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Barbara Pachl-Eberhart

Warum gerade du?

Persönliche Antworten

auf die großen Fragen der Trauer

heyne

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Integral Verlag

Integral ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH.

ISBN 978-3-641-13985-8
V003

Erste Auflage 2014

Copyright © 2014 by Integral Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Dr. Diane Zilliges

Einbandgestaltung: Guter Punkt, München – Andrea Barth

Coverfoto: © iStock / mysondanube

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

www.integral-verlag.de

Für den Tod,

der mich lehrte, was es heißt,

ohne Angst zu leben.

»Ich bin nicht nur überzeugt, dass das, was ich sage, falsch ist,

sondern auch das, was man dagegen sagen wird.

Trotzdem muss man anfangen, davon zu reden.«

Robert Musil

Inhalt

Einleitung

Wo bist du?

Warum?

Warum gerade du?

Werde ich alles vergessen?

Wie geht es mir?

Dir geht es doch gut. Warum nicht auch mir?

Wie soll ich das aushalten?

Wer kann mich nur verstehen?

Was brauche ich?

Bin das jetzt ich?

Kann ich jemals wieder glücklich sein?

Zum Abschluss

Einleitung

»Warum tut das so weh? Warum tut das nur so wahnsinnig weh!?«

Das war die erste große Frage. Die ersten Worte, mit denen meine Trauer ihre Sprachlosigkeit endlich durchbrach. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem sie, ohne sich vorher anzukündigen, aus mir herausplatzten: der siebzehnte Tag nach dem Unfall – mein Mann, mein Sohn und meine kleine Tochter waren am Gründonnerstag 2008 von einem Zug überfahren worden. Seit mehr als zwei Wochen waren sie nun schon tot. Und ich? Eben noch Mama von zwei kleinen Kindern. Clown von Beruf, Botschafterin der Lebensfreude. Eine junge Frau in der besten Zeit ihres Lebens. Und jetzt, auf einmal: Witwe. Verwaiste Mutter. Allein.

Was ich erleben musste, klingt brutal. Wenn ich heute Menschen davon berichte, was mir im Jahr 2008 geschehen ist, treten vielen von ihnen die Tränen in die Augen, sie beginnen, schwer zu schlucken, und schauen drein, als wäre ihnen ein Ziegelstein in den Bauch gefallen. Ich versuche dann zu erklären, dass ich diese Zeit direkt nach dem Tod meiner Familie ganz und gar nicht als brutal empfand. Im Gegenteil: Ich schwebte in einer Blase, irgendwo zwischen Himmel und Erde, ich fühlte mich geborgen, lebte in einer Traumwelt, in der ich mich eingerichtet hatte, um zu überleben. Meine tote Familie und ich, wir waren einander nah, und alles schien mir gut – zumindest solange ich nicht vor die Tür gehen musste.

Irgendwie gelang es mir, die Beerdigung zu organisieren, sofort danach aber verkroch ich mich wieder in mein Bett. Ich wollte nicht reden, nichts gefragt werden und schon gar nichts antworten. Mein Kopf sollte leer und frei sein, damit ich mich jederzeit in den Himmel träumen konnte. »Es geht mir gut«, antwortete ich auf die SMS meiner Freundinnen – und glaubte mir selbst. Ich wollte, dass alles so blieb, wie es war. Sicher, geborgen hinter verschlossener Tür. Am besten ganz ohne Worte, still und stumm. Einsam fühlte ich mich nicht. Doch die, die außen standen, ahnten bald die drohende Gefahr meiner Isolation. Heute bin ich froh, dass sie die Initiative ergriffen.

Es war meine Clownkollegin Sophie, die mich als Erste aus meiner Höhle lockte. Sie rief an, um zu fragen, ob sie mich zu einem Waldspaziergang abholen dürfe. Ich sagte Ja. Nicht, weil ich Lust darauf hatte – mir fiel bloß so schnell kein Grund dagegen ein. Eine halbe Stunde später waren wir bereits unterwegs. Wir stapften eine Zeit lang querfeldein durchs Unterholz, Sophie voran, ich hinterher, wie in Trance. Kein äußerer Betrachter hätte erkannt, dass wir beide nicht allein waren. Doch der Tod war mit uns gekommen, und alles, was wir miteinander sprachen, musste vor seinem unsichtbaren Antlitz bestehen. Unsere Schritte waren bestimmt, der Weg durch den Wald vertraut. Die Worte, die wir suchten, tanzten hingegen wie auf Eierschalen.

