SCHULD ODER SCHICKSAL?
SCHULD oder SCHICKSAL?
HIRNFORSCHER, PSYCHOLOGEN UND HUMANGENETIKER
ZWEIFELN AN DER ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT DES MENSCHEN
Originalausgabe
1. Auflage 2016
Verlag Komplett-Media GmbH
2016, München/Grünwald
www.komplett-media.de
ISBN: 978-3-8312-5779-9
Umschlaggestaltung: X-Design, München
Satz: Daniel Förster, Belgern
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.herold-va.de
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INHALT
Widmung
Vorwort
Die Suche nach Schuld und Schuldigen ist universell
Nicht jedes Gehirn funktioniert lebenslänglich fehlerfrei
Ein Suizid ist kein Mord
Ein verletztes Gehirn verliert die Kontrolle und macht den Täter schuldunfähig
Traumatische Erlebnisse schränken die Kontrolle ein
Der Wert psychiatrischer Gutachten ist umstritten
Die Evolution hat vieles perfektioniert, aber nicht alles
Das Unterbewusstsein steuert uns wie ein Autopilot
Die Psyche kann krank machen, aber auch heilen
Jedes Gehirn ist programmiert, aber nicht für immer
Der erste (unbewusste) Eindruck prägt unsere Meinung
Wer sich einmal eine Meinung gebildet hat, möchte sie nicht aufgeben
Konflikte in der Partnerschaft verändern das »Bild« des Partners
Gefühle und Erwartungen verhindern eine objektive Wahrnehmung
Der Glaube an ein funktionierendes Gedächtnis ist eine Illusion
Zeugenaussagen sind nicht zuverlässig
Stereotype und Vorurteile vernebeln Realitäten
Der Einfluss sozialer Netzwerke auf Vorurteile und Stereotype
Die Stigmatisierung durch religiöse oder ethnische Identifizierung
Der Einfluss unseres genetischen Bauplans auf unsere Lebenslinie
Wir erben das genetische »Programm« unserer Vorfahren
Homosexualität kann genetisch bedingt sein
98,4 Prozent der Insassen von Todeszellen haben einen genetischen Defekt
Traumata verändern Gene auch für folgende Generationen
Elementare Bedürfnisse stimulieren unsere Wünsche und beeinflussen unser Verhalten
Elementare Bedürfnisse üben eine unbewusst erlebte Wirkmacht auf unser Verhalten aus
Die »Bedürfnisse« der westeuropäischen und US-amerikanischen ISIS-Kämpfer
Der Sexualtrieb macht gelegentlich blind – und untreu
Ist Religion das Opium des Volkes?
Sind wir wirklich die »Krone der Schöpfung«?
Die verheerende Macht der Sucht
Eine Erklärung für Suchtverhalten
Wissenschaftler bemühen sich, mit neuen Methoden die Sucht zu besiegen
Moral, Gerechtigkeitssinn, Empathie
Psychopathen haben hirnorganische Funktionsstörungen
Selbst Tiere verfügen über ein Mitgefühl
Mitgefühl ist für den Zusammenhalt von Gemeinschaften notwendig
Kleinkinder besitzen ein Gefühl für Gerechtigkeit
Wie sich das angeborene Potenzial für Empathie entwickelt, hängt von mehreren Faktoren ab
Was beeinträchtigt die Möglichkeit, eigene Lebensentwürfe zu realisieren?
Schicksalhafte Ereignisse, die nicht nur Lebenslinien, sondern den Verlauf der Geschichte bestimmt haben
Der Zufall eröffnet Möglichkeiten
Die Datenindustrie »erschafft« Zufälle, auch gegen unseren Willen
Die Suche nach Schuld und Schuldigen ist zwanghaft
Einen Schuldigen zu finden, befreit die Psyche
Gefühle wie Neid, Missgunst, Eifersucht beflügeln die Schuldzuweisungen
Hirnforscher haben bahnbrechende Forschungsergebnisse geliefert, können aber nicht alles zweifelsfrei deuten
Die Verdienste der Hirnchirurgie sind unumstritten
Der Streit zwischen dem Hirnforscher Wolf Singer und dem Philosophen Julian Nida-Rümelin
Die kompromisslose Überzeugung der Hirnforscher Wolfgang Prinz, Gerhard Roth und Hans J. Markowitsch
Die »gemäßigte« Meinung des Wissenschaftlers Ernst Pöppel
Das bahnbrechende Experiment von Benjamin Libet
Das Experiment des Hirnforschers John-Dylan Haynes
Die Überzeugung von Daniel Kahneman
Muss man auch manchen Tieren eine (bewusste) Entscheidungsfreiheit zubilligen?
