Herbst 2016: Franz Xaver Misslinger war einmal der Shootingstar der deutschen Politik. Jetzt ist seine Ehe mit Selma in der Krise, seine Tochter entgleitet ihm und seine Position in der Partei wankt.
Kurz vor dem alles entscheidenden Parteitag reist Misslinger mit seiner Tochter in die USA. Das Amerika, das Misslinger vorfindet, steckt selber in der Krise und taugt nicht als Quelle neuer Kraft. Die Welt wandelt sich: New York lässt Luise seltsam kalt, sie versteht unter Freiheit etwas anders als ihr Vater, und aus Deutschland kommen immer beunruhigendere Nachrichten von Misslingers Parteifreund und Förderer.
Als Vater und Tochter nach Long Island aufbrechen, um Misslingers Jugendfreund zu besuchen, gerät seine Welt aus den Fugen. In den buntgefärbten Wälder des Indian Summer geschehen merkwürdige Dinge, auf einer Insel, die es nicht gibt, macht Misslinger eine rätselhafte Begegnung und schließlich verschwimmen an der äußersten Spitze von Montauk nicht nur die Grenzen zwischen Wasser, Land und Himmel sondern auch die zwischen Traum und Wirklichkeit.
Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. »Strömung« ist sein erster Roman.
Jakob Augstein
Strömung
Roman
I was home.
What happened?
What the hell happened?
Steve McQueen als Jake Holman
in The Sand Pebbles, 1966
Im Jahr 2016 kam der Frühling nur langsam über das südliche Jütland und weckte die Halbinsel Angeln ohne Hast aus ihrem Winterschlaf. Bis in den April hinein blieben Schlehen und Herlitze ohne Blüten, und die Hecken standen kahl in der Landschaft und boten dem Wind keinen Widerstand. Die Felder lagen noch lange in der Nässe des Winters, und man konnte sich denken, dass der Raps erst im Mai blühen würde und der Weißdorn nicht vor dem frühen Sommer. So kühl war es.
In anderen Jahren war Franz Xaver Misslinger der Entwicklung der Natur mit einiger Aufmerksamkeit gefolgt. Aber in den ersten Monaten des Jahres 2016 verbrachte er nur wenig Zeit daheim im alten Dreiseithof in der kleinen, zehn Kilometer südlich von Flensburg gelegenen Ortschaft Freienwill. Und auch wenn einmal an einem Wochenende seine Anwesenheit in der Berliner Parteizentrale nicht erforderlich war und auch sonst ihn nichts daran hinderte, nach Hause zu kommen: der Besuch eines Landesverbandes im Westen, ein Abendessen mit Vertretern des Mittelstandes im Festsaal des gründlich renovierten Rathauses einer mittleren Stadt in Schwaben, eine Premiere an der Münchner Oper – seine Verpflichtungen waren ja vielfältig –, dann hatte er dennoch keine Augen dafür, ob draußen noch der Winter herrschte oder schon der Frühling anbrach, weil er mit Wichtigerem beschäftigt war. Mit seiner Zukunft. Um Ostern herum, sagte er zu Selma, er sei früher bekanntlich der Shootingstar der deutschen Politik gewesen – das sagte Misslinger tatsächlich so zu seiner Frau: »Ich war mal der Shootingstar der deutschen Politik!« – aber seitdem sei viel Zeit vergangen, und wenn in diesem Herbst der Vorstand seiner Partei neu gewählt werde, dann solle sich zeigen, was aus ihm noch werden könne: Parteivorsitzender, Außenminister, Vizekanzler. Jetzt erst einmal der Parteivorsitz, das sei fällig, drunter mache er es nicht mehr, sagte Misslinger. Leute wie er würden in Spitzenpositionen heute dringender gebraucht denn je.
Im April wollte Selma wissen, warum er zum zweiten Mal den Termin für die Paartherapie, die ihr, wie sie sagte, sehr wichtig sei, versäumt hatte. Da bat er sie um Entschuldigung.
