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JAN M. PISKORSKI

DIE VERJAGTEN

Flucht und Vertreibung im Europa
des 20. Jahrhunderts

Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew

Siedler

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
Wygnańcy. Przesiedlenia i uchodźcy w dwudziestowiecznej Europie
bei Państwowy Instytut Wydawniczy, Warschau.

Die deutsche Ausgabe wurde vom Autor überarbeitet und erweitert.

Das Gedicht »Mars« wurde mit freundlicher Genehmigung
übernommen aus: Offene Gedichte, 1945–1969, hrsg. von Karl Dedecius,
© 1969 Carl Hanser Verlag, München.

Erste Auflage

Copyright © 2010 Jan M. Piskorski

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Karten: Peter Palm, Berlin

Reproduktionen: Bettina Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-09568-0
V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

EINLEITUNG
Die Schlüssel des Hauses in Deutsch Krone

KAPITEL 1
Das Jahrhundert der Entwurzelten und Heimatlosen

Das 20. Jahrhundert im Vergleich

KAPITEL 2
Platz schaffen!

Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg als Katalysatoren der europäischen Zwangsmigrationen

KAPITEL 3
Menschen ohne Pässe

Die unruhige Zwischenkriegszeit

KAPITEL 4
»So wird wohl das Ende der Welt aussehen.«

Flüchtlinge in der Epoche des Völkermords und in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg

KAPITEL 5
Dies ist nicht mehr dein Land!

Jugoslawisches Postskriptum

SCHLUSS
Wir haben das Haus mit dem
Schlüssel verschlossen

Dank

Bibliographie

Personenregister

Register der Ortsnamen und geographischen Bezeichnungen

Konkordanz der Ortsnamen und geographischen Bezeichnungen

Mars

Zimmer

darin sitzt

eine familie

fünf oder sechs personen

jemand liest ein buch

jemand betrachtet fotos

jemand erinnert sich an den krieg

jemand schläft jemand geht aus

jemand stirbt in der stille

jemand trinkt wasser

jemand bricht das brot

Janek schreibt den buchstaben A

zeichnet einen ritter mit blauem sporn

jemand startet zum mond

jemand brachte eine rose einen vogel einen fisch

schnee fällt

glocken schlagen

Mars tritt ein

das schwert

erfüllt das zimmer

mit feuer

TADEUSZ RÓŻEWICZ

EINLEITUNG
Die Schlüssel des Hauses in Deutsch Krone

BEI STRÖMENDEM REGEN, der mit dem ersten Herbststurm von der Nordsee heraufgezogen war, fuhr ich von Stettin nach Osnabrück und dachte dabei über das Buch nach, das ich auf Einladung von Klaus J. Bade am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien schreiben sollte. Immer noch fehlte mir der erste Satz, über dem ich oft lange Wochen brüte, weil er einfach so wichtig ist. Nachdem ich auf die A 30 abgebogen war, die direkt nach Osnabrück und weiter nach Amsterdam führt, wurde der Regen so stark, dass ich fast nichts mehr sah. Ich hielt an. Während die Scheibenwischer im Takt hin und her schwenkten und der Wassermassen doch nicht Herr wurden, hatte ich Zeit zum Nachdenken und kam schließlich auf das Motiv des Schlüssels, das mein Buch öffnen und beschließen sollte.

Schlüssel sind ein fester Bestandteil von Flüchtlingserinnerungen. Während für mich von Anfang an klar war, welche Schlüssel das Buch beschließen würden, konnte ich mich nicht entscheiden, mit welchen ich es eröffnen wollte. Auch das sollte sich bald klären, denn Peter Fischer, der Besitzer des fibre-Verlags, empfing mich in seinem Osnabrücker Haus mit einem leckeren, selbst zubereiteten Zwiebelkuchen und – einem Schüsselbund. Auf ein daran befestigtes Kärtchen hatte sein Vater Bruno auf der einen Seite »Haustür-Schlüssel Deutsch Krone« geschrieben und auf der anderen »Walter-Kleemann-Str. 4«. Nach vielen Jahren hatte er hinzugefügt »ul. Podgórna 4«. Die Schlüssel hatte er mit wichtigen Dokumenten in einem Koffer aufbewahrt, in dem Peter Fischers Großeltern kurz nach dem Krieg selbst angebauten Tabak – was illegal war – aus dem altmärkischen Dorf Packebusch bei Salzwedel nach Berlin geschmuggelt hatten, wo Verwandte ihn auf dem Schwarzmarkt verkauften. In Packebusch lebten die Fischers, seit dort ihr Versuch, nach Pommern zurückzukehren, an den Russen gescheitert war.