Wir erreichten eine Lichtung und setzten uns ins Gras. Die Sonne schien, ein Schmetterling flatterte neben uns und ließ sich in aller Ruhe auf einen Löwenzahn nieder. Ich schaute empfindungslos durch ihn hindurch. Sophie versuchte mich aufzumuntern. »Ich glaube, im Himmel haben die immer solche Tage wie heute. Hör mal, wie schön die Vögel singen. Ich kann mir gut vorstellen, wie Heli da drüben auf seiner Wolke mitträllert, was meinst du? Vermutlich spielt er sogar auf seiner Ukulele.«

Ich lächelte, dankbar für das, was meine Freundin da sagte. Ja, genauso stellte auch ich mir den Himmel vor. Glücklich, lebendig, frei. Ich hielt mein Gesicht in die warme Sonne und lauschte den Vögeln. Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete ich bis in meinen Bauch hinein. Und da, von einem Moment auf den anderen, schlug meine Stimmung um. Das Glück des Himmels war verschwunden. In mir tobte eine Feuersbrunst. Da war sie: die erste Begegnung mit dem Urschmerz der Trauer.

»Warum tut das nur so weh?«

Die einfache Antwort war mir klar, schon damals, im Wald. Natürlich: Wir weinen um unsere Toten, weil wir sie vermissen. Wir lieben sie, aber sie sind nicht mehr da. Die Sehnsucht brennt wie Feuer. Klar tut das weh.

Sophie hat diese naheliegenden Gedanken nicht ausgesprochen. Sie wusste: Es war nicht wichtig. Viel wichtiger war es, zu schweigen und einfach auszuhalten, was geschah. Meine Freundin hielt still, sie blieb bei mir, bis ich meine Frage hundertmal wiederholt hatte, in allen Tonarten, jammernd, vorwurfsvoll, gepresst, gequält, voll Selbstmitleid. Sophie hielt durch, so lange, bis mein Schmerzanfall verklungen war und ich keine gesabberten Worte mehr brauchte, um mich zu entladen.

Bis heute ist Sophie als Freundin bei mir geblieben. Sie begleitet mich auf der Achterbahn meiner Gefühle, sie lacht mit mir, wenn ich mich mit waghalsigen Plänen am Leben versuche, sie erträgt die Stille und auch die immer wiederkehrende, unendlich tiefe Frage nach dem Sinn. Immer wieder hat mir Sophie ihr Ohr geschenkt, und sie hörte nicht nur das, was ich sagte, sondern auch das, was ich zu sagen versuchte. Sie versteht es gut, so lange zu warten, bis mein Herz seine eigenen Antworten findet und mein Mund in der Lage ist, sie zu formulieren.

Dieses Buch schreibe ich als Dank an Sophie – und all die anderen Frauen und Männer, die mir dabei geholfen haben, über den Tod und mein Leben nach, nein, mein Leben mit dem Tod nachzudenken. Ich schreibe es für alle, die selbst Fragen stellen, die weinen und manches Mal verzweifelt sind. Ich schreibe dieses Buch für Sie, wenn Sie einen geliebten Menschen verloren haben. Und für die Menschen, die Sie begleiten, in Gesprächen, aber auch in der Stille der Sprachlosigkeit.

Trauer macht stumm. Um das Schweigen zu durchbrechen, brauchen Sie und auch Ihre Begleiter großen Mut, Fettnäpfchen und Missverständnisse gehören dazu. Vielleicht kann dieses Buch Ihnen Worte schenken für das, was Sie fühlen und erleben. Vielleicht kann es Ihren Begleitern ein Bild davon vermitteln, wie es Ihnen geht, und den Menschen in Ihrer Umgebung erklären, warum Trauernde sich nicht immer so verhalten, wie man es von ihnen erwartet.

Natürlich maße ich mir nicht an, zu wissen, wie es in Ihrem Inneren aussieht. Möglicherweise möchten Sie mir an der einen oder anderen Stelle sogar heftig widersprechen, weil Sie ganz anders denken und fühlen als ich. Oft ist es gerade der Widerspruch, der uns als Trampolin dient, von dem wir uns abstoßen und in Bewegung kommen. Da, wo wir widersprechen, sprechen wir immerhin.

Dieses Buch enthält meine persönlichen Antworten auf die großen Fragen der Trauer. Ich erzähle Ihnen, was ich meiner Trauer heute sage, wenn sie mich wieder einmal fragt, warum meine Kinder sterben mussten, wo ihr Leben doch gerade erst begonnen hatte. Was ich meiner Angst antworte, wenn sie mir weismachen will, dass die Erinnerung an meine Familie langsam verblasst. Ich will Sie in die Gedanken einweihen, die mir helfen, den Schmerz meiner Trauer besser zu ertragen. Und ich lade Sie ein, mit mir gemeinsam zu fragen: Können wir auch nach schmerzhaften, existenziellen Verlusten eines Tages wieder glücklich sein?

