Stephan R. Meier
NOW
DU BESTIMMST,
WER ÜBERLEBT.
Thriller
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen
von Penguin Books Limited und werden
hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2017 Stephan R. Meier
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
by Penguin Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: any.way, Heidi Sorg
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock/Nerijus Juras
Redaktion: Angela Kuepper
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-20045-9
V003
www.penguin-verlag.de
Für Biggi
Dieses Buch widmen wir gemeinsam unseren Töchtern
Isabella, Vanessa, Viola und Suri,
und allen anderen Kindern unserer Zeit,
die die bisher größte Wandlung der Geschichte
der Menschheit nur mit großer Klugheit und
dem richtigen Augenmaß bewältigen werden können:
die digitale Revolution.
PROLOG
In der Wildnis, dreißig Jahre nach NOW
Grimmig umklammert er die alte Jagdbüchse, die ihm wie ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit erscheint. Er atmet flach, konzentriert. Seit Stunden schon liegt er auf der Lauer, späht angestrengt über den rostigen Lauf der Waffe auf die Ebene vor ihm. Er kann sein Glück kaum fassen. Die beiden kapitalen Hasen grasen friedlich nebeneinander, keine dreißig Meter vor ihm im rot-goldenen Licht des Spätherbstes. Der Wind steht günstig, sie können ihn nicht riechen. Er verharrt starr, um ja kein Geräusch zu machen. Es sind dicke, fette Tiere. Ein Pärchen, wie er vermutet. Er peilt über den Lauf; aus seiner Perspektive sehen sie riesig aus.
Töten ist ihm zuwider. Aber er muss essen. Hunger und Not stumpfen ab. In seiner Lage kann er sich kein Mitleid mit den unschuldigen Kreaturen leisten.
Die Zeit verrinnt. Er wartet bewegungslos und beobachtet. Er darf keinen Fehler machen. Sein linker Arm, der den Lauf hält, ist ein einziger Krampf. Die rechte Hand umklammert den Kolben aus geschliffenem Holz, der Zeigefinger liegt schussbereit am Abzug. Zwei Schrotpatronen sind alles, was er noch hat. In einem günstigen Moment kann er beide Tiere mit einem einzigen Schuss erwischen.
Der Boden unter ihm wird immer kälter. Sein Nacken schmerzt, und sein Rücken wird auf Höhe der Lenden schon gefühllos. Er spürt, wie immer mehr Ameisen in seine Stiefel kriechen. Sie beißen ihn. Er versucht sie zu zerquetschen, indem er die Zehen aneinanderreibt.
Feiner Nebel steigt in der Ebene vor ihm auf. Der Wald hinter ihm wird immer dunkler, das Licht auf der Ebene mit jeder Minute rötlicher. Plötzlich hoppelt der eine Hase ein Stück weg vom anderen. Zu weit, um sie mit einer Patrone zu kriegen. Wie lange wird er noch warten können?
Vorsichtig, in Zeitlupe, löst er die Hand vom Abzug. Ein Schweißtropfen hat sich in seiner Augenbraue gesammelt. Er wischt ihn weg, gerade noch rechtzeitig, bevor die salzige Lösung sein Zielauge blind macht. Dann streicht er sich die zotteligen, viel zu lang gewordenen Haare aus der Stirn.
Jetzt folgt der zweite Hase dem anderen. Gemächlich hüpft er immer weiter nach rechts, macht einen Kreis, hält an und bewegt sich dann weiter. Mit einem Mal ist er ganz nahe beim anderen. Darauf hat er lange gewartet. Plötzlich streckt der große Hase den Rücken, sein Kopf kommt hoch, die Ohren stehen steil nach oben. Seine Nase zittert, und die feinen Haare flirren im dunstig-rötlichen Gegenlicht. Er wittert. Ihn?
Jetzt sind beide fast genau in einer Linie vor ihm. Endlich kann er es riskieren. Seine Hand kriecht in Zeitlupe wieder um den Kolben, schmiegt sich um das Holz, und sein Zeigefinger tastet nach dem Abzugshebel. Leicht drückt er gegen das kalte Metall, spürt den Widerstand der Feder. Er spannt alle Muskeln an. Dann atmet er aus. Wie ein Schraubstock hält er die Waffe in Position und zieht mit einem Ruck bis zum Anschlag durch. Er spürt den Hammer vorschnellen, spürt, wie er die Sprengkapsel trifft, und hört, wie sie explodiert. Ein scharfer Knall ertönt. Er sieht durch die Schmauchwolke hindurch über den Lauf hinweg, wie die beiden Tiere durch die Luft gewirbelt werden.