Die Familie Fischer – der sechzigjährige Maurer Leo, seine einige Jahre jüngere Frau Maria und ihr kranker Sohn Georg – hatte ihr Haus in Deutsch Krone, einer zwischen den Kriegen nahe der Grenze zu Polen gelegenen Stadt, am 2. Februar 1945 verlassen müssen. Eigentlich wollten sie bleiben, da sie niemandem etwas angetan hatten und von Anfang an Gegner Hitlers gewesen waren, doch als ihre Straße in den Frontbereich geriet, hatten die deutschen Soldaten die sofortige Evakuierung angeordnet. Während der Flucht bei »fünfzehn Grad minus und einer Schneedecke von dreißig Zentimetern« erfuhren sie keine Gewalt von Fremden, nur Erniedrigungen von den eigenen Landsleuten. Maria Fischer erinnerte sich, wie sie in Verden an der Aller mit den Worten »wir haben keinen Platz« abgewiesen wurden, obwohl das ihnen zugewiesene Haus leer war. Zwar konnten sie dort auf ausdrückliche Anweisung eines städtischen Beamten schließlich doch unterkommen, aber aus dem für sie bestimmten Zimmer wurden alle Möbel entfernt, sogar die Stühle.1

Schon im ersten Brief an seinen Sohn Bruno in französischer Gefangenschaft kam Leo Fischer auf die geretteten Schlüssel und Dokumente zu sprechen: »Der Pole«, schrieb er im Duktus der Zeit, »hat [die Gebiete] bis zur Oder und Görlitzer Neiße besetzt.« Nach allem, was man von dort höre, sei es richtig gewesen, das Haus aufzugeben. Sie würden sicherlich etwas Neues finden, wenn Bruno erst einmal aus der Gefangenschaft zurückgekehrt sei. Und ganz am Schluss dieses Briefes vom 21. April 1946 schrieb er: »Wir hoffen auch immer noch auf eine Rückkehr zur Heimat.«2 Ein knappes Jahr später starb Leo, und Maria zog mit ihrem Sohn Georg nach Osnabrück, wo sie flüchtige Bekannte hatten. Das Grab ihres Mannes in Salzwedel lag bald hinter dem Eisernen Vorhang, und schließlich war es verschwunden, was in dieser Generation ohne »eigene« Gräber nichts Außergewöhnliches war, weder auf der polnischen noch auf der deutschen Seite.3

1Fischer, Zwischen zwei Seen, Zitate auf S. 131f., 141.

2Ebd., S. 109f.

3Vgl. Piskorski, »Die ›alten‹ und die ›neuen‹ Pommern«.

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Leo und Maria Fischer kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

© fibre Verlag, Osnabrück

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Die Schlüssel aus Deutsch Krone

© fibre Verlag, Osnabrück

DIE HOFFNUNG DER DEUTSCHEN FISCHERS auf Rückkehr in die Heimat teilten auch die polnischen Salesianerinnen im oberschlesischen Siemianowitz-Laurahütte, die noch 1958, nach dem Eintreffen der letzten Schwestern aus Wilna, für die Rückkehr dorthin beteten. »Es herrscht Freude über die Vereinigung, doch nicht weniger harren wir des Augenblicks, in dem der Herr in seiner Barmherzigkeit unserer Gemeinschaft unser teures Kloster und die Kirche in Wilna auf dem Erlöserhügel zurückgibt […]. Wir vertrauen darauf, dass dieser Augenblick kommen wird [und] beten um diese Gnade«, schrieb Schwester Maria Gertruda Janke, für mich ganz einfach Tante Tosia. In Siemianowitz hatten sich die Schwestern nach dem Krieg niedergelassen. Die Oberin Maria Weronika Bogdan wollte offensichtlich keinesfalls einen neuen Sitz für das Kloster in den polnischen »Wiedergewonnenen Gebieten« suchen, da sie mit deren Verlust rechnete oder befürchtete, dass die Schwestern dann ihre Eigentumsrechte in Litauen einbüßen könnten.4

Auch mit den Schwestern aus Wilna beziehungsweise Siemianowitz hatte das Schicksal ein Nachsehen. Alle überlebten den Krieg, doch sie mussten viele Jahre lang herumirren. Bereits im September 1939 bombardierten deutsche Flugzeuge Wilna, woraufhin die Rote Armee dort einrückte, die Stadt aber bald an die Litauer übergab. Doch schon Mitte Juni des folgenden Jahres kehrten die Sowjets zurück und besetzten ganz Litauen. Nun begannen die Massendeportationen in den Osten. Das betraf vor allem Polen, ganz besonders die polnischen Juden, immer häufiger aber auch Litauer. Der in den Amtsstuben desVolkskommissariats (NKWD) ausgearbeitete Zeitplan sah die Verbannung, in einigen Fällen auch die sofortige Erschießung jedes siebten Einwohners von Litauen vor, das Wilnaer Land eingeschlossen, das vor dem Krieg zu Polen gehört hatte. Die Wilnaer Salesianerinnen mussten nach und nach ihr Kloster aufgeben und rechneten fest mit ihrer Verbannung, da eine Ordensgemeinschaft nach der anderen dieses Schicksal ereilte.

Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 führte dann allerdings dazu, dass der Plan der sowjetischen Deportationen »nur« zu einem Viertel umgesetzt wurde.5 Es ist daher kaum verwunderlich, dass fast alle Einwohner der neuen Litauischen Sowjetrepublik, mit Ausnahme der Juden, für die nun alles noch viel schlimmer wurde, den Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Krieges begrüßten. Auch die Salesianerinnen in Rossa atmeten auf, deren Deportation – wie sie bald erfuhren – für den 27. Juni vorgesehen war.

