Von Thomas Gordon sind bei Heyne lieferbar:
Familienkonferenz (ISBN 978-3-453-02984-2)
Die neue Familienkonferenz (ISBN 978-3-453-07861-1)
Familienkonferenz in der Praxis (ISBN: 978-3-453-60234-2)
Lehrer-Schüler-Konferenz (ISBN 978-3-453-60326-6)
Managerkonferenz (ISBN 978-3-453-60000-3)
Über den Autor
Thomas Gordon (1918–2002) war praktizierender Psychologe in den USA. Er gehörte zu den Pionieren der humanistischen Psychologie und war der Überzeugung, dass Menschen, die in einem fürsorglichen und freiheitlichen Klima aufwachsen, in hohem Maße fähig werden, Verantwortung zu tragen und ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu führen. Durch seine Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erkannte er die große Bedeutung der Kommunikation und gewaltfreien Konfliktlösung für die zwischenmenschliche Beziehung. Schön früh entwickelte er hierzu ein konkretes, im Alltag anwendbares Modell, das bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Thomas Gordon ist Bestsellerautor zahlreicher Bücher zum Thema Kommunikation, Erziehung und Beziehungen. Sein bekanntestes Buch Familienkonferenz wurde weltweit millionenfach verkauft. Für seine Arbeiten wurde er zudem mehrfach ausgezeichnet. Ziel seiner Methode, das Verbessern von Beziehungen und das gewaltlose Lösen von Konflikten ohne Verlierer, ist auch als Friedensarbeit im eigentlichen Sinne anzusehen, was seine dreifache Nominierung für den Friedensnobelpreis 1997, 1998 und 1999 unterstreicht. Sein umfangreiches Werk ist bei Heyne lieferbar.
Thomas Gordon
Familienkonferenz
Die Lösung von Konflikten
zwischen Eltern und Kind
Aus dem Amerikanischen
von Maren Organ
Wilhelm Heyne Verlag
München
Titel der Originalausgabe
PARENT EFFECTIVENESS TRAINING
The »No-Lose« Program for Raising Responsible Children
Erschienen bei Peter H. Wyden, Inc., New York
Überarbeitete 2. E-Book-Fassung
Copyright © 1970, 1975, 2000 by Thomas Gordon
Copyright © 1972 der deutschsprachigen Ausgabe by
Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg
Copyright © 2011 dieser deutschsprachigen aktualisierten Ausgabe by
Random House GmbH
Der Wilhelm Heyne Verlag, München, ist ein Verlag
der Verlagsgruppe Random House GmbH
www.heyne.de
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-07260-5
Vorwort
Peter Wyden bestand darauf, dass ich dieses Buch schreibe. Als ich abwiegelte, versuchte er es mir in Verkäufermanier schmackhaft zu machen, sagte mir, wie ein solches Buch das Leben vieler Eltern verändern könnte, ihnen helfen würde, verantwortungsvollere und selbstdiszipliniertere Kinder aufzuziehen, und um den Anreiz noch zu steigern, bot er mir an, das Manuskript selbst zu lektorieren. Er hatte mehrere Bücher geschrieben und Hunderte herausgegeben, daher nahm ich an, er verstehe etwas davon. Und das tat er. Das Buch wurde ein Bestseller und veränderte das Leben von Millionen von Menschen, bereitete den Boden für Hunderte anderer Bücher über Kindererziehung und fungierte, der Pew Foundation zufolge, als Vorbild für viele der 50000 Trainingsprogramme für Eltern in den Vereinigten Staaten und unzähligen anderen Ländern.
Das Modell, das ich in diesem Buch entwickelt und beschrieben habe, hat im Lauf der Jahre die Art und Weise beeinflusst, wie wir alle über Kommunikation und Konfliktlösungen sprechen. Heutzutage hat nahezu jeder einmal von aktivem Zuhören, Ich-Botschaften und der niederlagelosen Konfliktbewältigung gehört. Wir haben schon früh erkannt, dass dieses Modell – auch bekannt als das Gordon-Modell – sich nicht auf Eltern-Kind-Beziehungen beschränkt: Es lässt sich auf jegliche Beziehungsform anwenden – sei es zu Hause, bei der Arbeit, in der Schule oder global gesehen. Die Begrifflichkeit des Modells begegnet uns in Psychologieaufsätzen, Büchern, in Managerkursen, in der Erwachsenenbildung und praktisch überall dort, wo zwischenmenschliche Kommunikation und Konfliktbewältigung entscheidende Themen sind.