Der Einfluss von Genen, Bedürfnissen und Biografie auf die »Freiheit« von Entscheidungen
Das Wesentliche im Überblick
Es gibt keine gerechten Strafurteile
Der BGH-Anwalt Ekkehart Reinelt wehrt sich gegen die Forderungen deterministischer Hirnforscher
Die Meinung deutscher Gerichte ist ungebrochen: Vergeltung muss sein
Ein gerechtes Urteil, das alle Determinanten berücksichtigt, gibt es nicht
Wann der Richter im Zweifel für den Angeklagten entscheiden muss
Mein Vorschlag für eine neue Justierung im Strafrecht – Restorative Justice, Wiedergutmachungsverfahren
Resozialisierung ist ein Gebot, wird aber von Politikern ignoriert
Resozialisierung sorgt für mehr Sicherheit der Bevölkerung
EPILOG – Quo vadis, wohin geht der Homo sapiens?
Egoismus und Rücksichtslosigkeit – ein evolutionäres Erbe
Der Drang zur Kooperation – ein Produkt der Evolution
Auch Empathie ist evolutionäres Erbe
Von der Empathie profitieren nur Mitglieder der eigenen »Gruppe«
Kooperation, Empathie braucht Toleranz
»Erklärung von Prinzipien der Toleranz«
Gedächtnistest
Die Aufgabe
Der Test
Die Fragen
Lösung des Tests
Welche Auswirkungen das haben kann, quantitativ?
GLOSSAR
Literaturverzeichnis
Bücher
Zeitungen/Magazine
Online Artikel
WIDMUNG
Liebe Stefanie, Angelina, Stefan, Sebastian und Maximilian,
als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, lautete der erste Arbeitstitel »Was ich Euch immer noch erzählen wollte …«. Ein Vermächtnis an Gedanken, Erfahrungen und Empfehlungen, die ich Euch mit auf den Lebensweg geben wollte und will. Geboren und erwachsen aus dem Bedürfnis, solche Facetten des Lebens zu beleuchten, die für Verwerfungen und Brüche im Leben kausal sein können.
Mein, alles in allem, ungewöhnlicher, teilweise spannender Lebensweg hat mir Erfahrungen und Erkenntnisse beschert, die mich beinah zwanghaft herausgefordert haben, Ursachenforschung zu betreiben.
Gleich ob es der Bruch von Freundschaften war, ob Scheidungen, die fernsehtäglich gezeigten Dramen in aller Welt, der Freitod meiner Zwillingsschwester oder die in meiner beruflichen Praxis erlebten Schicksale, all das stimulierte zunehmend mein Interesse, zu ergründen, wie viel Verantwortung wir selbst, wie viel andere am Verlauf der Lebenslinie, an Niederlagen und Enttäuschungen tragen.
Meinen Erkenntnisgewinn will ich mit Euch in der Überzeugung teilen, dass er hilft, manchen Herausforderungen souverän zu begegnen. Die finale Botschaft ist nur scheinbar banal: Wenn es Euch gelingt, zu verinnerlichen, dass die oft unterstellte »böse Absicht« meist nur das Resultat menschlicher, unverschuldeter Unzulänglichkeit ist und dass ein jeder nur bedingt für den Verlauf seiner Lebenslinie (moralisch) verantwortlich gemacht werden darf, fällt es leichter, mit den Fehlern anderer – aber auch mit eigenen Misserfolgen – gnädiger umzugehen. Eine hilfreiche Voraussetzung für ein friedliches, liebevolles Zusammenleben mit dem eigenen Partner, mit Euren Kindern, mit Freunden und natürlich auch im Arbeits- und Geschäftsleben.
Und deshalb ist Euch allen dieses Buch gewidmet.
Die anfangs als väterliches Vermächtnis zusammengetragenen Gedanken mündeten im Verlauf der Recherchen und Ausarbeitung des Skripts zu einem Plädoyer nicht nur für mehr Nachdenklichkeit und Toleranz bei Schuldzuweisungen im zwischenmenschlichen Bereich. Als passionierter Jurist musste ich das Thema Schuld natürlich auch auf den Prüfstand der strafrechtlichen Praxis stellen. Es ist nicht zuletzt dieser Fokussierung in den letzten Kapiteln geschuldet, dass auch solche Phänomene unter die Lupe genommen wurden, die den Ruf zahlreicher Kritiker nach einer Reform der Strafrechtspraxis stützen. Meine anfängliche Ambition geriet so zu einer vertieften Beleuchtung all jener Determinanten, die Einfluss auf das Verhalten aller Mitmenschen haben.