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Maria Gertruda Janke (Tante Tosia), kurz nachdem sie die Klosterchronik vollendet hat

© Privatarchiv

Doch die Freude währte nicht lange. Bald machten die deutschen Einheiten Jagd auf die Wilnaer Juden, »wozu [auch] litauische Soldaten verwendet wurden. Einige derjenigen, die die Juden im nahegelegenen Ponary (das auf Deutsch auch Ponar und auf Litauisch Paneriai heißt) erschossen, wohnten in der [Kloster-]Bibliothek. Nach diesen Massakern kehrten sie immer betrunken heim, und die armen Schwestern hörten ihr schreckliches Geschrei«, schrieb Tante Tosia in der Klosterchronik. Vom einstigen jüdischen Jerusalem in Europa war bald kaum noch etwas übrig. Heute erinnert nur noch die Synagoge an der Pylimo-Straße (früher ulica Zawalna) an das einst blühende jüdische Leben in der Stadt.

Dann kamen die Deutschen und setzten das von den Sowjets begonnene Werk der Auslöschung der polnischen Intelligenz fort. Die polnischen Geistlichen wurden im Gefängnis Łukiszki (litauisch Lukiškės) zusammengetrieben und von dort nach Deutschland oder in besondere Internierungslager im besetzten Litauen gebracht; viele wurden erschossen.

Es herrschte noch tiefer Winter mit »Frost und Schnee«, als am frühen Morgen des 26. März 1942, eine Woche vor dem Osterfest, rund zwanzig deutsche und litauische Soldaten vor dem Tor der Salesianerinnen auftauchten und den Schlüssel zur Klausur verlangten. Die Oberin lehnte zunächst ab, doch als sie erkannte, dass es ihr diesmal nicht gelingen würde, die Gemeinschaft zu retten, »gab sie ihnen die Schlüssel [durch eine Öffnung in der Tür], damit sie selbst öffnen mussten«. Die Schwestern wurden auf einen Lastwagen geladen und nach Łukiszki gebracht. »Damit begann unser Herumirren«, erzählt Tante Tosia und hebt ausdrücklich hervor, dass die Schwestern bei den Litauern nicht selten auf Wohlwollen trafen – und manchmal auch bei den Deutschen. Ein junger deutscher Soldat, den es beschämte, dass er die Schwestern aus dem Kloster vertreiben musste, half ihnen auf den Lastwagen und wagte sogar eine gefährliche Äußerung: »Oh, wenn ich tun könnte, was ich nicht tun kann!« Tante Tosia war überzeugt, dass er ein guter Katholik war und sich nur unter Zwang den strengen Anweisungen der Machthaber gefügt hatte.6 Sie gehörte noch einer Welt an, die nicht nur nach Nationalitäten, sondern mindestens ebenso stark nach Konfessionen aufgeteilt war, und selbst wenn sie den Katholizismus wohl nicht mehr als unumgängliche Voraussetzung für die Erlösung ansah, so erleichterte er für sie doch vieles. In der Tradition des Widerstands gegen Bismarcks Kulturkampf, die ihr das Posener Elternhaus mitgegeben hatte und in der sich eine Zeitlang polnische und deutsche Katholiken im Reich vereint hatten, war ein katholischer Priester für sie vor allem ein Geistlicher, selbst wenn er die Uniform eines deutschen Offiziers trug.7 Ein Protestant oder ein Orthodoxer und erst recht ein Jude bedurfte – ihrer Meinung nach – unabhängig von seiner Nationalität vor allem des Gebets, um seine Bekehrung zu ermöglichen. Von Ungläubigen hatte Tante Tosia noch nie gehört, allenfalls von Bolschewisten. Immerhin, sagte sie verständnisvoll, aber auch mit nachsichtigem Lächeln angesichts meiner zahlreichen Zweifel, besucht sogar die Mutter Edward Giereks – damals Erster Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei – regelmäßig unser oberschlesisches Haus und hilft dabei, Probleme in Zusammenhang mit der Renovierung zu lösen.

Hätte also der junge, gerade dreiundzwanzig Jahre alte Bruno Fischer, der sich in französischer Gefangenschaft bittere Bemerkungen über die deutsche Barbarei anhören musste, den Salesianerinnen vom Unrecht erzählt, das seiner »gut katholischen Familie« widerfahren war, und hätte er Bilder des Hauses in Deutsch Krone gezeigt, wo an der Wand ein Kreuz und Heiligenbilder hingen und auf dem Bücherbord religiöse Schriften überwogen, so wäre Tante Tosia sicherlich einer Meinung mit ihm gewesen, dass von kollektiver Verantwortung keine Rede sein könne, auch nicht im Hinblick auf die in ganz Europa verhassten Deutschen.8