Im Lauf der Jahre wurde mir bewusst, dass die Beziehungen der Menschen, die diese Methoden und Strategien anwenden, immer demokratischer werden. Aus diesen demokratischen Beziehungen gehen Gesundheit und Wohlbefinden hervor. Menschen, die sich angenommen fühlen, sich frei entfalten können und Anteil an Entscheidungen haben, die sie selbst betreffen, bauen größeres Selbstwertgefühl und mehr Selbstvertrauen auf und verspüren weniger von der Machtlosigkeit, die in autokratischen Familien vorherrscht.
Diese Strategien sind auch für den Weltfrieden entscheidend. Demokratische Familien sind friedliche Familien, und wenn es genügend friedliche Familien gibt, werden sie eine Gesellschaft bilden, die Gewalt ablehnt und Krieg als untragbar erachtet.
Was mir beim Schreiben des Buches nicht bewusst war, war der Lauf des Lebens. Ich habe meinen Blick einfach nicht weit genug in die Zukunft schweifen lassen, um zu erkennen, dass Kinder, die nach dem Elterlichen Effektivitätstraining erzogen werden, nicht nur zu gesünderen und glücklicheren Erwachsenen, sondern selbst zu demokratischen Eltern werden, die den Kreislauf der Gewaltlosigkeit fortführen und einer neuen Generation nahebringen. Ich bin sehr dankbar dafür, lange genug gelebt zu haben, um Gespräche mit etlichen jungen Menschen führen zu können, deren Großeltern das elterliche Erfolgsprogramm in die Familie gebracht haben.
Ein Freund von mir sagte einst: »Jeder Mensch wird in seinem Leben wenigstens eine große positive Überraschung erleben.« Ich glaube, die größte positive Überraschung in meinem Leben war, dass Peter Wyden recht behielt. Das elterliche Erfolgsprogramm hat nicht nur in Amerika Verbreitung gefunden, das Buch ist inzwischen in 30 Sprachen erschienen, es sind mehr als vier Millionen Exemplare davon im Umlauf, und das Programm wurde in 43 Ländern eingeführt. Dies ist nicht nur eine große Überraschung für mich – es ist äußerst befriedigend.
Wir konnten feststellen, dass die Hauptkonzepte und -methoden unseres Programms auch heute nicht an Gültigkeit verloren haben, vier Jahrzehnte, nachdem ich den allerersten Kurs mit 17 Elternteilen in einer Cafeteria in Pasadena, Kalifornien, gegeben habe. Das Einzige, was sich verändert hat, ist der Bedarf. Er hat sich erheblich vergrößert, nachdem immer mehr Studien belegen, dass häusliche Gewalt in Form von Schlägen oder Prügel Gewalt in der Gesellschaft verursacht. Das Buch, das Sie in den Händen halten, hält Rezepte gegen häusliche Gewalt bereit und schafft stattdessen Frieden und Demokratie.
In den Jahren nach dem ersten Kurs hat sich die öffentliche Meinung entscheidend gewandelt. Im Jahr 1975 hielten beinahe 95 Prozent der Amerikaner körperliche Bestrafung von Kindern zu Hause und in der Schule für gerechtfertigt. Aktuellen Umfragen zufolge ist inzwischen nur noch die Hälfte der Menschen dieser Ansicht, und die Anzahl derer, die körperliche Strafen befürworten, nimmt weiterhin rapide ab – was mich unheimlich freut.
Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass die Lektüre dieses Buches eine lohnende und bereichernde Erfahrung für Sie sein wird.
Dr. Thomas Gordon
Solana Beach, Kalifornien
1. Die Eltern werden beschuldigt, aber nicht geschult
Alle geben den Eltern Schuld an den Problemen der Jugend und an den Schwierigkeiten, die junge Menschen der Gesellschaft zu verursachen scheinen. Die Eltern haben an allem Schuld, klagen die Psychologen nach Untersuchung der beängstigenden Statistiken über die rapide zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die schwerwiegende oder lähmende emotionale Probleme entwickeln, zu Rauschgiftsüchtigen werden oder Selbstmord begehen. Politiker und Strafvollzugsbeamte beschuldigen die Väter und Mütter, eine Generation von Gangmitgliedern, amoklaufenden Teenagern, gewalttätigen Schülern und Kriminellen heranzuziehen. Und wenn die Kinder in der Schule versagen oder hoffnungslose Drop-outs werden, behaupten Lehrer und Schulverwaltung, dass die Eltern Schuld daran haben.