Im Juni, als der Weißdorn endlich doch zu blühen begann, fuhr Misslinger zu einer Parteiveranstaltung nach Köln, von der er sich Rückendeckung für seine Pläne versprach, und erklärte Selma, dass Nordrhein-Westfalen ja den wichtigsten Landesverband stelle, er sich hier mithin wirklich ins Zeug legen müsse. Im gleichen Monat enttäuschte er einen weiteren Versuch seiner Frau, ihre Ehe zu retten. Mitten in der Flensburger Altstadt wartete Selma an einem hellen Frühsommertag in der Nähe der Praxis des Therapeuten an jenem sechseckigen Brunnen, an dem sie sich früher oft getroffen hatten. Das war ihre Idee. Sie lief viele Mal um den Brunnen herum, aber Misslinger kam nicht. Sie setzte sich auf die Stufen des Brunnens, aber er war auf seinem Telefon nicht zu erreichen. Sie fuhr nach Hause und fand ihn in seinem Arbeitszimmer, in dem sein Vater, der Zahnarzt gewesen war, früher die Patienten behandelt hatte. Er nannte das Zimmer darum den »Schmerzensraum«.
Sie öffnete die Tür, traurig und ohne anzuklopfen. Misslinger schreckte von seinen Unterlagen auf und sah seine Frau überrascht an, weil er die Verabredung vergessen hatte. Er begann gleich zu reden, ja, es tue ihm leid, aber er habe ihr, wie sie sich gewiss erinnere, schon zu Ostern gesagt, dieses werde das Jahr der Entscheidung, und zwar nicht nur für ihn, sondern überhaupt, und darum könne er sich – das sagte er mit einem gewissen Vorwurf in der Stimme – keine Ablenkung erlauben. Er sei an einem entscheidenden Punkt seiner Karriere angekommen, ebenso wie der gesamte Westen, für den zu sprechen er sich durchaus berufen fühle, an einem entscheidenden Punkt, nur damit das klar sei: Er spreche von der gesamten westlichen Wertegemeinschaft, von der NATO, von der Europäischen Union. Ob sie ihm eigentlich zuhöre, wollte er noch wissen. Krisen seien jedoch, das habe er immer gesagt und das gelte auch jetzt, dornige Chancen, und er für seinen Teil sei bereit, diese dornige Chance zu ergreifen, auch wenn das bedeutete, dass er am Ende mit Blut an den Händen dastünde. Als sie ihn entgeistert ansah, fügte er hinzu, das meine er natürlich nicht so, wie es jetzt geklungen habe.
»Wir waren mal ein Team, Misslinger. Aber das hat dir nichts bedeutet. Jetzt bist Du ein Junkie und man wird Dich zu gar nichts mehr wählen«, sagte Selma, drehte sich um und trat durch die Küchentür in den Hof. Die Linde trug das erste zarte Grün. Das Dach des Haupthauses war seit dem vergangenen Jahr wieder mit Reet gedeckt, wie es sich in dieser Gegend gehörte, die Nebengebäude hatte schon Misslingers Vater ausbauen lassen. Selma ging nach hinten in den Garten. Die Esche auf der Wiese war noch schwarz und kahl. Aber die Weißdornhecke blühte wie ein großer Brautstrauß, als wollte sich das grüne Land mit dem blauen Himmel vermählen.
Sie wusste, dass Misslinger früher beinahe sehnsüchtig auf die Blüten des Weißdorns gewartet hatte. Um den Himmelsteich herum waren die Sträucher zu einer dichten Hecke zusammengewachsen, und er hatte ihr erzählt, wie er im Sommer als Kind oft im Netz des Sonnenlichts gesessen hatte, das sich über die Wiese breitete, eingehüllt in den Dunst der dornigen Äste, die in einem wilden Tanz in den Himmel fuhren.
Da setze sich Selma in den summenden Duft und weinte.
Im September wob der späte Sommer goldenes Licht wie feine Fäden von Honig in die Bäume, aber da sprachen Misslinger und Selma kaum noch miteinander. Und als er an den Rhein reiste, weil dort immer noch das geheime Zentrum der Macht lag, warnte sie ihn nicht mehr, wie sie es früher getan hatte, denn sie sah ihn jetzt schon mit anderen Augen.
Im Oktober verkündete Misslinger überraschend, eine Reise nach New York anzutreten, und fragte seine Tochter Luise, ob sie Lust habe, ihn zu begleiten. Er wolle, erklärte er Mutter und Tochter, kurz vor einem für ihn – und den freien Westen – entscheidenden Moment, zu den Quellen seines Glaubens zurückkehren, um Kraft zu schöpfen, ja, es handele sich eigentlich um eine Pilgerreise und Luise sei herzlich eingeladen, daran teilzunehmen.
