Buch
»Ein Fußmarsch direkt ins Nichts war genau das, was ich nach einer längeren Krankheit brauchte. Also lief ich in Japan rund 1 300 Kilometer im Kreis, um die Leere und das höchste Glück zu finden …«
Lena Schnabl über das Glück, dem Nichts auf der Spur zu sein.
Wie ich
tausend Kilometer auf dem
japanischen Jakobsweg lief und
was ich dabei fand
Inhalt
I (hosshin, Erwachen, Präfektur Tokushima)
II (shugyou, Askese, Präfektur Kochi)
III (bodai, Erleuchtung, Präfektur Ehime)
IV (nehan, Nirwana, Präfektur Kagawa)
I
(hosshin, Erwachen, Präfektur Tokushima)
1
»Man geht wandern.«
(Freund, Berlin/Neukölln)
Berlin – Ich steige in die U-Bahn ein. Kottbusser Tor. Bitte zurückbleiben. Gelbe Bahn, graue Kacheln. Es riecht nach einer Mischung aus Schweiß, Döner und Parfum. Ich schiebe mir meinen Schal vor die Nase und umklammere die Haltestange. Neben mir steht eine klapperige Omi mit Gehwagen, hinter mir ein paar Halbstarke, die sich gegenseitig YouTube-Clips mit fetten Bässen vorspielen. Auch einer dieser Akkordeon-Bettler ist eingestiegen. In die Bässe der Halbstarken mischt sich nun noch sein Gedudel. Mir ist heiß. Mir ist schlecht. Und auf einmal ist nichts von alledem mehr da. Keine Töne, kein Licht, keine Gerüche.
Plötzlich ist da nichts mehr.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Boden, Schweiß auf der Stirn. Die Omi, die Halbstarken, der Typ mit Akkordeon, alle über mich gebeugt, sorgenvolle Gesichter, sagen: »Mein Jöttchen!«, »Krass, Alter!« und »Katastroffff!«
Ich sage: »Passt schon« und denke: ›Was für eine Scheiße‹.
Hier, am grindigen Boden der Berliner U-Bahn, Linie acht, zwischen Kottbusser Tor und Schönleinstraße, beginnt meine Pilgerreise nach Japan.
Wobei, eigentlich ging es schon früher los. Der Schlag, dessen Nachwirkungen mich in der Bahn auf den Boden sinken ließen, kam ebenfalls an einem Oktobertag.
Ein Jahr vorher.
Ich war bereits ein paar Tage merkwürdig erschöpft gewesen, immer müde, Watte im Kopf. Aber an diesem grauen Tag, an dem die Sonne nicht aufzugehen schien, lag ich in meinem Bett in Berlin-Neukölln und konnte mich nicht bewegen. Als läge eine Decke aus Blei auf mir oder als würde das Blei direkt in meinen Adern fließen. Ich hob meinen Kopf und ließ ihn wieder sacken. Ich machte die Augen zu. Ich machte die Augen wieder auf und versuchte es nochmal. Und sackte wieder zurück ins Bett. Mein Herz raste, als wäre ich gerade in den zehnten Stock gesprintet. Halsschmerzen hatte ich. Und einen heißen Kopf. Vielleicht eine Grippe. Draußen war Herbst, und der Baum vor meinem Fenster verlor sein Laub. Tagelang dämmerte ich vor mich hin. Aus Tagen wurden zwei Wochen. Es war, als hätte mir etwas ins Gesicht geschlagen. Keine Ohrfeige. Eher ein K.o.-Schlag. Mit der Faust mitten auf die Zwölf.
Ich versuchte, mir einen Film anzusehen, konnte der Handlung aber nicht folgen. Die vielen Bilder rauschten an mir vorbei, überforderten mich. All die Personen, die auftauchten, und das, was die einander sagten, verstand ich nicht. Das war alles viel zu viel. Und ich viel zu wenig. Ein Totalschaden. Nicht nur der Körper, auch der Kopf funktionierte nicht. Ich klappte den Laptop wieder zu. Ich war ein Bleiklumpen und die Welt außerhalb meiner selbst ein schwerer Nebel. Eine Grippe also? Aber die geht doch schneller vorbei? Zwei Wochen lang zu schwach, mir einen Tee zu kochen? Zu fertig, um einen Film zu schauen? Zu erschöpft, um mitzubekommen, was mir die Freunde erzählen, die mir Krankenbesuche abstatteten?
Ich schleppte mich zum Arzt. Ein paar hundert Meter geradeaus, Sitzen auf Stühlen im Wartezimmer. Ich hätte mich gerne hingelegt, lehnte den Kopf an die Wand. Der Arzt, lascher Händedruck, Lockenkopf, guckte mir in den Hals. »Sagen Sie mal Aaaah.« Klassiker. Außer »Ah« sagte ich noch: »Ich bin zu schwach, um zu sitzen.« Und er: »Belegte Mandeln und Erschöpfung? Ich tippe auf Mononukleose.«
»Mono-was? Und wie viele Tage dauert das?«
»Mononukleose.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Epstein-Barr.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Pfeiffersches Drüsenfieber«, sagte er. »Und um Ihre zweite Frage zu beantworten: Das kann Monate dauern.«
Bitte was?