Wer aber hilft den Eltern? Was wird getan, um sie dabei zu unterstützen, in der Kindererziehung erfolgreicher zu werden? Wo können Väter und Mütter lernen, was sie falsch machen und was sie anders tun könnten?
Eltern werden beschuldigt, aber nicht geschult. Millionen neuer Mütter und Väter übernehmen jedes Jahr eine Aufgabe, die zu den schwierigsten zählt, die jemand haben kann; sie bekommen ein Kind, einen kleinen Menschen, der fast vollkommen hilflos ist, und nehmen die volle Verantwortung für sein physisches und psychisches Wohl auf sich, um ihn zu erziehen, auf dass er ein produktiver, kooperativer und mitwirkender Bürger werde. Gibt es eine schwierigere und anspruchsvollere Aufgabe?
Wie viele Eltern aber sind dafür geschult? Inzwischen sind es wesentlich mehr als im Jahr 1962, als ich beschloss, in Pasadena, Kalifornien, ein Schulungsprogramm für Väter und Mütter ins Leben zu rufen. Mein erster Kurs wurde lediglich von 17 Elternteilen besucht, die größtenteils schwerwiegende Probleme mit ihren Kindern hatten.
Nun, etliche Jahre später, haben wir durch die Schulung von über 1,5 Millionen Müttern und Vätern gezeigt, dass dieser Lehrgang mit der Bezeichnung Elterliches Effektivitätstraining den meisten Eltern genau jene Fähigkeiten vermitteln kann, die sie benötigen, um die Erziehung ihrer Sprösslinge effektiver zu gestalten.
In diesem interessanten Elterntraining haben wir gezeigt, dass viele Menschen ihre Effektivität als Eltern mit einer bestimmten Art von Spezialausbildung erheblich zu steigern vermögen. Sie können ganz spezifische Kenntnisse erwerben, die die Kommunikation zwischen Vätern, Müttern und Kindern – von beiden Seiten – offenhalten. Und sie können eine neue Methode der Konfliktbewältigung zwischen Eltern und Kindern lernen, die eine Stärkung anstatt eine Verschlechterung der Beziehung zuwege bringt.
Dieses Schulungsprogramm hat diejenigen von uns, die damit zu tun haben, überzeugt, dass Eltern und ihr Nachwuchs zu einem herzlichen, vertrauten, auf gegenseitiger Liebe und Respekt beruhenden Verhältnis kommen können. Es hat auch gezeigt, dass es den »Generationsunterschied« in Familien nicht zu geben braucht.
Vor 30 Jahren war ich ebenso überzeugt wie die meisten Eltern und Fachleute, dass die Periode der »Flegeljahre« so gut wie unvermeidbar ist – eine Konsequenz des natürlichen Bedürfnisses der Kinder, ihre Unabhängigkeit zu erringen. Ich war mir sicher, dass die Adoleszenz, wie die meisten Untersuchungen zeigten, unvermeidlich eine Zeit der Stürme und Krisen in den Familien ist. Unsere Erfahrung mit dem Elterlichen Erfolgstraining hat mir meinen Irrtum bewiesen. Immer und immer wieder haben in diesem Programm geschulte Eltern über das überraschende Ausbleiben von Rebellion und Unruhe in ihren Familien berichtet.
Heute bin ich überzeugt davon, dass Jugendliche nicht gegen die Eltern rebellieren. Sie rebellieren nur gegen bestimmte destruktive Erziehungsmethoden, die fast überall von Vätern und Müttern angewendet werden. Aufruhr und Uneinigkeit in Familien können die Ausnahme, nicht die Regel sein, wenn die Eltern lernen, eine neue Methode zur Bewältigung von Konflikten einzuführen.
Das Programm hat auch ein neues Licht auf die Strafe in der Kindererziehung geworfen. Viele unserer ausgebildeten Eltern haben den Beweis erbracht, dass in der Kindererziehung ein für alle Mal auf Bestrafung verzichtet werden kann – und ich meine damit jede Art von Bestrafung, nicht nur die körperliche Züchtigung. Väter und Mütter können verantwortungsbewusste, selbstdisziplinierte, kooperative Kinder erziehen, ohne sich dabei auf die Waffe der Angst zu verlassen; sie können lernen, wie man Kinder dazu bringt, sich aus echter Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Eltern zu verhalten anstatt aus Angst vor Bestrafung oder der Zurücknahme von Vergünstigungen.
