Es war wieder Jäte-Jahrmarkt: derselbe kreischende Leierkasten, das Froschtauchen, die Wahrsagerei, das Gelächter, die Taschendiebe (die sich an die Taschen einer Hexe nicht herantrauten). Nur das Käserollen fiel in diesem Jahr aus, darüber waren sich alle einig gewesen. Tiffany nickte jedem zu, den sie kannte, also allen, und genoss den Sonnenschein. War tatsächlich ein Jahr vergangen? Es war so viel geschehen, dass alles verschwamm, wie die Geräusche des Jahrmarkts.
»Schönen guten Tag, Fräulein.«
Es war Amber, mit ihrem Freund – ihrem Ehemann …
»Jetzt hätte ich Sie fast nicht erkannt«, sagte Amber fröhlich. »So ganz ohne den spitzen Hut.«
»Heute wollte ich mal einfach nur Tiffany Weh sein«, sagte Tiffany. »Es ist schließlich Feiertag.«
»Aber die Hexe sind Sie trotzdem?«
»Oh ja, ich bin die Hexe, aber eben nicht unbedingt der Hut.«
Ambers Mann lachte. »Ich weiß genau, was Sie meinen, Fräulein! Manchmal könnte ich schwören, dass die Leute denken, ich bestehe nur aus meinen Händen!« Tiffany musterte ihn von oben bis unten, aber natürlich kannte sie ihn schon, denn sie hatte Amber und ihn ja getraut. Er hatte einen sehr guten Eindruck auf sie gemacht; er war solide und sein Verstand so scharf wie seine Nadeln spitz. Er würde es noch weit bringen, und Amber würde er auf diesem Weg mitnehmen. Und wer weiß, wohin sie erst ihn mitnehmen würde, wenn sie ihre Ausbildung bei der Kelda abgeschlossen hatte?
Amber hing an seinem Arm wie an einer Eiche. »Mein William hat ein kleines Geschenk für Sie genäht, Fräulein«, sagte sie. »Los, William, zeig es ihr!«
Der junge Mann überreichte ihr das Paket, das er unter dem Arm trug, und räusperte sich. »Ich weiß ja nicht, ob Sie mit der Mode gehen, aber zurzeit gibt es in der großen Stadt ganz wunderbare Stoffe, und als Amber mit ihrer Idee kam, hab ich gleich daran gedacht. Aber es sollte ja auch auf jeden Fall waschbar sein und vielleicht einen Hosenrock haben, für den Ritt auf dem Besen. Die Keulenärmel, die an den Manschetten geknöpft sind, damit sie nicht hochrutschen können, sind in dieser Saison der allerletzte Schrei. Und dann hab ich noch Innentaschen eingenäht, aber so, dass sie nicht auftragen. Hoffentlich passt es Ihnen, Fräulein. Ich hab ein Händchen dafür, auch ohne ein Maßband die Maße zu nehmen. Das ist ein besonderes Talent.«
Amber sprang aufgeregt auf und ab. »Anziehen, Fräulein! Bitte, bitte. Ziehen Sie es an!«
»Hier? Vor allen Leuten?«, sagte Tiffany, verlegen und gespannt zugleich.
So leicht ließ Amber sich nicht entmutigen. »Wir haben doch das Mutter-Kind-Zelt! Da trauen sich die Männer nicht rein, keine Bange! Weil die Bauern Angst davor haben, ein Kind ein Bäuerchen machen zu lassen.«
Tiffany gab sich geschlagen. Das Paket fühlte sich kostbar an – und weich, wie ein Handschuh. Mütter und Kleinkinder sahen ihr dabei zu, wie sie in das Kleid schlüpfte. Und in die Bäuerchen mischten sich neidische Seufzer.
Amber, die es vor Aufregung nicht mehr aushielt, schlug die Zeltklappe zurück und schnappte nach Luft.
»Ach, Fräulein, wie gut es Ihnen steht! Ach! Schade, dass Sie sich nicht sehen können. Kommen Sie, das müssen wir William zeigen. Der wird platzen vor Stolz! Ach!«
Man konnte Amber nicht enttäuschen. Das ging einfach nicht. Genauso gut hätte man einem jungen Hündchen einen Tritt verpassen können.
Tiffany fühlte sich anders ohne den Hut. Leichter vielleicht. William verschlug es sekundenlang die Sprache. Dann sagte er: »Ich wünschte, mein Meister wäre hier, Fräulein Weh. Denn Sie sind ein wahres Meisterstück. Wenn Sie sich nur sehen könnten… Fräulein?«
Einen Augenblick lang – nur einen kurzen Augenblick, damit niemand misstrauisch wurde – schlüpfte Tiffany aus ihrem Körper und sah zu, wie sie sich in dem wunderschönen Kleid drehte, das so schwarz war wie ein armer schwarzer Kater, und sie dachte: Ich werde das Mitternachtskleid tragen. Und ich werde meine Sache gut machen …
Sie huschte wieder in ihren Körper und bedankte sich scheu bei dem jungen Schneidersmann. »Es ist herrlich, William, und wenn du möchtest, fliege ich rüber zu deinem Meister und zeige es ihm. Die Manschetten sind toll!«
Amber hüpfte schon wieder auf und ab. »Wir müssen uns beeilen, Fräulein. Das Tauziehen fängt gleich an. Größte gegen Menschen! Das wird ein Spaß!«
Man hörte bereits das traditionelle Schlachtgebrüll der Größten, mit dem sie sich für den Wettkampf warmmachten – allerdings mit einer kleinen Textänderung: »Kein’ König, keine Königin, kein’ Herrn! Nur nen Baron – unter nem einvernehmlich vereinbarten Gegenseitigkeitsabkommen!«
»Geht ihr schon mal vor«, sagte Tiffany. »Ich warte noch auf jemanden.«
Das Mädchen zögerte kurz. »Warten Sie nicht zu lange, Fräulein. Warten Sie nicht zu lange.«
Während Tiffany in ihrem wunderschönen Kleid umherwanderte und darüber nachsann, ob sie es wohl wagen könnte, es jeden Tag anzuziehen, schoben sich zwei Hände an ihren Ohren vorbei und landeten auf ihre Augen.