Er lässt das Gewehr sinken, stöhnt vor Erleichterung und Erschöpfung kurz auf, rollt sich zur Seite und kommt mit schmerzenden Gliedern auf die Beine. Wachsam blickt er sich um und verlässt dann den Schutz des Busches, unter dem er gelegen hat. Er sieht nicht aus wie ein Jäger, eher wie ein verwitterter Waldgeist. Seine Bekleidung ist improvisiert, schäbig, aus alten Fetzen zusammengestückelt. Eine dünne, eckige Gestalt, eins fünfundneunzig groß, früher eine kraftvolle, unbestechliche und selbstbewusste Erscheinung. Davon ist wenig geblieben. Die Konturen seines mächtigen Kinns sind unter dem Gestrüpp eines ungepflegten Barts verschwunden. Nur der Blick aus seinen eisblauen Augen über der scharfen Nase und dem schmalen Mund verrät etwas über seine wahre, bis vor Kurzem wohlbehütete Herkunft.
Er rafft den fleckigen Umhang, schiebt die Zweige beiseite und rennt mit steifen Beinen los, so schnell er kann. Ein Schwarm Vögel hat sich unter lautem Protest vom Waldrand erhoben und flattert wild umher. Zweimal sieht er sich um. Dann ist er bei den toten Hasen angekommen.
Er sichert das Gewehr, bückt sich und klaubt den ersten Feldhasen aus dem Präriegras. Er hat starre himmelblaue Augen. Sie sind rund und im Tod weit geöffnet. Er staunt, wie schwer der schlaffe, leblose Körper sich anfühlt. Ein wenig warmes Blut sickert durch das Fell auf seine Hand. Er muss den Bauch getroffen haben. Er ist hin- und hergerissen zwischen Stolz und schlechtem Gewissen.
Rasch vergewissert er sich, dass der zweite Hase ebenfalls tot ist. Es ist ein Weibchen, wie er vermutet hat. Er nimmt sie hoch und tastet den schlaffen Körper ab, fühlt instinktiv den weichen Unterbauch. Ihr von den Schrotkugeln gesprengter Kopf ist auf obszöne Weise nach hinten verdreht und berührt fast den Rücken. Er packt beide Hasen mit der Linken, schultert die Beute und klemmt sich das Gewehr wieder unter den rechten Arm. Sein Blick schweift über das weite Plateau, das sanft zum großen Fluss hin abfällt. Hier ist er nicht sicher. Mit eiligen Schritten läuft er über die schutzlose Ebene und verschwindet kurz darauf im sicheren Schatten der Bäume.
Hastig dringt er tiefer in den Wald ein, der nach nasser Erde, Pilzen und Harz riecht. So wie ein unberührter Wald riecht, der sich seit Jahrtausenden von selbst regeneriert. Der Indian Summer mit seinen warmen Tagen und den kühlen Nächten dringt nicht bis hierher.
Seine klobigen Stiefel aus dickem Pferdeleder hat er drei Monate lang in Pflanzenöl gelagert, bis sie geschmeidig wurden und ausreichend Schutz vor Nässe und Kälte boten. Die Sohlen hat er aus alten, weggeworfenen Winterreifen geschnitzt, die er mit Nägeln an dem dicken Leder befestigt hat. Selbst auf den glitschigen Stämmen umgestürzter Bäume bieten sie ausreichend Halt und hinterlassen nur flache Dellen auf dem weichen Boden aus Nadeln, Moos und Laub. Er hat lernen müssen, sich möglichst geräuschlos und ohne Spuren zu bewegen.
Als er meint, weit genug in den schützenden Wald eingedrungen zu sein, geht er am Fuße einer Kiefer in die Hocke und legt die beiden Hasen vor sich ins Moos. Sein Atem geht stoßweise, das Herz schlägt wie wild gegen die Rippen. Er muss sich beeilen!