Klingt das zu schön, um wahr zu sein? Wahrscheinlich. Mir erging es so, bevor ich die Erfahrung machte, persönlich Väter und Mütter im Elterlichen Erfolgstraining zu unterweisen. Wie die meisten Fachleute hatte ich sie unterschätzt. Unsere Eltern haben mich gelehrt, wie sehr sie imstande sind, sich zu ändern – vorausgesetzt, sie haben Gelegenheit zur Schulung. Ich habe neues Zutrauen in die Fähigkeit von Müttern und Vätern, neues Wissen zu erfassen und sich neue Kenntnisse anzueignen. Mit wenigen Ausnahmen sind unsere Eltern in Ausbildung bestrebt gewesen, sich eine neue Einstellung zur Kindererziehung anzueignen, zuerst aber mussten sie überzeugt davon sein, dass die neue Methode funktionieren wird. Die meisten Eltern wissen bereits, dass ihre alten Methoden unwirksam gewesen sind. Daher sind die modernen Väter und Mütter zur Umstellung bereit, und unser Programm hat gezeigt, dass sie sich auch umzustellen vermögen.
Wir sind durch ein weiteres Resultat des Programms belohnt worden. Eines unserer frühesten Ziele war, den Eltern einige der Kenntnisse zu vermitteln, deren sich professionelle Berater und Therapeuten mit akademischer Ausbildung bedienen, um Kindern zu helfen, emotionale Probleme und unangepasstes Verhalten zu überwinden. So absurd es manchen Vätern und Müttern (und nicht wenigen Fachleuten) erscheinen mag – heute wissen wir, dass diese erprobten Kenntnisse selbst Eltern, die niemals an einem Einführungskursus in Psychologie teilgenommen haben, beigebracht werden können und dass sie zu lernen vermögen, wie und wann sie effektiv anzuwenden sind, um ihrem eigenen Nachwuchs zu helfen.
Während der Weiterentwicklung des Programms sind wir dahin gekommen, eine Realität zu akzeptieren, die uns manchmal entmutigt, uns jedoch häufiger das Gefühl einer umso größeren Herausforderung vermittelt: Die Eltern verlassen sich heute in der Kindererziehung und bei der Behandlung von Problemen innerhalb der Familie fast überall auf die gleichen Methoden, die von ihren Eltern, von den Eltern der Eltern und von den Großeltern der Eltern angewendet wurden. Im Gegensatz zu fast allen anderen Einrichtungen der Zivilisation scheint die Eltern-Kind-Beziehung unverändert geblieben zu sein. Väter und Mütter verlassen sich auf Methoden, deren man sich vor 2000 Jahren bediente!
Nicht, dass die menschliche Rasse keine neuen Einsichten im Hinblick auf menschliche Beziehungen gewonnen hätte. Ganz im Gegenteil. Entwicklungspsychologie und andere Verhaltenswissenschaften haben eindrucksvolle neue Erkenntnisse über Kinder, Eltern, zwischenmenschliche Beziehungen und über die Frage zusammengetragen, wie man anderen Menschen beim Heranwachsen hilft und wie man ein für sie psychologisch gesundes Klima schafft. Man weiß eine Menge über zwischenmenschliche Kommunikation, die Auswirkungen der Macht auf menschliche Beziehungen, konstruktive Konfliktbewältigung usw.
Dieses Buch präsentiert eine umfassende Darstellung dessen, was erforderlich ist, um eine unter allen Umständen effektive, totale Beziehung zu einem Kind zu schaffen und zu erhalten.
Eltern können diesem Buch nicht nur Methoden und Kenntnisse entnehmen, sondern auch, wann, warum und zu welchem Zweck sie anzuwenden sind. Wie in unseren Kursen wird ihnen ein vollständiges System gegeben – Grundbegriffe wie auch Techniken. Ich bin überzeugt, dass man Eltern alles sagen muss – alles, was man über das Schaffen einer effektiven Eltern-Kind-Beziehung weiß, angefangen mit einigen grundsätzlichen Dingen über das, was sich in allen Beziehungen zwischen zwei Menschen abspielt. Dann werden sie verstehen, warum sie unsere Methoden anwenden sollten, wann es richtig ist, sie anzuwenden, und was die Ergebnisse sein werden. Die Eltern werden Gelegenheit erhalten, selbst Fachleute in der Behandlung der unvermeidlichen Probleme zu werden, zu denen es in allen Eltern-Kind-Beziehungen kommt.