Zu guter Letzt, meine Tätigkeit als Autor und Publizist, insbesondere aber mein Beruf als Rechtsanwalt, haben viel von der Zeit absorbiert, die Euch hätte gewidmet werden müssen. Darf ich die Hoffnung haben, dass ich diese (zeitliche) Einbuße mit der Widmung dieses Buches ein wenig kompensieren kann?
Euer Papa und Dad
VORWORT
Was legitimiert ausgerechnet einen Juristen, einige Facetten des Phänomens Schuld auszuleuchten?
Wir werden fernsehtäglich mit Bildern über Kriege und Krisen, über flüchtende Asylsuchende und über brennende Asylheime konfrontiert.
Das alles löst Ängste aus und wirft Fragen auf, die reflexartig zu Schuldzuweisungen führen, auf allen Seiten. Auch im alltäglichen Zusammenleben, bei geschäftlichen Konflikten, Beziehungskrisen oder Nachbarschaftsstreitigkeiten tendiert Homo sapiens dazu, den Sachverhalt auf einfache Erklärungen zu reduzieren und die Verantwortung bei anderen zu suchen.
Für den praktizierenden Berufsjuristen ist es eine beinah tägliche Herausforderung, zu ergründen, warum Menschen streiten, warum Toleranz und Kompromissbereitschaft notleiden. Vor allen Dingen treibt uns die Frage um, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass einigen Individuen sozialverträgliches Verhalten fremd ist und andere eine erfolgreiche und glückliche Lebensplanung realisieren können. Der Jurist muss, will er seine Aufgabe der Krisen- und Konfliktbewältigung ernst nehmen und effizient erfüllen, auch solche Erkenntnisse in seine Überlegungen und Strategien einbeziehen, die Schnittstellen zu den Bereichen Hirnforschung, Psychologie, Humangenetik, Evolutionstheorie, Anthropologie und Soziologie aufweisen.
In diesem Buch werden deshalb einzelne Stränge aus diesen Wissenschaftsbereichen zusammengeführt. Im Ergebnis legen diese Recherchen nahe, dass es zahlreiche Gründe gibt, mit unseren Mitmenschen gnädiger umzugehen, mehr Toleranz zu üben und gelegentlich Kompromisse einzugehen.
Vielleicht sind es die berufstypischen täglichen Herausforderungen in unterschiedlichsten Lebensbereichen, die insbesondere einen Juristen legitimieren, hierüber aufzuklären.
DIE SUCHE NACH SCHULD UND SCHULDIGEN IST UNIVERSELL
Schuldzuweisungen hatten schon immer Konjunktur. Im zwischenmenschlichen Bereich, zur Begründung von Strafurteilen, aber auch zur Rechtfertigung von Kriegen oder terroristischen Anschlägen.
Flüchtlingsströme, brennende Asylunterkünfte und marodierende junge Frauen und Männer, die in Europa aufgewachsen sind und von Salafisten radikalisiert wurden, machen die Frage nach individueller Schuld, nach den eigentlichen Ursachen drängender denn je. Psychologen und Hirnforscher halten überraschende Antworten bereit. Es sind Antworten, die insbesondere Politiker und Juristen nachdenklich stimmen müssen, und Erkenntnisgewinne, die nur schwer zu vermitteln sind, weil sie tradierten Verhaltensund Gefühlsmustern zuwiderlaufen.
Was Adam uns eingebrockt hat, als er in den verbotenen Apfel biss, den Eva ihm gereicht hatte, glauben aufgeklärte Christen nicht unbedingt. Aber selbst der deutsche Papst Benedikt XVI., vormals Kardinal Joseph Ratzinger, formulierte es 2004 im »Katechismus der katholischen Kirche« noch so: »Die Erbsünde wird durch Fortpflanzung übertragen« (Art. 396–412). Die Erbsünde, die uns – ohne eigenes Zutun – kollektiv schuldig gemacht hat, soll angeblich auch ursächlich dafür sein, dass die Menschen zum Bösen neigen.
