Einführung 1

Mit sehr großer Freude habe ich den Vorschlag von Dr. Sylvia Zwettler-Otte angenommen, eine kurze Einführung zu ihrem Buch zu schreiben. In den vergangenen Jahren ist eine Anzahl von Publikationen zum Thema Trennung erschienen, aber soweit ich weiß, hat keine einen so umfassenden Überblick über diesen Gegenstand geschaffen. Darüber hinaus hat die Autorin eine so einmalige Art, schwierige und komplexe Themen klar und flüssig zu beschreiben, wobei sie ihre große klinische Erfahrung zur Unterstützung der Leser einsetzt und ihre Ausführungen mit einer Vielfalt sprechender Beispiele illustriert.

Trennung ist ein universelles und immer wiederkehrendes Ereignis im menschlichen Leben, und ich wäre geneigt zu sagen, dass Trennung und Trennungsangst zu den frühesten Antrieben für die psychische Entwicklung gehören. In der Interaktion und im gegenseitigen Austausch zwischen dem Kind und seiner Mutter entwickelt sich von Geburt an ein spezieller und einzigartiger Dialog. Wir nehmen an, dass in den frühen Entwicklungsphasen die psychologischen Grenzen des Babys fließend und wenig definiert sind. Jedoch im Zeitraum weniger Monate wird dem Baby zunehmend bewusst, was Bedürfnisse befriedigt, lustvoll und vertraut ist und was nicht, und der Mutter-Kind-Dialog wird immer spezifischer und schärfer auf subjektive Erfahrungen abgestimmt. Die „Mutter“ wird als ein Objekt aus der subjektiven Mutter-Kind-Matrix „geschaffen“, während gleichzeitig parallele Prozesse stattfinden, durch die das Baby sein eigenes Körperbild und seine Selbstrepräsentation aufbaut.

In der normalen Entwicklung erreicht jedes Baby, ungefähr im Alter von sieben oder acht Monaten, eine kritische Phase in seiner psychischen Reaktion auf seine Mutter, was notwendigerweise durch die Entwicklung seiner Ich-Grenzen erzwungen wird. Bis dahin waren andere Personen, besonders die Mutter, in einem beträchtlichen Ausmaß Teil des eigenen Ichs, aber das Hin und Her seiner psychischen Entwicklung führt das Baby zu einem höheren Grad der Bewusstheit der Getrenntheit. Der fortlaufende Dialog mit der Mutter bekommt plötzlich eine neue Bedeutung als Quelle des Trosts, der Sicherheit und des Wohlbefindens, da das Baby die Notwendigkeit fühlt, dem wachsenden Erkennen, dass die Mutter eine von ihm getrennte Person ist, entgegenzuwirken.

Es ist das die Zeit, in der die meisten Babys Furcht vor Fremden zeigen, die berühmte „Acht-Monats-Angst“, wie sie René Spitz so überzeugend beschrieben hat. Man kann dies als das Ergebnis eines ungewohnten, unsicheren Wahrnehmungs- und Gefühlseinbruchs in den vertrauten, erwarteten Dialog mit der Mutter verstehen, ein Dialog, der es dem Baby normalerweise ermöglicht, die Kluft der Trennung zu überbrücken und die früheren Gefühle wiederherzustellen, die mit der ursprünglichen engen Bindung einhergingen, als die Mutter und das Ich des Babys nicht unterscheidbar waren. Zu diesem Zeitpunkt macht die eigene Ichentwicklung sowie die gesteigerte Wahrnehmungs- und Differenzierungsfähigkeit das Baby sehr verletzlich.

In „Hemmung, Symptom und Angst“ beschreibt Freud, wie jeder von uns Verlust im Alltag erfährt, eine Erfahrung, die uns auf Trennung und Verlust generell vorbereitet. Freud dachte, dass der Geburtsakt eine prototypische Erfahrung von Trennung und Angst ist. Aber er bestand darauf, dass es auch andere Erfahrungen gibt, z.B. wenn das Kind alleingelassen, in der Dunkelheit oder bei Fremden ist anstatt bei jemandem, der ihm vertraut ist, wie die Mutter. Freud schreibt: „Diese drei Fälle reduzieren sich auf eine einzige Bedingung, das Vermissen der geliebten (ersehnten) Person“ (GW XIV, 167). Freud fährt fort mit einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Angst, Schmerz und Trauer als Folgen von Trennung.

Das Thema der Trennung und der sie begleitenden Angst und des Schmerzes ist so fundamental, weil im Lebenszyklus Verluste und Abschiede alltäglich sind. Jeder Wechsel bringt die Anforderung mit sich, einen Aspekt eines vergangenen Zustands, der sich gerade ändert, aufzugeben. Um fähig zu sein, Veränderungen ganz zu integrieren, muss das Ich imstande sein, über die Verluste der Vergangenheit zu trauern und sich dem Neuen anzupassen, um eine befriedigende Integration der Gegenwart zu erreichen. Der Zustand unserer inneren Welt, unsere Beziehungen zu unseren inneren Objekten, wird uns bei dieser schwierigen Aufgabe helfen oder behindern. In diesem Buch, „Die Melodie des Abschieds“, erzählt uns Dr. Sylvia Zwettler-Otte mit Genauigkeit und Vielfalt von den vielen Aspekten dieser grundlegenden menschlichen Aufgabe.

Anne-Marie Sandler2

35 Circus Road
London NW8 9JG
Tel: +44(0)207 286 3937
Fax: +44(0)207 289 4800
E-Mail: amsandler@clara.co.uk

1 Übersetzung aus dem Englischen: Werner Otte

2 Anne-Marie Sandler ist Lehranalytikerin und Supervisorin in der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft, deren Präsidentin sie war. Sie war außerdem Präsidentin der European Psychoanalytic Federation, Vizepräsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und Direktorin des Anna Freud Centre.