Den Vätern und Müttern wird in diesem Buch alles, was wir wissen, mitgeteilt, nicht nur Bruchstücke. Das vollständige Modell einer richtig verstandenen Eltern-Kind-Beziehung wird in allen Einzelheiten beschrieben und durch Material aus unserer Arbeit veranschaulicht. Die meisten Eltern halten unser Programm für revolutionär, weil es sich wesentlich von der Tradition unterscheidet. Und doch eignet es sich ebenso gut für Erziehungsberechtigte mit sehr kleinen Kindern wie für solche mit Teenagern, für Eltern mit behinderten Kindern oder solche mit »normalen« Kindern.
Wie in unseren Kursen wird das Erziehungsprogramm in Ausdrücken erläutert, die jedem geläufig sind, möglichst nicht im Fachjargon. Manche Eltern finden vielleicht, dass sie anfänglich der einen oder anderen Idee nicht zustimmen, doch sehr wenige werden feststellen, dass sie sie nicht verstehen. Da die Leser nicht in der Lage sein werden, einem Kursleiter ihre Bedenken persönlich mitzuteilen, sind hier einige Punkte aufgeführt, die für den Anfang vielleicht eine Hilfe sind.
Handelt es sich hierbei um eine weitere nachgiebige Einstellung zur Kindererziehung?
Keineswegs. Allzu nachgiebige Eltern geraten in ebenso viele Schwierigkeiten wie überstrenge Väter und Mütter, denn ihre Kinder erweisen sich oft als selbstsüchtig, widerspenstig, unkooperativ und rücksichtslos gegenüber den Bedürfnissen ihrer Eltern.
Kann ein Elternteil diese neue Methode effektiv anwenden, wenn der andere Elternteil bei der alten Methode bleibt?
Ja und nein. Wenn nur ein Elternteil damit beginnt, die neue Methode anzuwenden, wird sich die Beziehung zwischen dem Elternteil und dem Kind eindeutig bessern. Aber die Beziehung zwischen dem anderen Elternteil und dem Kind verschlechtert sich vielleicht. Es wäre also besser, wenn beide die Methode erlernten. Überdies, wenn beide Eltern versuchen, die neue Methode zusammen zu erlernen, können sie einander sehr helfen.
Werden die Eltern bei dieser neuen Methode etwa ihren Einfluss auf die Kinder verlieren? Werden sie von der Verantwortung zurücktreten, dem Leben ihrer Sprösslinge Orientierung und Richtung zu geben?
Wenn Väter und Mütter die ersten Kapitel lesen, mag dieser Eindruck bei ihnen entstehen. Das System kann in diesem Buch nur Schritt für Schritt dargelegt werden. Die ersten Kapitel befassen sich mit den Möglichkeiten, Kindern zu helfen, ihre eigenen Lösungen für die Probleme zu finden, denen sie begegnen. In diesen Situationen wird die Rolle eines »ausgebildeten« Elternteils andersartig scheinen – sehr viel passiver und »weniger bestimmend«, als Eltern vielleicht gewöhnt sind. Die späteren Kapitel handeln jedoch davon, wie man das unannehmbare Verhalten von Kindern modifiziert und wie man sie dahingehend beeinflusst, Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Eltern zu nehmen. Für diese Situationen werden Ihnen spezifische Möglichkeiten aufgezeigt, ein sogar noch verantwortungsvollerer Elternteil zu sein – und sogar noch mehr Einfluss zu erlangen, als Sie jetzt haben. Es ist vielleicht nützlich, sich im Inhaltsverzeichnis über die in späteren Kapiteln behandelten Themen zu informieren.