Er lehnt die Flinte griffbereit gegen den Baumstamm und holt ein Stück Draht aus der Tasche seiner vielfach geflickten Hose. Frisches Blut glänzt auf der Wachsschicht seines tarnenden Umhangs. Unwillkürlich zieht er das metallische Aroma in seine Nasenflügel. Es ist ein intensiver Duft, der seinen Magen schlagartig erregt. Ein archaisches Gefühl, dem er sich einen Moment lang hingibt. Dann schreitet sein Verstand ein und warnt ihn. Hungrige Braunbären, deren Spuren er in der Gegend gesehen hat, würden das auch riechen, und zwar aus viel größerer Entfernung als er. Er kann nur hoffen, dass der laute Knall des Schusses sie eine Weile auf Distanz hält. Geschickt wickelt er den Draht um die Vorderläufe der beiden toten Tiere und bindet sie zusammen, sodass er sie wie eine Satteltasche über die Schulter werfen kann.
Langsam beruhigt sich sein Herzschlag und fällt wieder in einen normalen Rhythmus. Sein erhitzter Atem trifft auf die kühle Luft der aufziehenden Dämmerung und umhüllt seinen Kopf wie eine Fahne aus Dampf. Er sichert aufmerksam seine Umgebung, späht in das dunkle Unterholz und lauscht angestrengt auf Geräusche. Aber da ist nichts. Das Pochen seines eigenen Pulses im linken Ohr, seiner schwachen Seite, wird langsam leiser. Es wird überlagert von dem hohen, hartnäckigen Pfeifen, das der Schuss ausgelöst hat.
Er hat Glück gehabt. Nur eine Patrone für zwei Hasen. Wäre er nicht schon so lange allein in der Wildnis, würde er jetzt lächeln. Aber da ist niemand, mit dem er seinen Triumph teilen könnte. Es sind mindestens drei Kilo Fleisch, zwei plüschweiche Felle und Zehrung für mehrere Tage. Aus den zarten splitternden Knochen kann er Angelhaken schnitzen. Er streicht anerkennend über den Lauf der Waffe.
Eine Weile wartet er noch, weil er sichergehen will, dass sein Schuss von niemandem bemerkt wurde. Vor zwei Tagen erst hat er die noch warme Asche eines Lagerfeuers gefunden. Es muss ein großer Clan gewesen sein. Sie hatten Tiere bei sich, er hat den Kot gesehen. Er würde lernen müssen, die Losung zu lesen. Aber von wem?
Er kommt aus der Hocke hoch und richtet sich auf. Noch einmal sichert er nach allen Seiten, orientiert sich kurz am Einfall des Lichts und sammelt seine Beute und die Flinte ein. Die Feldhasen haben ein fein gezeichnetes Herbstfell, braun und schwarz gemustert, durchsetzt mit den ersten weißen Flecken ihres bald gänzlich schneeigen Winterfells.
Jede Hast vermeidend, läuft er durch die mal mehr, mal weniger dicht stehenden Bäume, windet sich unter tief hängenden Ästen hindurch und überquert die hoch aufragenden Wurzelknoten der jahrhundertealten Bäume.
Seine Sinne funktionieren immer besser. Sein Gehör ist feiner, die Augen sehen schärfer, und sein ganzer Körper reagiert intensiv auf die neue Umgebung und die vielen Gefahren, die in ihr lauern. Es ist überlebenswichtig: Nicht nur die Bären, auch Wölfe und hungrige Wildschweine oder verwilderte Hunde riechen die toten Tiere auf seiner Schulter, riechen ihn, und vor allem hören sie ihn, lange bevor er sie hört. Wenn er sie sieht, wenn sie sich zeigen, ist es wahrscheinlich zu spät, um unbeschadet in seinen Verschlag zu kommen. Besonders jetzt im Herbst ist es gefährlicher als sonst, fresswütigen Wildtieren im Kampf um Winterspeck zu begegnen.
Er überquert die Lichtung nahe am Bach und kommt an der verfallenen Wassermühle vorbei, die Missionare der »Ville Marie« gebaut hatten. Er hat sie notdürftig repariert und kann dort wildes Getreide, Kastanien und Nüsse zu grobem Mehl verarbeiten. Er nimmt die morsche Holzbrücke neben dem Mahlstein ins Visier, hält kurz inne und blickt sich suchend um: kein wildes Tier in Sicht.