Hinter ihr sagte eine Stimme: »Ein Sträußchen für die hübsche junge Dame? Vielleicht hilft es ja, einen Verehrer zu finden.«
Sie wirbelte herum. »Preston!«
Langsam schlendernd entfernten sie sich von dem Getöse des Jahrmarkts, und Preston erzählte ihr von dem klugen Jungen, den er als neuen Schullehrer angelernt hatte, von Prüfungen und Ärzten und dem Gratishospital von Lady Sybil, welches – und jetzt wurde es wirklich interessant – soeben einen neuen Lehrling eingestellt hatte, nämlich einen gewissen Preston. Wahrscheinlich deshalb, weil er jedem, der ihm sein Ohr lieh, selbiges im Nu abquatschen konnte, und sich deshalb besonders gut für die Chirurgie zu eignen schien.
»Viel Urlaub werde ich wohl nicht bekommen«, sagte er. »Als Lehrling stehen einem nicht so viele freie Tage zu, und ich muss jede Nacht unter dem Sterilisator schlafen und auf die ganzen Sägen und Skalpelle aufpassen, aber dafür kenne ich schon alle Knochen auswendig!«
»Na, mit dem Besen ist es ja keine Entfernung«, sagte Tiffany.
Prestons Miene wurde ernst. Er steckte die Hand in seine Tasche und holte ein in zartes Seidenpapier eingeschlagenes Etwas heraus, das er ihr wortlos überreichte.
Tiffany wickelte es aus. Sie wusste – mit hundertprozentiger Sicherheit –, dass es die goldene Häsin sein würde. Es war absolut unmöglich, dass es etwas anderes hätte sein können. Sie suchte nach den richtigen Worten, doch Preston konnte ihr aus seinem großen Vorrat problemlos aushelfen.
Er sagte: »Fräulein Tiffany, deines Zeichens Hexe … wärst du so freundlich, mir eine Frage zu beantworten? Was für ein Geräusch macht die Liebe?«
Tiffany sah in sein Gesicht. Das Lärmen vom Tauziehen verstummte. Die Vögel stellten das Singen ein. Die Heuschrecken hörten auf, ihre Beine aneinanderzureiben und blickten hoch. Die Erde bewegte sich ein wenig, als (vielleicht) sogar der Kreideriese sich reckte und die Ohren spitzte, und Stille strömte über die Welt hinweg, bis nichts mehr da war außer Preston, der immer da war.
Und Tiffany sagte: »Horch.«
Meine Aufgabe ist es, Dinge zu erfinden, und dafür gibt es keine bessere Methode, als sie aus echten Dingen zusammenzubasteln …
Als ich ein kleiner Junge war, kurz nach der letzten Eiszeit, wohnten wir in einem Häuschen, das Tiffany Weh bekannt vorkommen würde: Wir hatten kaltes Wasser, keinen Strom und einmal in der Woche Badetag. Dafür musste erst die Zinkbadewanne hereingebracht werden, die draußen unter dem Küchenfenster an einem Nagel hing. Es dauerte sehr lange, bis sie voll war, denn meine Mutter besaß nur einen einzigen Kessel, in dem sie das Wasser warmmachen konnte.
Weil ich der Jüngste war, durfte ich als Erster baden. Danach kamen Mum und Dad an die Reihe und zum Schluss auch noch der Hund, wenn Dad fand, dass er ein bisschen müffelte.
Bei uns im Dorf lebten auch ein paar alte Männer, die noch im Jurazeitalter geboren waren und für mich alle gleich aussahen: Schlägerkappen und derbe Hosen, die von sehr dicken Ledergürteln gehalten wurden. Einer von ihnen hieß Mr. Allen; er trank kein Wasser aus dem Hahn, weil es, wie er sagte, »nach nichts roch und nach nichts schmeckte«. Er trank Wasser vom Dach seines Hauses, das sich in einer Regentonne sammelte.
Vermutlich trank er auch noch etwas anderes als Regenwasser, denn seine Nase sah aus wie zwei aufeinandergeprallte Erdbeeren.31
Mr. Allen saß immer auf einem alten Küchenstuhl vor seinem Häuschen in der Sonne und ließ die Welt an sich vorüberziehen, während wir Kinder seine Nase beobachteten, für den Fall, dass sie explodieren würde. Eines Tages sagte er aus heiterem Himmel zu mir: »Hast du schon mal brennende Stoppelfelder gesehen, Junge?«
Hatte ich: zwar nicht bei uns in der näheren Umgebung, aber in den Ferien, wenn wir ans Meer fuhren, und manchmal war der Rauch von den brennenden Stoppeln so dick wie Nebel. Die Stoppeln waren die Reste der Getreidehalme, die nach dem Mähen in der Erde zurückblieben. Das Abbrennen der Felder sollte gegen Krankheiten und Schädlinge helfen, aber es kostete viele Vögel und kleine Tiere das Leben. Aus genau diesem Grund ist das Abflämmen auch schon lange verboten.