»Manchmal auch Jahre.«
Pfeiffersches Drüsenfieber. Das hatte ich schon mal gehört. Eine Schulfreundin hatte das in der Oberstufe. Monatelang kam sie nicht in die Schule. Wir haben trotzdem gleichzeitig Abi gemacht. Zwei Jahre später. Aber in der Abi-Zeitschrift stand so etwas wie: »Die ist immer müde. Wenn man sie nachmittags anruft, schläft sie, und ab acht Uhr abends schläft sie auch.«
Heilige Scheiße!
»Brauchen Sie eine Krankschreibung?«
»Nein, ich bin selbstständig.« Und Krankengeld bekomme ich auch keins, dachte ich.
Und er: »Gute Besserung!«
Ich stolperte aus der Praxis, musste losheulen und rief Mama an. Die hilft ja meistens, wenn sonst nichts mehr hilft. Als sie durch das Geschniefe verstanden hatte, was gerade passiert war – »Monate hat der gesagt. Manchmal Jahre!!!!!« –, sagte sie, auf pragmatische Weise optimistisch: »Warte erst mal den Bluttest ab« und »Ist ja nicht gesagt, dass es bei dir auch so lange dauert«. Wir legten auf. Ich heulte weiter. Zuerst auf der Straße, die paar hundert Meter zur Wohnung, dann wieder im Bett. Bis selbst das Geheule zu anstrengend war und ich einschlief.
Ein paar Tage später, Bluttest abgewartet und die Gewissheit: Jupp, ich habe Mononukleose. Immerhin hatte ich jetzt einen Namen für die Bestie, die mich k.o. geschlagen hat. Eigentlich hat sie viele Namen: Mononukleose, Pfeiffersches Drüsenfieber, Morbus Pfeiffer, Kuss-Krankheit, Studentenfieber. Erst mal googeln, was das eigentlich bedeutet. Die Krankheit wird ausgelöst durch einen Herpes-Virus, den Epstein-Barr-Virus. Fast alle erwachsenen Deutschen tragen das in sich, 95 Prozent. Der Arzt sagt: »Die Durchseuchung ist sehr hoch.« Kleinkinder kriegen es von ihren Eltern oder von abgelutschtem Spielzeug in der Kita. Erwachsene vom Küssen, vom Anhusten, vom Gläserteilen. Vor ein paar Wochen habe ich einer Freundin meinen Lippenbalsam geliehen. Ich beiße auch öfter mal vom gleichen Brot ab wie meine Freunde. Vielleicht hat mich aber auch nur jemand in der S-Bahn angehustet.
Das Gute ist: Die meisten Immunsysteme unterdrücken den Virus. Und auch wenn er ausbricht, bemerken es die wenigsten, sind eine Woche »erkältet«, und gut ist. Das Schlechte ist: In seltenen Fällen legt die Krankheit die Betroffenen komplett lahm, teilweise für Jahre. Und dann gibt es noch eine Steigerung, noch seltenere Fälle mit Leberversagen, Herzmuskelentzündung, Milzriss, Tod. Je später man es sich einfängt, desto schwerer ist in der Regel der Verlauf. »Karriere-Killer Drüsenfieber« ist ein beliebter Titel für Artikel über das Phänomen. Olaf Bodden, Fußballer bei 1860 München, spielte nach der Infektion nie wieder. Tennisspieler Roger Federer musste Monate pausieren.
In jedem Fall war klar: Ich musste erst mal im Bett bleiben. Aber ich konnte ohnehin nichts anderes machen. Sitzen? War nicht drin. Tee kochen? Ging manchmal. Also ergab ich mich, ließ mich in die Untätigkeit fallen. Ich schrieb meinen Auftraggebern, dass meine Artikel später kommen würden. Zu meinen Freunden sagte ich Sätze wie: »Ich war die letzten Jahre nie krank, also nehme ich das jetzt am Stück.« Und ich meinte das auch so. Freunde kamen mich besuchen, backten mir Pfannkuchen und kochten Kürbissuppe. Appetit hatte ich keinen, aber ich trank ganz gerne Orangensaft, den sie mir eingekauft hatten. Aus Wochen wurden Monate. Und irgendwie war mir das herrlich egal. Vielleicht, weil auch mein Kopf lahmgelegt war. Jedenfalls war ich ganz Passivität, Stillstand und Ruhe.
Nach vier Monaten im Bett waren zunächst die Gedanken wieder da. Ich dachte an die Texte, die ich hätte schreiben können. Sieben Geschichten hatte ich während meines letzten Japanaufenthalts recherchiert. Die Reisekosten zahlt mir niemand, die muss ich erst mal wieder reinkriegen. Also Recherche-Marathon, einen Monat lang jeden Tag Termine, kein einziger freier Tag. Die Interviews waren auf Band, die Fotos auf Speicherkarten, die Notizen im Block. Und ich im Bett. Immerhin kam trotzdem etwas Geld auf mein Konto, weil alte Texte bezahlt wurden. An sich ist es nervtötend, wenn getane Arbeit erst nach der Veröffentlichung bezahlt wird, Monate oder Jahre später teilweise. Doch damals brachten mich diese Zahlungen in Warteschleife über die Runden. Trotzdem: Da war Arbeit, die ich machen könnte. Fertig recherchierte Geschichten, die geschrieben werden wollten. Nur: Ich konnte nicht. War immer noch nicht fähig, mich zu konzentrieren. Weder Filmschauen noch Buchlesen war drin. Wenn selbst sitzen zu anstrengend ist, wie sollte ich da arbeiten?