Kaum zehn Minuten später ist er an seinem Ziel angekommen, auf einer Anhöhe, nicht mehr als ein Buckel, wie eine Tonsur umgeben von dichtem Wald. Hier steht die kleine Kapelle, die er seit dem Ende seiner Flucht bewohnt. »Ange Gardien«, Schutzengel, hatten die Mönche sie einst getauft, das gefällt ihm. Über dem Seiteneingang, der zu einem Nebenraum der Kapelle führt, ist der in den Stein gehauene Name noch gut zu lesen. Früher musste dies die Sakristei gewesen sein, jetzt nutzt er den Raum für seine Vorräte und Gerätschaften.
Er öffnet die schwere Holztür, bückt sich unter den Steinbogen und hängt die beiden Hasen an stabile Haken unter der Decke. Mit einem einzigen Schnitt öffnet er die Kehle des Männchens und trennt dann den Kopf des Weibchens ganz ab. Das Blut lässt er in eine Eisenschüssel fließen.
Erst danach streift er den blutverschmierten Umhang ab, windet sich aus seiner Jacke, stellt die Stiefel zum Trocknen kopfüber auf ein Holzgestell und setzt sich auf die kleine Bank neben der Tür, um sich ein wenig auszuruhen. Er zieht die Füße nach oben, wickelt die Lumpen ab und untersucht die Bisswunden der Ameisen. Er schnippt die zerquetschten Körper weg und wickelt seine Füße wieder ein. Dann lehnt er sich zurück, schließt die Augen und wartet, dass das Pfeifen in seinem Ohr langsam schwächer wird.
Sein müder Blick wandert zu den leicht baumelnden Kadavern, er sieht, wie sich die Schüssel unter ihnen mit Blut gefüllt hat. Während der letzte Lebenssaft in Form von zähen Blutschlieren aus den toten Körpern tropft, kehren seine Kräfte zurück. Er lehnt sich nach hinten und schließt erneut die Augen. Etwa eine halbe Stunde dauert es, bis sich sein Körper einigermaßen erholt hat. Er ist noch keine vierzig Jahre alt, aber der Kampf ums nackte Überleben in der Wildnis fordert seinen Tribut. Auf brutalere Weise, als er es sich vorgestellt hat.
Die tiefer werdende Dämmerung schickt nur noch wenig Restlicht durch die schmalen Fenster. In der ehemaligen Sakristei ist es jetzt fast vollständig dunkel. Das metallische Aroma des Blutes verschmilzt mit den Ausdünstungen der modrigen, kalt schwitzenden Mauern.
Ihn fröstelt. Er weiß, er muss sich bewegen. Er schiebt die Ärmel seiner abgewetzten, nach Entbehrung stinkenden Wolljacke hoch bis zu den Ellenbogen. Dabei reibt er über die knotige, bei Kälte und Nässe schmerzende Narbe an seinem linken Unterarm, unter der sich der passive Transponder befindet. Dann steht er auf und nimmt die vollständig ausgebluteten Hasen von den Haken.
Die nahende Nacht mahnt ihn, keine Zeit zu verlieren. Das Häuten von Wild beherrscht er mittlerweile ganz gut, selbst im Dunkeln kommt er zurecht. Am Anfang, direkt nach seiner Flucht aus Eden, wäre er fast verhungert, bis er sich zwang, außer Wurzeln auch Ratten und Eichhörnchen zu essen. Die schönen Felle hängt er zum Trocknen auf und macht sich daran, beide Tiere auszunehmen. Nach zehn Minuten ist er fertig und säubert sich die Hände.
Er reibt sich wieder über die lästige Narbe, die ihn an sein früheres Leben erinnert. Ein im Knochen implantierter Chip – seine universale persönliche Schnittstelle zu NOW, genannt USHAB – mit zehntausend Trillionen Rechenoperationen pro Sekunde hat ihn damals mit dem gesamten Wissen der Menschheit vernetzt. Jetzt sitzt anstelle des USHAB ein einfacher Passiv-Chip in seinem Arm, wie bei einem Haustier. Von einem Stümper eingesetzt, hat es Monate gedauert, bis sich die eitrige Wunde endlich geschlossen und sich eine hässliche Narbe darüber gebildet hat. Doch er hat sein Ziel erreicht: Er ist abgekoppelt, ausgeschaltet und für alle, die er in Eden zurückgelassen hat, für immer unerreichbar geworden. Er hat sich gerettet. Dafür musste er aus dem Paradies fliehen.