Als eines Tages der Erntewagen durch unsere Straße fuhr, sagte Mr. Allen zu mir: »Hast du schon mal einen Hasen gesehen, Junge?«
Ich antwortete: »Ja, natürlich.« (Falls Sie noch nie einen Hasen gesehen haben, stellen Sie sich eine Kreuzung zwischen einem Kaninchen und einem Windhund vor, und zwar eine, die ausgezeichnet springen kann.) Mr. Allen sagte: »Die Häsin hat keine Angst vor dem Feuer. Sie zwingt es mit ihrem Blick nieder, dann springt sie drüber weg und landet sicher auf der anderen Seite.«
Ich muss damals sechs oder sieben gewesen sein, aber ich habe es mir gemerkt, weil Mr. Allen bald darauf starb. Viele Jahre später fand ich in einem Antiquariat ein Buch mit dem Titel The Leaping Hare (Der springende Hase) von George Ewart Evans und David Thomson, und ich erfuhr Dinge, die zu erfinden ich mich nie getraut hätte.
Mr. Evans, der 1988 gestorben ist, führte – während seines langen Lebens – unzählige Gespräche mit Männern, die das Land bestellten. Und weil diese Männer das nicht aus der Kabine eines Traktors heraus taten, sondern die Felder mit ihren Pferden beackerten, bekamen sie bei der Arbeit wild lebende Tiere zu sehen. Ich vermute fast, dass sie ihre Beobachtungen ein wenig aufpoliert haben, aber ein bisschen Politur hat noch nie geschadet, also habe ich auch nicht gezögert, die Geschichte von der Häsin für Sie aufzupolieren. Sollte es nicht die Wahrheit sein, so ist es doch das, was die Wahrheit sein sollte.
Ich widme dieses Buch Mr. Evans, einem wunderbaren Mann, der in vielen von uns das Verständnis dafür geweckt hat, wie tief die Geschichte hinabreicht, über der wir dahingleiten. Es ist wichtig, dass wir wissen, woher wir kommen, denn wenn man nicht weiß, woher man kommt, weiß man nicht, wo man ist, und wenn man nicht weiß, wo man ist, weiß man nicht, wohin man geht. Und wenn man nicht weiß, wohin man geht, geht man wahrscheinlich in die Irre.
Terry Pratchett
Wiltshire
27. Mai 2010
Was fanden die Menschen bloß an Lärm so toll? Tiffany Weh verstand es nicht. Wieso war Lärm so wichtig?
Dicht neben ihr ertönte ein Brüllen wie von einer Kuh in den Geburtswehen. Es quoll aus einem alten Leierkasten, der von einem zerlumpten Mann mit verbeultem Zylinder malträtiert wurde. Tiffany suchte möglichst unauffällig das Weite. Aber das Gedudel hatte etwas derart Klebriges an sich, dass man Angst haben musste, es würde einem bis nach Hause hinterherkriechen, wenn man nicht aufpasste.
Doch in diesem lärmenden Hexenkessel war das Gebrüll nur ein Geräusch von vielen – samt und sonders von Menschen gemacht, die alles daransetzten, sich beim Krachmachen auch ja nicht übertrumpfen zu lassen. Sie krakeelten an den Bretterbuden, sie tauchten nach Äpfeln oder Fröschen1, sie bejubelten die Preisboxer und die Seiltänzerin in ihrem Glitzerkostüm, sie priesen lauthals Zuckerwatte an, und sie sprachen – ohne etwas beschönigen zu wollen – in nicht unerheblichem Maße dem Alkohol zu.
Das ganze grüne Hügelland lag unter einer Decke aus Lärm, als hätten sich die Einwohner von zwei, drei Kleinstädten dort eingefunden. Wo sonst höchstens der Schrei eines Bussards zu vernehmen war, johlte und grölte es nun in einer Tour. So etwas nannte man dann »sich vergnügen«. Lediglich die Taschen- und sonstigen Diebe gingen ihren Geschäften in löblicher Stille nach, wobei sie um Tiffany vorsichtshalber einen großen Bogen machten. Wer wollte schon einer Hexe in die Tasche fassen? Es stand zu befürchten, dass man seine Finger nicht vollzählig wieder zurückbekam. Und eine kluge Hexe bestärkte sie natürlich nach Kräften in dieser Furcht.
Ist man eine Hexe, ist man alle Hexen, dachte Tiffany Weh, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte, ihren Besen an einer Schnur hinter sich herziehend. Er schwebte einige Fuß hoch über der Erde. Das funktionierte zwar einigermaßen, störte sie aber auch ein bisschen. Da überall auf dem Jahrmarkt kleine Kinder mit Luftballons herumliefen, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eine ziemlich lächerliche Figur abgab. Und wer eine Hexe blamierte, blamierte alle Hexen.
Doch wenn sie den Besen einfach an einer Hecke angebunden hätte, wäre mit Sicherheit irgendein frecher Junge auf die Idee gekommen, ihn loszumachen und sich als Mutprobe daraufzuschwingen, woraufhin er wahrscheinlich prompt bis in die obersten Schichten der Atmosphäre hinaufgeschossen wäre, wo die Luft gefror. Natürlich war Tiffany theoretisch in der Lage, den Besen wieder zurückzurufen, aber Mütter konnten nun einmal ziemlich verschnupft reagieren, wenn sie an einem warmen Spätsommertag ihr Kind auftauen mussten. So etwas käme gar nicht gut an. Man würde über sie tuscheln. Über Hexen wurde immer getuschelt.
