DIE KRAFT
DER INNEREN
BILDER NUTZEN
Seelische und körperliche
Gesundheit durch Imagination
Einleitung
An wen richtet sich dieses Buch?
Imagination im Alltag: das missglückte Sonntagsfrühstück
Imagination in der Praxis: Das Unbewusste wird zum Verbündeten
Teil I:
Die eindrucksvolle Kraft der Vorstellung
Innere Bilder: unsere täglichen Begleiter
Erinnerungen: Gefühle machen Bilder haltbar
Archetypen: Bilder, die allen Menschen gemeinsam sind
Träume: Botschaften aus der Tiefe unserer Seele
Tagträume: Gedankenausflüge in eine bessere Welt
Training im Kopf: Sportler siegen, Hungernde überleben
Imaginationen: Vorstellungen, die über das Bekannte hinausgehen
Suggestionen: Wenn Vorstellungen befohlen werden
Blick ins Gehirn: Woher kommen die inneren Bilder?
Vom Tiefschlaf bis zum konzentrierten Lernen: die verschiedenen Zustände des Gehirns
Begriffe für innere Vorstellungen
Teil II:
Wie innere Bilder heilen
Biofeedback: Gedankenbilder steuern Körpervorgänge
Positives Denken: Das Negative ausblenden – und alles ist gut?
Gute Bilder, schlechte Bilder: Was die Seele braucht
Schlafend gesund werden: Traumerlebnisse in der Antike
Nächtliche Reise ins Unbewusste: die Wirkung von Träumen
Hypnose: Äußere Anregungen erzeugen innere Bilder
Autogenes Training: ganz entspannt im Hier und Jetzt
Aktive Imagination: im Dialog mit dem Unbewussten
Zurück ins Leben: mit Imaginationen den Krebs besiegen
Imaginative Körper-Psychotherapie: mit Röntgenblick ins Innere
Erst sehen, dann malen: Imaginationen in Bildern festhalten
Teil III:
Die Katathym-Imaginative Psychotherapie
„Katathym-Imaginative Psychotherapie“ – was ist das?
Dem Therapeuten über die Schulter geschaut – eine typische KIP-Stunde
Therapeutische Basis – die Grundstufe
Von der Wiese bis zum Berg: die Motive der Grundstufe
Erstes Standardmotiv: die Wiese
Zweites Standardmotiv: der Bach oder Fluss
Drittes Standardmotiv: der Berg
Viertes Standardmotiv: das Haus
Fünftes Standardmotiv: der Waldrand
„Stellen Sie sich ein Haus vor“: Motive der Grundstufe im konkreten Fall
Therapeutische Herausforderung – die Mittelstufe
Vom Rosenbusch zum Löwen: die Motive der Mittelstufe
Sechstes Standardmotiv: der Rosenbusch (für Männer)
Siebtes Standardmotiv: Fahrt im Auto (für Frauen)
Achtes Standardmotiv: der Löwe
Intensive Gefühle kommen ans Licht – die Oberstufe
Von der Höhle zum Vulkan: die Motive der Oberstufe
Neuntes Standardmotiv: die Höhle
Zehntes Standardmotiv: das Sumpfloch
Elftes Standardmotiv: der Vulkan
Zwischen starkem Ich und Kindsein: Was die Therapie beim Klienten bewirkt
Beschützer, Vertrauter, Fordernder – die Rolle des Therapeuten
Die Wirksamkeit der KIP: Wie misst man den Erfolg?
Blick über den Tellerrand: Ergänzungen zur imaginativen Therapie
Element 1 – Aufklärung durch ein einfaches Modell: das Straßen- und Wassernetz
Element 2 – Erst malen, dann das Verhalten ändern: die Interpretation von Bildern
Element 3 – Neue Sicht auf alte Dinge: „das Gefühl als Wesen“
Element 4 – Rückzug in die Geborgenheit: „der Ort des inneren Friedens“
Element 5 – Reise in die Vergangenheit, die uns geprägt hat: „das innere Kind“
Teil IV:
Beispiele aus der Praxis: Wie die KIP hilft
Corinna P.:
Angstattacken nach dem Überfall eines Sexualtäters
Petra M.:
Das Gefühl der Traurigkeit zulassen
Olaf S.:
Schlafstörungen und Burn-out machen den Alltag zur Qual
Sophie K.:
Essstörungen, nachdem der Vater ein schlankes Kind wollte
Eva L.:
Die Angst, an einer schlimmen Krankheit zu leiden
Sebastian R.:
Wenn die Furcht vor Spinnen im Kopf hochkrabbelt
Katrin B.:
Bauchweh und Zwänge, die aus der Seele kommen
Teil V:
Ausblick: Imagination kann noch mehr
Vielversprechende Ergebnisse: innere Bilder im Beruf
Neues Forschungsprojekt: Imaginationen gegen das Altern
Literatur
Stichwortverzeichnis
Dieses Buch richtet sich nicht nur an Ärzte, Heilpraktiker, klinisch tätige Sozialarbeiter, Psychologen und Psychotherapeuten, sondern an jeden, der mehr über Imaginationen und ihre Anwendung erfahren möchte.