Dieses Buch vermittelt Erziehungsberechtigten eine leicht zu erlernende Methode, Kinder dazu anzuregen, Verantwortung zu akzeptieren, selbst eine Lösung für ihre Probleme zu finden, und veranschaulicht, wie Eltern diese Methode sofort zu Hause in die Praxis umsetzen können. Väter und Mütter, die diese Methode (»aktives Zuhören« genannt) lernen, erleben vielleicht, was so geschulte Eltern beschrieben haben:
»Der Gedanke, nicht sämtliche Antworten auf die Probleme meiner Kinder haben zu müssen, ist eine solche Erleichterung.«
»Dieses Programm hat mich dazu gebracht, die Fähigkeit meiner Kinder, ihre eigenen Probleme zu lösen, viel mehr anzuerkennen.«
»Ich war überrascht davon, wie die Methode des aktiven Zuhörens funktioniert. Meine Kinder kommen mit Lösungen ihrer eigenen Probleme, die oft sehr viel besser sind als alle, die ich ihnen hätte geben können.«
»Ich glaube, mir ist immer sehr unbehaglich dabei zumute gewesen, die Rolle eines Gottes zu spielen – das Gefühl zu haben, wissen zu müssen, was meine Kinder tun sollen, wenn sie Probleme haben.«
Heute haben Tausende von Jugendlichen ihre Eltern »entlassen«; und, was die Kinder angeht, aus gutem Grund.
»Meine Eltern verstehen Kinder meines Alters nicht.«
»Ich hasse es einfach, nach Hause zu kommen und jeden Abend eine Strafpredigt hören zu müssen.«
»Ich erzähle meinen Eltern nie etwas; wenn ich es täte, würden sie es nicht verstehen.«
»Ich wünschte, meine Eltern würden mich in Ruhe lassen.«
»Sobald ich kann, werde ich von zu Hause fortgehen – ich kann es nicht ertragen, dass sie ständig wegen allem an mir herumnörgeln.«
Wie die Aussagen in unseren Kursen beweisen, sind sich die Eltern gewöhnlich völlig darüber klar, dass sie ihre Stellung verloren haben.
»Ich habe absolut keinen Einfluss mehr auf meinen 16-jährigen Sohn.«
»Wir haben es mit Julia aufgegeben.«
»Tim will nicht einmal mit uns essen. Und er richtet kaum jemals das Wort an uns. Jetzt will er ein Zimmer draußen in der Garage.«
»Mark ist nie zu Hause. Nie will er uns sagen, wohin er geht oder was er unternimmt. Wenn ich ihn je danach frage, sagt er, das ginge uns nichts an.«
Für mich ist es eine Tragödie, dass eine der potenziell engsten und befriedigendsten Beziehungen im Leben so häufig böses Blut schafft. Warum kommen so viele Jugendliche dahin, ihre Eltern als »den Feind« anzusehen? Warum ist der Generationsunterschied heute in den Familien so vorherrschend? Warum liegen Eltern und Jugendliche heute in unserer Gesellschaft buchstäblich im Krieg miteinander?
Kapitel 14 wird sich mit diesen Fragen befassen und zeigen, warum Kinder es nicht nötig haben, gegen ihre Eltern zu rebellieren und zu revoltieren. Unser Programm ist revolutionär, ja, aber keine Methode, die zur Revolution aufruft. Vielmehr ist es eine Methode, die Vätern und Müttern helfen kann, ihre Entlassung zu vermeiden, die Eltern und Kinder einander näherbringt, statt dass sie sich als feindliche Widersacher gegenüberstehen.
Eltern, die zuerst geneigt sein mögen, unsere Methoden als zu revolutionär abzulehnen, werden vielleicht angeregt, sich unvoreingenommen mit ihnen zu befassen, wenn sie den folgenden Auszug aus einer Schilderung lesen, die eine Mutter und ein Vater gaben, nachdem sie am Kurs teilgenommen hatten.