Also blieb Tiffany nichts anderes übrig, als den Besen weiter hinter sich herzuziehen. Mit ein bisschen Glück würden es die Leute ja vielleicht für ihren scherzhaften Beitrag zu der ausgelassenen Festtagsstimmung halten.
Die Etikette musste gewahrt bleiben, selbst auf einer scheinbar so ungezwungenen Veranstaltung wie einem Jahrmarkt. Sie war die Hexe. Sie konnte es sich nicht leisten, einen Namen zu vergessen oder – noch schlimmer – zwei Namen zu verwechseln. Nicht auszudenken, wenn sie Cliquen und Klüngel durcheinanderbrachte, wenn sie vergaß, wer mit wem zerstritten war oder wer mit welchem Nachbarn nicht mehr redete und so weiter und so weiter und so fort. Tiffany kannte das Wort »Minenfeld« nicht, aber der Sachverhalt war ihr durchaus geläufig.
Sie war die Hexe. Und zwar die Hexe für das gesamte Kreideland – nicht mehr nur für ihr eigenes Dorf, sondern für alle Dörfer bis hinüber nach Ham-am-Egg, das einen relativ strammen Tagesmarsch entfernt lag. Ein Gebiet, für das sich eine Hexe verantwortlich fühlte und für deren Bewohner sie tat, was getan werden musste, galt als ihr Revier, und Tiffanys Revier war nicht das schlechteste. Es gab nicht viele Hexen, die gleich für eine ganze geologische Formation zuständig waren, auch wenn diese zum größten Teil mit Gras und das Gras zum größten Teil mit Schafen bedeckt war. An diesem Tag mussten die Schafe, um deren Wohl und Wehe und Wolle sich in den Hügeln normalerweise alles drehte, auf sich selbst aufpassen. Sie durften tun und lassen, was sie wollten, also vermutlich genau das Gleiche, wonach ihnen auch sonst der Sinn stand. Denn heute interessierte sich keiner für sie. Heute drehte sich alles um die wunderbarste Attraktion der Welt.
Wobei gesagt werden muss, dass der Jäte-Jahrmarkt für die Kreidelandbewohner nur deshalb eine Weltattraktion darstellte, weil die meisten noch nie weiter als vier Meilen aus ihrem Heimatdorf herausgekommen waren. Wenn man im Kreideland zu Hause war, begegnete man auf dem Jahrmarkt jedem, den man kannte2. Außerdem konnte man hier wunderbar auf Brautschau gehen. Die Mädchen zogen ihre schönsten Kleider an, während die Jungen ihre hoffnungsvollsten Mienen aufsetzten und sich die Haare mit billiger Pomade oder – im Normalfall – mit Spucke an den Kopf klatschten. Wer sich für Spucke entschied, war meistens sehr viel besser dran. Die Pomade war nämlich so billig, dass sie bei warmem Wetter zerlief und die sehnlichst herbeigewünschte Wirkung auf das weibliche Geschlecht prompt zunichtemachte. Umso unwiderstehlicher war ihre Anziehungskraft auf Fliegen, die sich an den fettigen Haaren gütlich taten.
Da man dieses Ereignis aber kaum den »Jahrmarkt, auf den man geht, um einen Kuss zu erhaschen oder mit ein bisschen Glück sogar das Versprechen auf einen zweiten« nennen konnte, hieß er der Einfachheit halber nur der Jäte-Jahrmarkt.
Das Große Jäten fand im Spätsommer statt und dauerte drei Tage, eine Zeit, in der fast überall im Kreideland die Arbeit ruhte. Heute war der dritte und letzte Tag, und eine alte Volksweisheit besagte, dass für jeden, der bis dahin noch keinen Kuss abbekommen hatte, der Ofen aus war. Tiffany war ungeküsst geblieben, aber sie war ja auch die Hexe. Wer wollte schon das Risiko eingehen, in weiß der Himmel was verwandelt zu werden?
Bei mildem Wetter schliefen die Menschen oft und gerne draußen, unter den Sternen oder auch unter den Büschen. Wer also in der Nacht einen Spaziergang machen wollte, musste gut aufpassen, dass er nicht über irgendwelche fremden Füße stolperte. Deutlicher ausgedrückt: Es herrschte die Art von munterem Treiben, die Nanny Ogg – eine Hexe, die bereits drei Ehemänner verschlissen hatte – als »Alleinunterhaltung zu zweit« bezeichnete. Zu schade, dass Nanny oben in den Bergen wohnte. Der Jäte-Jahrmarkt wäre ganz nach ihrem Geschmack gewesen, und Tiffany hätte zu gern ihr Gesicht beim Anblick des Riesen gesehen.3
Er – denn dass er ein Er war, stand unzweifelhaft fest – war vor Tausenden von Jahren aus der Grasnarbe geschnitten worden. Die weiße Silhouette im grünen Gras stammte aus einer Zeit, als die Menschen in einer gefährlicheren Welt um ihr Überleben kämpfen und … fruchtbar sein mussten.