Vorwort

Trennung ist ein Thema, das man zum Ausgangspunkt einer Betrachtung unseres gesamten Seelenlebens machen könnte, ruft es doch nach seinem Gegenpol, der Bindung; diese wiederum hat mit Liebe zu tun, von der es unzählige Vorläufer und Ausformungen gibt, die alle in verschiedener Weise mit Sexualität, Zärtlichkeit, Hingabe, Begehren, Freundschaft, Selbstliebe, Leidenschaft etc. verbunden sind und wiederum zum schmerzlichen Kontrapunkt von Trennung, Verlust, Verrücktheit, Tod etc. hinüberleiten können. Trennung hat mit Entwicklung zu tun, und sie führt uns – wie die Liebe – zu den Anfängen unseres Lebens zurück und weist auf unsere Vorstellungen vom Ende unseres Lebens voraus. Trennungsängste ziehen sich in den unterschiedlichsten Nuancen und Intensitäten durch unser aller Leben: von der Geburtsangst bis zur Todesangst. Die Trennungsangst ist ein psychisches Phänomen, das im Kampf gegen die Vergänglichkeit mitwirkt, Nachkommen zu zeugen und zu gebären, sie lässt aus dem Wunsch nach Ewigkeit heraus Kunstwerke schaffen, die das eigene Leben überdauern sollen – exegi monumentum aere perenniusein Denkmal habe ich errichtet, dauernder als Erz, sagte Horaz (Oden, 3/30/1) über seine Gedichte; und sie lässt Religionen gründen, welche die Trennungsängste absorbieren und Wiedervereinigung oder ewige Verschmelzung in Aussicht stellen.

Die Psychoanalyse ist ein Verfahren zur Erforschung und Untersuchung seelischer Vorgänge, die anders kaum zugänglich sind; sie ist eine psychotherapeutische Methode zur Behandlung seelischer Störungen und Erkrankungen; sie ist eine Wissenschaft mit einer umfassenden Theorie psychischer Funktionen, und sie ermöglicht auch einen kultur- und gesellschaftskritischen Ansatz. Die Psychoanalyse weiß viel zum Thema von Bindung und Trennung, von Trennungsangst und Trennungsschmerz und von unseren Reaktionen auf diese psychischen Phänomene zu sagen.

In der Psychoanalyse haben wir die Möglichkeit, vergangenes Erleben Gegenwart werden zu lassen, es entfaltet sich unwillkürlich in der Übertragung des Analysanden und stößt auf ein Echo in der Gegenübertragung des Analytikers, wodurch überhaupt erst fassbar wird, was aus den weiten unterirdischen Räumen des Unbewussten auftaucht.

Trennung und Bindung kann „gesund“ oder „krankhaft“ sein, beide können als „gut“ oder „schlecht“ erlebt werden; beide können Angst auslösen und so die Vorstellung einer Gefahr signalisieren. Und doch überwiegt die Angst bei der Trennung, während wir bei der Bindung eher geneigt sind, den positiven, tröstlichen und lustvollen Aspekt im Auge zu haben.

Dem Thema der Trennung – so scheint es – können wir uns nur mit Abwehr nähern. Auch der Titel des Buchs zeugt von einer solchen Abwehr: Die romantische Bezeichnung „Melodie des Abschieds“ folgt unserer Neigung, das Ausmaß und den Schrecken der Trennungsangst zu verniedlichen.1

„Melodie“ ist eine Einheit in einer Folge von Tönen verschiedener Höhe und verschiedener Intervalle; Rhythmus, Tempo, Klangfarbe, wiederkehrende Motive und Verschränkungen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Das Thema der Trennung lässt sich als eine ähnliche Einheit in unserem Erleben auffassen; es spielt sich in unendlichen Variationen ab, mit wiederkehrenden Motiven und Umformungen, es tritt in unterschiedlichen Abständen hervor und wieder in den Hintergrund, es nimmt verschiedene Färbungen und Intensitäten an, von einer zarten, sehnsüchtigen Stimmung bis zum Schrei als verzweifeltem Ausdruck existentieller Bedrohung, wie wir ihn zum Beispiel aus Edward Munchs berühmtem Gemälde heraushören.

Das Buch ist für alle gedacht, die mit Trennung befasst sind; für interessierte Laien, für Studierende der Psychoanalyse, der Psychologie, der Medizin, der Pädagogik und der Sozialberufe. Für die Ersteren sind dort, wo es nötig erschien, grundlegende Informationen eingefügt. Für Fachkollegen – und zwar sowohl für die „Theoretiker“ als auch für die „Praktiker“ der Psychoanalyse und der psychodynamisch orientierten Psychotherapien – könnte das Buch aus zweierlei Gründen interessant sein:

Das Material, das in diesem Buch verwendet wird, stammt natürlich in erster Linie aus Psychoanalysen und psychoanalytischen Psychotherapien, aber auch aus psychologischen Beratungen. Letzteres ermöglicht ebenso wie die Tatsache, dass Psychoanalysen nicht nur zu therapeutischen Zwecken, sondern auch als Forschungsmethode und zur Persönlichkeitsentwicklung unternommen werden, dass die fließenden Übergänge gesunder und krankhafter Phänomene und Entwicklungen erscheinen. Und noch aus einer weiteren Quelle stammt manches, was hier Niederschlag gefunden hat: Persönliche Erfahrungen – eigene und solche aus der näheren Umgebung – fließen unwillkürlich mit ein, auch wenn man als Psychoanalytiker keineswegs unentwegt auch außerhalb der Praxis ans Analysieren denkt, wie es sich manche gern vorstellen, weil sie gleichzeitig fürchten und wünschen, durchschaut zu werden und den Kegel unserer Aufmerksamkeit auf sich zu richten.

Bei Fallbeispielen stellt sich immer die Frage, wie größtmögliche Diskretion gewahrt werden kann. Man hat grundsätzlich zwei Wege, die absolute Vertraulichkeit der Fallgeschichten zu schützen: Entweder man ändert Details so, dass die Person nicht identifiziert werden kann, oder man bittet die betreffende Person um ihr Einverständnis, dass ihre Geschichte mit leichten Veränderungen veröffentlicht werden kann. Eine dieser beiden Möglichkeiten habe ich in jedem Fall benützt.

Wie hilfreich für das Verständnis unseres Seelenlebens auch die Werke bedeutender Dichter und Schriftsteller sind, hat bereits Freud betont, und es kommt ebenso in der modernen psychoanalytischen Literatur (z.B. Kohon 1999a; Green & Kohon 2005) immer wieder zum Ausdruck; so schreibt Green: Die psychoanalytischen Modelle der Seele wurzeln „in der Inspiration der literarischen Größen der Vergangenheit“; er erwähnt als Beispiele Euripides, Shakespeare, Racine, Goethe, Stendhal, Baudelaire, Tschechow, Strindberg und Proust und bezeichnet sie als Lehrmeister der Psychoanalytiker – „masters of the psychoanalysts“ (XIII). „Die Literatur ist eine unerschöpfliche Quelle der Anregung unseres Denkens“ (Green 2000,283). Der Unterschied zwischen den Wahrheiten, die wir in der Dichtung und Literatur finden, und denen in der psychoanalytischen Wissenschaft besteht darin, dass Erstere da und dort wie Blitze aufleuchten, während die psychoanalytische Theorie versucht, die Zusammenhänge solcher Wahrheiten zu begreifen und sie systematisch darzustellen. Winnicott (in: Kohon 1986,173) bemerkt in seiner Arbeit „Fear of Breakdown“ einleitend: „Wenn an dem, was ich sage, etwas Wahres daran ist, wird es natürlich schon von den Dichtern der Welt behandelt worden sein, aber die Blitze von Einsicht („flashes of insight“), die in der Dichtung vorkommen, entheben uns nicht der mühseligen Aufgabe, Schritt für Schritt von Unwissenheit weg zu unserem Ziel zu kommen“.2