Wo bist du? Wie soll ich den Schmerz ertragen? Warum musstest du sterben? Kann ich jemals wieder glücklich sein? So lauten einige der Fragen, die ich in diesem Buch behandle. Ich habe jene Fragen ausgewählt, die mich immer wieder besuchten, die nachts in meinem Kopf herumspukten und sich jedem Versuch, sie mit einfachen Mitteln abzuspeisen, widersetzten. Gerade deshalb wurden mir diese Fragen im Lauf der Zeit zu einer Quelle vielfältiger Inspiration.

Natürlich gibt es auf jede dieser Fragen schnelle, einfache Antworten. Sie rutschen leicht über die Lippen – aber kaum jemals kommen sie da an, wo wir sie wirklich brauchen: im Herzen, im Bauch und in unserer verletzten Seele, die um Hilfe ruft. Wenn wir trauern, dürfen wir lernen, geduldig zu sein, mit uns und mit dem Leben, das uns Antwort gibt. Wir müssen, ja, wir sollen die großen Rätsel nicht sofort auflösen. Sie sind zu wertvoll, um allzu schnell abgehakt zu werden. Die Fragen der Trauer sind ein Schatz, eine wichtige Wegzehrung. Wir brauchen sie dringend als Begleiter auf dem Weg zu uns selbst.

Ich habe im Lauf der letzten Jahre gelernt, die Fragen auszuhalten. Mit ihnen zu leben, als wären sie Gäste in meinem Haus. Dabei bin ich immer wieder auf neue, überraschende Antworten gestoßen. Kleine, zerbrechliche, durchsichtig poetische – aber auch tragfähige Antworten, die das Fundament meines Lebens stabiler werden ließen als je zuvor. Ich fand sie nicht, indem ich grübelte. Ich musste vor die Tür gehen und mich dem Leben anvertrauen. Erst in der Begegnung mit der Welt entdeckte ich Metaphern, Geschichten und Parabeln, durch die ich Einsicht gewann. In der Auseinandersetzung mit meiner Gegenwart erkannte ich den Sinn dessen, was in der Vergangenheit geschehen war. Ich lebte, und ich ließ mir Zeit.

Viele Knoten in Kopf und Bauch lösten sich erst, als ich mir erlaubte, durchs Leben zu schlendern, Umwege zu machen und weite Kreise zu ziehen. Nach und nach befreite ich mich von vielen Ansprüchen, die ich an mich selbst und an das Leben gestellt hatte. Wer ungeduldig zieht und zerrt, kann die leisen, zart schwingenden Antworten nicht hören. Doch wenn wir dem Leben auf milde, wohlwollende Weise die Hand reichen, können wir uns letztlich sogar mit dem Tod versöhnen.

Oft treffe ich bei meinen Vorträgen und Lesereisen Menschen, die verunsichert sind, wenn es um die Begegnung mit Trauernden geht. »Was kann ich bloß sagen? Wie kann ich trösten?«, fragen sie. Sie sehnen sich insgeheim nach Rezepten, nach Zauberworten, mit denen sie die Tränen und die ratlose Erstarrung verscheuchen können. Solche Zauberformeln kann ich nicht anbieten – und es erschiene mir auch gar nicht sinnvoll. Trauer ist keine Krankheit, die es zu heilen gilt, und auch kein seltsamer Spuk, den man bekämpfen muss. Es ist nicht nötig, sie wegzutrösten oder wegzuschnäuzen. Trauer ist mehr, Trauer kann mehr. Trauer ist eine wunderbare Fähigkeit, die uns Menschen angeboren ist. Leider nutzen wir sie viel zu selten, da, wo sie uns im Kleinen gern zu Hilfe kommen würde. Wir neigen dazu, sie zu verdrängen, wir lenken uns ab, schützen uns, wo es nur geht, vor dem Gefühl der Vergänglichkeit, das beim ersten Kosten ziemlich bitter schmeckt.