Er denkt an sein früheres Leben und wird hastiger in seinen Bewegungen. Er zwingt sich, die Gedanken an Eden zu verdrängen. Ein Leben, in dem alles einen Sinn hatte, wo es keine Gefahr gab und er sich allen Gelüsten hingeben konnte, die er sich nur vorstellen konnte. Umsorgt und umhegt, voller Geborgenheit, Wärme, Lust. Und dann das Jetzt, ein erbarmungsloser Kampf gegen Kälte und Hunger, gegen Krankheit und Tod.
Bisher ist er mit dem Leben davongekommen, aber die größte und schwierigste Aufgabe liegt noch vor ihm. Er fürchtet, dass ihm die Zeit davonrennt. Ihn schwindelt, als er daran denkt, was auf dem Spiel steht. Sein Atem wird fahrig. Das Messer, das er gerade säubert, gleitet ihm aus den zittrigen Händen. Er bückt sich, nimmt es und verliert es wieder. Wut steigt in ihm auf, gemischt mit nackter Angst. Er hat noch keine Ahnung, wie er es anstellen soll. Er versucht seine Gedanken zu ordnen, versucht zu fokussieren. Er schließt die Augen. Als Erstes und Wichtigstes muss er sie wiederfinden, ihr alles erklären. Und er muss sie schnell wiederfinden. Das ist ihm das Wichtigste. Dafür hat er alles riskiert. Wenn er ihr erst einmal alles erklärt hat und sie ihm hoffentlich glaubt, dann können sie gemeinsam nach seinem, nach ihrem Kind suchen. Dafür müssen sie zurück. In das Paradies, nach Eden, wo der Tod auf ihn lauert. Und dann muss er IHN stoppen. Unter allen Umständen. Selbst wenn dabei NOW, das Größte, was der Mensch je erfunden hat, vollkommen vernichtet wird.
Er blickt an sich herunter. Sein Körper ist magerer und härter geworden. Er sieht die vielfach geflickte Hose, darunter schauen Lumpen an seinen mit Schorf übersäten Füßen hervor. Um seinen Leib sieht er zusammengebundene Fetzen, und auf seinen Schultern riecht er den übel muffelnden, nur stümperhaft gegerbten Fellkragen, der ihn wenigstens etwas wärmt. Hoffnungslosigkeit greift nach ihm wie eine kalte Hand. Er ist noch zu jung, um zugrunde zu gehen.
Er schüttelt den Kopf. Ein Anfall naht.
Er tritt aus dem kleinen Nebenraum der Kapelle ins Freie, sucht die Weite und braucht Luft. Wie ein böser Traum bricht die ganze Hoffnungslosigkeit seines Elends aus seinem Unterbewusstsein hervor. Es würgt ihn, als ihm klar wird, wie es wirklich um ihn steht. Ihm wird kalt. Sein Magen verkrampft sich, und schwarze Punkte flirren vor seinen Augen. Er taumelt und hält sich an der groben Außenmauer fest. Er darf nicht ohnmächtig werden! Er muss die lähmende Angst vor dem, was kommt, niederringen!
Schweiß tritt auf seine Stirn. Er stößt sich von der Mauer ab und strebt weg von der Kapelle. Sein Gang ist unsicher, und ein Zittern ergreift seine Hände. Stolpernd erreicht er nach wenigen Schritten den Bach. Es hat ihn mehrere Tage gekostet, Steine anzuhäufen und mit Stöcken mühsam einen neuen Graben in den Waldboden zu bohren. Schließlich hat er es geschafft, das wilde Quellwasser so umzulenken, dass es in der Nähe seines Unterschlupfs als schmaler Wasserlauf vorbeifließt.
Er sinkt nach vorn auf die Knie, beugt sich von der kleinen Böschung hinab und hält die zitternden, in Gebetshaltung verschränkten Hände in das eiskalte Wasser.
Er hofft, dass es auch jetzt hilft, so wie es bisher immer geholfen hat. Die kalte, klare und fließende Frische beruhigt ihn. Nur hier gelingt es ihm, seine wütende Verzweiflung zu lindern.