Wien, im Sommer 2006

Sylvia Zwettler-Otte

1 Die Bezeichnung „Melodie des Abschieds“ tauchte auf Internationalen Psychoanalytischen Kongressen in einer Arbeitsgruppe auf, die sich mit sogenannten „Shuttle-Analysen“ befasste: Das sind Analysen, bei denen kein reguläres Setting viermal in der Woche möglich ist und die deshalb geblockt durchgeführt werden müssen. Es sind Analysen, bei denen aus äußeren Gründen – unter dem Szepter der Realität – Trennungen von Anfang an dominieren: z.B. wenn jemand eine psychoanalytische Ausbildung machen möchte, aber in einem Land lebt, in dem es noch keine psychoanalytischen Institute und keine Lehranalytiker gibt. Es bleibt dann nur die Möglichkeit, in das nächste Land zu reisen, in dem Lehranalytiker arbeiten. Da es für die meisten nicht machbar ist, für mehrere Jahre ins Ausland zu gehen, muss man sich einen Lehranalytiker suchen, der in der Lage und bereit ist, sehr individuelle Arrangements mit dem potentiellen Kandidaten zu treffen und z.B. vier Analysestunden wöchentlich an Wochenenden bzw. von Freitag bis Montag durchzuführen, oder wochenlange analytische Arbeit (etwa während eines Urlaubs des Kandidaten) mit langen Phasen (während derer der Kandidat in seiner Heimat seiner beruflichen Arbeit nachgeht) abwechseln zu lassen. Solche „Shuttle-Analysen“ gibt es seit etwa einem Jahrzehnt, und sie werfen natürlich ganz spezielle technische Probleme auf, über die sich Analytiker verschiedener Länder auf den europäischen und internationalen Konferenzen in eigenen Arbeitsgruppen austauschen. In diesem Rahmen bestätigte sich die Erfahrung, dass auch unter solch schwierigen Umständen ein psychoanalytischer Prozess in Gang kommen kann, dass aber in diesen Analysen das Thema der Trennung ständig präsent sei und immer eine „Melodie des Abschieds“ anklinge.
Ich war sehr erstaunt über diesen romantischen Ausdruck, denn was ich selbst in einer solchen Shuttle-Analyse zu beobachten bekam, war blanker Horror bei jeder Trennung. In den folgenden Jahren revidierten die Kollegen einhellig ihre Sicht: Sie hätten das Problem der Trennung gewaltig unterschätzt und vielleicht mit dem verharmlosenden Titel „Melodie des Abschieds“ selber versucht, das volle Ausmaß von Trennungsängsten und -schmerzen bei den Analysanden abzuwehren. Die realen notwendigen Trennungen innerhalb von Shuttle-Analysen beschwören nicht nur frühere und frühste, oft traumatische Trennungserlebnisse mit ungeheurer Intensität herauf, sondern sie scheinen jeden Mangel, jedes Defizit, jedes Versagen der frühen Umwelt, jede Leere, die sich anstelle hilfreicher oder stimulierender Reaktionen breitgemacht hat, mit einer besonderen Schärfe hervortreten zu lassen.

2 Alle Übersetzungen aus englischen Originaltexten stammen von der Autorin, sofern nicht anders angegeben.

1 Psychoanalytische Grundlagen

1.1 Bindung und Trennungals Grundprinzipien des Lebens

Trennung ist nur möglich, wo Bindung besteht. Trennung und Bindung setzen also mindestens eine Zweiheit voraus; sie können von einer Seite, von keiner oder von beiden Seiten gewollt sein; sie können „gut“ oder „schlecht“, „normal“ oder „krank“, schmerzhaft oder lustvoll sein. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch haftet der Trennung gewöhnlich ein Beigeschmack von seelischem Schmerz und Widerstreben an.

Wenn hier gleich zu Beginn Trennung zum zentralen Thema wurde, wiederholt sich unwillkürlich etwas, was unserem natürlichen Erleben zu entsprechen scheint: Wir setzen Bindung als eine Selbstverständlichkeit voraus, die nicht einmal der Erwähnung bedarf. So wie das Kind zunächst eine Einheit mit der Mutter bildet und die zunehmende Ablösung, die mit dem Geburtsakt einen dramatischen ersten Höhepunkt erreicht, anfangs gar nicht fassen kann: Die Mutter, oder auch nur ihre Brust, wird einige Zeit weiter als ein Teil des eigenen Körpers erlebt, und sobald ihre Abwesenheit durch die Spannung von Triebbedürfnissen (Hunger und Durst) voller Unlust wahrgenommen wird, protestiert der Säugling mit Schreien und Weinen. Die Trennung wird hier bereits als ein grundlegendes Organisationsprinzip der Natur erkennbar, das sich unserer willkürlichen Beeinflussung weitestgehend entzieht; im Tod, der endgültigen Trennung, wird dieses Organisationsprinzip ein letztes Mal sichtbar.

Adam Phillips befasst sich in seiner Studie über die Vergänglichkeit „Darwin’s Worms“ mit den Ähnlichkeiten in den Theorien Darwins3 und Freuds: Leben und Körper ist für beide synonym; beide beschreiben unser körperliches Leben als erstaunlich anpassungs- und widerstandsfähig, aber auch als äußerst verletzlich, mit der Neigung zu vielen Todesarten und überschattet von der Realität des Todes; sie sehen den Tod als ein Organisationsprinzip und unsere Versuche, ihm zu entkommen – durch religiösen Glauben oder durch Vorstellungen von einer „gütigen“ Natur – als Irrwege, auf die wir durch unser Wunschdenken gelangen. Modernes Leben – schreibt Phillips – kann sich im Erleben von Verlust verzehren, ungetröstet durch Religion (Phillips 1999,14). Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Religion ist Bindung (siehe Abbildung 1 im Anhang).