Vom Bett aus schaute ich mir meine Umgebung genauer an. Ich sah all den Dreck, der sich in der Wohnung angesammelt hatte, weil ich ja geschlafen und nicht geputzt hatte. Überall lagen Haare, Staubflusen sammelten sich in den Zimmerecken. Staub, das ist: Hautschuppen, Milben und Spinnenkacke. Wie ich das hasse. Einmal die Woche hatte ich mich in die Dusche geschleppt, mich in die Duschwanne gesetzt, mich abgebraust. Danach erst mal ausruhen, bevor ich Zähne putzen konnte. Das ging auch nur noch im Sitzen. Die Beine fingen sonst an zu zittern. Ich rief Papa an. Der ist seit der Pensionierung bei meinen Eltern fürs Putzen zuständig. Ich wollte eigentlich von ihm hören, dass Putzen echt anstrengend ist und es kein Wunder ist, dass ich das gerade nicht schaffe. Aber er lachte ziemlich laut und ziemlich lange und sagte: »Ach Mädi, deine Wohnung ist echt klein. Ich glaube, du kannst es schaffen, da mal durchzusaugen.« An sich hatte er recht. Typische Berliner Ein-Raum-Wohnung. Nicht mal vierzig Quadratmeter. Also stellte ich den Staubsauger an. Ich begann mit den kleinsten Flächen. Saugte das Bad. Schweiß lief mir über den Rücken. Zwei Minuten Hausarbeit. Ich legte mich eine Stunde ins Bett. Dann saugte ich den Flur. Eine Minute Hausarbeit. Schweiß, Zittern. Ich legte mich eine Stunde ins Bett. Rief wieder Papa an. Der lachte jetzt nicht mehr, sondern sagte so was wie: »In dem Rhythmus ist die Wohnung morgen staubfrei.« Den Optimismus meiner Eltern bewundere ich sehr.
Ein Problem an meiner Krankheit ist: Es versteht sie eigentlich keiner. Mich selbst eingeschlossen. In unserer Zeit sind ja alle ständig »erschöpft«. Meist heißt das: Man kann sich zusammenreißen, ein bisschen weiterpowern, und dann wird es schon. Im normalen Leben kann man Grenzen überschreiten, neu ausloten, verschieben. Aber mit dieser Bestie in mir geht das nicht. Ich konnte mich nicht zusammenreißen und noch das Wohnzimmer saugen. Egal wie lächerlich die Aufgabe erscheint. Ich konnte auch nicht für mich selbst einkaufen gehen. Ich war ein schlaffer Körper mit eingeschläfertem Geist, und ich konnte nach Monaten des Stillstands noch immer fast gar nichts machen.
Natürlich waren nicht nur negative Gedanken da. Mir fiel einfach vieles auf. Zum Beispiel, dass ich, seit ich freiberufliche Journalistin bin, keinen Urlaub gemacht hatte. Wenn ich weggefahren bin, dann beruflich. Auch feste freie Tage habe ich bisher nicht eingelegt. Man kann immer noch irgendeine E-Mail schreiben, ein neues Thema suchen, irgendeinen Plot entwickeln. Und es kann immer sein, dass eine Zusage kommt und ich gleich loslegen soll. Kann auch sein, dass ich einen Text überarbeiten soll, den ich vor Monaten geschrieben habe und der nun überraschend in die nächste Ausgabe soll, die übermorgen in den Druck geht. Ich liebe meinen Job, aber ich weiß eigentlich nie, was ich in der nächsten Woche mache, ob ich Arbeit haben werde, ob und wann wie viel Geld auf mein Konto kommt. Eine E-Mail kann alles verändern. Immer auf Abruf.
Das muss aufhören. Ich beschloss, ein paar Dinge zu ändern, wenn ich wieder arbeiten könnte: feste freie Tage und wirklich mal in Urlaub fahren. Insgesamt alles ruhiger angehen lassen. Mir auch mal etwas gönnen. Diese ständige Selbstkasteiung ist doch scheiße. Und ich wusste jetzt, dass das geht: Schließlich war die Welt nicht untergegangen, weil ich gerade vier Monate im Bett lag. Ich hätte genauso gut vier Monate durch Patagonien reisen können. Wenn ich wieder fit wäre, wollte ich also: mehr Spaß und weniger Druck.
Meine Eltern schickten mir ein Rückenkissen, mit dem ich im Bett sitzen konnte. Manchmal saß ich jetzt, statt zu liegen. Das war ein Fortschritt. An manchen Tagen hatte ich ein Tablett mit meinem Laptop vor mir und schaffte es, ihn aufzuklappen, ein Interview abzutippen oder ein paar Absätze zu schreiben. Danach kam wieder die große Erschöpfung. Als würde die Bestie wieder ihren schweren Arm auf mich legen, um mich zurechtzuweisen, dass ich es übertrieben hatte. Dann machte ich wieder tagelang nichts. Wie ein kaputter Handyakku, bei dem Gespräche plötzlich abbrechen oder eine einzige SMS das Batteriesymbol zum Blinken bringt. Man muss ihn stundenlang laden, aber das Ding ist hin. Ich war genauso, musste viel zu lange laden, um danach viel zu wenig Leistung zu bringen. Ich fragte mich: Wie tauscht man seine Batterie aus? Und kann man das auch im Liegen machen? Ich lag auf dem Rücken und schaute hoch zur Decke. Ich lag auf der Seite und schaute aus dem Fenster oder machte die Augen gleich zu.