Hosen schienen in jenen Tagen jedoch noch nicht erfunden worden zu sein. Dabei griff die Bezeichnung »hosenloser Riese« bei weitem zu kurz. Seine Hosenlosigkeit war eine Welt für sich. Es war unmöglich, auf der kleinen Straße am Fuß der Hügel entlangzugehen, ohne dass einem seine bodenlose Hosenlosigkeit förmlich entgegenprallte. Es handelte sich eindeutig um die Figur eines Mannes und definitiv nicht um die einer Frau.
Alle, die zum Großen Jäten kamen, brachten eine kleine Schaufel oder auch nur ein Messer mit, um das Unkraut zu jäten, das die Umrisslinien im Laufe des Jahres überwuchert hatte. Stück um Stück arbeiteten sie sich die Hügelflanke hinunter, bis der Kalkstein wieder leuchtend weiß zum Vorschein kam und der Riese in seiner ganzen Manneskraft hervortrat.
Wenn die jungen Mädchen an dem Riesen rupften und zupften, ging es nie ohne Gekicher ab.
Wegen des Gekichers und der Umstände dieses Gekichers musste Tiffany unwillkürlich an Nanny Ogg denken, die – ein breites Grinsen im Gesicht – meistens dicht hinter Oma Wetterwachs zu finden war. Die alte Frau galt allgemein als kreuzfidel und puppenlustig, doch es steckte weit mehr in ihr. Und obwohl Nanny offiziell nie ihre Lehrerin gewesen war, hatte Tiffany sich so einiges von ihr abgeschaut. Bei diesem Gedanken schmunzelte sie leise. Nanny Ogg kannte die alte, dunkle Magie – eine Magie, die gänzlich ohne Hexen auskam, die den Menschen und der Landschaft von Natur aus innewohnte. Bei der es um Angelegenheiten wie Tod, Ehe und Verlobung ging. Und um Versprechen, die Versprechen blieben, auch wenn niemand sie hörte. Und um all die Dinge, die dazu führten, dass die Leute auf Holz klopften und nie, niemals unter einer schwarzen Katze hindurchgingen.
Um das zu verstehen, brauchte man keine Hexe zu sein. Es waren besondere Augenblicke, in denen die Welt um einen herum irgendwie realer und fließender wurde. Oder, wie Nanny Ogg den Zustand nennen würde: numinos, ein ungewohnt feierliches Wort aus dem Mund einer Frau, von der man üblicherweise eher Sätze zu hören bekam wie: »Ein Schnäpschen bitte, und am liebsten gleich ein doppeltes. « Sie hatte Tiffany von den Zeiten erzählt, in denen man als Hexe offenbar noch ein bisschen mehr Spaß haben konnte. Zum Beispiel davon, wie man den Wechsel der Jahreszeiten beging; von den vielen Bräuchen, die nur noch in der Erinnerung der Menschen weiterlebten. Einer Erinnerung, die – wie Nanny Ogg sagte – tief und dunkel war, die atmete und nie verlosch. Von lauter kleinen Ritualen.
Das Feuerritual hatte es Tiffany besonders angetan. Sie mochte Feuer. Es war ihr Lieblingselement. Da man früher glaubte, dass es sogar die Mächte der Finsternis in Schach halten konnte, heirateten die Menschen, indem sie zusammen über ein Feuer sprangen.4 Anscheinend half es, dabei gleichzeitig einen kleinen Spruch aufzusagen, so berichtete es zumindest Nanny Ogg, die Tiffany diesen Spruch auch prompt verraten hatte. Seitdem ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. So war es oft, wenn Nanny Ogg etwas erzählte: Es blieb irgendwie kleben.
Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Heutzutage ging alles viel gesitteter zu – außer bei Nanny Ogg und dem Riesen.
Es gab noch andere Scharrbilder im Kreideland. Darunter auch das Weiße Pferd, das, wie Tiffany sich zu erinnern glaubte, einmal sogar aus dem Boden hervorgebrochen und im Galopp angeprescht gekommen war, um sie zu retten. Sie konnte nur hoffen, dass der Riese nicht auf dieselbe Idee verfallen würde. In aller Eile eine sechzig Fuß lange Hose aufzutreiben wäre wahrhaftig kein Kinderspiel, obwohl gerade Eile das Gebot der Stunde gewesen wäre.
Tiffany selbst hatte nur ein einziges Mal über den Riesen gekichert, und das war schon sehr lange her. Eigentlich gab es nur vier Sorten Menschen auf der Welt: Männer, Frauen, Zauberer und Hexen. Die Zauberer lebten überwiegend in den Universitäten der großen Städte und durften nicht heiraten. Die Gründe dafür waren Tiffany vollkommen schleierhaft. Aber ins Kreideland verirrte sich sowieso kaum je einer von ihnen.
Hexen waren eindeutig Frauen, doch die meisten der älteren, die Tiffany kannte, hatten auch nie geheiratet. Was zum einen daran lag, dass Nanny Ogg fast alle in Frage kommenden Männer aufgebraucht hatte, und zum anderen wohl auch daran, dass sie für so etwas viel zu beschäftigt waren. Natürlich kam es hin und wieder vor, dass eine Hexe einen Ehemann an Land zog, der etwas hermachte, wie zum Beispiel Magrat Knoblauch aus Lancre, die allerdings, nach allem, was man so hörte, in jüngster Zeit nur noch Kräuterkunde betrieb. Aber die einzige junge Hexe, von der Tiffany wusste, dass sie überhaupt Zeit für einen Verehrer hatte, war ihre beste Freundin aus den Bergen. Petulia, die sich auf Schweinemagie spezialisiert hatte, war mit einem netten jungen Mann verlobt, der eines Tages die Schweinefarm5 seines Vaters erben würde, also praktisch ein Adliger war.