Den Schwerpunkt bildet die Arbeit mit inneren Bildern in der therapeutischen Praxis. Im Zustand der Entspannung gezielt innere Bilder hervorzurufen, kann bei verschiedenen seelischen Störungen erstaunliche Wirkungen erzielen. Sie sind so vielfältig, dass auch Therapeuten, die bereits mit Imaginationen arbeiten, in diesem Buch Neues finden werden.
Aber auch wer noch nie eine therapeutische Praxis betreten hat, kann von der Lektüre profitieren. Man muss nicht gleich an einer Depression, einer Essstörung oder gar an einem Tumor leiden, um das Gefühl zu haben: Ich stecke in einer Sackgasse, aus der ich nicht herausfinde. Oft sind es nur einfache Probleme in Beziehungen zu anderen Menschen, die die Seele belasten und die so einfach dann eben doch nicht zu lösen sind.
Die in diesem Buch beschriebenen Imaginationsmethoden können unter der fachkundigen Anleitung eines Therapeuten bei seelischen Störungen und Krankheiten ihre heilende Kraft entfalten. Sie enthalten aber auch Anregungen für den ganz normalen Alltag, die jeder für sich selbst nutzen kann, der einen Zugang zu seinen inneren Stärken finden möchte.
So wie im folgenden Beispiel, das auf einem eigenen Erlebnis beruht.
Ich hatte mich auf die Einladung zu einem Frühstück gefreut, bei dem ich auf Freunde und Freundinnen traf, die ich länger nicht gesehen hatte. Doch wie es manchmal so ist, verlief das Treffen anders als erwartet: Anstatt sich in gelöster Stimmung zu unterhalten, verrannten sich die Anwesenden in eine unergiebige Diskussion, in der es um Politik, ganz speziell um Europa und den Euro ging. Die Emotionen kochten hoch, man fiel sich gegenseitig ins Wort, und am Ende waren alle irgendwie unzufrieden.
Mir gelang es bis zum Abend nicht, diese Stimmung abzuschütteln, und ich ärgerte mich vor allem über mich selbst, denn auch ich hatte in der hitzigen Diskussion kräftig mitgemischt und war sicher nicht immer sachlich geblieben. Am nächsten Morgen wachte ich sehr früh auf und musste wieder an das Frühstück vom Vortag denken. Noch im Halbschlaf, erinnerte ich mich auf einmal an ein Element der Imagination aus der therapeutischen Praxis, das ich nun hervorholte. Meine Augen blieben die ganze Zeit geschlossen.
Ich sah mich am Tisch sitzen, auf dem jetzt in der Mitte (anders als in der Realität am Vortag) eine kleine Palme stand. Ihr Stamm war breit genug, dass man daran nach oben klettern konnte, was mir problemlos gelang. Nun hatte ich den Überblick: Ich sah alle von oben, auch mich selbst, und hatte endlich den notwendigen Abstand. Klein und unbedeutend erschien mir auf einmal unsere Diskussion und die ganze Situation – entspannt saß ich auf meiner Palme und fragte mich mit einem Schmunzeln, wo denn eigentlich das Problem sei.
Mit diesem Gefühl schlief ich noch eine Runde, bis der Wecker klingelte. Als ich später aufstand, hatte sich die Grübelei, aus der ich am Tag zuvor nicht herausgekommen war, in Luft aufgelöst.
Etwa bis zur Jahrtausendwende war es für Therapeuten selbstverständlich, seelische Konflikte zu lösen, indem sie in der Vergangenheit ihrer Klienten nach allem suchten, was schiefgegangen war und nun negative Zustände wie Angstgefühle und Wut oder zwanghafte Handlungen auslöste. An die Stelle dieser problemorientierten Betrachtung ist heute oft eine eher lösungsorientierte Sichtweise getreten. Immer mehr Ärzte und Psychologen erkennen, dass es manchmal effektiver ist, wenn sich ihre Klienten an Glückserlebnisse oder andere angenehme Situationen erinnern. Sie bilden dann die Grundlage für gegenwärtige Wünsche und Ziele, für einen Blick nach vorn in eine gute Zukunft.
Dieser Ansatz findet sich auch in der Therapie mit Imaginationen, ohne dass sie die Konflikte der Vergangenheit ignoriert. Die Konfrontation mit belastenden Situationen geschieht aber nicht auf direktem Weg, sondern in einer verschlüsselten Symbolsprache. Wenn in der Vorstellung eines Klienten innere Bilder entstehen, die auf den ersten Blick gar nichts mit seinem realen Leben zu tun haben und sich jeglicher Logik entziehen, dann mag das zunächst irritierend wirken. Doch als Beobachter einer solchen therapeutischen Sitzung spürt man schnell: Hier findet etwas statt, das nichts mit einer Verstandesleistung zu tun hat, nichts mit Können oder Intelligenz – es geschieht einfach, ganz von selbst, indem der Therapeut mit einfachen Fragen das Unbewusste des Klienten oder der Klientin anregt. Mit beeindruckenden Folgen, wie die zahlreichen Beispiele in den folgenden Kapiteln belegen.