NICHT ALLE FLÜCHTLINGE hatten Glück im Unglück. Bei vielen legte sich das Drama von Flucht oder Vertreibung wie ein Schatten über ihr weiteres Leben. Im Fall der Deutschen aus dem Reich und aus Ostmitteleuropa war der Aufbruch in den Westen grundsätzlich eine schlimme Erfahrung, bisweilen war ihre Lage dramatisch, doch das alles währte nur relativ kurze Zeit und begann frühestens im Herbst 1944. Lediglich bei den »Volksdeutschen« aus Ost-, Nordost- und Südosteuropa setzten die mehr oder weniger erzwungenen Migrationen bereits Ende 1939, Anfang 1940 ein und endeten erst nach dem Krieg. Zumindest die ersten »Heim ins Reich«-Umsiedlungen vollzogen sich zwar auch unter großem Druck, waren aber logistisch relativ gut vorbereitet.9 Die Umsiedler bezogen an ihrem Bestimmungsort Häuser, aus denen die Besitzer nur einen Augenblick zuvor hinausgeworfen worden waren. Oft brannte das Ofenfeuer noch, das Vieh war gefüttert und die Schränke waren voll. Andrea Boockmann, geb. Johansen, deren Familie im Winter 1939/40 aus Riga nach Posen kam, erinnert sich, dass sie in einer Suppenterrine auf dem Tisch noch warme Suppe vorfanden. Dagegen brauchten die Deutschen in Litauen, Lettland und Estland, die die Übersiedlung ablehnten, Mut, denn sie riskierten ihr Leben, zumindest aber drohte ihnen eine langjährige Wanderschaft durch die Lager des Archipel Gulag, da sich der NKWD nach der Eroberung des Baltikums ihrer zuerst annahm.10

Im Fall der Polen, erst recht der wenigen polnischen Juden, die dem Tod entrinnen konnten, dauerte das Herumirren meist viele Jahre, egal ob sie in den 1939 von Deutschland oder in den von der Sowjetunion besetzten Gebiet lebten. In Pommerellen und Großpolen, die direkt ans Reich angegliedert worden waren, mussten die polnischen Bewohner ihre Wohnungen vielfach schon in den ersten Kriegstagen verlassen. So auch die Familie von Helena Szwichtenberg. Der Vater hatte den Hafen Gdingen mit aufgebaut, der, wie der Krakauer Historiker Wacław Sobieski damals schrieb, »unser modernes Tannenberg« war, ein »Sieg so groß wie im Mittelalter, als das polnisch-litauische Heer den Deutschen Orden geschlagen hatte, nur dass diesmal kein Blut floss«. Der neue polnische Hafen war »mit wahrhaft amerikanischem Schwung« unweit der von Arbeitslosigkeit geplagten und von einem nationalen Gefühl der Bedrohung erfassten Freien Stadt Danzig entstanden.11 Innerhalb von fünfzehn Jahren war aus einem Fischerdorf eine hunderttausend Einwohner zählende Stadt geworden, »eine der Hoffnungen Polens«, was selbst auf den weltläufigen amerikanischen Korrespondenten William R. Shirer Eindruck machte.12 In Gdingen, das die Fantasie der Polen zwischen den Kriegen so sehr beflügelte, dass sie in der Literatur sogar den Gestank verschwitzter Arbeiterkleidung besangen,13 bewohnten die Szwichtenbergs bis zum 25. Oktober 1939 eine Wohnung in ihrem stattlichen Haus an der ulica Drzymały 12, während die übrigen vermietet waren. Am frühen Morgen dieses Oktobertages, als alle noch schliefen, verschaffte sich eine ihrer Mieterinnen in Begleitung einiger Polizisten Zugang zur Wohnung der polnischen Eigentümer. Es handelte sich um eine Deutsche Namens Emma, die bereits beim Einmarsch der Deutschen in Gdingen Anfang September die bereitliegende Hakenkreuzfahne aus dem Fenster gehängt hatte. Die Polizisten brüllten mehrmals: »Raus!«, und nach wenigen Augenblicken fand sich die hastig angekleidete Familie Szwichtenberg in einer zum Bahnhof getriebenen Kolonne wieder. Gepäck hatten sie nicht mitnehmen dürfen, alles sollte für die neuen Besitzer – meist Baltendeutsche – bereit sein, selbst »der Schlüssel sollte in den Türen stecken bleiben«.14

Dann folgte das, was Flüchtlinge in ihren Erinnerungen beschreiben, vor allem Flüchtlinge in Kriegszeiten und besonders die des europäischen totalen Krieges im 20. Jahrhundert: Angst, seelenlose Gewalt, das Gefühl von Verlorensein und Vereinsamung, Revisionen und Razzien, Durst und Hunger, Kälte oder Hitze je nach Jahreszeit und Klimazone, Viehwaggons und Frachtschiffe, schließlich der Tod, der immer größere Ernte hält, zunächst unter den Schwächsten – Kindern und Greisen. All diesen Erinnerungen ist eines gemeinsam: das Gefühl, so viel Leid ertragen zu müssen wie der biblische Hiob.15 Ein Soldat fällt unter Waffengeklirr, auf dem »Feld der Ehre«, und in der Regel wird zumindest ein Kreuz oder ein anderes Symbol an ihn erinnern. Vertriebene dagegen sterben still in Straßengräben, überfüllten Waggons, Eisenbahnunterführungen, Übergangs- und Internierungslagern – sie sterben unterwegs. Außer den engsten Verwandten erinnert sich später niemand mehr an sie. Sie sind es nicht, die Geschichte machten, sie werden vielmehr von ihr überrollt. Das sagt – Kinder einmal ausgenommen – nichts darüber, ob sie unschuldig oder schuldig waren, vor allem wenn man Schuld so versteht, dass sie nicht alleine durch die Paragrafen des Strafgesetzbuches beschrieben wird.