Doch Hexen sind nicht nur viel beschäftigte Leute, sie sind auch anders. Das hatte Tiffany schon in sehr jungen Jahren erfahren müssen. Man lebte unter den Menschen, aber man gehörte nicht dazu. Es gab immer eine Kluft, eine gewisse Distanz, auch wenn man selbst gar nichts dazu beitrug. Es war einfach so. Die Mädchen, mit denen Tiffany schon als Hemdenmatz gespielt hatte, machten heutzutage einen kleinen Knicks, wenn sie ihr begegneten, und sogar alte Männer lüfteten vor ihr den Hut – falls sie einen besaßen.
Das taten sie allerdings nicht nur aus Respekt, sondern auch aus Angst. Hexen hatten Geheimnisse. Sie waren jederzeit zur Stelle und halfen, wenn ein Kind auf die Welt kam. Man wusste sie gern um sich, wenn man heiratete (damit sie einem Glück brachten oder wenigstens kein Unglück). Und beim Sterben hatte man ebenfalls eine Hexe an seiner Seite, die einem den Weg wies. Hexen hatten Geheimnisse, die sie niemandem preisgaben … höchstens anderen Hexen. Denn wenn sie unter sich waren, wenn sie sich auf einem Berg versammelten, um sich ein Gläschen oder zwei zu genehmigen (beziehungsweise ein Gläschen oder neun wie im Fall von Frau Ogg), schnatterten sie wie die Gänse.
Nur nicht über die wahren Geheimnisse. Was man getan, gehört und gesehen hatte, behielt man für sich. So viele Geheimnisse, dass man Angst haben musste, sie würden aus einem heraussickern. Verglichen mit dem, was eine Hexe sonst oft zu Gesicht bekam, war ein hosenloser Riese nun wirklich nicht der Rede wert.
Nein, Tiffany beneidete Petulia nicht um ihre Romanze, die sich vermutlich größtenteils in schweren Stiefeln, unvorteilhaften Gummischürzen und im Regen abspielte – ganz zu schweigen von dem ständigen Gegrunze und Gequieke.
Nein, sie beneidete sie um ihre Vernunft. Petulia hatte ihr Leben im Griff. Sie wusste genau, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Sie krempelte die Ärmel hoch und sorgte selbst dafür, dass ihre Wünsche wahr wurden. Wenn es sein musste, auch bis zu den Knien in Schweinen watend.
Alle Familien, selbst diejenigen, die oben in den Bergen wohnten, hielten sich mindestens ein Schwein, das im Sommer als Mülltonne fungierte und den Rest des Jahres über als Braten, Speck, Schinken und Wurstkette Verwendung fand. Das Schwein war wichtig. Eine kranke Großmutter wurde unter Umständen einfach mit Terpentin behandelt, aber wenn das Schwein unpässlich war, ließ man sofort eine Schweinehexe kommen und entlohnte sie sogar für ihre Dienste. Und nicht zu knapp. Und meistens mit Würsten.
Als wäre das alles des Guten noch nicht genug, verstand sich Petulia auch noch wie kein anderer auf die edle Kunst des Schweinlullens. In diesem Jahr hatte sie sogar die Meisterschaft gewonnen. Tiffany fand, dass man sich für das, was ihre Freundin mit den Schweinen anstellte, kein treffenderes Wort hätte ausdenken können. Petulia setzte sich zu einem Schwein und erzählte ihm mit sanfter, ruhiger Stimme so lange extrem langatmige und langweilige Geschichten, bis irgendwann ein seltsamer Schweinemechanismus einsetzte: Mit einem letzten wohligen Gähnen streckte das Tier alle viere von sich und verwandelte sich vom lebenden Borstentier in eine wichtige Bereicherung des familiären Speisezettels. Für das Schwein war dieses Ende vielleicht kein glückliches, aber immerhin doch ein wesentlich appetitlicheres und friedlicheres als das, welches ihm vor der Erfindung des Schweinlullens geblüht hätte. So waren im Großen und Ganzen alle Beteiligten recht gut bedient.
Tiffany, allein inmitten der Menschenmenge, seufzte. Man hatte es eben nicht leicht, wenn man den schwarzen spitzen Hut trug. Denn ob man es wahrhaben wollte oder nicht: Die Hexe war nun mal der Hut, und der Hut war die Hexe. Und vor diesem Hut waren die Menschen stets auf der Hut. Er flößte ihnen Achtung, aber auch ein gewisses Maß an Furcht ein, als könne man ihnen in den Kopf gucken. Womit sie vermutlich gar nicht mal so schieflagen. Wozu hatte man schließlich seine Hexenmethoden, wie den Ersten Blick und die Zweiten Gedanken?6 Doch das war eigentlich keine Magie. Diese Methoden konnte jeder lernen, der auch nur ein Quäntchen gesunden Menschenverstand besaß – manchmal war jedoch selbst dieses kleine Quäntchen schon zu viel verlangt. Oft kamen die Menschen vor lauter Leben gar nicht dazu, sich nach dem Sinn zu fragen. Dafür waren dann die Hexen da, und deshalb wurden sie gebraucht, und zwar dauernd, oh ja. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass sie auch erwünscht waren. Was man sie auf eine betont höfliche und deutlich unausgesprochene Art und Weise immer wieder spüren ließ.