Hinweis: Um Platz zu sparen und dieses Buch leichter lesbar zu machen, wird meist nur die männliche Form verwendet („Therapeuten und Klienten haben dasselbe Ziel“). Dabei ist selbstverständlich stets auch die weibliche Form gemeint, ohne dass sie ausdrücklich genannt wird („Therapeuten, Therapeutinnen, Klienten und Klientinnen haben dasselbe Ziel“).
In diesem Teil erfahren Sie, welche Rolle innere Bilder in unserem Alltag spielen – zum Beispiel in Erinnerungen, nächtlichen Träumen und Tagträumen. Weitere Themen sind Visualisierungen, die sich gezielt im Sport und im Beruf einsetzen lassen, sowie die Wirkung von Suggestionen. Und die Frage: Woher kommen die inneren Bilder eigentlich?
Was für ein ungewöhnlicher Abend. Die beiden befreundeten Paare sitzen gemeinsam im Restaurant, aber sie können nicht sehen, was sie essen. Es ist stockfinster. Diese weichen Klümpchen: Schmecken sie wie Karotten? Oder sind es Kartoffeln? „Nein, ich glaube, das sind weich gekochte Birnen“, ertönt eine Frauenstimme mit vollem Mund aus der Dunkelheit. Sie klingt unsicher.
Könnten die Anwesenden sehen, was auf ihren Tellern liegt, gäbe es keine Zweifel. Aber sie sind Gäste in einem Dunkelrestaurant. Und staunen, dass ihr Geschmacksempfinden sie so im Stich lässt.
Dieses Beispiel zeigt, wie dominant der Sehsinn ist: Rund 80 Prozent aller Informationen, die wir im Alltag aufnehmen, liefern uns die Augen. Ihre Nervenzellen vereinigen sich zum Sehnerv, und er leitet elektrische Impulse in den Hinterkopf. Dort herrscht ausgefeilte Arbeitsteilung – Formen, Farben, Helligkeit, Bewegungen und Abstände von Objekten haben im hinteren Bereich des Großhirns jeweils eine eigene „Abteilung“. Wenn alle Abteilungen harmonisch zusammenarbeiten, dann passiert das, was für uns so selbstverständlich ist, dass wir nur selten darüber nachdenken: Wir sehen.
Dabei ist es eigentlich ein Wunder, dass unser Gehirn aus Stromsignalen Bilder erzeugt. Wie komplex der Sehprozess ist, zeigen die Erfahrungen von Patienten, die von Geburt an blind waren und erst als Erwachsene am Sehnerv operiert wurden: Anstatt sich an überraschenden Eindrücken einer bisher unbekannten Welt zu erfreuen, nehmen sie anfangs nur verwirrende Formen und Farben wahr. Ihr Gehirn hat nicht gelernt, die eintreffenden Impulse der Nervenzellen zu entziffern.
Nur wer beizeiten die bunte Vielfalt einer äußeren Umgebung kennengelernt hat, kann auch innere Bilder erleben. Bilder, wie sie jeder sehende Mensch im Kopf hat und die sofort auftauchen, wenn man einen einfachen Begriff wie „Hochzeitskleid“ oder „Elefant“ hört. Bei einem solchen Wort keine optische Vorstellung zu haben, ist kaum möglich: Wir sind jederzeit für visuelle Eindrücke empfänglich.
Eine besondere Faszination üben jene inneren Bilder auf uns aus, die wir mit Attraktivität, Anmut und Schönheit verbinden. Die promovierte US-Psychologin Nancy Etcoff schrieb 2001 in ihrem Buch „Nur die Schönsten überleben“: „Selbst wenn wir jede Ausgabe von Vogue, High Society und den anderen großen Modezeitschriften und jedes Foto von Kate Moss, Naomi Campbell und Cindy Crawford ins Feuer werfen würden – in unseren Köpfen würden nach wie vor die Bilder jugendlicher, perfekter Körper Gestalt annehmen und in uns den Wunsch erwecken, ebenso gut auszusehen. Niemand ist dagegen gefeit.“ Die Namen der Models und der Magazine sind vergänglich. Aber der Wunsch, einem attraktiven Vorbild zu ähneln, von dem man ein Bild im Kopf hat, ist zeitlos.
Sogar dann, wenn wir nur hören und nicht sehen, sind innere Bilder für uns wichtig. Will uns ein Redner für sich gewinnen, muss er anschaulich und bildhaft sprechen; sonst erreicht er uns nicht, und wir können uns kein Bild machen von dem, was er sagt. Mancher hat ein ideales Selbstbild von sich und bildet sich ein, anderen ein Vorbild an Tugend und Toleranz zu sein. Obwohl er womöglich ein festgelegtes Weltbild im Kopf hat, zu dem ein ausgeprägtes Feindbild gehört. Vielleicht folgt er aber auch einem ganz anderen Leitbild. Ganz ohne innere Bilder lebt jedenfalls niemand. Was man auch daran sieht, dass unsere Sprache von bildhaften Wörtern durchdrungen ist.