Wir können uns mit dieser naturwissenschaftliche Perspektive sachlich befassen, solange wir das seelische Erleben, das damit verbunden ist, von uns fernhalten. Freud stellte 1915 in seiner Arbeit „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ fest, dass unser Verhältnis zum Tod kein aufrichtiges ist. Wir sprechen zwar davon, dass „jeder der Natur einen Tod schulde, … dass der Tod natürlich sei, unableugbar und unvermeidlich“ (Freud 1915,341), in Wirklichkeit aber können wir uns den eigenen Tod nicht vorstellen; wenn wir es versuchen, bleiben wir trotzdem weiter Zuschauer: Im Unbewussten ist jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt. Davon zeugen auch manche zynischen Witze wie z.B. die einem Ehemann zugeschriebene Äußerung: „Wenn einer von uns beiden stirbt, übersiedle ich nach Paris“ (352). Insofern stimmt es, dass unser Verhältnis zum Tod nicht aufrichtig ist: Wir tun so, als würden wir ihn zur Kenntnis nehmen, wir machen sogar Testamente, um alles für danach zu regeln und so unseren Willen zu expandieren, aber immer wieder verraten wir uns – wie in diesem Witz –, dass wir uns eigentlich nicht wegdenken können.

Die Todesangst fordert viele Einschränkungen: Sie verbietet vielen von uns großartige Unternehmungen wie Flugversuche, Expeditionen oder Experimente. Und viele heldenhafte und überragende Leistungen sind nur unter Ausblendung der Todesgefahr möglich geworden. Freud zitiert als Beispiel einer solchen Forderung, den Tod außer Acht zu lassen, den Wahlspruch der Hansa: „Navigare necesse ist, vivere non necesse. Seefahren muß man, leben nicht“ (343).4

Wer zu solcher Todesverachtung nicht bereit ist, kann „in der Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja die es auch zustande bringen, einen anderen zu töten“ (343f.).

Und auf dem Gebiet der Fiktion finden wir auch „jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen“: wir können in Identifizierung mit dem einen Helden sterben, ihn überleben und mit dem nächsten Helden in einen tödlichen Kampf ziehen. Das Geheimnis des Heldentums ist es, die Gefahr einer endgültigen Trennung durch den Tod zu verleugnen und in einem Gefühl unerschütterlicher und unrealistischer Sicherheit den Gefahren zu trotzen. Die rationelle Begründung dazu bezieht sich auf abstrakte, allgemeine Ideale, die – nach unseren Worten – wertvoller wären als das Leben. Im Unbewussten aber, „jenen tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten unserer Seele“ (350), glauben wir nicht an den eigenen Tod.

Aus der Tatsache, dass wir nach dem Tod eines anderen Menschen weiter an ihn denken, entwickelte sich die Annahme eines Fortlebens nach dem Tod. Diese späteren Existenzformen waren anfänglich nur schattenhafte, inhaltsleere Vorstellungen, wie die antiken Beschreibungen der Unterwelt zeigen. „Erst später brachten es die Religionen zustande, diese Nachexistenz für die wertvollere, vollgültige auszugeben und das durch den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herabzudrücken“ (348). Konsequenterweise verlängerte man das Leben nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit und begann an Seelenwanderung und Wiedergeburt zu glauben, „alles in der Absicht, dem Tod seine Bedeutung als Aufhebung des Lebens zu rauben“.

Tatsächlich verdient die Natur, die unseren individuellen Tod als Möglichkeit und als letztendliche Gewissheit mit einprogrammiert hat, nur unser beschränktes Vertrauen, ein Vertrauen mit beschränkter Haftung sozusagen. Die Natur geht manchmal recht sorglos mit ihren Kreationen um und legt uns keinen kindlichen Glauben an eine gütige oder göttliche Autorität nahe. Denn die Natur entfaltet in uns, die wir ja selber Teil der Natur sind, oft ungeheure Kräfte und Möglichkeiten, aber sie nimmt nicht unbedingt für uns persönlich Partei, sie ist weder für noch gegen uns, weder gut noch böse. Sie „produziert in einem verschwenderischen Prozess, der kein bestimmtes Ziel hat, gesponsert von Destruktion und Leiden“, sie ist wundervoll in ihren unendlichen Variationsmöglichkeiten und in ihrer ausgesuchten Anpassung, aber schrecklich sind die Kosten: Sie ermöglicht Leben durch Destruktion, in einer paradoxen Kombination von Zerstören und Bewahren (Phillips 1999,40; 62f.).

Man könnte freilich insofern die „Güte“ der Natur gelten lassen, als sie uns mit der Fähigkeit ausgestattet hat, uns manchen (Trennungs-) Schmerz zu ersparen und uns stattdessen tröstlichen Vorstellungen und Empfindungen hinzugeben.

Zerstörung und Erhaltung, Trennung und Bindung, Sexualität und Destruktion sind Funktionen jener beiden antagonistischen Grundtriebe, die Freud in einer seiner letzten theoretischen Arbeiten als Lebens- und Todestrieb zusammengefasst hat. Gelegentlich werden sie auch mit den aus der Mythologie stammenden griechischen Namen Eros (= Liebe) und Thanatos (= Tod) bezeichnet.5 Das Ziel des Lebenstriebes ist die Herstellung und Erhaltung größerer Einheiten, also Bindung, während der Todestrieb Zusammenhänge auflöst, trennt und so zerstört. Das letzte Ziel des Todestriebs ist es, das Lebende in den anorganischen Zustand zurückzuführen. „In den biologischen Funktionen wirken die beiden Grundtriebe gegeneinander oder kombinieren sich miteinander. So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinander der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen“ (Freud 1938,71f.). Im Anorganischen setzt sich die Analogie der beiden Grundtriebe im Gegensatzpaar von Anziehung und Abstoßung fort. Freud nahm an, dass der Todestrieb, solange er im Innern wirkt, stumm ist, und dass wir ihn erst wahrnehmen können, wenn er sich als Destruktionstrieb nach außen wendet. Der innen verbleibende Anteil tötet letztlich das Individuum, wenn dessen Libido – so nannte Freud die Energie des Lebenstriebs – „aufgebraucht oder unvorteilhaft fixiert ist. So kann man allgemein vermuten, das Individuum stirbt an seinen inneren Konflikten, die Art hingegen an ihrem erfolglosen Kampf gegen die Außenwelt, wenn diese sich in einer Weise geändert hat, für die die von der Art erworbenen Anpassungen nicht zureichen“. In „Das Ich und das Es“ (Freud 1923, 284) überlegt Freud die unterschiedliche Aufteilung des Todestriebs im Individuum, er wird „teils durch Mischung mit erotischen Komponenten unschädlich gemacht, teils als Aggression nach außen abgelenkt,“ und ein großer Teil setzt seine innere Arbeit unbehindert fort; es könne aber bei der Melancholie das Überich zu einer „Art Sammelstätte der Todestriebe“ werden.