Als die Bäume beinahe wieder kahl und die Felder schon leer waren, beschloss Selma, den alten Dreiseithof in Freienwill zu verlassen. Sie mietete im Obergeschoss eines roten Backsteinbaus in Glücksburg eine Wohnung mit Blick auf das Wasser und nahm sich vor, den Namen ihres neuen Wohnortes zum Programm ihrer zweiten Lebenshälfte zu machen. Er hat mich nicht mehr gebraucht, dachte Selma: Ich will aber gebraucht werden. Und sie schloss die Tür auf ruhige Art und Weise hinter sich.
Es war zu dieser Zeit, dass sich auf der Welt ein neues Phänomen ausbreitete: Horrorclowns. In der Stadt Green Bay im Bundesstaat Wisconsin fing es an. Ein Mann, der einen langen Kittel trug und wie ein Clown geschminkt war, lief mit vier schwarzen Luftballons in der Hand durch die Straßen. Sonst tat er nichts. Aber er machte den Menschen Angst. Die sozialen Netzwerke verbreiteten die Nachricht, und eine Unruhe bemächtigte sich der Öffentlichkeit.
In den folgenden Monaten wurden weitere Vorfälle gemeldet. Von Amerika breitete sich das Phänomen über die ganze Welt aus. Schwere und Umfang der Zwischenfälle nahmen zu. Zunächst standen die Clowns nur an Straßenkreuzungen und hoben die Hände. Dann sprangen sie nachts hinter Hausecken hervor oder tauchten unvermittelt aus einem Gebüsch auf. Mehrere Zeugen berichteten von einem »bösen Lachen«, das sie gehört hatten. Plötzlich tauchten mit Baseballschlägern und Messern bewaffnete Clowns auf.
Es kam zu Massenaufläufen und zu Todesfällen. An einem Tag im Herbst versammelten sich Hunderte Studenten der überaus angesehenen und auf eine lange Geschichte zurückblickenden Pennsylvania State University zur »Clownsjagd«, die jedoch ohne Ergebnis verlief. Um Halloween herum erreichte die Zahl der Sichtungen ihren Höhepunkt. Aber Mitte November war der Spuk vorüber.
Es war kalt geworden. Der Winter kam.
»Lieber Walter, meine Damen und Herren, ich bin Franz Xaver Misslinger, und ich sage immer, bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf. Aber Sie kennen mich. Wir haben viel hinter uns gebracht, um heute hier zu stehen. Wer hätte gedacht, dass wir es so weit bringen? Ich sage es Ihnen: Ich habe es gedacht. Ich habe an Sie geglaubt und an mich selbst. Und woher habe ich diese Sicherheit? Hier sitzt der Mann, der die Antwort ist: Walter! Ich verdanke Dir mehr, als ich sagen kann. Ich verbeuge mich vor Dir. Stellt euch das vor, liebe Freunde: Was einer kann! Was alles möglich ist!«
Misslinger spürt die Begeisterung des Saals schon jetzt, Wochen im Voraus. Er sieht die helle, weite Halle des alten Postbahnhofs vor sich. Die wogenden Köpfe, die fliegenden Hände, das große Tier, das ihm seine Wärme schenkt. Von einem guten Redner sagt man: Der Saal gehört ihm. In Misslingers Fall ist es buchstäblich wahr. Wenn er in Form ist, dann kann er mit den Menschen machen, was er will: Er scherzt, sie lachen, er beschwört, sie sind gebannt, er wirft einen Köder aus, sie greifen gierig danach. Misslinger macht aus einer Rede ein Ritual, einen großen Akt der Vereinigung. Und auf dem Parteitag im November wird er eine große Rede halten. Über die Freiheit. Er wird ein Evangelium des Liberalismus verkünden, eine frohe Botschaft der Leistungsbereitschaft und des Fortschritts. Man wird ihm zujubeln als einem Messias der Eigenverantwortung. Den Text schreibt er jetzt auf, nachher wird er ihn nicht brauchen. Er kann zwei, drei Stunden frei sprechen, klar, verständlich, mitreißend. Das ist sein Talent, und er hat es gut trainiert, so viele Reden hat er gehalten, auf Marktplätzen und in umgebauten Scheunen, die jetzt als Nebenzimmer von Gaststätten dienen, im Landtag und auf den Parteitagen. Die erste Lektion hat er von Walter gelernt: »Das Wichtigste beim Reden sind die Pausen«, hat Walter gesagt, als sie sich kennengelernt haben.