Ohne innere Bilder würde die Welt stillstehen und verkümmern. Denn praktisch jede neue Idee, jede Erfindung, jede Entdeckung existiert zunächst als bildhafte Vorstellung. Als Kolumbus einen neuen Kontinent entdeckte, verortete er ihn entsprechend dem Bild, das er sich von der Erde und von seinem Reiseziel Indien gemacht hatte. Als der erste Motor gebaut wurde, hatte sein Konstrukteur das Bild eines Kolbens im Kopf, der sich im Zylinder bewegt.
Abseits der großen Entdeckungen und Erfindungen haben wir alle unsere kleinen, alltäglichen Bilder im Kopf, unsere Fantasien, Wünsche und Vorstellungen. Innere Bilder können in uns lebendig werden und unseren Horizont erweitern. Sie können ihn aber auch einengen. Zum Beispiel bei der Partnerwahl.
Oft haben wir ein ganz bestimmtes Bild von unserem zukünftigen Partner im Kopf – er soll zum Beispiel nicht nur ehrlich, humorvoll und treu sein, sondern auch bestimmte äußere Merkmale erfüllen, Katzen lieben und denselben Musikgeschmack haben wie wir selbst. „Verständnis wird aber erst möglich, wenn ich mich von den Bildern verabschiede, die sich in mir festgesetzt haben und mit denen ich den Partner oder die Partnerin immer wieder festnagele“, warnt der Lebensberater und christliche Autor Anselm Grün.
Für Katharina M. stand schon als Studentin fest: Der Mann, den sie einmal lieben und heiraten würde, könnte groß oder klein sein, dick oder dünn, aber eines würde er ganz sicher nicht haben – einen Bart. Während eines Praktikums lernte sie dann einen etwa gleichaltrigen Kollegen kennen, mit dem sie häufiger ins Gespräch kam. Sie fand ihn sympathisch, aber sexuell interessierte er sie „null“, weil er Bartträger war. Bis die beiden eines Tages von ihrem gemeinsamen Chef zu einer Veranstaltung geschickt wurden, wo sie viel Zeit miteinander verbrachten und sich näher kennenlernten. „Auf einmal hat es bei mir gefunkt“, erinnert sich Katharina. Die beiden wurden ein Paar. „Und heute liebe ich seinen Bart genauso wie alles andere an ihm.“
Innere Bilder können eine unglaublich große Macht ausüben – im Guten wie im Schlechten: Sie können Sportlern helfen, Siege zu erringen, sie können seelische Verspannungen lösen, Verletzungen und sogar schwere Krankheiten heilen – aber sie können solche Verletzungen auch erzeugen und mit ihrer Beständigkeit ein ganzes Leben negativ beeinflussen.
Ein einziger Satz wie „Du warst schon als Baby nicht gewollt“, von Mutter oder Vater geäußert, kann sich tief in der Seele des Angesprochenen verankern und ein zerstörerisches Selbstbild erzeugen – das Selbstbild eines Menschen, der sich zeitlebens wertlos fühlt. Es gibt beruflich äußerst erfolgreiche Frauen und Männer, die mit ihrem Fachwissen bei anderen viel Anerkennung erworben haben, sich in ihrem Innersten aber für minderwertig halten und immer wieder von Selbstzweifeln geplagt werden.
Negative Bilder wieder loszuwerden, die sich in der Seele eingenistet haben, ist schwer. Wie es mithilfe positiver Gegenbilder gelingen kann, darum geht es im zweiten und dritten Teil dieses Buches.
Obwohl wir „Augenmenschen“ sind und unsere Umgebung vor allem visuell erfassen, sind es nicht Bilder, die in unserem Gedächtnis die haltbarsten Spuren hinterlassen. Erinnerungen an Gerüche sind weitaus stabiler, sie können sogar bis in die früheste Kindheit zurückreichen.
Der Grund hierfür: Der für das Riechen zuständige Bereich des Gehirns ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Er gehört zum tief im Kopf liegenden limbischen System, in dem auch elementare Gefühle wie Angst und Lust ihren Ursprung haben. Gerüche sind deshalb fast immer mit einem Gefühl verbunden. Wir empfinden sie als angenehm, eklig, betörend, abstoßend oder reizvoll – aber gleichgültig sind sie uns nur selten.
Für optische Eindrücke gilt das nicht. Der Anblick einer leeren Seite in einem Notizblock erregt weder besondere Aufmerksamkeit noch stört er. Was wir sehen, empfinden wir häufig als neutral, weil unser Sehzentrum im entwicklungsgeschichtlich jungen Großhirn sitzt. Nah am Verstand, nicht zwangsläufig an Gefühle gekoppelt.
Sobald aber das, was wir sehen, unsere Aufmerksamkeit erregt, sobald es uns bewegt, bleiben uns die optischen Eindrücke, ähnlich wie Gerüche, lange im Gedächtnis. Viele Menschen wissen noch heute genau, wo sie am 11. September 2001 waren – als sie vom Crash der zwei entführten Flugzeuge ins New Yorker World Trade Center erfuhren. Wer die Bilder des Terroranschlags im Fernsehen erlebt hat, erinnert sich noch immer daran, wo er sich damals befand. Das von starken Gefühlen wie Angst oder Fassungslosigkeit begleitete Geschehen ist als inneres Bild fest in der Erinnerung gespeichert.