Hier war es anders als in den Bergen, wo die Menschen an Hexen gewöhnt waren. Die Bewohner des Kreidelands konnten zwar freundlich sein, aber sie waren keine Freunde, keine echten Freunde. Die Hexe war anders. Die Hexe wusste Dinge, die sonst niemand wusste. Die Hexe war eine andere Sorte Mensch. Die Hexe war jemand, mit dem man sich lieber nicht anlegen sollte. Die Hexe war keine von ihnen.
Tiffany Weh war die Hexe. Sie war Hexe geworden, weil die Menschen eine Hexe brauchten. Jeder braucht eine Hexe, auch wenn das nicht jeder weiß.
Und es funktionierte ganz gut. Wann immer Tiffany einer jungen Mutter bei der Geburt des ersten Kindes beistand oder einem Greis den Weg ins Grab ebnete, verblassten in den Köpfen der Menschen die Märchenbuchvorstellungen vom sabbernden, hässlichen alten Weib mit jedem Mal ein bisschen mehr. Trotzdem hatten die alten Geschichten, die alten Gerüchte, die alten Bilder immer noch Macht über das Gedächtnis der Welt.
Was es für Tiffany schwierig machte, war die Tatsache, dass es im Kreideland traditionell keine Hexen gab. So lange Oma Weh noch gelebt hatte, wäre auch keine auf die Idee gekommen, sich dort niederzulassen. Oma Weh war, wie jeder wusste, eine weise Frau gewesen. So weise sogar, dass sie keine Hexe geworden war. Ohne ihre Zustimmung lief im Kreideland überhaupt nichts — jedenfalls nicht länger als zehn Minuten.
Deshalb war Tiffany als Hexe vollkommen auf sich allein gestellt.
Abgesehen davon, dass sich die Bewohner der Kreide nicht mit Hexen auskannten, konnte sie nun auch nicht mehr auf die Unterstützung der Berghexen wie Nanny Ogg, Oma Wetterwachs und Frau Grad zählen. Dabei wären sie ihr mit Sicherheit zu Hilfe gekommen, wenn Tiffany sie darum gebeten hätte, ganz bestimmt. Und sie hätten auch nichts gesagt, sondern sich bloß ihren Teil gedacht, nämlich, dass Tiffany mit der Verantwortung nicht fertig wurde, dass sie der Aufgabe wohl nicht gewachsen war, dass sie überfordert oder schlicht und ergreifend nicht gut genug war.
»Sie, Fräulein?« Ein nervöses Kichern. Tiffany drehte sich um. Vor ihr standen zwei kleine Mädchen in ihren neuen Sonntagskleidern und Strohhüten. Sie schienen etwas auf dem Herzen zu haben, auch wenn ihnen ein wenig der Schalk aus den Augen blitzte. Tiffany musste nur kurz überlegen, dann lächelte sie.
»Ach, Becky Pardon und Nancy Aufrecht, richtig? Na, ihr zwei beiden? Was kann ich für euch tun?«
Becky Pardon zog verlegen ein Blumensträußchen hinter ihrem Rücken hervor und hielt es ihr hin. Tiffany wusste natürlich sofort, was es damit auf sich hatte. In ihrem Alter hatte sie für die älteren Mädchen auch welche gebunden, weil das eben zum Jäte-Jahrmarkt dazugehörte: ein kleiner Strauß selbstgepflückter Wiesenblumen, zusammengehalten von – und das war das Entscheidende, das Magische – einigen frisch aus dem weißen Kalkstein gerupften Grashalmen.
»Wenn Sie das heute Nacht unter Ihr Kopfkissen legen, träumen Sie von Ihrem Liebsten«, sagte Becky Pardon mit ernster Miene.
Tiffany nahm den schon etwas welken Strauß behutsam entgegen. »Mal sehen, was wir hier haben«, sagte sie. »Honigraspeln, Damendaunen, siebenblättriger Klee – der bringt sehr viel Glück –, ein Zweiglein Greisenhöschen, Liebesschlüsselchen, ach, und ein paar Stängel Herzschmerzlose und …« Sie starrte auf die kleinen rot-weißen Blüten.
Die Mädchen fragten: »Haben Sie was, Fräulein?«
»Ein Vergiss-mein-G′sicht7!«, sagte Tiffany etwas schärfer als beabsichtigt. Um sich ihre Irritation nicht anmerken zu lassen, fuhr sie rasch im munteren Plauderton fort: »Die kommen in unserer Gegend nicht oft vor. Müssen wohl aus irgendeinem Garten hierher eingeschleppt worden sein. Und ihr wisst doch sicher auch, womit ihr den Strauß zusammengebunden habt, oder? Das sind Binsen, aus denen man früher Binsendochtkerzen gemacht hat. Was für eine nette Überraschung. Ich danke euch sehr. Dann wünsche ich euch noch viel Spaß auf dem Jahrmarkt …«
Becky hob die Hand. »Sie? Fräulein?«
»Gibt es noch etwas, Becky?«
Die Kleine bekam einen roten Kopf und beriet sich rasch mit ihrer Freundin. Noch eine Spur röter, aber wild entschlossen, drehte sie sich wieder zu Tiffany um.