Es ist Montagvormittag, 10. Oktober, der Wagen fährt am Weinbergpark vorbei. Misslinger lehnt den Kopf an die kalte Scheibe. Diese Partei wird sich ihm unterwerfen, sie wird sich ihm hingeben, in der Backsteinindustriearchitektur des alten Postbahnhofs in Berlin. Und Walter wird da sein, auf dem Platz des Ehrenvorsitzenden wie immer, und der Alte wird dem Jüngeren seinen Respekt zollen. Walters Zeit ist abgelaufen, denkt Misslinger.
Er schließt den Rechner, den er gerade erst geöffnet hat, und verstaut ihn in der feinen schwarzen Tasche, die Selma ihm geschenkt hat. Er kann sich gerade nicht gut konzentrieren. Vor einer halben Stunde hat er die Tablette genommen und wartet darauf, dass sie wirkt. Der Wagen hatte ihn um halb zwölf in seiner Wohnung in der Choriner Straße abgeholt. Das Büro hatte ihm einen Fahrer geschickt, den er noch nicht kannte. Während der Fahrt, die wegen erhöhten Verkehrsaufkommens und einer Sperre deutlich länger als die eingeplanten zwölf Minuten dauerte, erfuhr Misslinger den Namen des Mannes, Schwaiger mit »ai«, wie gleich betont wurde, worauf sich eine kurze Unterhaltung über den Ursprung dieses Namens anschloss, die zu der Erkenntnis führte, dass die Familien beider Männer wenigstens väterlicherseits aus dem Süden stammten, Misslingers aus Südtirol, Schwaigers aus Bayern, das Schicksal sie aber beide nach Norden verschlagen hatte, woraus man jetzt eben das Beste machen müsse. Diese Gemeinsamkeit erfüllte das Fahrzeuginnere mit einer heiteren Stimmung, aufseiten des Fahrers, weil er sich etwas davon versprach, dass sein neuer Chef offenbar ein zugänglicher Mann war, aufseiten Misslingers, weil er darauf achtete, im Umgang mit den sogenannten einfachen Leuten einen freundlichen, nie aber einen herablassenden Ton anzuschlagen und sich jedes Mal freute, wenn ihm das gelungen war.
Der Fahrer setzt ihn am nördlichen Eingang des Bahnhofs ab, fährt ein Stück vor und wartet. Die beiden Männer einigen sich noch schnell darauf, wie unsinnig es sei, einen neuen Bahnhof so zu bauen, dass man beinahe gar nicht mit dem Auto heranfahren kann: »Typisch Berlin«, sagt der Fahrer. »Wählen Sie uns«, sagt Misslinger, »freie Fahrt für freie Bürger!« Er hängt sich die schwarze Tasche um, die er nie zurücklässt, und geht ein paar Schritte auf die großen Drehtüren zu, macht kehrt, läuft hin und her. Es wäre jetzt an der Zeit, denkt er, dass die Tablette wirkt. Vor ihm taucht eine junge Frau mit flachsblondem Haar auf. Noch bevor er ihr Gesicht sieht, bemerkt er die schlanke Figur, den engen braunen Rollkragenpullover, den langen, hellen Mantel. Mit der dunklen, mit großen Blumen übersäten Schlaghose und dem braunen Lederbeutel, der ihr über der Schulter hängt, sieht sie aus wie eine Hippie-Studentin, findet Misslinger und erkennt dann seine Tochter.
Luise hatte schon eine Viertelstunde gewartet, allerdings auf der anderen, dem Kanzleramt zugewandten Seite des Hauptbahnhofes, bis sie ihren Irrtum bemerkte. Sie war am frühen Morgen in ihrem im idyllischen Ostholstein gelegenen Internat aufgebrochen, um mit ihrem Vater über Zürich nach New York zu reisen, wo sie um kurz nach acht Uhr abends Ortszeit landen würden.
»Hey, Misslinger!«, ruft sie. Er nimmt sie in den Arm und hält sie fest, dann drückt er sie von sich weg, lässt die Hände noch auf ihren Schultern und blickt direkt in ihre klugen, fröhlichen, grauen Augen. Das Kluge kommt von Selma, das Fröhliche von mir, denkt Misslinger. Alle nennen ihn so. »Sie können gerne Papa zu mir sagen«, sagt er zu seiner Tochter. Luise antwortet: »Und Sie können gerne Du zu mir sagen, Papa!« Er nimmt ihren Koffer in die linke Hand, legt den rechten Arm um ihre Schulter und geht mit ihr zum Wagen.