»Als Bill 16 Jahre alt war, stellte er unser größtes Problem dar. Er hatte sich von uns abgewandt. Er streunte herum und war vollkommen verantwortungslos. In der Schule erhielt er die ersten Vieren und Fünfen. Nach Verabredungen kehrte er nie zur vereinbarten Zeit heim und gab als Entschuldigung Reifenpannen, stehen gebliebene Uhren und leere Benzintanks an. Wir spionierten ihm nach, er log uns an. Wir verhängten Hausarrest. Wir nahmen ihm den Führerschein weg. Wir sperrten ihm das Taschengeld. Unsere Gespräche waren voller Anklagen. Es war alles nutzlos. Nach einer heftigen Auseinandersetzung lag er in der Küche auf dem Fußboden, strampelte, schrie und brüllte, er würde verrückt werden. Da meldeten wir uns zu Dr. Gordons Kurs für Eltern an. Der Wandel kam nicht über Nacht … Wir hatten uns nie als eine Einheit, als einander herzlich und liebevoll zugetane Familie empfunden. Dazu kam es erst nach tief gehenden Veränderungen in unserer Haltung und unseren Wertvorstellungen … Der neue Gedanke, eine Persönlichkeit zu sein – eine starke, eigenständige Persönlichkeit, die ihre eigene Meinung äußert, sie anderen aber nicht aufdrängt, sondern ein gutes Beispiel ist –, das war der Wendepunkt. Wir hatten viel größeren Einfluss … Von einem rebellischen Jugendlichen mit Wutanfällen, der in der Schule versagte, wandelte sich Bill zu einem offenen, freundlichen, liebevollen Menschen, der seine Eltern als ›zwei der mir liebsten Leute‹ bezeichnet … Endlich gehört er wieder zur Familie … Ich habe ein Verhältnis zu ihm, das ich niemals für möglich hielt, voller Liebe, Vertrauen und Unabhängigkeit. Er ist innerlich stark motiviert, und wenn jeder von uns das auch ist, leben und wachsen wir wirklich als eine Familie.«
Eltern, die lernen, sich unserer neuen Methode zu bedienen, um ihre Empfindungen mitzuteilen, haben wahrscheinlich kein Kind wie den 16-jährigen Jungen, der in meinem Sprechzimmer saß und mit unbewegtem Gesicht erklärte:
»Ich brauche zu Hause nichts zu tun. Warum sollte ich? Meine Eltern haben die Pflicht, sich um mich zu kümmern. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden, oder?«
Als ich hörte, was dieser junge Mann sagte und offenbar glaubte, musste ich denken: »Was für eine Art von Menschen ziehen wir heran, wenn es Kindern erlaubt ist, mit der Einstellung aufzuwachsen, die Welt schulde ihnen so viel, obwohl sie so wenig zurückgeben? Was für Bürger entlassen die Eltern in die Welt? Was für eine Gesellschaft werden diese egoistischen Menschen schaffen?«
Grob gesprochen können Eltern fast ohne Ausnahme in drei Gruppen eingeteilt werden – in die »Sieger«, die »Unterliegenden« und die »Schwankenden«. Väter und Mütter in der ersten Gruppe verteidigen nachdrücklich und begründen überzeugend ihr Recht, Autorität oder Macht über das Kind auszuüben. Sie glauben an Verbote, an das Auferlegen von Beschränkungen, fordern ein bestimmtes Verhalten, geben Befehle und erwarten Gehorsam. Sie bedienen sich der Androhung von Strafen, um das Kind zum Gehorsam zu bewegen, und verhängen Strafen, falls es unfolgsam ist. Entstehen Konflikte zwischen den Bedürfnissen der Eltern und denen des Kindes, bewältigen diese Väter und Mütter sie stets so, dass der Elternteil siegt und das Kind unterliegt. Im Allgemeinen begründen diese Eltern ihren »Sieg« durch so klischeehaftes Denken wie: »Vater weiß es am besten«, »Es geschieht zum Guten des Kindes«, »In Wahrheit wollen Kinder die elterliche Autorität« oder einfach durch die vage Überzeugung, dass »es Sache der Eltern ist, ihre Autorität zum Wohle des Kindes auszuüben, denn sie wissen am besten, was gut oder schlecht ist«.
Die zweite Elterngruppe, zahlenmäßig etwas kleiner als die »Sieger«, räumt ihren Sprösslingen meistens viele Freiheiten ein. Diese Eltern vermeiden es bewusst, Beschränkungen aufzuerlegen, und bekennen stolz, keine autoritären Methoden zu dulden. Entsteht zwischen ihren Bedürfnissen und denen des Kindes ein Konflikt, ist es fast durchweg das Kind, das siegt, und der Elternteil, der unterliegt, weil diese Eltern glauben, es sei schädlich, das Kind in seinen Bedürfnissen zu frustrieren.