Ich versuchte, selbst einzukaufen. Danach war ich wie benommen. Einen ganzen Tag brauchte ich, um mich von der Anstrengung, mir selbst eine Flasche O-Saft gekauft zu haben, zu erholen. An einem anderen Tag versuchte ich es mit Spazierengehen. Ich fühlte mich energiegeladen, in meiner Vorstellung flog ich in den Park, die Hasenheide, vorbei an Hundescheiße, Dealern und jungen Eltern mit Babys vor dem Bauch. Ich schickte ein Selfie an meine Familie. Ich im Park – fünfhundert Meter entfernt von meiner Wohnung – blasses Gesicht, fettes Grinsen. »Wow, du warst heute draußen! Bist du das alles gelaufen?« Mein Gefühl: Ich schaffe das, jetzt wird alles gut. Aber die Bestie holte zum nächsten Schlag aus. Jede Aktivität, die an ein normales Leben erinnerte, bestrafte sie sofort. Wieder verbrachte ich Tage im Bett, stand nur zum Teekochen auf und legte mich dann derart ermattet wieder hin, als wäre ich einen Marathon und nicht die paar Meter in die Küche gelaufen.
Fast wünschte ich mich zurück in die Zeit, als mein Geist ebenso benommen war wie mein Körper, sodass ich in buddhahafter Gleichgültigkeit vor mich hindämmerte. Jetzt ging im Kopf die Post ab, und mein Körper blieb schwer.
Eigentlich müsste ich doch, oder? Warum wurde es nicht besser?
Ich bemühe mich doch! Warum hilfst du mir nicht, Bestie? Warum kriegst du Kleinigkeiten immer noch nicht hin?
Das war das erste Mal, dass ich versuchte, mit der Bestie zu sprechen. Im Endeffekt brüllte ich sie an. Ich war traurig und wütend. Obwohl sie ganz nah war, wusste ich nicht, wie ich sie erreichen sollte. Und sie antwortete: Nichts. Wir hatten offensichtlich ein Kommunikationsproblem.
Außerdem fing ich mir jeden Infekt ein. Es waren Erkältungen, die mich wochenlang lahmlegten. Wieder zu schwach, um zu schreiben, spazieren zu gehen oder einzukaufen. Mein spärlicher Alltag fiel wieder weg. Seit einem halben Jahr hatte ich mich nun nicht mehr gesund gefühlt. Und irgendwie wurde es nicht wesentlich besser. Ich schlug wieder beim Arzt auf, frustrierter noch als vor ein paar Monaten. Ich wollte jetzt Lösungen hören. »Das Schlimmste haben Sie überstanden«, sagte er. So fühlte ich mich aber nicht! Es soll jetzt besser werden! Ich hätte gerne eine Kur! Er winkte ab. Kur heißt Anstrengung, und das sei nichts für mich. Ich solle mich ausruhen und warten. Ich kann doch nicht einfach jahrelang rumliegen! Ich verrotte noch in meiner Wohnung. Gibt es da keine Medikamente dagegen? »Die einzige Pille, die ich Ihnen verschreiben kann, ist die Geduldspille.« Der will mich wohl verarschen. Er sagte, ein halbes Jahr unfit sein, das sei gar nichts. »Durchschnitt sind eineinhalb bis zwei Jahre.« Wie sollte ich das schaffen? Mir ging die Kraft zum Ausruhen aus.
Heute, ein Jahr nach der Infektion, hilft mir die Omi aus der U-Bahn. Ich stütze mich auf ihre zerbrechliche Schulter und sie sich auf ihren Gehwagen. Sie führt mich zu einer Bank.
»Allet paletti jetze?«
»Ja, vielen Dank.«
Kann es sein, dass mein Körper ein volles Jahr nach dieser Virusinfektion immer noch nicht klarkommt? Es sah doch so aus, als würde es langsam besser werden … Ich sitze auf der Bank und warte, bis der Schwindel vorübergeht. Derweil versuche ich wieder, mit der Bestie zu sprechen. Ich verstehe nicht, warum sie das gemacht hat. Was willst du von mir?, frage ich, während ich mir den Schweiß von der Stirn wische. Stille. Ich verstehe dich nicht, sprich mit mir. Was ist dir zu viel? In eine U-Bahn einsteigen? Stille. Warum bist du so launisch?
Sie antwortet nicht. Sie antwortet nie. Jahrelang war ich nie krank, wunderte mich über die anderen, die ständig Taschentücher kauften, weil sie so oft Schnupfen hatten und die Verabredungen absagten mit: »Du, mir geht es heute nicht so gut.« Seit die Bestie da ist, habe ich keine Ahnung, was dieser Körper, den ich lange für unbesiegbar hielt, von mir will. Und weil sie nicht antwortet, weil sie offensichtlich keinen Bock hat, mit mir zu sprechen, werde ich irgendwann ausfallend, auch wenn ich mir vorgenommen habe, möglichst verständnisvoll mit ihr umzugehen. Du Scheißdiva, kannst du mal aufhören auszuticken?
Seit einem Jahr führe ich innere Monologe, die Dialoge sein wollen und scheitern. Aber durch mein inneres Gezeter hindurch höre ich noch eine andere Stimme.