Nun verhält es sich zwar so, dass ein jeder von uns glaubt, Menschen zu kennen, die »zum Bösen neigen«. Eine solche Eigenschaft aber kategorisch zu unterstellen, erscheint zunächst abwegig – zumindest im Fall von Mutter Teresa, bei Nelson Mandela oder beim Dalai Lama. Zahlreiche Vertreter einschlägiger Wissenschaften, vor allem Soziologen, Psychologen und Hirnforscher, halten das ohnehin für ein Hirngespinst.
Doch selbst wenn man die christliche These von der jedermann angeborenen Schuld (die uns bereits mit der Zeugung zu Sündern macht) verwirft, so hat die im Alten Testament verbriefte Notwendigkeit, für diese Schuld zu büßen, um Erlösung zu finden, gleichwohl einen prägenden Einfluss entwickelt – bis heute. Die Suche nach dem oder den Schuldigen treibt uns um, sowohl bei zwischenstaatlichen als auch bei zwischenmenschlichen Konflikten.
Da dieses Phänomen aber nicht nur in jenen Ländern beheimatet ist, deren Lebensgewohnheiten und Umgangsformen von monotheistischen Religionen wie dem Islam, dem Christentum und dem Judentum geprägt wurden, wäre es wohl intellektuell unredlich, das menschliche Streben nach Rache, Vergeltung und Sühne allein ursächlich auf eine christliche These zu reduzieren. Stattdessen hat die Suche nach dem oder den Schuldigen sehr viel mit einem Sinn und Gefühl für Gerechtigkeit zu tun. Und das ist, so die spezialisierten Wissenschaftler, auf jeden Fall angeboren beziehungsweise wird wie eine Art Software bei der Geburt mitgeliefert, verbunden mit einem (moralischen) Gewissen. So lautet beispielsweise das Ergebnis einer Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie. Demnach besitzen bereits dreijährige Kinder einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und verfügen über die Fähigkeit, andere zu verstehen und mit ihnen mitzufühlen. Auch Experten des einschlägigen Forschungszweigs (Theory of Mind) bestätigen diese These.
Dann, so ließe sich mutmaßen, kann ja an und für sich nichts mehr schiefgehen. Was gerecht ist, lässt sich gewöhnlich objektiv ermitteln, möchte man meinen. Schließlich gibt es hierfür Mindestnormen, gesellschaftliche, religiöse und staatliche Regelungen, die entweder oktroyiert oder vereinbart wurden, jedenfalls qua allgemeinem Konsens oder auch wegen staatlicher Entscheidungshoheit oder kirchlicher Deutungshoheit zu befolgen sind. Wir verlangen instinktiv und intuitiv nach einer wie auch immer gearteten Wiedergutmachung, wenn hiergegen verstoßen wurde. Dann erfolgt meistens eine Bestrafung, und zwar in allen Kulturkreisen. Das ist im Grunde genommen bedauernswert, denn die Fehlerquelle bei Schuldzuweisungen beginnt bereits bei der höchstpersönlichen Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, unabhängig davon, ob sie verbal, bildlich oder schriftlich daherkommen. Denn unsere Wahrnehmung ist höchst subjektiv, recht unzuverlässig, obwohl wir das Gegenteil glauben. Vieles von dem, was wir wahrnehmen, wird unbewusst wahrgenommen und abgespeichert.
Außerdem unterstellt das Bedürfnis nach Buße, Vergeltung oder irgendeiner Wiedergutmachung dem vermeintlichen Missetäter ein schuldhaftes, ein vorwerfbares Verhalten, für das er sich (bei mehreren Wahlmöglichkeiten) freiwillig entschieden hat. Das ist wiederum ein Trugschluss – jedenfalls häufig.
Diese Welt, so möchte ich, zugegeben pathetisch, behaupten, wäre eine bessere, wenn es den in jeder Hinsicht unvollkommenen menschlichen Primaten gelänge, die Gewissheit von eigener Perfektion und die Überzeugung von einer autonomen, willensgesteuerten Wahlfreiheit zu reduzieren oder sogar ganz über Bord zu werfen. Ein solcher Gedanke ist wohl gewöhnungsbedürftig.