Freud hatte zwar für die Energie des Lebenstriebs den Begriff Libido eingeführt, aber keinen analogen Terminus für den Todestrieb gefunden. Später wurde dafür manchmal die Bezeichnung Destrudo verwendet. Während Destruktion eindeutig eine zerstörerische Handlung bezeichnet, ist der Begriff der Aggression (vom lateinischen aggredi = herangehen) breiter gefächert: Man kann in feindseligem Sinn an jemanden herangehen, aber auch, um ihn zu erobern und zu besitzen, wie es im Sexualakt geschieht, für den ein gewisses Ausmaß an Aggression notwendig und normalerweise nicht mit Zerstörung gleichzusetzen ist6.

In einer umfassenden Revision von Freuds Trieb- und Strukturtheorie schlug Schmidt-Hellerau (1995,316ff.) den Begriff Lethe als Pendant zur Libido vor; der Terminus Lethe stammt ebenfalls aus der Mythologie und war im Griechischen der Name des Flusses, der die Lebenden von den Toten trennte: Die Toten mussten Wasser aus dem Fluss Lethe trinken, um vor dem Eintritt in die Unterwelt, den Hades, alle Erinnerungen an die Ereignisse des irdischen Lebens zu löschen; Lethe bedeutet „Vergessen“; dadurch verweist der Begriff auf das Unbewusste und den Energiefluss des Triebes. Diesen Sinn finden wir auch in der Alltagssprache, wenn von „Lethargie“ die Rede ist.

Wenn seelische Energie in eine Vorstellung bzw. in ein Objekt investiert wird, spricht man in der psychoanalytischen Triebtheorie von Besetzung (Kathexis). Manche klinischen Phänomene lassen sich am besten mit diesem ökonomischen Begriff erklären, z.B. die Trauer nach der Trennung von einem Objekt: Die Verarmung des Beziehungslebens während der Trauer wird durch eine unwillkürliche Überbesetzung des verlorenen Objekts verursacht; sie hat zur Folge, dass nicht mehr genug Besetzungsenergie für andere Objekte vorhanden ist, da nur eine bestimmte Quantität von Besetzungsenergie zur Verfügung steht.

Es ist wohl bezeichnend, wenn wir der Energie des Lebenstriebes (Libido) somit zwei Begriffe (Destrudo7 und Lethe) für die Energie des Todestriebes gegenüberstellen, äußert sich doch für uns der Todestrieb tatsächlich in zwei Erscheinungsformen: in einer aggressiv-zerstörerischen, destruktiven einerseits und in einer sanften, unmerklichen und dadurch vielleicht umso mehr lebensbedrohlichen andererseits. Die moderne psychoanalytische Theorie kann den scheinbaren Widerspruch zwischen Destrudo und Lethe aufklären. André Green hat – ausgehend von Freuds Todestriebhypothese – eine neue Konzeption des Todestriebs vorgelegt und die große Bedeutung jener Destruktionsform nachgewiesen, die im Abzug der libidinösen Besetzung von einem Objekt besteht (Green 2005,222).

Demnach kann die Vernichtung eines Objekts durch eine Bündelung von Besetzungsenergie in destruktiven Handlungen ebenso angestrebt werden wie durch die völlige Abwendung von dem Objekt, also durch einen totalen Abzug der Besetzung. Letzteres nimmt sozusagen die erfolgte Vernichtung des Objekts bereits als Faktum, es existiert nicht mehr. Wie so oft verweist auch unsere Sprache auf diese Möglichkeit, wenn man von jemandem sagt: „Für mich ist er gestorben“ und damit meint, man habe seine Existenz durch völlige Nichtbeachtung ausgelöscht. In der Kindererziehung ist längst bekannt, dass Kinder Liebesentzug oft vernichtender erleben als aggressive Bestrafung.

Green hat den Abzug der Besetzung von einem Objekt als Disobjektalisierungsfunktion bezeichnet und die Annahme eines negativen Narzissmus eingeführt, der dazu führt, dass sich der Besetzungsabzug zuerst gegen die Objekte und dann gegen das eigene Ich richtet; ein solcher verheerender Prozess verursacht zunächst eine Ich-Verarmung und dann Desintegration sowie Verlust der Identität und der Organisation des Ichs.

Fassen wir zusammen: Der Lebenstrieb bewirkt mit seiner seelischen Energie, der Libido, Bindung. Er ermöglicht uns – wie wir es in der Sprache der psychoanalytischen Wissenschaft ausdrücken –, Objekte mit dieser Libido zu besetzen, oder – wie wir es poetisch nennen- jemanden oder etwas zu lieben. Die Besetzung des Objekts kann zu einer differenzierten Wahrnehmung des Objekts in seiner Individualität und Einzigartigkeit führen. A. Green hat dies als Objektalisierungsfunktion bezeichnet und der Disobjektalisierungsfunktion des Todestriebs gegenübergestellt (Green 1997,160; 219); während die Objektalisierungsfunktion des Lebenstriebs die Bindung verstärkt, löst die Disobjektalisierungsfunktion seines Antagonisten, des Todestriebs, die Bindung auf, trennt und zerstört sie und raubt den Objekten ihre Spezifität und ihre Einzigartigkeit, wie sie in der Liebe wahrgenommen wird.

Trennung ist also eine Funktion des Todestriebes; sie löst die Bindung an ein Objekt auf. Sie kann ein willkürlicher Akt oder ein unwillkürlicher, unbewusster Vorgang sein; letzterer vollzieht sich in der Entwicklung des Individuums meist schmerzlos. Ein Beispiel dafür wäre, wie für Kinder allmählich ein Spielzeug unwichtig wird: Der bisher so innig geliebte Teddy etwa, der überall mit hin musste, wird immer häufiger vergessen und bleibt eines Tages für immer in einer Ecke zurück. Das Kind hat sich aufgrund seiner normalen, gesunden Entwicklung von ihm getrennt, es braucht ihn nicht mehr als „Übergangsobjekt“, wie D.W. Winnicott jene Brücken zwischen einer wichtigen Bezugsperson und dem Kind nannte; Übergangsobjekte haben die Funktion, den Trennungsschmerz mithilfe eines leichter und ständig verfügbaren Ersatzobjektes zu überbrücken.