Luise ist erst 16, aber sie ist schon größer als er, erst recht mit ihren hohen Stiefeln. Sein Vater, seine Mutter, seine Frau, seine Tochter, alle sind größer als er. Dabei ist er gar nicht klein, die anderen sind nur so groß. Sie ist beinahe erwachsen, denkt Misslinger. Und dass nichts Ängstliches mehr an ihr ist. Ihr Haar, wenn sie es offen trägt, reicht bis zu den Hüften; jetzt hat sie es hochgeknotet, ein blonder Rossschwanz, der beim Gehen pendelt. Die Haare seiner Tochter kommen Misslinger im Licht der Herbstsonne jetzt honigfarben vor.
Er erinnert sich an seine Tochter als ein ängstliches Kind. Damals war er seit ein, zwei Jahren im Bundestag und selten zu Hause. Dann wurde Selma krank. Sie begann zu bluten und wusste nicht, warum. Die Ärzte in der Kieler Klinik entfernten den Krebs zusammen mit der Gebärmutter. In dieser Zeit konnte sich Selma nicht um Luise kümmern. Also verbrachte Misslinger mehr Zeit zu Hause. Er wechselte seiner Tochter die Windeln. Er brachte sie in den Kindergarten, und wenn sie ihn nicht gehen lassen wollte und sich an sein Bein klammerte, dann blieb er im Vorraum sitzen und wartete, bis sie ihn im Spiel vergessen hatte. In diesen Monaten kannte Luise nur die Zärtlichkeit ihres Vaters, seine Stimme, seine Liebe, und beinahe wäre zwischen Vater und Tochter eine Verbindung entstanden, die nichts auf der Welt mehr hätte lösen können. Aber Selma wurde wieder gesund und Misslinger wurde finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion und verbrachte mehr Zeit in Berlin als zu Hause.
Während sie zu dem großen schwarzen Wagen gehen, spürt er die Wirkung der Tablette. Der Koffer in seiner Hand hat gar kein Gewicht mehr. Er ist jetzt sehr glücklich, dass er Luise gefragt hat, ob sie mit ihm diese Reise machen will. Er ist sehr glücklich, dass sie zugesagt hat. Dieses Mal soll sie noch sein Kind sein. Und Selma soll sehen, dass er sich interessiert. Er kann es gar nicht erwarten, dass sie endlich wegkommen. Und er ist Luise dankbar, dass sie ihn nicht allein gelassen hat.
»Bist Du glücklich, Papa?«, fragt Luise, als sie nebeneinander im Fond des Wagens sitzen, der sie zum Flughafen bringt. Die Frage verwirrt Misslinger: »Es gibt verschiedene Arten von Glück und verschiedene Momente dafür, oder?«, sagt er. Luise reagiert nicht. Also redet er weiter: »Ich freue mich auf unsere Reise.« Sie antwortet immer noch nicht. »Glück als Lebensgefühl oder Glück in einem Moment? Immer noch die falsche Antwort? Wenn ich wüsste, worauf die Frage zielt, wüsste ich besser, was ich sagen soll.«
»Ein Schulprojekt«, sagt Luise, »es geht einfach darum, Leuten diese Frage zu stellen und zu sehen, was sie darauf unmittelbar antworten. Ich freue mich auch.«
Es war ein Test, denkt Misslinger. Warum war ich nicht schlagfertiger? »Und? Was sagen die Leute so?« Misslinger sitzt auf der rechten Seite, er drückt sich weit in die Ecke der ledernen Polster, um Platz zwischen sich und seiner Tochter zu schaffen und sich ihr zuwenden zu können.
Luise hat ihre Hände zwischen die Beine gelegt und guckt nach vorne. Immerhin hat sie ihr Telefon noch nicht herausgeholt.
»Sie antworten so wie Du: sie weichen aus«, sagt sie und zuckt mit den Schultern: »Warum eigentlich? Traut sich denn keiner, einfach zu sagen, was er fühlt?«
»Okay, frag mich noch mal.«
Sie lächelt. Und mit unschuldiger Stimme fragt sie:
»Bist Du glücklich, Papa?«
»Ja.«
»Heyyyyyy!«, ruft Luise.