Der Wirkungsgrad einer Vorstellung „beruht auf der Intensität der Emotion und der Bildqualität“, hat der Arzt und Psychotherapeut Bernt Hoffmann festgestellt, der viele Jahre als Lehrer für autogenes Training arbeitete. Wie lebendig innere Bilder werden können, wenn Einbildungskraft und Emotion nur eng genug miteinander verbunden sind, zeigt das Beispiel des Schriftstellers Gustave Flaubert (1821–1880). Als er seinen Welterfolg „Madame Bovary“ schrieb, beobachtete er an sich selbst: „Die Gedanken meiner Einbildungskraft verfolgen mich, oder vielmehr, ich bin es, der in ihnen lebt. Als ich beschrieb, wie Emma Bovary vergiftet wird, hatte ich selbst einen deutlichen Arsenik-Geschmack im Munde, war ich selbst richtig vergiftet.“ Die Folge: „Ich habe mein ganzes Diner wieder von mir gebrochen.“
Unter den Bildern, die dauerhaft in unserem Gedächtnis gespeichert sind, gibt es eine faszinierende Gruppe, die sich von allen anderen unterscheidet: Es sind jene Motive, die wir in uns tragen, ohne sie zuvor bewusst gesehen zu haben. Diese „Erfahrungen“, die man nicht selbst gemacht hat, aber trotzdem erinnert, sind angeboren und dienen dem Überleben in gefährlichen Situationen. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther bezeichnet sie als „Schatz, mit dem jedes Kind zur Welt kommt“. Es sind oft keine angenehmen Bilder: der Anblick einer Schlange, plötzlich einsetzende Dunkelheit, ein Blick aus großer Höhe.
Dass solche Angst erzeugenden Vorstellungen im Laufe der Evolution erworben und von Geburt an in uns angelegt sind, hat einen biologischen Sinn: Man muss nicht erst aus großer Höhe in die tödliche Tiefe stürzen, um die Erfahrung zu machen, dass ein Abgrund lebensgefährlich ist.
Wenn ein Kind zum ersten Mal in seinem Leben eine Schlange und ein junges Kaninchen erblickt, wird es kaum die Schlange als „süß“ und das kleine Kaninchen als furchterregend einstufen. Ein Repertoire von kollektiven Bildern, das allen Menschen von Geburt an gemeinsam ist, gibt uns eine erste Orientierung, sobald wir auf die Welt kommen. Bewusst sind uns diese elementaren Bilder nicht.
C. G. Jung, der Begründer der analytischen Psychologie (sie entstand neben Sigmund Freuds Psychoanalyse), nannte den allen Menschen gemeinsamen Bildervorrat „das kollektive Unbewusste“. Es sei „ein Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist.“
Zum kollektiven Unbewussten gehörten für Jung auch die Archetypen, seiner Ansicht nach angeborene Strukturen unserer Psyche, die alle Menschen in allen Kulturen gemeinsam haben in Form von Bildern, Legenden und Geschichten. Sie sollen schon immer in uns vorhanden sein und uns an der jahrtausendealten Erfahrung unserer Vorfahren teilhaben lassen. Beispiele für diese im Unbewussten verankerten Symbolgestalten sind Engel, die Hölle, die weise Frau, das Paradies und der Kreis als Zeichen für Ganzheit. „Die archetypischen Strukturen sind dem Menschen eingeprägt“, sagt Anselm Grün. „Sie zentrieren die Seele. Sie führen sie in ihre eigene Mitte, in ihr Zentrum, zum wahren Selbst des Menschen.“
Im Traum können die Archetypen vorübergehend ans Licht treten. Laut C. G. Jung zeigen sie sich in Form von Symbolen, deren Deutung aufschlussreich ist: Sie enthalten Hinweise auf Wünsche, Sorgen und Konflikte, aber auch auf deren mögliche Lösung. Deshalb können Träume, wenn sie mithilfe eines Therapeuten analysiert werden, eine erhellende oder sogar heilende Wirkung haben.
Auch für Traumerlebnisse gilt: Wieder sind es vor allem Bilder, die das nächtliche Geschehen bestimmen, kaum dagegen Gerüche, Geräusche oder Geschmackseindrücke. Neben Szenen, in denen ganz offensichtlich das aktuelle Tagesgeschehen verarbeitet wird, zeigen sich im Traum auch Menschen und Ereignisse aus unserer Kindheit, der Schulzeit oder aus der sonstigen Vergangenheit, oft in einer seltsam verzerrten oder verschwommenen Form, die wir dennoch als sehr realistisch erleben. Was dann beim Erwachen irritierend sein kann.
Zu den typischen Motiven gehören Szenen, in denen der Träumende flieht, was sich als Flucht vor Problemen oder schwierigen Entscheidungen deuten lässt; man fühlt sich unter Druck und verfolgt. Sich im Traum fliegend zu erleben, deutet eher auf den Wunsch hin, sich zu befreien; man fühlt sich tagsüber im wahren Leben zu stark angebunden oder gefesselt.