Aber nicht alle Trennungen vollziehen sich so schmerzlos; es gibt eben verschiedene Formen der Trennung, so wie es verschiedene Formen des Todes gibt, vom sanften Gleiten in den Tod, bei dem Körper und Seele gleichsam in Einklang zu sein scheinen und die Welt der Objekte langsam loslassen, bis zum verzweifelten Todeskampf, der von Todesfurcht und wildem Trennungsschmerz beherrscht wird. Die Melodie des Abschieds kann aus leise-sehnsüchtig rufenden Tönen oder aus ohrenbetäubenden Dissonanzen bestehen; in ihr mischen sich Libido und Aggression wie in der Liebe, die zärtlich-sanfte Formen ebenso annehmen kann wie wildes, ungehemmtes Begehren.

1.2 Psychoanalyse – eine Brücke zwischen Natur und Kultur

Bevor wir auf die psychische Arbeit eingehen, die jede Trennung von uns verlangt, möchte ich kurz die Position der Psychoanalyse bei der Betrachtung des Trennungsproblems skizzieren, das man ja aus den verschiedensten Perspektiven studieren kann, z.B. aus einer biologischen, einer soziologischen, einer juristischen, einer entwicklungspsychologischen oder eben auch aus einer psychoanalytischen Perspektive.

Es ist kein Zufall, dass bereits einige naturwissenschaftliche Fachausdrücke wie „organisch“ und „anorganisch“, „Trieb“ etc. gefallen sind, dass sich aber auch schon Hinweise auf Kunst – auf Malerei und Dichtung – aufgedrängt haben. Ich denke, dass einer unserer bedeutendsten Theoretiker der Psychoanalyse, André Green, vor kurzem ganz zu Recht schrieb, dass die Psychoanalyse aus natürlichen und kulturellen Quellen gespeist wird: „Sie bildet eine Brücke zwischen Natur und Kultur“ (Green 2005b, 632). Green meint an dieser Stelle, dass die Psychoanalyse „weder eine Wissenschaft noch ein Zweig der Hermeneutik“ sei, sondern „eine Praxis, die auf klinischem Denken basiert, das zu theoretischen Hypothesen führt“. Er erinnert an Freuds eigene Definition der Psychoanalyse, die er 1922 für eine Enzyklopädie schrieb: „Psychoanalyse ist eine Methode, eine Behandlung, und eine Theorie.“ An einer anderen Stelle (Green & Kohon 2005,22) bezeichnet Green jedoch die Psychoanalyse sehr wohl als „grundlegende Wissenschaft“ für das Wissen vom menschlichen Geist. Diese scheinbaren Widersprüche sind wohl lediglich Ausdruck des Bemühens klarzustellen, dass die Psychoanalyse ebenso wenig wie ihr Gegenstand – unser bewusstes und unbewusstes Seelenleben – mit festen, definierbaren, wiederholbaren und überprüfbaren Prinzipien fassbar ist.

Vom Anfang der Psychoanalyse an wurde immer wieder die Frage ihrer Wissenschaftlichkeit aufgeworfen. Ich persönlich zweifle nicht daran, dass man die Psychoanalyse natürlich als Wissenschaft betrachten kann, wenn man ihre Spezifität berücksichtigt; aber wenn jemand anderer Meinung ist, weil er den Wissenschaftsbegriff eng definieren will, würde das an dem unschätzbaren Wert des Wissens, das uns die Psychoanalyse zugänglich macht, auch nichts ändern. Mir erscheint die Frage selbst nicht sehr fruchtbar, und ich werde hier auch nicht ausführlich darauf eingehen. Sicher ist die Psychoanalyse keine positivistische Wissenschaft, sie unterscheidet sich von anderen wissenschaftlichen Modellen, wie Gregorio Kohon (Kohon 1999a,156) ausführt:

In diesem Sinn hat die Psychoanalyse unser Wissen auf den Kopf gestellt, indem sie die Subjektivität aller Theorien aufgezeigt hat.

Man könnte aber wohl gerade die Möglichkeit der Psychoanalyse als wissenschaftlich anerkennen, ihr eigenes Instrumentarium zu untersuchen und Subjektives zu objektivieren – eine Möglichkeit, die Faktoren unserer Wahrnehmung zu studieren, die den anderen Wissenschaften nicht in dem Ausmaß zur Verfügung steht.

Meines Erachtens hat die Psychoanalyse gerade dadurch, dass sie in einem relativ hohen Ausmaß eine Objektivierung der Subjektivität zustande bringt, wissenschaftlichen Charakter. Es hat sich gerade in den letzten Jahrzehnten gezeigt (Kennedy 2002), dass die Kriterien der exakten Wissenschaften keineswegs unbedingt haltbar sind. Es sind weder die Naturwissenschaften so sicher noch ist die Psychoanalyse so unsicher.

Es ist nicht einmal unter den Psychoanalytikern selbst, geschweige denn unter ihren Anhängern und Gegnern eine baldige Einigung in dieser Frage zu erwarten. Denjenigen, die um die „Wissenschaftlichkeit“ und um quantifizierende Forschung besorgt sind, stehen diejenigen Analytiker gegenüber, die lieber die „feinen und manchmal widersprüchlichen Mäander des psychoanalytischen Prozesses verfolgen“ (Green 2005b,632). Ich ziehe es vor, mich diesen anzuschließen, respektiere aber die Versuche jener Kollegen, welche sich bemühen, Brücken zu den anderen Wissenschaften zu bauen; nicht weil wir außerhalb der Psychoanalyse Bestätigungen für unsere Funde zu erwarten hätten, sondern weil dadurch für interessierte Wissenschaftler anderer Disziplinen Zugang zur Psychoanalyse ermöglicht wird.

Es wäre vielleicht überlegenswert, unseren Wissenschaftsbegriff zu erweitern und neu zu definieren. Jedenfalls sollten wir nicht vergessen, dass wir selbst diese Ordnungssysteme nach einem früheren Wissensstand festgelegt haben; sie sind nicht naturgegeben, und wir sollten neu erobertes Wissen, das eben viele Facetten hat, nicht wieder verwerfen, bloß weil es nicht ins alte System passt. Wenn ein Bild größer geraten ist und nicht mehr in einen alten Rahmen passt, sollte man vielleicht den Rahmen wechseln und nicht das Bild zustutzen.

Für Freud, der gelegentlich von der „psychoanalytischen Wissenschaft“ sprach, war es klar, dass die Psychoanalyse „ein Stück der Seelenkunde der Psychologie“ und die Psychologie eine Naturwissenschaft ist, und er fügte die erstaunte Frage hinzu: „Was sollte sie denn sonst sein?“ (Freud 1938,142f.).