Die wahrscheinlich größte Gruppe von Eltern setzt sich aus denen zusammen, denen es unmöglich ist, konsequent einer der beiden Auffassungen zu folgen. Dementsprechend schwanken sie in dem Versuch, zu einer »vernünftigen Mischung« aus beiden zu kommen, zwischen Strenge und Nachsicht, Härte und Milde, Beschränkung und Duldsamkeit – Siegen und Unterliegen – hin und her. Wie uns eine Mutter sagte:
»Ich versuche, mit meinen Kindern nachsichtig zu sein, bis es so arg wird, dass ich sie nicht mehr ertragen kann. Dann habe ich das Gefühl, andere Saiten aufziehen zu müssen, und fange an, meine Autorität zu gebrauchen, bis ich so streng werde, dass ich mich selbst nicht mehr ausstehen kann.«
Die Eltern, die in einem unserer Kurse diese Empfindungen teilten, sprachen unbewusst für die vielen in der »Gruppe der Schwankenden«. Sie sind die Väter und Mütter, die wahrscheinlich am verwirrtesten und unsichersten sind, und deren Kinder, wie wir später zeigen werden, oft die gestörtesten sind.
Das Hauptdilemma der heutigen Eltern ist, dass sie nur zwei Auffassungen kennen, um mit Konflikten in der Familie fertigzuwerden – Konflikten, die unvermeidlich zwischen Erziehungsberechtigten und Kindern auftreten. Sie kennen in der Kindererziehung nur zwei Alternativen. Die einen schließen sich der »Ich-siege-du-unterliegst«-Auffassung an, die anderen der »Ich-unterliege-du-siegst«-Auffassung, während andere sich zwischen beiden anscheinend nicht entscheiden können.
Eltern, die sich bei uns über die Probleme klar werden wollen, sind überrascht festzustellen, dass es eine Alternative zu den zwei »Sieg-Niederlage«-Methoden gibt. Wir nennen sie die »niederlagelose« Methode der Konfliktbewältigung, und es ist eines der wichtigsten Ziele unseres Programms, Vätern und Müttern lernen zu helfen, wie man sie erfolgreich anwendet. Obwohl diese Methode seit Jahren zur Bewältigung anders gelagerter Differenzen gebraucht worden ist, haben wenige Eltern sie jemals als eine Methode zur Klärung von Konflikten zwischen Eltern und Kindern angesehen.
Viele Ehemänner und Ehefrauen klären ihre Konflikte durch gemeinsames Lösen der Probleme. Ebenso verfahren Geschäftspartner. Gewerkschaften und Betriebsführungen handeln Verträge aus, die für beide verbindlich sind. Vermögensregelungen im Fall von Scheidungen werden häufig erreicht, indem gemeinsame Beschlüsse gefasst werden. Sogar Kinder bewältigen ihre Konflikte in gegenseitigem Einvernehmen oder durch formlose Verträge, die für beide Seiten annehmbar sind (»Wenn du das tust, gebe ich meine Einwilligung dazu«). Mit zunehmender Häufigkeit schulen industrielle Organisationen leitende Angestellte darin, sich der partizipatorischen Beschlussfassung bei der Bewältigung von Konflikten zu bedienen,
Da die »niederlagelose« Methode kein Kunstgriff, »Trick« oder leichter Weg zu richtig verstandener Elternschaft ist, erfordert sie einen sehr grundlegenden Wandel in der Einstellung der meisten Eltern gegenüber ihren Kindern. Es braucht Zeit, sie zu Hause anzuwenden, und sie verlangt, dass Väter und Mütter zuerst die Fähigkeit vorurteilslosen Zuhörens und des aufrichtigen Mitteilens ihrer Empfindungen lernen. Die niederlagelose Methode ist daher in späteren Kapiteln dieses Buches beschrieben und veranschaulicht.
Ihr Platz in diesem Buch spiegelt jedoch nicht die wahre Bedeutung der niederlagelosen Methode innerhalb unserer Gesamteinstellung zur Kindererziehung wider. Tatsächlich ist diese neue Methode, durch die wirksame Behandlung von Konflikten Disziplin in die Familie zu bringen, der Kern unserer Auffassungen. Sie ist der Hauptschlüssel zu elterlicher »Effektivität«. Eltern, die sich die Zeit nehmen, sie zu verstehen, und sie dann als Alternative zu den beiden Sieg-Niederlage-Methoden gewissenhaft in der Familie anwenden, werden reich belohnt, gewöhnlich weit über ihre Hoffnungen und Erwartungen hinaus.