Nacktheit im Traum kann ein Zeichen der Befürchtung sein, man könne aus der Rolle fallen und sich vor anderen eine Blöße geben; vielleicht zeigt man sich anderen gegenüber nicht so, wie man sich fühlt, man ist nicht authentisch. Auch das Fallen ist ein häufiges Traummotiv; es kann Angst vor einem beruflichen oder privaten Absturz bedeuten oder auch ein Zeichen sein für die Angst, etwas oder jemanden loszulassen.
Solche Deutungen sind nicht unverrückbar festgeschrieben. Ob sie stimmen, entscheidet vor allem das mit dem Geschehen verbundene Gefühl. Wer zum Beispiel im Traum eine Treppe hochgeht und das als beglückend erlebt, freut sich vielleicht auf einen beruflichen Aufstieg; wer dagegen die Stufen mit einem Gefühl der Beklemmung betritt, hat womöglich Angst, dass er dem, was ihn oben erwartet, nicht gewachsen ist.
Träume sind ein produktives Selbstgespräch der Seele, sagt der Psychologe und Industrieberater Stephan Grünewald. „Vor allem das nächtliche Träumen macht uns auf Wünsche oder Probleme aufmerksam, die in der hektischen Betriebsblindheit des Tages aus unserem Blick geraten sind.“ Ein Traum könne zum Beispiel ungelebte Sehnsüchte beleuchten und „einen anderen Blick auf das Leben eröffnen“.
Grünewald beschreibt in einem Interview mit dem „Stern“ (Ausgabe 44/2013) einen eigenen Traum, in dem er mitansehen musste, wie sich seine Frau auf einer Party in einen Franzosen verliebte. Der Franzose trug ein Hemd von Grünewald, das dieser, wie er beim Aufwachen realisierte, seit Jahren nicht mehr aus dem Schrank hervorgeholt hatte. Zunächst dachte der Psychologe, er habe von einem Nebenbuhler geträumt. Doch dann wurde ihm klar: Es ging in Wahrheit im Traum darum, „dass ich meine französischen, meine genießerischen Seiten wieder reaktivieren sollte, die meine Frau so liebt“.
Manchmal fördern geträumte Erlebnisse sogar die Kreativität, ohne dass man sie deuten muss. Es gibt Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler, die ihren Träumen ganz konkrete Anregungen entnommen haben.
So träumte zum Beispiel der deutsche Chemiker August Kekulé 1865 von einer Schlange, die sich in den Schwanz biss und dadurch eine kreisförmige Gestalt annahm – das war der Anstoß für den Forscher, die Ringstruktur des Benzols zu entdecken. (Nach anderen Berichten sah er diese Struktur als eine Reihe kleiner Männchen: Sie hielten sich zunächst an der Hand, dann gingen das erste und das letzte Männchen aufeinander zu, sie gaben sich ebenfalls die Hand und schlossen den Kreis.) Auch Friedrich Gauß (1777–1855), der berühmteste Mathematiker seiner Zeit, nutzte den Schlaf für seine Wissenschaft: Die besten Gedanken seien ihm morgens im Bett gekommen.
Eine Studie des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim ergab, dass etwa acht Prozent aller Träume eine Auswirkung auf das kreative Verhalten am Tag haben. Zum Beispiel, indem sie zu einer Reise anregen, die zündende Idee für eine Präsentation liefern oder auf einen übersehenen Fehler in einer Diplomarbeit hinweisen.
Jeder Mensch träumt. Sich am nächsten Morgen an nichts zu erinnern, bedeutet nicht, dass man aus einem traumlosen Schlaf erwacht ist. Wer seine Träume vermisst, kann versuchen, sie bewusst werden zu lassen: Schlafforscher empfehlen, sich vor dem Einschlafen fest vorzunehmen, das kommende Traumgeschehen in der Erinnerung zu behalten. Die schwierige Kunst hierbei ist aber, diese klare Absicht im Bewusstsein zu verankern.
Hilfreich kann ein Traumtagebuch sein, in dem man sofort nach dem Aufwachen jede geträumte Szene notiert. Schon nach wenigen Nächten, so Experten, beflügele die Existenz dieser Seiten das Unbewusste, das dann oft wie von selbst mit seinen Träumen herausrücke.
Man kann auch versuchen, eine konkrete, ungelöste Frage mit in den Schlaf zu nehmen, um davon zu träumen. Mit etwas Übung und Glück taucht dann im Traum eine Antwort auf – und zeigt zum Beispiel einem Schriftsteller, der beim Verfassen seines Romans in einer Sackgasse steckt, wie die Handlung weitergehen könnte.
Eine solche absichtliche Beeinflussung von Träumen nennt man Trauminkubation. Das lateinische Wort „incubare“ bedeutet „ausbrüten“. Das Unterbewusstsein des Schlafenden brütet im Traum über einem Problem.