1.3 Trennung –Trauer und Depression

„Es ist allgemein zu beobachten,
daß der Mensch eine Libidoposition
nicht gern verläßt, selbst dann nicht,
wenn ihm Ersatz bereits winkt.“

(Sigmund Freud: Trauer und Melancholie,1917)

Wir haben bereits die sanfte, unmerkliche Form der Loslösung und Ablösung, wie sie oft in gesunden Entwicklungsprozessen stattfindet, von der schmerzlichen Trennung von einem Objekt unterschieden. Wenn man sich von jemandem oder von etwas trennen muss, dann bedeutet das eine seelische Belastung und Anforderung, die man als „Trauerarbeit“ bezeichnet. Der schwierige Prozess der Trauer ist mit Trennungsschmerz und dem Gefühl einer existentiellen Bedrohung verbunden, das im Lauf einer Trennung oft auftritt.

Freud hat 1917 in seiner Arbeit „Trauer und Melancholie“ eine klare Unterscheidung zwischen dem „normalen“ Prozess der Trauer und dem seelischen Zustand herausgearbeitet, den wir heute als „depressiven Zustand“ bezeichnen würden. „Die Trauer“ – so Freud wörtlich – „ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle getretenen Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“

Sowohl Trauer als auch depressive Zustände sind durch eine tief schmerzliche Verstimmung, durch das Aufheben des Interesses an der Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit und durch die Hemmung der Leistungsfähigkeit charakterisiert. Aber im Gegensatz zur Depression ist die Trauer nach einer gewissen Zeit überwunden; am depressiven Zustand dagegen fällt zusätzlich eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls, eine Neigung zu Selbstvorwürfen und die Erwartung von Strafe auf. Obwohl der depressive Mensch ein äußerst negatives Bild von sich zeichnet, scheint er sich jedoch all seiner aufgezählten Mängel nicht zu schämen. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man den Inhalten der Selbstanklagen nachgeht und regelmäßig entdeckt, dass es sich dabei um Vorwürfe handelt, die der Depressive eigentlich seinem verlorenen Liebesobjekt machen wollte. Er hat dieses gleichsam in sein Ich hereingeholt oder – wie wir mit dem psychoanalytischen Fachausdruck sagen würden – er hat es durch Identifizierung ersetzt. Freud hat den Vorgang auch durch eine eindrucksvolle Metapher illustriert: „Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun … wie das verlorene Objekt beurteilt werden konnte.“ Aufgrund einer regressiven Entwicklung kam es wieder zur Identifizierung mit dem Objekt; die Identifizierung ist auch die Vorstufe der Objektwahl gewesen und beinhaltet gewöhnlich eine starke Ambivalenz. Durch die Identifizierung wird das verlorene Objekt im Ich festgehalten und die Trennung vermieden.

Bei der Trauer hingegen wird mithilfe der Realitätsprüfung erkannt und anerkannt, dass das geliebte Objekt nicht mehr existiert und die Notwendigkeit besteht, die Libido – wie wir die seelische Energie nennen – von diesem Objekt abzuziehen, auch wenn man sich dagegen sträubt. Die Realität bringt gewissermaßen an jede einzelne Erinnerung ein Verdikt an, dass das Objekt nicht mehr existiert, „und das Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal teilen will, lässt sich durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen. … Die Trauer bewegt das Ich zum Verzicht auf das Objekt, indem es das Objekt für tot erklärt und dem Ich die Prämie des Amlebenbleibens bietet.“

Diese Entwicklung können wir als „normal“ bezeichnen: Der Respekt vor der Realität behält den Sieg, und nachdem jede einzelne Erinnerung eingestellt, zunächst überbesetzt und die Libido von ihr abgezogen wurde, ist das Ich wieder frei.

1.4 Angst als unlustvoller Affektzustand

Haben wir uns bisher mit der biologischen Polarität von Leben und Tod und der Trennung als Gegenpol der Bindung befasst, wenden wir uns jetzt der Angst zu, die gerade in Verbindung mit Trennungen besonders häufig auftritt. Trennungsangst entsteht sowohl in der gesunden Entwicklung des Kindes zur Selbstständigkeit und beim Erwachsenen, wenn Gefahr besteht, ein geliebtes Objekt zu verlieren, als auch bei seelischen Erkrankungen, hinter deren verschiedensten Symptomen sich die Angst vor Trennungen verbergen kann.

Freud ging zunächst in einer Arbeit über die Angstneurose davon aus, dass eine Anhäufung von Erregung, speziell von Sexualspannung, in Angst umgewandelt werden kann. Später unterschied er eine automatische Angst von der Angst als Signal. Die automatische Angst entsteht beim Eintreten einer traumatischen Situation, bei der man sich aufgrund einer Erregungsanhäufung äußeren oder inneren Ursprungs hilflos und nicht in der Lage fühlt, diese Erregung zu verarbeiten. Angst als Signal ist die Reaktion auf eine drohende traumatische Situation, die Gefahr bedeuten kann. Als größte Gefahr wird die Trennung von einem Liebesobjekt erlebt; durch dessen Verlust oder durch den Verlust seiner Liebe kann es zu einem Aufstauen ungestillter Wünsche und zum Erleben von Hilflosigkeit kommen. Die Signalangst versucht, dem Ausbrechen schwerer und besonders unlustvoller Angst zuvorzukommen, indem sie mithilfe der Denktätigkeit eine Reduzierung oder Vermeidung der Gefahr anstrebt. (Wir kennen auch alle die Angstlust, ein von Michael Balint geprägter Ausdruck, bei der die Angst so gering gehalten werden kann, dass ihre Bewältigung ein lustvolles Gefühl des Triumphes auslöst: So zweifeln wir gewöhnlich nicht daran, dass wir z.B. eine Fahrt auf einer Hochschaubahn höchstwahrscheinlich gut überstehen werden – das Überwinden der Angst kann also Spaß machen und Lust erzeugen.)

