrheit entfernt. Alle neutralen Beobachter behaupteten, der Krieg läge in den letzten Zügen, und die Zombies verlören an allen Fronten an Boden, während die Spinnen Monat für Monat weiter vorrückten und Yellowstone unaufhaltsam näher kämen.
Dennoch, der Krieg war noch nicht zu Ende, auch wenn der Ausgang inzwischen feststand, und wenn sie nicht aufpasste, konnte sie ihm immer noch zum Opfer fallen. Und bekäme womöglich am eigenen Leibe zu spüren, wie wirklichkeitsnah der Propagandatraum war.
Das hielt sie sich vor Augen, als sie nun auf Tangerine Dream zuschwenkte, den größten Planeten im System von Epsilon Eridani, einen Gasriesen vom Jupitertyp. Mit drei Ge Beschleunigung war sie inzwischen sehr schnell. Die Triebwerke der Sturmvogel arbeiteten auf Hochtouren. Der Planet, eine bedrohliche, orangegelbe Masse, wölbte sich ihr, mit Schwerkraft gesättigt, entgegen. Er war von Beobachtungssatelliten umringt, die ihr Schiff bereits erfasst hatten und es nun mit immer energischeren Aufrufen bombardierten.
Sie befinden sich in einem Umstrittenen Abschnitt. Damit verstoßen Sie gegen …
»Kleine Miss … weißt du auch wirklich, was du tust? Man möchte mit allem Respekt darauf hinweisen, dass diese Flugbahn ganz und gar ungeeignet ist, um in eine Umlaufbahn zu gehen.«
Sie schnitt eine Grimasse. Zu mehr war sie bei drei Ge nicht fähig. »Ich weiß, Biest, aber ich habe ausgezeichnete Gründe dafür. Wir gehen nämlich nicht in eine Umlaufbahn. Wir tauchen in die Atmosphäre ein.«
»In die Atmosphäre, Kleine Miss?«
»Richtig. In die Atmosphäre.«
Sie spürte förmlich, wie sich die Rädchen in Bewegung setzten und längst eingerostete Subroutinen zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder ansprangen.
Biests Unterpersönlichkeit befand sich in einem gekühlten zylindrischen Gehäuse von der Größe eines Raumhelms. Sie hatte das Ding erst zwei Mal gesehen. In beiden Fällen war die Bugpartie des Schiffes fast völlig zerlegt worden. Ihr Vater hatte den Zylinder mit dicken Handschuhen aus seinem Schacht gehoben, und sie hatten ihn beide ehrfürchtig betrachtet.
»Du sagtest wirklich ›in die Atmosphäre‹?«, wiederholte Biest.
»Ich weiß, es ist ein Manöver, das man nicht jeden Tag durchführt«, räumte Antoinette ein.
»Und du bist dir da wirklich ganz sicher, Kleine Miss?«
Antoinette griff in ihre Hemdtasche und zog ein Stück bedrucktes Papier heraus, ein ovales, am Rand eingerissenes Etikett mit einer stilisierten Zeichnung in Gold und Silber. Sie streichelte den Fetzen wie einen Talisman. »Ja, Biest«, sagte sie. »So sicher, wie ich es bisher noch niemals war.«
»Nun gut, Kleine Miss.«
Biest ahnte offenbar, dass es mit Widerspruch nicht weiterkäme, und begann mit den Vorbereitungen für einen Atmosphäreflug.
Die Schemazeichnungen auf dem Schaltpult zeigten, wie Flossen und Halterungen eingezogen und Irisblenden geschlossen wurden, um die Integrität des Rumpfes zu sichern. Das dauerte mehrere Minuten, und danach wirkte die Sturmvogel kaum flugtüchtiger als zuvor. Einige der jetzt noch vorhandenen Ausbuchtungen und Unebenheiten konnten den Flug wohl überstehen, aber die verschiedenen Flossen und Andockkrampen würden wahrscheinlich abgerissen werden, wenn das Schiff auf die Lufthülle traf. Danach musste die Sturmvogel eben ohne die Dinger auskommen.
»Hör zu«, sagte Antoinette. »Irgendwo in deinem Gehirn sind die Programme für die Steuerung in der Atmosphäre versteckt. Dad hat mir einmal davon erzählt, du brauchst also gar nicht erst so zu tun, als hättest du noch nie davon gehört.«
»Man wird sich bemühen, die einschlägigen Verfahren in aller Eile zu lokalisieren.«
»Gut«, sagte sie. Das klang ermutigend.
»Dürfte man trotzdem erfahren, warum diese Programme nicht schon etwas früher abgerufen wurden?«
»Wenn du früher geahnt hättest, was ich vorhabe, hättest du noch mehr Zeit gehabt, mich davon abzubringen.«
»Man hat verstanden.«
»Nun sei nicht gleich beleidigt. Das war eine ganz sachliche Überlegung.«
SturmvogelRostgürtel
Und Antoinette höchstwahrscheinlich auch nicht.
Einen Trost gab es immerhin, dachte sie: wenn sie das Schiff zu Schrott flog, brauchte sie Xavier die schlechte Nachricht nicht selbst zu überbringen.
Man musste auch für Kleinigkeiten dankbar sein.
Vom Schaltpult kam ein leises Signal.