Misslinger setzt sich aufrecht hin: »Siehst Du. Geht doch.«
»Ich find das nicht so doof«, sagt Luise: »Wir haben am Ende festgestellt, dass Glück vor allem etwas mit Erwartungen zu tun hat.«
»Absolut! Erwartungsmanagement ist superwichtig!«, sagt Misslinger: »Was erwartest Du zum Beispiel von unserem kleinen Trip in die erstaunlichste Stadt des Universums?«
Luise lacht. »Ist das so?«
Misslinger sieht sie überrascht an.
»New York ist wie Mekka«, sagt er, »wie das himmlische Jerusalem, der Nabel der Welt, die Quelle der Erneuerung – natürlich ist das so.«
»Schon gut«, sagt seine Tochter: »Ich hab mir eine Liste gemacht. Wir essen bei Katz und bei Barney Greengrass, wir fahren auf jeden Fall nach Brooklyn, und wir gehen auf den Chelsea Flea Market. Und was willst Du?«
»Ich glaube, ich mache alles, was Du willst«, sagt Misslinger.
Er holt seinen Rechner hervor und schreibt:
»Warum sind wir hier? Weil wir zu den Quellen der eigenen Grundüberzeugung zurückgefunden haben.« Grundüberzeugung ist nicht gut. »Weil wir zu den Quellen unseres Glaubens zurückgefunden haben.« Er notiert sich ein paar Stichworte. »Lebensgefühl«, »Wunsch nach Selbstbestimmung«, »Schaffenskraft«, »Lust am persönlichen Fortschritt«. Und in einer Rede über die Freiheit sollte auch das Wort »Freiheit« mal vorkommen. »Ich sage: Quellen unseres Glaubens und unserer Grundüberzeugung. Ich war an den Quellen, liebe Freunde. Ich komme gerade aus den Vereinigten Staaten zurück, Amerika, Heimat der Freiheit.«
Mein Predigtton, denkt Misslinger. »Du hättest Pfarrer werden können«, hat sein Vater gesagt, und das war durchaus als Kompliment gemeint. Die Ideen, die seinen Sohn umtrieben, waren ihm fremd. Aber die Inbrunst, mit der er sie vortrug, die schätzte er. Jetzt hole ich meine Pilgerfahrt nach, ins gelobte Land, denkt Misslinger und schließt halb die Augen.
»Wir haben gesündigt und sind unrein geworden
und sind gefallen wie ein Blatt,
und unsere Missetaten haben uns wie der Wind fortgetragen.«
Er nimmt sein Telefon. Zwei neue Nachrichten. Selma schreibt: »Ich wünsche euch beiden viel Spaß. Denk daran, dass Luise 16 ist. Mein Misslinger, das bist Du ja noch, oder?« Misslinger überlegt, was das bedeuten soll, und dann fragt er sich, ob Selma ihm fehlen wird.
Den Absender der anderen Nachricht kennt er nicht. »Werter Herr, ich teile oft Ihre Meinung. Aber jetzt höre ich, dass Sie gegen die Anschnallpflicht sind. Das geht doch nicht. Ich stelle mir Folgendes vor. Unsere Wege kreuzen sich auf einer Autobahn. Ich – ich wiederhole, ich – verursache einen Unfall. Sie verunglücken tödlich. Den Rest meines Lebens säße ich vor lauter Schuldgefühlen in der Psychiatrie. Sie hätten aber überlebt, wenn Sie angeschnallt gewesen wären. Dann könnten Sie weiter Ihre Familie ernähren und ich bräuchte keinen Psychiater. Verstehen Sie, was ich meine? Ja. Weil Sie clever sind. Sie Arsch.«
Misslinger macht ein überraschtes Geräusch. Die Beschimpfung am Ende, damit hat er nicht gerechnet. »Was ist denn?«, fragt seine Tochter. »Nichts«, sagt er. »Jemand schreibt, ich sei gegen die Anschnallpflicht.«
»Bist Du?«
»Nein.«
»Na dann.«
»Das Internet ist ein eigenartiger Ort. Ich bekomme dauernd so schräge Nachrichten.«
»Warum Du?«
»Keine Ahnung. Wenn einer was auf dem Herzen hat, sucht er sich im Netz jemanden, den er für bekannt hält, und schreibt sich alles von der Seele. Ganz schön wirres Zeug dabei.«
»Eklige Sachen?«
»Eher schräg als eklig!«
»Weil Du ein Mann bist. Frauen bekommen eklige Sachen.«
»Ja, das kann sein.«
Misslinger bemerkt, dass der Fahrer weite Umwege fährt, überall sind die Straßen gesperrt, plötzlich tauchen rechts und links Polizisten auf Motorrädern auf. Das ist meine Eskorte, denkt Misslinger, er stellt sich vor, wie sie ihm den Kopf zuneigen und eine Hand salutierend an das Visier ihres weißen Helmes heben. Aber sie brausen einfach vorbei.