Es kann sogar gelingen, sich das Traumgeschehen bewusst zu machen – während man schläft. Diese besondere Form des Traums wird Klartraum oder luzider Traum genannt. Im Extremfall liegt der Schlafende hierbei im Bett, weiß, dass er träumt, und greift sogar lenkend in das Traumgeschehen ein.
Das klingt unglaublich, ist aber nicht etwa eine esoterische Variante, über die seriöse Wissenschaftler den Kopf schütteln. Professor Michael Wiegand, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der TU München, erklärt sogar, dass man die Fähigkeit zum Klartraum lernen könne, indem man sich tagsüber eine einfache Frage stelle: „Träume ich gerade?“
Wenn man sich im Laufe eines Tages 20- oder 30-mal überlegt: „Träume ich, oder bin ich wach, und woran merke ich den Unterschied?“, dann entwickelt man eine beobachtende Metaposition. Die Frage bildet im Gehirn ein unterstützendes neuronales Muster und verankert sich so, dass man sie in den nächtlichen Schlaf transportiert. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man die Metaposition dann auch im Traumgeschehen einnimmt und dennoch weiterschläft.
Geübten Klarträumern gelingt es sogar, in solchen Träumen gezielt bestimmte Fähigkeiten zu trainieren: Sportler und Musiker üben zum Beispiel im Schlaf und verbessern ihre Leistungen, ohne einen einzigen Muskel zu bewegen.
Viel häufiger als solche nächtlichen Anstrengungen begleiten uns aber ganz andere Träume. Sie erscheinen tagsüber, wenn wir wach sind, und wir müssen sie mit keiner Technik hervorlocken, denn sie sind einfach da. Ob wir wollen oder nicht. Es ist das gedankliche Abschweifen, mit dem wir uns aus der Realität des Alltags „wegträumen“.
Schon als Kinder haben wir uns in unserer Fantasie in eine Umgebung hineingewünscht, in der wir Helden, stolze Sieger, Besitzer eines begehrten Spielzeugs oder die schönste Prinzessin sein durften. Bis ein Erwachsener uns mit den Worten „träum nicht!“ in die nüchterne Wirklichkeit zurückgeholt hat.
Aber auch heute, längst erwachsen, suchen wir gern die jederzeit verfügbaren inneren Zufluchtsorte auf. Zum Beispiel, um Konflikte zu lösen, die in der Realität mehr Mut erfordern, als wir aufbringen. Im Tagtraum können wir dem Chef die Meinung sagen oder geheime sexuelle Wünsche ausleben, ohne uns dafür schämen zu müssen. Oder wir erleben die Einzelheiten eines Streits in der Fantasie noch einmal, argumentieren diesmal aber schlagfertig. Oder wir fliehen gleich ganz aus dem Alltag und finden uns in Gedanken an einem Urlaubsstrand wieder. Tagträume wirken befreiend, beruhigend und tröstend.
„Die Fähigkeit, sich zeitweise in die Innenwelt der Tagträume, der Fantasien und Imaginationen zurückziehen zu können, bringt uns mit wichtigen Ressourcen unseres Selbst in Verbindung“, schreibt der Autor Heiko Ernst in seinem Buch „Innenwelten“. „Wir nehmen Kontakt zu unseren tiefsten Gefühlen, stärksten Wünschen und geheimsten Gedanken auf. Wir können Ideen und Einfälle sortieren, Erfahrungen einordnen und Verluste und Verletzungen verarbeiten.“
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Tagträume viel häufiger vorkommen, als die meisten Menschen glauben. US-amerikanische Psychologen behaupten sogar, dass wir im Alltag während einer ganz normalen Stunde so oft abschweifen, dass wir uns von diesen 60 Minuten durchschnittlich 28 Minuten lang in Tagtraum-Gedanken befinden.
Besonders oft beschäftigen uns sexuelle Fantasien. Das gilt nicht nur für die Männer, auch wenn sie laut einer Untersuchung vorn liegen: In einer großen britischen Umfrage (British Sexual Fantasy Research Project) gaben 39 Prozent von ihnen an, dass sie in ihrer Fantasie sexuelle Dinge tun können, die in der Wirklichkeit nicht möglich seien; bei den Frauen waren es immerhin 19 Prozent. Hinzu kommt eine Grauziffer: die Anzahl der Frauen und Männer, die sich ihrer sexuellen Tagträume gar nicht bewusst sind oder die ihre Existenz nicht zugeben wollen.
Ebenso wie bei „richtigen“ (nächtlichen) Träumen ruht sich das Gehirn auch bei Tagträumen nicht aus. Es befindet sich keineswegs in einem energiesparenden Stand-by-Modus. Im Gegenteil: Die Synapsen weit auseinanderliegender Hirnregionen feuern pausenlos und intensiv, weshalb die Selbstgespräche des Gehirns etwa 20-mal so viel Energie verbrauchen wie eine bewusste Denkaktion. Das hat der US-amerikanische Neurologe Marcus Raichle gemessen.