Sie flüstert: Shikoku. Ich kenne diese Stimme schon eine Weile. Immer wieder weist sie mich auf die Existenz dieser japanischen Insel hin. Aber dazu später.
Zu Hause lege ich mich ins Bett, die Beine hochgestreckt an der Wand, um den Kreislauf zu stabilisieren. Was bin ich für eine Versagerin. Ich heule. Nicht die Tränen, die leise runterlaufen, während man traurig guckt, sondern so, dass es einen schüttelt und man ständig ganz doll Luft holen muss und dabei komische Geräusche macht, weil auch noch die Nase läuft.
Irgendwie bin ich trotzdem eingenickt, und als ich nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich schwach, aber gehe runter, aus dem Haus. Mein Blick heftet sich auf das Kopfsteinpflaster, damit ich nicht noch in Hundescheiße trete. Gibt jede Menge davon in meinem Viertel, in Neukölln nahe Hermannplatz. Ein Mann steht an einer dieser am Randstein entsorgten Matratzen, auch davon gibt es jede Menge hier, und pinkelt. Wie ich diesen Dreck, den ich normalerweise ausblende, gerade verabscheue. Eine tote Ratte liegt im Matsch, die Glieder steif, das Fell teils feucht, teils schon verkrustet.
Zurück in meiner Wohnung setze ich einen Tee auf und mich an den Schreibtisch.
Ich kam nach Berlin, weil ich das Gefühl hatte, dass hier die Freiheit zu Hause ist. Ist sie vielleicht auch. Jeder kann machen, was er will, und niemanden interessiert es. Ein Mann führt vor meinem Fenster gerade seinen Plüschhund an der Leine spazieren. »Ringo, bell doch nicht so laut, die Leute wollen dir doch nichts Böses«, ruft er. Natürlich bellt das Kuscheltier nicht. Die anderen gehen weiter an ihm vorbei. Was Böses wollen sie wohl wirklich nicht, aber keiner schaut den Mann an, keiner lacht oder wundert sich. Als wäre der Mann genauso wenig da wie das Bellen seines imaginären Hundes. Es ist kein weiter Weg von Toleranz zu Ignoranz. Die Gesichter, die ich aus meinem Fenster sehe, wirken fahl und grau, verlebt und leer. Ist es Berlin, diese Stadt, die das mit den Leuten macht?
Es gibt viele, die herkommen voller Hoffnung. In Berlin geht noch was. In Berlin ist alles möglich. Um wenig später im Prekariat zu versumpfen. Akademiker, die was reißen wollen, die keine klassische Karriere wollen, aber die große Selbstverwirklichung. Das Projekt, das sie aufziehen wollten, hat dann halt doch nicht geklappt, also jobben sie im Café. Wenn es hart auf hart kommt, machen sie bei medizinischen Studien mit, das gibt ein paar tausend Euro und damit ein paar Monate Lebensunterhalt.
So weit bin ich noch nicht. Ich habe Abgabetermine für meine Texte und klappe jetzt den Laptop auf, um zu schreiben. Nach ein paar Stunden kommen die Gedanken zurück. Was bringt mir eigentlich eine Stadt der Freiheit, wenn ich in diesem Körper gefangen bin, der ohnehin nichts auf die Reihe kriegt? Und was wird aus mir, wenn ich meinen Beruf, der zu einem beachtlichen Teil aus Unterwegssein besteht, gar nicht mehr ausüben kann, weil dieser Körper nicht mehr dazu in der Lage ist, unterwegs zu sein? Ich fühle mich gefangen in einer Version meiner selbst, die sich nicht richtig anfühlt. Mir selbst fremd. Muss ich mein Leben ändern?
Vielleicht zurück nach München gehen. Einen festen Job annehmen. Heiraten. Kinder kriegen. In München ist ein Verlorensein wie in Berlin gar nicht möglich. Weil man dort einen »richtigen Job« braucht, weil man sonst nicht überleben kann. Weil man dann seine Tage im Büro verbringt, danach zum Supermarkt, der macht ja um 20 Uhr zu. Auch wenn die New York Times kürzlich zur Debatte stellte, dass München nun vielleicht »cool werde« und dabei auf diverse In-Locations verwies: München ist für mich immer das Dorf meiner Eltern geblieben. Dort bin ich aufgewachsen und habe ich studiert. Wenn ich sie besuche, habe ich immer das Gefühl, dass in München alles langsamer läuft. Die Ampel schaltet derart schleppend auf Rot, dass man unfassbar geruhsam die Straße überqueren kann. Die Stadt ist gesättigt. Dass sonst nichts geht, heißt auch, dass ich dort nicht viel verpassen kann. Ich sehe Gesichter, die frisch sind und gesund. Sie sitzen in Straßencafés, wahlweise mit Aperol Spritz oder Caffè Latte in der Hand. Und die Leute lassen mir auf dem Weg zur Bahn den Vortritt, statt mir wie in Berlin die Ellenbogen reinzurammen. Warum sitze ich nicht mit Caffè Latte im Straßencafé und sehe dabei fantastisch aus? Habe ich wirklich Lust, weiter irgendwelchen Möglichkeiten hinterherzulaufen? Wie bei einer grindigen U-Bahn, deren Türen schon schließen, und ich weiß nicht mal, ob ich da, wo die Bahn hinfährt, überhaupt hinwill?