Meist ist es der Tod eines geliebten Menschen, der unsere Fähigkeit zu trauern schließlich wiedererweckt. Anfangs tut es schrecklich weh, nicht zuletzt, weil wir merken, wie viel wir verlernt haben, während wir verdrängten. Ungeduldig und enttäuscht von uns selbst würden wir das Trauern – wenn es schon sein muss – am liebsten möglichst effizient hinter uns bringen. Erst wenn das nicht klappt, wenn wir hängen bleiben und nicht so weiterkommen, wie wir es uns wünschen, beginnen wir, unsere Muster zu überdenken. Und genau hier liegt die Chance, den wahren Wert der Trauer zu erkennen. Unsere Seele zeigt sich dankbar, sie nimmt unsere Tränen entgegen und saugt sie auf wie eine Pflanze den Regen nach langer Dürre. Mit etwas Mut lernen wir überraschend schnell. Wir werden wieder berührbar und beginnen uns an das zu erinnern, was im Grunde schon immer in uns steckt: ein tiefes Wissen, ein uraltes Vertrauen, viele ungeweinte Tränen – aber auch eine ganz besondere Art von Lebendigkeit, in der es Platz gibt für vieles, sogar für den Schmerz. Ich habe dieses Buch geschrieben, um Sie bei der Erinnerung an diese Lebendigkeit zu unterstützen.

Das einzige Mittel, das mir dabei zur Verfügung steht, sind die Worte. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, lebendige Worte zu finden – Worte, die Sie nicht nur im Denken ansprechen, sondern auch in der Art, wie Sie Ihrem Leben aktiv und handelnd begegnen können. So wünsche ich mir, dass dieses Buch immer wieder auf Ihrem Nachtkästchen liegen bleibt, weil Sie gerade keine Zeit zum Lesen haben. Ich hoffe, dass meine Geschichten vor allem Lust aufs Leben machen – auf Bewegung, Ausdruck und auf die Begegnung mit anderen Menschen, vielleicht sogar mit Menschen, die schon einmal Ähnliches erlebt haben wie Sie. Dieses Buch ist ein Begleiter, aber nur einer von vielen. Und es ist möglich, dass es Sie auch dann noch begleitet, wenn Sie sich nicht mehr als trauernd bezeichnen. Im besten Fall weckt es in Ihnen eine Ahnung, die ungefähr so lauten könnte: Die großen Fragen der Trauer unterscheiden sich gar nicht so sehr von den großen Fragen, die uns das Leben allgemein stellt.

Worin besteht eigentlich der Sinn des Lebens? Auch diese Frage beantworte ich – auf meine Weise – in diesem Buch. An dieser Stelle möchte ich allerdings mein großes Vorbild Viktor Frankl zitieren: »Der Sinn des Lebens, haben wir gesagt, sei nicht zu erfragen, sondern zu beantworten, indem wir das Leben verantworten. Daraus ergibt sich aber, dass die Antwort jeweils nicht in Worten, sondern in der Tat, durch ein Tun zu geben ist. Auch das Leben fragt uns nicht in Worten, sondern in Form von Tatsachen, vor die wir gestellt werden, und wir antworten ihm auch nicht in Worten, sondern in Form von Taten, die wir setzen.«

Wir, die wir trauern, wissen nur zu gut, wie eng die großen Fragen der Trauer mit dem zusammenhängen, was wir im Leben tun. Zu Beginn wird uns das vor allem auf schmerzhafte Weise bewusst. Denn oft ist es gerade der scheinbar banale Alltag, der uns die größten schmerzhaftesten Fragen stellt. Bin das jetzt ich? Was brauche ich? Ist mir überhaupt zu helfen? Mitten im Leben versuchen wir, Schritt zu halten mit den anderen, die keinen K.-o.-Schlag verdauen müssen wie wir. Tapfer kämpfen wir uns durch den Dschungel der Behördengänge, Formulare und profanen Agenden des Hinterbliebenseins. Wir stammeln und ringen um Worte, wenn man uns fragt, wie es uns geht. Wir stehen bei IKEA und merken plötzlich, dass diese Pakete ganz leicht waren, als wir noch vier Hände hatten, und dass die gleichen Pakete jetzt auf einmal schwer sind wie Blei. Wir holen einen halben Laib verschimmeltes Brot aus der Dose und weinen – nicht um die verdorbene Krume, sondern um ein ganzes Leben, in dem niemals ein Laib Brot schlecht wurde und in dem das Essen grundsätzlich viel besser schmeckte. »Was hast du?«, fragt man uns. Wir können es nicht sagen, es wäre zu viel, zu tief, zu kompliziert.