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Polen werden im Herbst 1939 aus ihren Häusern geworfen.

© Piekałkiewicz, Janusz: Kalendarium wydarzen Il wojny swiatowej, Vorrede Sebastian Haffner, Warszawy 1996 (dt. Erstausgabe unter dem Titel Der Zweite Weltkrieg), S. 90

WILLKOMMEN IM EUROPA des 20. Jahrhunderts, könnte man kurz und knapp sagen. Unser Kontinent ist also mitnichten ein weißer Fleck auf der Flüchtlingskarte jener Zeit, und er ging ganz gewiss voran auf dem Weg in die Moderne, was in der ersten Jahrhunderthälfte vor allem Homogenisierung der Gesellschaft bedeutete. Dem zunehmend allmächtigen und allwissenden Staat gelang es immer besser, Ziele vorzugeben und soziale Verhaltensweisen zu kontrollieren, was zugleich Vorschritt und Bedrohung bedeutete. Die Homogenisierung, die man beinahe als notwendige Voraussetzung zur Entwicklung des modernen Staates ansah, traf nämlich vor allem Minderheiten, insbesondere nationale und religiöse, doch nicht nur diese – es genügt, an das Schicksal von Adel, Intelligenz und Bauern in der Sowjetunion der 1930er Jahre oder der Homosexuellen in Nazi-Deutschland zu erinnern. Besonders aufschlussreich scheint die Beobachtung der Veränderungen zu sein, die mit dem Modernisierungsdruck in den europäischen Peripherien einhergingen, die – wie schon im Mittelalter – einen Rückstand aufholen mussten, diesmal bei der Entwicklung nationaler und staatlicher Strukturen. So wie beim Landesausbau vom 12. bis 14. Jahrhundert die Britischen Inseln, Spanien sowie die Länder Ostmitteleuropas – Polen, Tschechien und Ungarn – das Laboratorium des Forschers sind, so ist es zu Beginn 20. Jahrhunderts vor allem die Türkei, die damals beschloss, den europäischen Weg zu beschreiten. Die ganze Energie der Jungtürken, die von der Modernität der europäischen Avantgardisten (denen die polnischen Nationaldemokraten ähnelten) fasziniert waren, konzentrierte sich daher bald auf die Idee, einen national und religiös einheitlichen Staat zu schaffen. Aufgrund der politischen Lage auf dem Balkan und in Anatolien führte das schließlich zu zahlreichen Deportationen, Umsiedlungen, ja sogar zu ethnischen Säuberungen bis hin zum Völkermord.

Die lange europäische Kolonialpraxis, bei der an der Wende zum 20. Jahrhundert Aussiedlungen, Konzentrationslager und – nicht immer beabsichtigte – Massenmorde an Einheimischen alltäglich waren, die blutigen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs sowie der Revolution in Russland stumpften die Moral der Europäer allmählich ab. Der Gedanke, dass man die Menschen und Gesellschaften Europas wie Plastilin kneten müsse, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist, hielt Einzug in die Köpfe europäischer Politiker und Gesellschaftsexperten. Spätestens seit den 1920er Jahren betrachtete die internationale Gemeinschaft Zwangsumsiedlungen als eine Art »Kaiserschnitt« – als schmerzhafte, aber erfolgreiche Problemlösung.16 So gestand beispielsweise der bekannte polnische konservative Publizist Stanisław Cat-Mackiewicz 1937 zu, dass der Aufruf, die Juden aus Polen abzuschieben, grausam sei, doch diese Grausamkeit sei notwendig. Und Hermann Aubin, einer der führenden deutschen Historiker und im Grunde ein Gegner von Zwangsumsiedlungen, befürwortete damals die Entmischung des deutsch-polnischen Grenzlandes, weil dies eine historische Notwendigkeit und ein Schritt auf dem Wege zur Entlastung dieses Nachbarschaftsverhältnisses sei.17 In der extremsten Form erfolgte die Homogenisierung durch industrielle Ausrottung derjenigen, die man für »unnütz« hielt – vor allem Juden und Zigeuner.