Oder sollte ich aufs Land ziehen? Vielleicht werde ich dort ein kleines Café aufmachen. Selbst gebackenes Sauerteigbrot und frisch gemahlenen Kaffee, dazu Matcha-Kuchen und Rote-Bohnen-Gebäck, vielleicht auch brasilianische Käsebällchen und Acaí-Smoothie, auf jeden Fall auf japanischer Keramik serviert. Das Beste aus meinen Wahlheimaten. Frühstück gäbe es auch. Und wenn ich aus dem Fenster gucke, würde ich die Ostsee sehen, und dort würde ich dann mit meinem Hund spazieren gehen. Muss ich mein Leben ändern? Ist die Krankheit ein Zeichen, dass jetzt mal Schluss ist mit dem prekären Lotterleben? Dass ich zur Ruhe kommen soll? Oder muss ich nur warten, bis der Körper wieder fit ist?
Oder ist genau das Gegenteil der Fall? War der eigentliche Fehler der, dass ich nach zehn Umzügen in sieben Jahren beschlossen habe, in Berlin ankommen zu wollen? Dass ich vor drei Jahren die Fahrradtaschen vollpackte, von München nach Berlin radelte, um ein Leben im ständigen Provisorium – in Wohnheimen und mit Zwischenmietverträgen – zurückzulassen und es gegen eines in Altbauwohnung – mit unbefristetem Mietvertrag und sogar Internetanschluss, der auf meinen Namen läuft – zu tauschen? Ich bin damals mit dem Fahrrad umgezogen, weil ich wollte, dass mein Kopf mitkommt. Nach dem ständigen Hin und Her, nach dem schnellen Reisen, von Wien nach Tokyo, von Hamburg nach São Paulo, wollte ich auch mal langsam unterwegs sein. Und ich hatte auch nichts, was einen Möbelwagen gerechtfertigt hätte.
Jetzt besitze ich ein Bett (hat die Freundin einer Freundin zu Studienzeiten gebaut) und ein Sofa (stand früher im Wohnzimmer meiner Eltern). Eine Waschmaschine (ein Jahr nach dem Einzug endlich angeschafft, nachdem der Gang zum Waschsalon mir jedes Mal länger vorkam) und einen Kühlschrank (okay, gleich nach Einzug gekauft). Klar gibt es immer noch Dinge, die ich nicht besitze. Einen Schrank zum Beispiel, ein Regal oder einen Regenschirm. Aber für meine Verhältnisse habe ich verdammt viel. Passt das vielleicht gar nicht zu mir? Muss ich vielleicht also nicht mehr, sondern wieder weniger ankommen, um wirklich ich selbst zu sein? Ist es das, was die Buddhisten meinen, wenn sie sagen: Leiden entsteht durch Anhaftung? Habe ich zu viel angehäuft, an dem ich jetzt anhafte? Habe ich das Loslassen verlernt? Hindert mich meine Waschmaschine daran, glücklich zu sein? Und wenn ja: Warum lasse ich das zu?
Insgeheim beneide ich religiöse Menschen. Die gehen davon aus: Gott sorgt dafür, dass alles gut wird. Oder dass ihr Platz in der Gesellschaft auf Karma zurückzuführen ist. Auf jeden Fall ist da ein Grundvertrauen. Meine Eltern sind, zum Schrecken der Großeltern, aus der Kirche ausgetreten und meine Geschwister und ich wurden nicht getauft. An meiner Grundschule war ich im Bayern der Neunzigerjahre das einzige Kind ohne Religionszugehörigkeit. Während die anderen alles über Jesus und Gott lernten, hatte ich frei. Ich musste aber nachmittags extra noch mal hin zum Ethikunterricht, zusammen mit den drei anderen nicht christlichen Schülerinnen der Schule: einer Zeugin Jehovas und zwei Muslimas. Heute ist nichts glauben in meinem Umfeld normal geworden.
Die klaren Regeln der Religionen gelten immer weniger. Aus »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib« wurde Polyamorie. Oft ist es in unserer Gesellschaft doch irgendwie so: Wir gehen davon aus, dass niemand von oben auf uns runterguckt und dass niemand auf uns aufpasst. Mal euphorisch, mal depressiv nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand und sind dann auch selbst und ausschließlich dafür verantwortlich, wenn es schiefgeht. Und am Ende führen wir Plüschhunde spazieren, und niemanden interessiert es. Oder sitzen mit Kreislaufproblemen heulend im Bett, während das Leben woanders stattfindet. Klar, theoretisch könnte man. Aber praktisch kann man eben nicht. Man braucht nicht nur Talent, Leistung und Fleiß, sondern auch Glück. Mein Blick fällt auf das Fensterbrett. Dort stehen Kakteen, klein, stachelig und grün, neben japanischen Winkekatzen aus Keramik mit rosa Schnäuzchen und zarten Schnurrbarthaaren. Und ein Buch aus Japan mit vielen leeren Seiten und den Kalligrafien von elf Tempeln. Ich blättere durch die schwarzen Tuschezeichnungen, auf die rote Stempel gedrückt sind.
Die Stimme, die vorher noch flüsterte, wird lauter. SHIKOKU!
Das erste Mal, dass dieser Name in meinem Kopf auftauchte wie ein Zauberwort, war sechs Monate nach meiner Infektion.