1.4.1 Die Geburt als „Vor-Bild“ der Trennungsangst

Der erste große Angstzustand im Leben des Individuums ist die „Ent-Bindung“, eine oft dramatische Trennung im Geburtsakt. Inge Merkel (Merkel 1994,48f.) beschreibt in ihrem Roman „Eine ganz gewöhnliche Ehe“ eine ganz normale Geburt, aus der Perspektive der Gebärenden:

Penelope, die Gattin des Odysseus, hatte sich in den Gebärstuhl gehockt: „Sie wusste ja, dass alles seinen richtigen Gang ging, so wie es sein musste. Genau wie beim Vieh, das warf. Nur dass es da meist schneller dahinging. Aber neben dieser vernünftigen Einsicht war sie eingefangen in das Geschehen, das ohne ihr Zutun vorging in ihrem Körper. Sie war allein mit ihrem Fleisch. ‚So wird das beim Sterben sein‘, flog ihr vage durchs Bewusstsein, ‚da wird man auch allein sein mit sich, trotz allen Gewaltes und Geweses um einen herum‘ … Im Banne gespannten Schreckens horchte sie in sich hinein auf den Kampf des würgenden Gefäßes, das sie selbst war, und gleichzeitig auf die Erstickungsnot des kämpfenden Lebens in ihr, das auch noch sie war und doch nicht mehr ganz sie selbst. Gleichzeitig fühlte sie die Qual des Gewürgten, der nach Luft rang, und sich als Würgerin. Plötzlich kam ihr ein blitzartiger Erinnerungsschimmer, wie es war, als man sie als Säugling ins Wasser geschleudert hatte. Wie endlos, bis sie hochtrieb. Wassernot, Not der Erstickung. Rasender Schmerz packte sie wieder und grässliche Fremdheit in sich selbst. Sie empfand sich geschnürten Atems durch die unterirdischen Stätten des eigenen Fleisches kriechen, wo in stickiger Düsternis, im Gestank von Blut und Kot und Verwesung Natur sich abspielt in hurtiger Betriebsamkeit zwischen Auflösung, Verwandlung und Auferstehung.“

Intuitives Wissen und vage Erinnerung ist mit dem Gefühl der Fremdheit und Ohnmacht gepaart während der unwillkürlichen Auflösung der Einheit und dieses ersten Erlebens von Trennung.

Es kann nicht oft genug betont werden, dass wir hier sehr eindrucksvolle Phantasien über Geburt und Tod vor uns haben. Wir können überhaupt über diese ersten und letzten Ereignisse unseres Lebens keinerlei „Erinnerungen“ produzieren, wohl aber eine Flut von Einfällen und Bildern. Wir können Geburts- und Todesphantasien studieren, nicht das seelische Geschehen während der Geburt oder während des Todes selbst, da wir keinerlei Gewissheit haben, ob und wie das, was wir Seele nennen, in diesen Augenblicken schon oder noch zu irgendeiner Verarbeitung des Geschehens fähig war.

Der Geburtsakt ist „das erste Angsterlebnis und somit Quelle und Vorbild des Angstaffekts“, schrieb Freud 1900 in einer Fußnote gegen Schluss des sechsten Kapitels seiner „Traumdeutung“. Otto Rank, der lange Zeit ein enger Mitarbeiter Freuds war, arbeitete diesen Gedanken 1924 in seinem Buch „Das Trauma der Geburt“ weiter aus; von Ranks Ansicht, dass alle späteren Angstanfälle Versuche seien, das ursprüngliche Geburtstrauma abzureagieren, distanzierte sich jedoch Freud8 am Ende seiner Schrift „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926,111–205), obwohl er zunächst festhält: „Intrauterinleben und erste Kindheit sind weit mehr ein Kontinuum, als uns die auffällige Caesur des Geburtsaktes glauben lässt“ (169). Doch im Intrauterinleben war die Mutter noch kein Objekt: „Die traumatische Situation des Vermissens der Mutter weicht in einem entscheidenden Punkt von der traumatischen Situation der Geburt ab. Damals war kein Objekt vorhanden, das vermisst werden konnte. Die Angst blieb die einzige Reaktion, die zustande kam. Seither haben wiederholte Befriedigungssituationen das Objekt der Mutter geschaffen,9 das nun im Falle des Bedürfnisses eine intensive, ‚sehnsüchtig‘ zu nennende Besetzung erfährt … Der Schmerz ist also die eigentliche Reaktion auf den Objektverlust, die Angst die auf die Gefahr, welche dieser Verlust mit sich bringt, in weiterer Verschiebung auf die Gefahr des Objektverlustes selbst.“

1.4.2 Trennungsangst und Trennungsschmerz

Zwei Beispiele aus der Praxis sollen zeigen, wie sich Trennungsangst hinter einer Hemmung oder einem Symptom verbergen kann und wie Versuche aussehen können, Konflikte und Trennungsschmerz zu vermeiden; ich habe mit Absicht zwei Fallgeschichten gewählt, welche die Verstrickung von Eltern und Kindern ahnen lassen und in denen die Patienten beide mit der vagen vorläufigen Diagnose „Schulangst“ kamen.

Der 6-jährige Peter war vor Schuleintritt ein äußerst vifer, kontaktfreudiger Bub, der bereits im allerdings nicht sehr regelmäßig besuchten Kindergarten eine ausreichende Selbstständigkeit bewiesen hatte. Umso ratloser war die Mutter, als Peter trotz seiner auch in der Schule auffallenden hohen Intelligenz große Schwierigkeiten bekam, schreiben und rechnen zu lernen. Es war leicht, mit Peter einen ersten Kontakt herzustellen; er erzählte, dass er gerade ein Lied in der Klasse habe vorsingen müssen, er habe „Hänschen klein“ ausgewählt, weil er diese Melodie in letzter Zeit immer im Kopf habe. Durch diesen Nachsatz hellhörig geworden fragte ich ihn nach dem Text. Bei der Zeile „Aber Mutter weinet sehr …“ stockte er mehrfach und ersetzte „sehr“ durch „mehr und mehr“. Auch im projektiven Test zeigten sich große Angst- und Schuldgefühle, jemand könnte durch Alleingelassenwerden in große Verzweiflung gestürzt werden, während sich der weggehende Partner mit anderen vergnügte. Peter war in Gefahr, einen Rückschritt in seiner Entwicklung zu machen. Die Tatsache, dass der Schulbesuch zwingender und zeitaufwändiger war als der Besuch des Kindergartens, hatte Mutter und Sohn vor ein kompliziertes und konfliktreiches Trennungsproblem gestellt, bei dem der dienstlich oft abwesende Vater wenig hilfreich sein konnte. Dass die Mutter immer deprimierter wurde, während Peter sich zunächst rasch mit anderen Kindern anfreundete und sich auch ein bisschen in die Lehrerin verliebte, löste bei ihm schwere Schuldgefühle aus. Um die Mutter nicht mit der Lehrerin zu betrügen, zog er gleichsam die Notbremse und versagte im Schreiben und Rechnen; nicht so im Lesen, denn das hatte ihm die Mutter beigebracht, das durfte er können. Peter hatte es bisher altersentsprechend geschafft, sich von den Eltern zu lö