Die Europäer von heute können die erschütternden Szenen in den fernen Flüchtlingsströmen, die einen festen Bestandteil der täglichen Nachrichtensendungen bilden, oft nicht fassen. Die Flüchtlinge werden aus der Luft bombardiert und auf dem Boden von Armeen und Banden überfallen, die sich meist nur durch ihre Größe unterscheiden. Schon ein englischer Herrscher des Frühmittelalters hat dazu festgestellt, dass es sich bei Gruppen bis zu sieben Mitgliedern um Räuber, bis zu fünfunddreißig um Banden handle, alles darüber seien Armeen.18 Eine Armee von einer »legalen bewaffneten Bande« zu unterscheiden, kann auch heute noch ziemlich schwierig sein, man denke nur an den Einsatz der russischen Armee in Tschetschenien.19 Die sich für so zivilisiert haltenden Europäer, die mehr oder weniger fassunglos auf diese Grausamkeiten schauen, übersehen allzu gern die Tatsache – das gilt vor allem für die eurozentrischen Historiker –, dass das von Modernisierung und Homogenisierung erschütterte Europa, wie die Ereignisse im Umfeld des Ersten und noch viel mehr des Zweiten Weltkriegs gezeigt haben, sich selbst der größte Feind war.20 Europa hätte damals für lange Zeit in Barbarei versinken können, wenn man ihm nicht von außen zu Hilfe gekommen wäre.

Die Europäer vergessen allzu leicht, dass die Erfahrung erzwungener Flucht in großem Umfang etwas ursprünglich Europäisches ist – und ebenso sind es die Kamine von Auschwitz und die Gulags im sibirischen Schnee. Allzu leicht vergessen sie, dass erst vor wenigen Jahrzehnten Armeen und Banden durch Europa zogen und nichts als Ruinen, rauchende Trümmer und ein Heer vergewaltigter und gequälter Frauen zurückließen. Sie vergessen auch, dass »noch 1959 Tausende Menschen in Europa in Lagern vor sich hin vegetierten«.21 Sie vergessen, dass alleine zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Lösung der mit diesen Kriegen verbundenen Flüchtlingsprobleme, also im Zeitraum zwischen 1914 und ungefähr 1960, rund fünfundsiebzig Millionen Europäer Opfer von Deportationen, Evakuierungen, Flucht oder Vertreibung waren. Diese Opfer waren unsere Eltern, unsere Großeltern und unsere Urgroßeltern. Dieses Schicksal erlitten weit mehr als zehn Prozent der damaligen Bevölkerung unseres Kontinents, in dessen mittlerem und östlichem Teil es kaum eine Familie gibt, die nicht von Zwangsumsiedlungen betroffen war. In diesen Schätzungen noch nicht enthalten sind die vielen Millionen junger Männer, die sich jahrelang und selten freiwillig fern ihrer Familien an den Fronten aufhielten und später oft nicht wussten, wie sie ihrer furchtbaren Erinnerungen Herr werden sollten. Oft wurden sie – etwa die Elsässer und Lothringer, Kaschuben, Oberschlesier oder Ermländer – von einer Armee in die andere gesteckt, sodass man schwerlich von einer Wahl der Uniform sprechen kann. Noch im Zweiten Weltkrieg dienten in der polnischen Armee viele Deutsche, die polnische Staatsbürger waren, während auf der anderen Seite viele Polen, bisweilen sogar »fanatische Polen«, in die Wehrmacht gezwungen wurden.22

ES GIBT VIELE VERSCHIEDENE FORMEN der Migration, die – unabhängig davon, ob man es mit Binnenwanderungen oder mit solchen in andere Länder zu tun hat – vor allem danach unterschieden werden, ob sie freiwillig oder erzwungenermaßen erfolgen. Die freiwillige Migration ist das Ergebnis einer bewussten individuellen Entscheidung, die prinzipiell ohne Druck von außen und mit dem Ziel, die eigene Lebenssituation zu verbessern, erfolgt. Zwangsmigrationen werden grundsätzlich unterschieden in solche, die durch direkten Druck hervorgerufen werden (engl. forced migrations), und solche, die erzwungen (engl. impelled migrations) werden, also aus einem situativen Zwang hervorgehen. Das kann eine anhaltende Dürre sein, die Zunahme religiöser beziehungsweise politischer Intoleranz oder der Mangel an Erwerbsaussichten – also wirtschaftliche, weltanschauliche oder sogar rassische Gründe. Zwangsmigrationen können vom Menschen herbeigeführt oder durch Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Missernten ausgelöst werden. Während wirtschaftliche und politische Ursachen eher dauerhafte Migrationen zur Folge haben, lösen Naturkatastrophen, vor allem wenn sie plötzlich hereinbrechen, in der Regel vorübergehende Migrationen aus. Nach einer Überschwemmung etwa kehren die Menschen, sobald das Wasser abgelaufen ist, in ihre Häuser zurück und setzen sie wieder instand. Auch die durch Kriege, insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg verursachten gewaltigen Flüchtlingsströme sind meistens nur eine vorübergehende Erscheinung, selbst wenn sich dieser Zeitraum auf mehrere Jahre erstreckt, im Fall von Bürgerkriegen auch länger. Dabei fliehen die einen vor der Front, andere müssen sich den von den kriegführenden Parteien angeordneten Evakuationen beugen, wieder andere werden interniert, ausgesiedelt, deportiert.