Ich saß mit einem Kumpel zusammen, jammerte über meinen Körper und sagte, ich brauchte eine Kur. Und er: »Ach, Kur, das macht man heute nicht mehr. Man geht wandern.« Und ich dachte mir: ›Wie cool wäre das denn? Wandern!‹ Ich war weit davon entfernt, wirklich die Stiefel zu schnüren und auf einen Berg zu rennen, aber der Gedanke an die Möglichkeit trat etwas los. Wenn ich nun tatenlos in meinem Bett lag, kamen da jetzt Bilder von Landschaften und Bergen. Ich dachte auch an Japan, das mir seit fünfzehn Jahren eine zweite Heimat geworden ist. Bei meiner ersten Japanreise war ich Anfang zwanzig, studierte Japanologie und wollte so viel wie möglich vom Land sehen. Ein bisschen wie die japanischen Touris, die Europa in einer Woche abhaken, fuhr ich im Shinkansen-Schnellzug durchs Land. Von Tokyo fünfhundert Kilometer auf die Insel Sado an der Westküste Honshus. Von dort in die alte Kaiserstadt Kyoto, Tempel angucken und Geishas, Matcha und Zengärten. Abstecher nach Nara, auch alte Kaiserstadt, außerdem kann man dort Rehe füttern. Einen Tag nach Shikoku, die kleinste der vier japanischen Hauptinseln, etwa so groß wie Sachsen. Dort stieg ich aus dem Zug, besuchte drei Tempel, ging in ein Badehaus und fuhr weiter. Zur Burg Himeji, einem der ältesten Gebäude Japans, und von dort gleich wieder in den Zug zu den Ruinen der Atombombenkuppel in Hiroshima und nach Miyajima, einer Insel mit Shinto-Schrein und noch mehr Rehen. Weiter Richtung Süden bis nach Kagoshima am äußersten Zipfel Kyushus und dann wieder in den Norden zur Bucht von Matsushima, zwanzig Kilometer von Sendai entfernt, eine der drei angeblich schönsten Landschaften Japans. Zwei Wochen durchs Land gereist und die Lonely Planet Must-sees und etliche UNESCO-Welterbe abgehakt.
In meinem entschleunigten Leben im Bett wirkte diese Reise wie ein ferner Traum. Aber der Tagesausflug nach Shikoku ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Shikoku. Die knallgrünen Reisfelder, die ich aus dem Bummelzug gesehen hatte, die dampfenden heißen Quellen mit den nackten japanischen Omis und die Tempel mit ihren Räucherstäbchen und Glocken. Ich sah mich, wie ich damals an einem Tempel stand und meine Hand auf einen Stein legte. Irgendwas war da, irgendwie musste ich da wieder hin. Vielleicht rief mich diese Insel zu sich. Vielleicht war Shikoku auch einfach das Erste gewesen, was mir eingefallen war. Vielleicht suchte ich wahllos nach irgendwas, woran ich mich festhalten konnte. Keine Ahnung.
Aber plötzlich suchte ich im Netz nach den Tempeln, die ich damals besucht hatte, und stellte fest: Da sind noch mehr, die gehören zu dem ältesten Pilgerpfad der Welt. Der führt seit mehr als tausend Jahren tausendzweihundert Kilometer über Berge und an der Küste entlang, vorbei an insgesamt achtundachtzig Tempeln – und ich hatte noch nie von ihm gehört.
Die Vorstellung, dass ich das machen könnte. Ich und mein Körper. Meine Bestie und ich. Wir gehen zusammen und finden auf dieser Reise wieder zueinander. Besser geht es doch eigentlich nicht. In meinem Kopf war die Sache jetzt klar: Sobald ich könnte, würde ich auf diese Insel zurückkehren und es ganz anders machen als beim letzten Mal. Statt einer kurzen Stippvisite würde ich die gesamte Insel umrunden. Zu Fuß. Fünfunddreißig bis sechzig Tage soll das dauern. Der Weg vorgegeben von den durchnummerierten Tempeln, die sich wie auf einer Perlenschnur aufgereiht um die Insel verteilen.
Ein konkretes Ziel! Und mittlerweile war es Frühling geworden. Ich zwang mich, jeden Tag rauszugehen. Spazieren, wenn auch nur zehn Minuten, selbst einkaufen, die alltäglichen Dinge wie Duschen und Kochen wieder in den Griff bekommen. Statt Kur verabreichte ich mir ein individuelles Wohlfühl-Aufbauprogramm: einmal die Woche Sauna, einmal die Woche regeneratives Yoga und ab und zu Ausflüge an die Ostsee. Ich schlief immer noch übermäßig viel, sicher zwölf Stunden pro Tag, aber ich hatte das Gefühl, dass alles besser wurde. Ich traf meine Freunde wieder außerhalb meiner Wohnung, wir tranken Kaffee, gingen ins Kino. Danach ruhte ich mich aus. An vielen Tagen machte ich weiter: nichts. Alles auf Sparflamme, aber immerhin ein bisschen normales Leben.