»Was glaubst Du, warum die Leute das machen?«, fragt Luise.
»Was, das Eklige?«
»Nein, das Von-der-Seele-Schreiben.«
»Tja, ich weiß nicht. Manchmal denke ich, sie wollen die Verantwortung an jemanden abgeben. Für ihr Leben, ihre Ängste, ihre Wut. Viele Leute wollen, dass jemand anders für sie entscheidet. Wie ein Vater. Sie wollen nicht erwachsen werden.«
»Ich will erwachsen werden«, sagt Luise.
»Ich weiß«, sagt Misslinger.
Plötzlich stoppt der Wagen unerwartet heftig an einer Kreuzung. Der Fahrer pfeift durch die Zähne und lacht auf: »Jetza!« Misslinger begreift nicht gleich. Ein Mann steht vor ihnen, mitten auf der Kreuzung, die Arme weit geöffnet. Warum steht da dieser Mann? Er trägt einen dunklen Bart, Misslinger denkt sofort an ein Attentat. Aber er fühlt sich gar nicht bedroht. »Jetza!«, sagt der Fahrer noch mal. Misslinger missfällt dieser Ton.
Der Mann auf der Kreuzung wendet sich zur Seite, rechts steht ein anderer Mann, etwas kleiner, schmaler.
Wenn man Misslinger nachher gefragt hätte: »Wie sah er aus?«, hätte er nicht gewusst, was er sagen soll. Da stand etwas Großes, Dunkles, Breites, hätte er gesagt, mit weit aufgerissenen Augen und weit ausgebreiteten Armen, eine furchtbare Kreuzesfigur, mitten auf der Straße. Es ist eine ganz normale Kreuzung, umstanden von Häusern, die alle dieselbe Höhe haben und dieselbe Farbe, unter einem gleichgültigen Himmel. Nur die Bäume, die fallen Misslinger auf, es sind Platanen. In Angeln wachsen keine Platanen, obwohl es im Winter weniger Frost gibt als in Berlin. Aber der Wind macht ihnen da zu schaffen. An dieser Kreuzung stehen also vier Bäume, einer an jeder Seite. Über ihnen kreisen Möwen, und Misslinger denkt, was machen nur diese Möwen hier, mitten in der Stadt?
Misslinger sieht, wie die beiden Männer aufeinander zulaufen und mit aller Macht zusammenprallen. Der kleinere Mann müsste eigentlich davonfliegen, denkt Misslinger, so groß ist die Wucht. Aber aus irgendeinem Grund bleibt er stehen, als habe er die gewaltige Kraft dieses Stoßes einfach in sich aufgenommen.
Misslinger setzt sich auf, jeder Muskel in seinem Körper ist gespannt. Einen solchen Kampf hat er noch nie gesehen. Mit Bewunderung bemerkt er die langen Arme des großen Mannes, die in weiten Schwüngen ausholen, wie die Flügel der schlanken Windmühlen, die in Angeln durch den Horizont ziehen, die Bewegung ruhig aus der Schulter geführt, deren Muskulatur sich unter dem Hemd deutlich abzeichnet. Die Schläge gehen jetzt schon mit großer Regelmäßigkeit auf den kleineren Mann nieder. Er hebt schützend die Hände vor sein Gesicht, dreht sich, fängt einen Hieb nach dem anderen ein, weicht aus, aber er läuft nicht davon. Es ist ein ungleicher Kampf, das sieht man gleich, aber Misslinger wünscht dem Großen den Sieg. Er weiß nicht, warum. Er will, dass der Große den Kleinen niederwirft und ihm den Rest gibt. Er stellt sich vor, dass die Gewalt für diese Männer etwas Natürliches ist, wie Essen und Trinken. Und er beneidet sie darum. Nichts ist ehrlicher als die Gewalt, denkt Misslinger. Keine Lügen, keine Kompromisse, keine Rücksicht. Körper, die aufeinanderprallen, sich abstoßen und anziehen. Nur die Gewalt ist ehrlich und die Liebe. Aber die Liebe ist auch voller Lügen. Es bleibt die Gewalt.