Wir haben von sehr vielem, was zu unserem neuen Leben gehört, keine Ahnung. Wir leben trotzdem und hoffen, dass wir jemanden finden, der uns nicht nur Taschentücher reicht, sondern die tiefe Tragödie hinter den scheinbar kleinen Ereignissen versteht. Wir beten darum, dass jemand kommt und uns einen Teller Suppe vor die Nase stellt, die Glühbirne einschraubt und das Auto zum Service bringt. Dieser Jemand … vielleicht versteht er sogar, dass wir es manchmal selbst sehr komisch finden, wenn uns etwas auf geniale Weise misslingt, und auch, dass wir mitten im Lachen auf einmal wieder zu weinen beginnen, ohne genau zu wissen, warum.

Weinen und lachen. Zurückschauen und vorwärtsgehen. Sich verstecken und Neues wagen. Trauern … und glücklich sein. Ist das wirklich möglich? Die Antworten, die ich in diesem Buch gebe, bekennen sich zum Leben und zur Hoffnung auf das Glück. Sie entwickeln sich langsam. Sie stammen aus meiner Erfahrung mit hilflosen, strengen oder gutmütigen Freunden, mit klugen Begleitern und Helfern. Und nicht zuletzt aus der Erfahrung mit mir selbst, in allen möglichen Lebenslagen. Sie schöpfen aus meiner Vergangenheit als Mutter und Ehefrau ebenso wie aus der Zeit meiner tiefsten Trauer und auch aus meinem aktuellen Leben in neuem Beruf und in neuer Beziehung.

Sie sind immer wieder lebendig, praktisch, aufs Leben bezogen. Andererseits greife ich immer wieder zu Metaphern, Gedichten und Geschichten, vor allem, wenn es darum geht, Unsagbares zu umkreisen. Die Sprache der Bilder hilft uns, behutsam zu bleiben und uns auf Zehenspitzen an jene Themen heranzutasten, die uns am meisten betreffen – als Trauernde, aber vor allem als fühlende Menschen, die erlebt und erfahren haben, wie wertvoll und zerbrechlich das ist, was wir Leben nennen.

Ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann, Ihnen den Tanz durch die Grenzgebiete am Rande unserer Existenz ein wenig zu erleichtern. Ich glaube an die transformierende Kraft der Trauer. Zugleich glaube ich auch daran, dass eine Zeit der Trauer irgendwann zu Ende gehen darf. Es darf wieder gut werden in einem Leben, das anders ist als vorher – nicht nur, weil jemand fehlt, sondern vor allem, weil wir uns verändert haben, weil wir durch die Begegnung mit dem Tod gewachsen sind. Dieses Buch lädt Sie ein zu erkennen, was Sie durch die Trauer um Ihren geliebten Menschen gewinnen können.

Lassen Sie uns mit dem Ausflug beginnen, einem Ausflug in die Welt meiner persönlichen Geschichten, Gedanken und Bilder. Erkunden wir, was die Trauer uns fragt, und machen wir uns gemeinsam auf die Suche nach Antworten. Die letzte, größte, für immer wahre Antwort, die werden Sie in diesem Buch nicht finden. Nicht, weil es sie nicht gibt. Sondern weil die tröstende, letztgültige Wahrheit schon längst am besten Ort der Welt bereitliegt: mitten in Ihrem Herzen – an einem Platz, zu dem Worte einfach keinen Zugang haben. Möge mein Buch ein kleiner Schlüssel sein, der Ihnen die Tür zum geheimen Raum Ihrer eigenen Antworten öffnet. Vielleicht ist es der erste – vielleicht aber auch der letzte, der noch nötig ist, um einzutreten.

Das Erste

Ich glaube, das Erste,

was ich nach deinem Tod getan habe,

war völlig banal.

Wenn ich mich richtig erinnere,

habe ich mir den Zopfgummi

aus den Haaren gezogen

und mir einen neuen Pferdeschwanz gebunden.

Als hätte ich es oft geübt,

bin ich vom Krankenhaus

nach Hause gefahren.

Nicht einmal das Geräusch des Blinkers

war anders als sonst.

Daheim

habe ich die Türe aufgesperrt,

die Schuhe ausgezogen

und sie nebeneinandergestellt.

Das hatte keine Bedeutung.

Zwei Schuhe gehören eben

nebeneinandergestellt.

Ich warte noch heute

auf den Moment,

der nicht so banal ist

wie die rotztriefenden Tränen der Schuld

über unsere banalen Streitigkeiten.

Nicht so banal

wie der Schmerz

der Sehnsucht

nach ganz banalen Momenten mit dir.

Ich frage mich, ob mein eigener Tod

die letzte Banalität sein wird,

die ich hinter mich bringen muss.

Oder ob es drüben, bei dir,

genauso banal weitergeht.

Leichter, vermutlich.