Ich habe in diesem Buch den Begriff »Verjagte« im weitesten Sinne zugrunde gelegt, allerdings beschränkt auf von Menschen verursachte Zwangsmigrationen. Er umfasst also alle Entwurzelten, egal ob sie im eigenen Land auf der Flucht waren oder in die Fremde flohen, ob sie aus wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Gründen vor der näher rückenden Front flüchteten oder evakuiert beziehungsweise vertrieben wurden. Es spielt auch keine Rolle, ob Kriegshandlungen oder Umsiedlungsaktionen der Grund für die Flucht waren, und es spielt ebenfalls keine Rolle, ob diese Aktionen unorganisiert (»wild«) oder organisiert vonstattengingen, ob aufgrund einer unilateralen Entscheidung oder international sanktioniert, und es ist auch nicht von Bedeutung, ob der Verjagte »selbst« entschieden hat, seine Heimat zu verlassen. Wirtschaftsflüchtlinge, die sich aus eigener Initiative auf den Weg machen, finden hier deshalb kaum Beachtung, was aber nicht bedeutet, dass ihr Schicksal leichter ist oder sie die Entscheidung zum Verlassen ihrer Heimat wirklich freiwillig getroffen haben.

Flüchtlingsströme gehören seit Anbeginn der Geschichte zur Menschheit, doch sie verändern sich ständig. Deshalb muss der Historiker eine möglichst umfassende Definition wählen. In der neueren Fachliteratur wird allerdings davor gewarnt, dass die definitorische Genauigkeit darunter leiden könnte, was insbesondere in stärker anwendungsbezogenen Wissenschaften wie Jura, aber auch Politikwissenschaft und Soziologie ein Problem darstellen könnte. Es ist schließlich nicht von der Hand zu weisen, dass Definitionen bisweilen konkrete rechtliche und politische Fragen von manchmal geradezu fundamentaler Bedeutung entscheiden.23 So intervenierte die internationale Gemeinschaft in Ruanda nicht, da die dortigen Massaker nicht als Völkermord eingestuft wurden. Die vietnamesischen boat people wurden wie Wirtschaftsflüchtlinge behandelt und zwangsweise repatriiert. Man könnte viele weitere Beispiele nennen. Wer terminologisch-typologische Genauigkeit verlangt, muss sich jedoch bewusst sein, dass man vor dem Hintergrund der Geschichte keine klare Definition von Flüchtlingsbewegungen ausarbeiten kann und ebenso wenig eine damit verbundene eindeutige Begrifflichkeit. Nach einer schönen Formulierung des polnischen Literaturwissenschaftlers Tadeusz Ulewicz, die sich aus der Tradition von Nietzsches Ausführungen über die Schwierigkeit, langfristige Phänomene zu definieren, herleitet, handelt es sich hier nämlich um einen höchst chimärischen Begriff.24 Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Geschichte eben keine angewandte Wissenschaft ist und der Historiker gewiss nicht die Probleme der Gegenwart löst, auch wenn er dabei helfen kann, sie zu verstehen, indem er historische Wurzeln aufzeigt oder auch darstellt, wie unsere Vorfahren gedacht haben. Die Ergebnisse seiner Forschungen können für uns wie auch für künftige Generationen Warnungen oder auch Hinweise enthalten, jedoch keine Lösungen, da es in der historischen Entwicklung keine ein für alle Mal gültigen Lösungen gibt. Als Bürger kann und sollte sich der Historiker für Toleranz einsetzen, da er die schrecklichen Ergebnisse bestens kennt, die entstehen, wenn es an Toleranz fehlt. Als Gelehrter sollte er jedoch vor allem beobachten und erklären, es vorziehen, die Verwicklungen der menschlichen Schicksale und die oft schwierigen Entscheidungen darzustellen, und nicht leichte Antworten liefern, die eher einem Katalog frommer Wünsche gleichen. Der Historiker muss seine Sympathien und Antipathien nicht verbergen, doch es ist wichtig, dass er am Rand steht, da man – wie eine afrikanische Weisheit sagt – vom Rand aus mehr sieht, auch wenn man selbst dann schlechter zu sehen ist.25

Alle, die dank des historischen Zufalls sicher in warmen Häusern wohnen, die Hunger, Angst um die Nächsten und ständige Flucht nicht kennen, sollten sich vergegenwärtigen, dass wir alle potentielle Flüchtlinge sind.26 Flüchtlinge darf man niemals an den Ort zurückschicken, den sie verlassen haben. Dieser fundamentale Grundsatz der Menschlichkeit wird in Europa immer noch nicht genügend berücksichtigt.27 Anders als erhofft ist die Welt nach 1989, nach dem Ende des Kalten Krieges, keineswegs sicherer geworden. Immer wieder brechen Konflikte aus. »Solange auf dein Haus keine Bombe fällt, so lange denkst du, dass es nie dazu kommen wird.« Diese Auffassung teilten die Flüchtlinge aus Tschetschenien und dem ehemaligen Jugoslawien wie auch alle ihre Vorgänger in Europa und auf der ganzen Welt.28