Konzentriert starrt er auf seine geschundenen Hände, beobachtet, wie sich das Wasser um das Hindernis schlängeln muss, Strudel und Blasen formt und Wirbel bildet. Er spürt den Schmerz, spürt, wie die eisige Kälte des Quellwassers nach seinem Puls greift und in ihn eindringen will. Er muss sich konzentrieren, um nicht das innere Gleichgewicht zu verlieren, muss die Hände fest gegen den Druck der Strömung pressen. All seine Sinne, jede Faser seines Körpers, jede Zelle seines Organismus sind auf Überleben geschaltet. Er muss die Angst bezwingen. Er muss sich befreien. Er muss leben. Er will leben.
Ächzend stützt er sich auf die Knie, steht auf und geht mit noch unsicheren Schritten zurück in Richtung der Kapelle und reibt sich die schmerzenden Pulsadern wieder warm. Ich schaffe das, denkt er. Mich kriegst du nicht klein.
Plötzlich hört er das feine Summen der Motoren und das charakteristische Rauschen der riesigen Flügel, die durch die Luft schneiden. Er sieht sie noch nicht, aber sie werden jede Sekunde über den Baumkronen erscheinen. Ohne zu zögern wirft er sich auf den Boden, krabbelt ein paar Meter und presst seinen Körper gegen eine große Pappel, zieht den Kopf zwischen die Knie und umfasst die Knöchel. Dann lässt er sich in dieser zusammengerollten Haltung zur Seite fallen. So verharrt er regungslos und wartet. In dieser Stellung gleicht sein Infrarotbild dem eines schlafenden Tieres. Sein passiver Tierchip wird den Drohnen auch prompt die Kennung eines großen Hundes funken. Eines Hundes, den niemand vermisst.
Zunächst huscht ein Schatten an ihm vorbei. Spark schielt unter halb geschlossenen Lidern durch die Bäume und sieht die Eagle, eine gigantische Aufklärungsdrohne, heranrauschen. Er kennt jedes Detail ihres metallenen Baus. Ihre Flügel können eine Spannweite von bis zu zweihundert Metern erreichen. Sie kann wochenlang in der Luft bleiben. An Bord trägt sie zahlreiche Miniaturdrohnen, die sie zu näherer Aufklärung absetzen kann, wenn ihre Sensoren ein interessantes Objekt identifiziert haben. Eagles werden eingesetzt, um weite Gebiete zu kontrollieren und Lebewesen zu finden. Suchen sie schon gezielt nach ihm? Es wäre das Ende für ihn, es wäre das Ende für seine Liebe und sein Kind, und es wäre das Ende im Kampf um eine Welt, in der es sich zu leben lohnt, wenn sie ihn entdecken.
Er sieht mit zusammengekniffenen Augen den milchig-weißen Bauch der Drohne, in dem die GenLabs untergebracht sind, die im Flug Gewebeproben analysieren können. Er bleibt bewegungslos in seiner kauernden Haltung, auch nachdem die Drohne schon lange über ihn hinweggerauscht ist. Er wartet auf die zweite Drohne, die unweigerlich kommen muss. Sie sind immer paarweise unterwegs, halten einige Kilometer Distanz zueinander und durchkämmen die weiten, unwirtlichen Gebiete, die von versprengten LOWs bevölkert werden. Früher schaute er sich mit Bill die Luftaufnahmen bei einem Glas Wein an und lachte laut, wenn ein Wilder durchs Bild huschte. Jetzt ist er selbst einer geworden.
Gerade als er den Kopf heben will, vernimmt er erneut das typische Rauschen. Er duckt sich wieder. Sekunden später nähert sich der Schatten der zweiten Drohne. Sie überfliegt ihn etwas dichter als die erste und zieht ihre Bahn gemächlich weiter, bis auch sie hinter den Bäumen verschwunden ist. Er wartet reglos ab, bis er nur noch die vertrauten Geräusche des Waldes hört. Als er sicher ist, dass die Drohnen nicht umdrehen werden, stemmt er sich hoch und rennt zur Kapelle zurück.
Dort setzt er sich auf die Stufen. Sein Körper ist völlig entkräftet, aber sein Geist will nicht aufgeben. Er sieht in die Ferne. Er muss Kraft schöpfen. Er sucht die Quelle, die ihm den Mut und den Willen geben kann. Er kann es schaffen. Er muss es schaffen. Sein Blick schweift suchend in die Ferne. Da draußen, irgendwo da draußen muss sie sein.