Der Wunsch, die Überzeugung von unserer »Beinahe-Unfehlbarkeit« abzulegen, ist illusorisch. Sowohl unser genetisches Programm als auch die im Unterbewusstsein verankerten Gefühle und Befehle lassen ihn nicht zu. Wir können – und ich hoffe, die geneigten Leser ebenfalls – zwar lernen zu verstehen, was ursächlich für unser Denken und unser Verhalten ist. Aber wir waren, sind und bleiben unfähig, die Denk- und Verhaltensmuster gänzlich zu überwinden, mit denen sich die Menschheit seit der Erlangung eines Bewusstseins eine Orientierungsmöglichkeit verschafft hat. Die Frage lautet: Haben wir überhaupt so etwas wie einen »freien Willen«, eine Entscheidungsfreiheit?
Ob wir für das, was wir tun, verantwortlich beziehungsweise gegebenenfalls schuldig sind, berührt auch den Streit zwischen Philosophen und Hirnforschern über die Frage, was gemeinhin als Deutungshoheit bezeichnet wird. Diese Frage ist für jeden von uns relevant. Als Anwalt mit nahezu vier Jahrzehnten beruflicher Erfahrung war ich Zeitzeuge von tragischen Lebensläufen, die aufgrund von Schicksalsschlägen determiniert und unausweichlich vorgezeichnet erschienen. Wer denkt in diesem Zusammenhang nicht unwillkürlich an jene Flüchtlinge, die ihre Heimat in Syrien oder Irak aus Angst vor Bomben, Folter und Mord verlassen haben? Aber ich habe auch Menschen kennengelernt, deren Lebenslinie sie eher zufallsbedingt zu ungeahnten, jedenfalls in nicht geplante, Höhen geführt hat. Vor allen Dingen aber habe ich die Fehleranfälligkeit des menschlichen Erkenntnisapparats erlebt, in privaten Angelegenheiten und im gerichtlichen Zeugenstand. Verstörend ist es da, immer wieder zu erfahren, dass die eigene Fehlerquote ignoriert und stattdessen regelmäßig die Schuld bei anderen gesucht wird.
In der Jurisprudenz gilt es (noch) als verpönt, Ergebnisse der Hirnforschung bei der Frage nach der individuellen Schuld zu berücksichtigen. Das Strafrecht beispielsweise definiert die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit mit den – nicht nur für den Laien –kryptischen Worten »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln« (§20 Strafgesetzbuch). Sofern die Fähigkeit des Täters, das begangene Unrecht einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, »nur« vermindert ist, kann eine Strafe gemindert werden (§21 Strafgesetzbuch).
Darüber, was beispielsweise unter einer »krankhaften seelischen Störung« zu verstehen ist oder unter welchen Umständen die Fähigkeit, das Unrecht einzusehen, als »vermindert« gelten kann, haben sich Juristen und Sachverständige die Finger wundgeschrieben. Es wurden jedoch bislang die jüngsten Ergebnisse und Erkenntnisse der Hirnforschung soweit ersichtlich bei den Antworten auf diese Fragen bei den Strafrichtern vernachlässigt, überwiegend sogar gänzlich ignoriert. Auch wissenschaftlich fundierte Meinungen von Verhaltensforschern über die dominierende Rolle des Unterbewusstseins fanden bislang bei den Strafrichtern wenig Beachtung. Ferner hat es den Anschein, dass die Botschaften sowohl der Hirnforschung als auch die der Verhaltensforschung bei der Zivilgesellschaft noch gar nicht angekommen sind. Andernfalls wären die zwischenmenschlichen Umgangsformen zuweilen wesentlich zivilisierter, behaupte ich vorab. Denn eine bessere Kenntnis von der Fehleranfälligkeit unseres Gehirns zwingt zu größerer Demut und Toleranz.
Im Fokus der Ausführungen stehen wissenschaftliche Erkenntnisse der Hirnforschung, der Verhaltensforschung und der Humangenetik. Forschungsergebnisse, von denen einige getrost das Prädikat »neue wissenschaftliche Wahrheit« verdienen, die gleichwohl – oder vielleicht sogar deshalb – noch nicht überall die Anerkennung gefunden haben, die sie verdienen. Möglicherweise verhält es sich so, wie der Physiker und Nobelpreisträger Max Planck es formulierte:
»Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner allmählich aussterben und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.«
(Max Planck: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948, S. 22)
Dieses Buch könnte auch für jene Zeitgenossen interessant sein, die sich ständig mit Schuldgefühlen plagen. Denn meine Recherche resultiert in der Erkenntnis, dass vieles zu »entschuldigen« ist, auch eigenes Versagen, das wir oft mit Selbstvorwürfen geißeln.