Die internationale Gemeinschaft hat bis heute keine Mittel zur Beseitigung der – zweifellos komplizierten – Flüchtlingsprobleme gefunden. Das betrifft nicht nur Afrika, in dem die mehr oder weniger erzwungenen Migrationen eine wahre Plage darstellen, sondern auch Europa, wo das 20. Jahrhundert mit einem Jahrzehnt der Umsiedlungen und ethnischen Säuberungen zu Ende ging und wo 1995 in Srebrenica, in einer angeblich von den europäischen Streitkräften geschützten Zone, wo geradezu vor den Augen der Welt ein Massaker begangen wurde, dem rund fünftausend bosnische Jungen und Männer zum Opfer fielen. Auch das Drama der Tschetschenen, die – im Licht des internationalen Rechts betrachtet – von ihrer eigenen Armee überfallen wurden, darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Etwa hunderttausend Tschetschenen wurden in den Kriegen getötet, und noch viel mehr Tschetschenen leben als Flüchtlinge in den Nachbarregionen. Deren Lage wird sich auf absehbare Zeit kaum verbessern, weil es hier um die alte und raffiniert gewobene Souveränität eines der größten Staaten der Welt geht. Menschenrechte spielen da eine untergeordnete Rolle, selbst wenn der Staat bewusst Gewalt gegen die eigenen Bürger einsetzt. Das gilt besonders dann, wenn es auf der Welt viele andere Probleme gibt.29

DEM DEUTSCHEN EXPRESSIONISTEN Arthur Degner ist es gelungen, auf einem Bild, das auf Rettung wartende Flüchtlinge am Meer darstellt, etwas festzuhalten, was das Flüchtlingsleben nicht weniger prägt als die ständige Angst – nämlich das Warten. Auch der in Osnabrück geborene Erich Maria Remarque, der aus Deutschland floh, ehe der Osnabrücker Neumarkt – ich überquerte ihn täglich auf dem Weg zum Institut – in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, hat beschrieben, wie mit der Zeit die Angst schwindet und durch das Warten ersetzt wird, die »letzte Barriere vor der Verzweiflung«.30 Angst und Warten und am Ende das verzweifelte Warten auf ein Eingreifen der Vorsehung sind die Begleiter von Flüchtlingen überall auf der Welt und zu jeder Zeit. Die Entwurzelten gelangen am Ende immer ans Meer, symbolisch oder real, wo alle Wege enden. Und dann kommt ein Schiff, das viel zu klein ist für alle – Symbol der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung.

4Janke, Dzieje wileńskiego zgromadzenia, S. 22, 26, 68 (hier das Zitat).

5Anušauskas, »Zwangsmigrationen«, S. 143f., 146f. Vgl. auch Gurjanow, »Cztery deportacje«, S. 120.

6Janke, Dzieje wileńskiego zgromadzenia, S. 4ff. Vgl. zu Wilna Sterlingow, Wilno, S. 18f., und zu den Wilnaer Juden im Zweiten Weltkrieg Levin, »Wileńscy Żydzi«, sowie Lipphardt, Vilne, S. 99–103.

7Janke, Dzieje wileńskiego zgromadzenia, S. 14f.

8Fischer, Zwischen zwei Seen, S. 120ff., 141f. (hier das Zitat).

9Schechtman, Postwar Population Transfers, S. 25f. Vgl. auch Piskorski, »Wir haben die Tür abgeschlossen«, S. 16, aber auch in diesem Buch S. 161.

10Anušauskas, »Zwangsmigrationen«, S. 143.

11Sobieski, Historia Polski, S. 75, 298.

12Shirer, Berliner Tagebuch, S. 141; Segal, Nazi Rule, S. 2.

13Żeromski, Wiatr od morza, S. 292.

14Szwichtenberg, »Fragment wspomnień«, S. 54, und Fragmente auf Deutsch in Baumgärtner u.a. (Hg.), Horizonte, S. 207.

15Said, Za ostatnim niebem, S. 5f.

16Vgl. Mazower, »Violence«.

17Wynot, »A Necessary Cruelty«; Mühle, »Hermann Aubin«, v.a. S. 577.

18Vgl. Brather, Archäologie, S. 312.

19Procházková, Ani życie, ani wojna, S. 209f.

20Vgl. Blaut, Eight Eurocentric Historians, v.a. S. 200–208.

21Harrell-Bond, »Preface«, S. XIV.

22Vgl. Orłowski, Warmia, S. 70.

23Zolberg/Suhrke/Aguayo, Escape from Violence, S. 3–33. Vgl. auch Bookman, After Involuntary Migration, S. 11.

24Ulewicz, Sarmacja, S. 5. Zur Terminologie siehe auch Piskorski, Vertreibung, S. 53–64.

25Couto, Ostatni lot flaminga, S. 11.

26Lal Jayawardena, »Foreword«, in: Daniel/Knudsen (Hg.), Mistrusting Refugees, S. IX.

27Chakrabarty, Human Rights, S. 6.

28Procházková, Ani życie, ani wojna, S. 118; Münzel/Pehar (Hg.), Auf 12 Uhr wird euch der Krieg erklärt, S. 8.

29Vgl. Cohen/Deng, Masses in Flight, S. 47–56, 215–228.

30Remarque, Liebe deinen Nächsten, S. 36. Zwar macht der Autor in dem eng mit Osnabrück verbundenen Flüchtlingsroman Die Nacht von Lissabon aus dem Rißmüllerplatz den Adolf-Hitler-Platz (S. 30), aber bleiben wir hier ruhig auf dem Boden der Tatsachen.