Der Asphalt ist nass. Der Kleine rutscht aus, und noch während er fällt, treten beide aufeinander ein, und anstatt seinen eigenen Sturz zu bremsen, zerrt er mit aller Kraft an seinem Gegner. Misslinger sieht das Opfer fallen und auf dem Boden aufschlagen. Es ist schlimm, wenn ein Mensch fällt. Er hat die Nadl fallen sehen, da war sie schon ganz alt und leicht und wie durchsichtig, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn ein Windstoß sie einfach mitgenommen hätte, weil eine Feder und ein Blatt, die man fallen lässt, ja auch nicht direkt den Boden erreichen. Aber die Nadl war gefallen und auf dem Boden aufgeschlagen und hat sich was gebrochen und ein paar Monate später war sie tot. Man macht sich das nicht klar, denkt Misslinger, wie hart ein Körper auf den Boden aufschlägt.
Misslinger weiß noch, dass er damals gar kein Mitleid mit der Nadl hatte. Es war nicht so, dass ihm ihr Schicksal gleichgültig gewesen wäre. Ganz und gar nicht. Er konnte nur kein Mitleid empfinden, als er sie da liegen sah, wie das Bein seltsam verrenkt unter ihr hervorragte, den grauen Mantel mit dem Fellkragen, der ihm sonst bei jeder Umarmung in der Nase kitzelte, im Dreck des abschüssigen Feldweges. Er hatte nur auf sie heruntergeblickt und die kleinen Eiskristalle beobachtet, die in immer größerer Zahl in der rauen Wolle des Mantels hängen blieben. Sie rief etwas, das er nicht verstand. Ihr Dialekt, wenn sie sich keine Mühe gab. Sie musste doch wissen, dass er sie nicht verstehen konnte, hatte er damals gedacht und sich über die am Boden liegende Großmutter geärgert. »Warum hilfst Du mir nicht«, hatte sie dann gerufen, »steh nicht da, hol Hilfe.« Da war ein Vorwurf in ihrer Stimme, den er nicht verstand. Er war für ihren Sturz nicht verantwortlich. Sie waren gemeinsam den Feldweg hinaufgegangen, links der Wald, rechts begann schon die Weide, als sie stolperte und fiel, kerzengerade, von oben nach unten, als wäre sie vorher von Schnüren gehalten worden, die jemand durchgeschnitten hatte. Dieser Sturz ohne Grund machte ihn zornig. Das hätte nicht passieren sollen. Warum sollte er jetzt besondere Gefühle entwickeln? Sie hatte ihn zurück zum Hof geschickt, er war gegangen, aber nicht besonders schnell. Sie hatte ihm noch etwas hinterhergerufen. Aber er hatte es nicht verstanden.
Für einen kurzen Moment sieht Misslinger durch das Wagenfenster aus der Ecke seines Sitzes das Gesicht des am Boden liegenden Mannes, der sich unter den Tritten und Schlägen des Großen im Dreck der Straße krümmt. Es ist nur ein Moment. Aber einen solchen Ausdruck hat Misslinger noch nicht gesehen, nackt, die Augen eines erledigten Tieres. Geduldig empfängt das Opfer Hieb um Hieb, wie man etwas Notwendiges empfängt.
Misslinger empfindet kein Mitleid. Warum auch? Es gibt keine unschuldigen Opfer, denkt er. Wer mitspielt, muss sein Risiko kennen. Jeder spielt seine Rolle. Heute du, morgen ich. »Gefährdungshaftung« nennt man das, denkt Misslinger und lächelt dabei. Das ganze Leben ist ein Kampf, denkt er. Erst recht in der Politik. Vielleicht vermehrt sich die Liebe, wenn man sie teilt, denkt er, aber die Macht nicht. Die Bäume, die in den Himmel wachsen, teilen sich das Licht nicht, sie kämpfen darum. Walter hat gesagt: »Je mehr der Baum in die Höhe will, desto weiter reichen seine Wurzeln in die Tiefe, in die Dunkelheit.« Und plötzlich denkt Misslinger daran, auszusteigen.
Er hört, wie Luise ruft: »Was machst Du? Bleib hier!«