»Biest …«, sagte Antoinette. »Bedeutet dieser Ton das, was ich befürchte?«
»Gut möglich, Kleine Miss. Radarkontakt in achtzehntausend Kilometern vor uns, drei Grad seitlich, zwei Grad Nord von der Ekliptik.«
»Scheiße. Bist du sicher, dass es keine Signalstation und keine Waffenplattform ist?«
»Für beides zu groß, Kleine Miss.«
Sie brauchte keine umfangreichen Berechnungen anzustellen, um das Rätsel zu lösen. Zwischen ihnen und der oberen Hälfte des Gasriesen befand sich ein zweites Schiff; ein Schiff, das ebenfalls dicht über der Atmosphäre flog.
»Was kannst du mir darüber sagen?«
»Es fliegt langsam, Kleine Miss, und nimmt direkten Kurs auf die Atmosphärenhülle. Sieht fast so aus, als plane es ein ähnliches Manöver wie du, allerdings fliegt es um etliche Kilometer pro Sekunde schneller und sein Anflugwinkel ist um einiges steiler.«
»Hört sich an wie ein Zombie – aber das hältst du doch sicher für ausgeschlossen?«, sagte Antoinette rasch, in der Hoffnung, wenigstens diese Befürchtung würde sich nicht bestätigen.
»Wir brauchen nicht länger zu spekulieren, Kleine Miss. Das Schiff schickt soeben eine Botschaft mit Laserstrahl, und das Übertragungsprotokoll ist tatsächlich demarchistisch.«
»Scheiße, warum die Umstände mit dem Laserstrahl?«
»Man empfiehlt mit allem Respekt, es selbst herauszufinden.«
Nachrichtenübermittlung mit Laserstrahl war unnötig aufwändig, wenn zwei Schiffe so dicht beieinander waren. Ein einfacher Funkspruch hätte den gleichen Zweck erfüllt und es dem Zombie erspart, mit seinem Laser das bewegliche Ziel Sturmvogel exakt anzupeilen.
»Wer immer es sein mag, Empfang bestätigen«, befahl sie. »Können wir mit dem Laser antworten?«
»Dazu müssten wir ihn wieder ausfahren, nachdem wir ihn soeben mühsam eingezogen haben, Kleine Miss.«
»Tu es trotzdem, aber vergiss nicht, ihn hinterher wieder ordentlich zu verstauen.«
Sie hörte, wie eine der Flossen ins Vakuum zurückgeschoben wurde. Die beiden Schiffe tauschten mit raschem Zirpen ihre Übertragungsprotokolle aus, dann sah Antoinette in das Gesicht einer Frau, die womöglich noch erschöpfter, verhärmter und nervöser wirkte, als sie selbst sich fühlte.
»Hallo«, sagte Antoinette. »Können Sie mich auch sehen?«
Die Frau nickte kaum merklich. Hinter ihren schmalen Lippen waren gewaltige Massen von angestauter Wut zu erahnen, die wie von einem Damm nur mühsam zurückgehalten wurden. »Ja, ich kann Sie sehen.«
»Ich hätte nicht erwartet, hier draußen jemandem zu begegnen«, bemerkte Antoinette. »Deshalb hielt ich es für angebracht, ebenfalls mit Laser zu antworten.«
»Die Mühe hätten Sie sich sparen können.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Immerhin hatten Sie uns mit Ihrem Radar angestrahlt wie mit einem Scheinwerfer.« Die Frau schaute nach unten, ihr kahler Schädel glänzte bläulich. Sie schien kaum älter zu sein als Antoinette, wobei man das bei den Zombies nie so genau sagen konnte.
»Hm … und das ist für Sie ein Problem?«
»Durchaus, denn wir wollten uns eigentlich verstecken. Ich weiß nicht, was Sie hier draußen zu suchen haben, und es ist mir offen gestanden auch ziemlich egal. Ich empfehle Ihnen nur, Ihr Vorhaben aufzugeben. Der Gasriese befindet sich in einem Umstrittenen Abschnitt, und das heißt, ich hätte jederzeit das Recht, Sie abzuschießen.«
»Ich habe nichts gegen Zom … Demarchisten«, sagte Antoinette.
»Freut mich zu hören. Und jetzt drehen Sie ab.«
Wieder betrachtete Antoinette das Stück Papier, das sie aus ihrer Hemdtasche gezogen hatte. Die Zeichnung stellte einen Mann in einem vorsintflutlichen Raumanzug mit Harmonikabälgen an den Gelenken dar, der lächelnd eine hoch erhobene Flasche betrachtete. Der Halsring, auf den der Helm aufgesetzt wurde, war eine durchbrochene Ellipse aus glänzendem Silber. In der Flasche funkelte eine goldene Flüssigkeit. Nein, dachte Antoinette. Jetzt musste man energisch werden.
»Ich werde nicht abdrehen«, sagte sie. »Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich nicht versuchen werde, etwas von dem Planeten zu rauben. Ich werde nicht einmal in die Nähe einer Ihrer Raffinerien kommen. Ich werde sogar meine Einlassöffnungen geschlossen halten. Ich fliege nur hinein und wieder hinaus, und danach werde ich Sie nicht wieder belästigen.«
»Schön«, sagte die Frau. »Das hört man wirklich gerne. Das Problem ist nur, dass Sie von mir gar nicht so viel zu befürchten haben.«
»Nicht?«
»Nein.« Die Frau lächelte mitfühlend. »Eher von dem Schiff hinter Ihnen. Ich glaube, Sie haben es noch gar nicht bemerkt.«
»Hinter mir?«
Die Frau nickte. »Die Spinnen sitzen Ihnen im Nacken.«
Damit war Antoinette endgültig klar, dass sie tief in Schwierigkeiten steckte.