Doch Tagträume sind nicht immer nützlich. Ob sie es sind, hängt ganz von der Persönlichkeit und von der aktuellen psychischen Verfassung des Betreffenden ab. Positive Tagträume („Ich bewerbe mich um die neue Stelle, und dann geht es endlich bergauf“) können bei Menschen, die kaum motiviert sind, einen unrealistischen Optimismus hervorrufen, fand der Wissenschaftler Thomas Langens von der Universität Wuppertal heraus (mehr dazu: Eva Tenzer 2009). Der Betreffende belügt sich in diesem Fall selbst: Er bildet sich ein, sein Ziel auch dann zu erreichen, wenn er nicht genug dafür tut. Manch anderer wird, wenn er sich im Tagtraum einen Erfolg vorstellt, anschließend regelrecht pessimistisch und gleichgültig („Das schaffe ich ja doch nicht“).
Von Tagträumen profitieren können dagegen hoch motivierte Menschen. Für sie wirken die gedanklichen Vorstellungen als Ansporn und werden zum inneren Ziel, das mit Willenskraft und Training durchaus erreichbar ist. Wenn sie ihre Erfolge im Tagtraum immer wieder erleben und „durchspielen“, dann schneiden sie spürbar besser ab als ohne diese gedankliche Vorbereitung.
Spitzensportler machen sich die Erkenntnis, dass gedankliche Vorstellungen ihre Leistung steigern können, längst zunutze. Sie wissen: Um ganz nach oben zu kommen, reicht es nicht aus, nur körperlich zu trainieren. Sie setzen zusätzlich die Kraft innerer Bilder ein und absolvieren ein „mentales Training“.
Anders als bei Tagträumen entstehen die Bilder hier nicht beiläufig oder unbewusst, sondern werden systematisch und nach festgelegten Regeln erzeugt – meist unter der Anleitung eines Trainers. Die Sportler arbeiten mit Visualisierungen; das sind vom Bewusstsein kontrollierte optische Vorstellungen, die nicht in eine Fantasiewelt führen, sondern sich mit dem beschäftigen, was die Betreffenden bereits kennen. Im Fall der Sportler sind es Bewegungsabläufe. Zum Beispiel Sprünge über Hürden oder Drehungen an Turngeräten.
Der erfolgreiche deutsche Turner Fabian Hambüchen geht jede Übung vor einem Wettkampf Schritt für Schritt in Gedanken durch und sieht sie wie einen Film vor sich. Sein Onkel und Mental-Coach Bruno Hambüchen sagte dem Magazin „Stern“ (2010): „Vorstellungskraft aufzubauen ist genauso anstrengend wie Muskelaufbau“. Es erfordert viel Konzentration und ist ein teilweiser Ersatz für das echte Training.
„Aber es geht nicht nur um die Fitness“, erklärt der Trainer: „Bei der Visualisierung betrachtet man sich auch ein Stück von außen.“ So kann man eigene Schwachstellen erkennen und anschließend gezielt beseitigen.
Was passiert beim mentalen Training im Körper? Warum können Visualisierungen, bei denen ein Sportler keinen einzigen Muskel rührt, dieselbe Wirkung haben wie richtige Übungen? Darauf haben die Wissenschaftler keine eindeutige Antwort. Eine von mehreren Theorien, die sogenannte Programmierungshypothese, geht davon aus, dass ein sportlicher Akt, der nur in der Vorstellung passiert, eine „Bewegung mit blockiertem Endglied“ sei: Mentales Training unterscheide sich nur insofern vom echten Sport, als die vom Gehirn erzeugten Kommandos nicht an die Körperperipherie weitergeleitet würden. Besonders erhellend ist diese Erklärung nicht, aber es besteht kein Zweifel daran, dass Visualisierungen erstaunlich wirksam sein können.
Dass die Methode nicht auf Einbildung beruht, haben verschiedene Untersuchungen gezeigt. Ein Beispiel: Der britische Sportpsychologe Dave Smith von der Universität Manchester teilte 18 männliche Studenten in drei Gruppen auf und bat sie, ihren kleinen Finger auf eine Messplatte zu drücken – so kräftig wie möglich. Die sechs Teilnehmer der ersten Gruppe trainierten ihren kleinen Finger regelmäßig, die zweite Gruppe benutzte ihren kleinen Finger gar nicht, und die dritte Gruppe stellte sich das Fingertraining nur vor.
Das Ergebnis nach vier Wochen: Diejenigen, die wirklich trainiert hatten, steigerten die Muskelkraft in ihrem kleinen Finger um 30 Prozent, während es bei den Untätigen erwartungsgemäß keinen Fortschritt gab. Die Gruppe aber, die nur im Geist trainiert hatte, steigerte ihre Muskelkraft um immerhin 16 Prozent.
In einem anderen Versuch wurden Freiwillige gebeten, in Gedanken verschiedene Gewichte zu heben. Je nachdem, welches Gewicht der Leiter des Experiments nannte, veränderte sich die Muskelspannung der Teilnehmer im entsprechenden Ausmaß.
Welche Kraft in Visualisierungen stecken kann, zeigt sich nicht nur beim Sport. In seinem Buch „Gut sein, wenn’s drauf ankommt“ schildert der Psychologe Hans Eberspächer das beeindruckende Beispiel eines Piloten, der eine Boeing 737 von München nach Mallorca fliegen sollte.