Ich hatte immer ein enges Verhältnis zu meinem Körper gehabt, war vor dem Drüsenfieber sportlich gewesen. Ich machte Kampfsport, ging bouldern und zum Yoga. Das klingt heftig, aber im Endeffekt machte ich nur, worauf ich Lust hatte. Ich hatte jede Menge Kraft, und die nutzte ich. Jetzt versuchte ich es mit Radfahren. Alles blieb anstrengend. Mir wurde schnell schwindelig, und teilweise bekam ich nach Anstrengung Fieber. Wieder ging ich zum Arzt. Warum, verdammt noch mal, dauert das so lange? Warum wurde ich nicht fitter? »Wir wissen nicht, woran das liegt. Aber es ist normal«, sagte der Arzt. Normal fühlte sich das nicht an. »Sie sind nicht die Gleiche wie vor einem Jahr, also können Sie sich auch nicht so verhalten«, sagte der Arzt. »Geduld.« Ich fasste es nicht. Warum gab es da nichts, was ich tun konnte? Warum ist eigentlich »alles o.k.«, und warum ging es mir trotzdem nicht gut? Und von außen sah man nichts. Aber das unsichtbare Ding in mir hielt mich in seinem Griff. Meine Freunde wunderten sich genauso wie ich, dass ich immer noch viele Verabredungen sausen ließ, weil ich »erschöpft« war oder »nicht so fit heute«. Teilweise wollte ich deswegen nichts mehr ausmachen. »Wir gehen übermorgen ins Kino«, solche Sätze setzten mich unter Druck. Ich konnte nicht versprechen, dass ich das übermorgen könnte.
An schlechten Tagen heulte ich und motzte über diesen unfähigen Körper. Im Netz fand ich Selbsthilfegruppen, in denen Leute posteten, dass sie selbst nach zwölf Jahren noch nicht wieder normal lebten, immer noch diese Erschöpfung. Eine Lösung für mein Problem fand ich nicht. An guten Tagen fragte ich meine Freunde, ob sie mich vielleicht besuchen könnten, weil ich es nicht rausschaffte, und wir guckten Filme, quatschten und lachten. Oder ich telefonierte mit Leuten, die guttun, meiner Familie und Freunden, die in der Welt verstreut leben. Irgendwann versuchte ich es mit Akzeptanz. Wenn dieser Körper sich nicht bewegen ließ, musste ich auf ihn zugehen, mich anpassen. Ich schrieb wieder Mails, in denen ich Abgabetermine nach hinten schob. Statt ohnmächtig am Boden einer Trainingshalle lag ich beim regenerativen Yoga, immerhin optimal ausgerichtet auf Kissen. Ich ging spazieren. Ich machte zu Hause Gymnastik. Wirklich fitter wurde ich nicht, aber ich fühlte mich besser. Es war nicht so, dass ich die Herrschaft über die Bestie wiedererlangt hatte. Eher hatte ich mich der Herrschaft der Bestie in meinem Körper gebeugt.
Es wurde Sommer. Die vorab recherchierten Geschichten hatte ich mittlerweile geschrieben. Ein Reisemagazin fragte an, ob ich im Herbst zwei Japanthemen umsetzen könnte. Ich war nicht sicher, dass ich das konnte, aber sagte zu. Ich wollte nicht, dass das Jahr einfach so verging. Ich wollte etwas leisten. Und klar, auch finanziell war das letzte Dreivierteljahr eine Katastrophe gewesen. Ich konnte überleben, weil ich das Vorjahr fleißig gewesen war. Aber jetzt wurde es langsam knapp. Ich brauchte diese Aufträge. Und wenn ich damit durch war, könnte ich nach Shikoku fahren. Die Idee hing mir immer noch im Kopf. Und sie gab mir Kraft. Gehen, flanieren, spazieren, wandern, das mochte ich schon immer. Zwar war es ein weiter Weg um die Insel. Andererseits war es nicht der Pacific Crest Trail, der einmal von Mexiko nach Kanada durch die USA führt, 4 300 Kilometer durch Wüste und über schneebedeckte Pässe. Mit Zelt und ohne Wasser oder Supermarkt. Nö, der Shikoku-Pilgerweg ist nicht der PCT, sondern in meiner Vorstellung so etwas wie die Rentnerversion davon. Tausendzweihundert Kilometer, der höchste Berg etwa tausend Höhenmeter hoch, Getränkeautomaten und Herbergen auf dem Weg. Vor einem Jahr hätte ich das belächelt und als ziemlich uncool abgetan. Aber ich war nicht mehr mein früheres Ich, das beim Kampfsport Bretter zerschlug und untrainiert von München nach Berlin radelte. Ich war mein jetziges Ich, das es teilweise nicht mal schaffte, die Wohnung zu saugen. Daran konnte ich eingehen, dachte ich, oder um Shikoku gehen.
»Ich werde dieses Jahr um Shikoku laufen. Tausendzweihundert Kilometer«, erzählte ich einem Freund.
»Spinnst du?«, sagte er, »Das ist eine typische Lena-Aktion.«
Ich glaube, er meinte damit: »Das ist eine überambitionierte Schnapsidee. Chill mal.« Ich grinste, aber seine Reaktion verunsicherte mich: Hatte ich schon wieder zu viel vor? Wollte ich zu viel? Obwohl ich so runtergebremst lebte? Obwohl die Tour gar nicht so krass sein sollte? Und: Konnte dieser Körper nicht endlich wieder normal sein? Vielleicht hätte ich dieser sanften Warnung mehr Gehör schenken sollen, aber damals dachte ich: Egal, ich brauche Ziele! Ich wollte es zumindest versuchen.