»Fragen ist doch nicht verboten, oder? Man kriegt doch keinen Ärger, bloß weil man was fragt?«
Jetzt kommt‘s, dachte Tiffany: Wie werde ich Hexe, wenn ich groß bin? Das wollten die kleinen Mädchen immer von ihr wissen. Sie glaubten, der Hexenberuf sei ein ständiges Besenreiten. Laut sagte sie: »Von mir hast du jedenfalls nichts zu befürchten. Frag ruhig.«
Becky Pardon blickte auf ihre Stiefel. »Haben Sie eigentlich auch süße Triebe?«
Ein weiteres Talent, das man als Hexe benötigt, ist die Fähigkeit, sich seine Gedanken nicht ansehen zu lassen. Vor allem durfte man es unter gar keinen Umständen dazu kommen lassen, dass einem die Gesichtszüge entgleisten. Ohne das leiseste Schwanken in der Stimme und ohne den geringsten Hauch eines verlegenen Lächelns antwortete Tiffany: »Das ist eine sehr interessante Frage, Becky. Verrätst du mir, warum du das wissen möchtest?«
Nachdem sie die Frage nun gewissermaßen in den öffentlichen Raum gestellt hatte, wirkte die Kleine richtig erleichtert.
»Na ja, ich hab meine Oma gefragt, ob ich Hexe werden kann, wenn ich groß bin, und da hat sie gesagt, dass ich das bestimmt nicht wollen würde, weil Hexen keine süßen Triebe haben.«
Zwei Paar ernste Eulenaugen blickten Tiffany erwartungsvoll an. Ihr blieb nicht viel Zeit zum Überlegen: Es sind Mädchen vom Land, die mit Sicherheit schon einmal gesehen haben, wie Katzen und Hunde ihre Junge bekommen, dachte sie. Bestimmt haben sie auch schon die Geburt eines Lämmchens miterlebt oder die eines Kälbchens — eine laute Angelegenheit, die man nicht so leicht überhören kann. Sie wissen also ganz genau, was ihre Frage bedeutet.
Nun schaltete sich Nancy ein. »Wenn das nämlich stimmt, Fräulein, hätten wir gerne unsere Blumen zurück. Wir wollen sie ja nicht verschwenden. Nicht böse sein.« Rasch trat sie einen Schritt zurück.
Tiffany war selbst überrascht, dass sie lachen musste. Das hatte es bei ihr schon ewig nicht mehr gegeben. Während sich die Dorfbewohner erstaunt nach ihr umdrehten, erwischte sie die Mädchen in letzter Sekunde, bevor sie davonlaufen konnten, und zog sie zu sich herum.
»Gut gemacht, ihr zwei«, sagte sie. »Ich freue mich immer, wenn zur Abwechslung mal jemand seinen Verstand benutzt. Ihr dürft nie aufhören, Fragen zu stellen. Und nun zu meiner Antwort: Was die süßen Triebe angeht, sind Hexen genau wie alle anderen Menschen auch, bloß haben sie meistens so viel zu tun, dass sie gar nicht dazu kommen, über sie nachzudenken.«
Die Mädchen schienen froh, dass sie sich die Mühe mit den Blumen doch nicht ganz umsonst gemacht hatten, und Tiffany wappnete sich für die nächste Frage, die wiederum von Becky kam. »Haben Sie denn einen Liebsten, Fräulein?«
»Zurzeit nicht«, antwortete Tiffany, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hob das Sträußlein hoch. »Aber wer weiß? Wenn ihr die Blumen richtig gebunden habt, finde ich vielleicht wieder einen. Dann seid ihr bessere Hexen als ich. So viel steht fest.« Die beiden Mädchen ließen sich diese dreiste Schmeichelei strahlend gefallen, und die Fragerei hatte ein Ende.
»So«, sagte Tiffany. »Gleich fängt das Käserollen an. Das wollt ihr doch bestimmt nicht verpassen.«
»Nein, Fräulein«, antworteten sie im Chor. Ehe sie sich trollten, vor Erleichterung und Selbstherrlichkeit fast platzend, tätschelte Becky tröstend Tiffanys Hand. »Verehrer können ganz schön anstrengend sein«, sagte sie mit der ganzen Abgeklärtheit ihrer acht Lebensjahre.
»Danke«, erwiderte Tiffany. »Das werde ich mir merken.«
Mit den anderen Jahrmarktsattraktionen, wie zum Beispiel dem Fratzenschneiden durch ein Pferdekummet, der Kissenschlacht auf einem gefetteten Balken oder sogar dem Froschtauchen, hätte man sie, wenn überhaupt, nur mit Mühe hinter dem Ofen hervorlocken können. Denn das Schönste war für Tiffany schon immer das Käserollen gewesen. Sie konnte sich gar nicht daran sattsehen, wenn ein guter Laib Käse den ganzen Hügel hinunterrollte – allerdings nicht über den Riesen. Davon wäre wohl jedem der Appetit vergangen.
An den Start gingen ausschließlich Hartkäsesorten, die zum Teil speziell für die Käserollsaison gemacht wurden. Der Hersteller des Siegerlaibes, der unversehrt am Fuß des Hügels ankam, gewann einen Gürtel mit Silberschnalle und die Bewunderung des ganzen Dorfes.
Obwohl Tiffany eine hervorragende Käserin war, hatte sie noch nie an diesem Wettbewerb teilgenommen. Für Hexen waren solche Turniere tabu. Denn wenn man gewann (und sie wusste, dass sie schon ein, zwei Championkäse hergestellt hatte), hieß es – natürlich hinter vorgehaltener Hand –, das wäre unfair, weil man ja schließlich eine Hexe sei. Und wenn man nicht gewann, wurde ebenfalls getuschelt: »Was soll denn das für eine Hexe sein, die noch nicht mal einen Käse hinkriegt, der die einfachen Käse von uns einfachen Leuten besiegen kann?«
Kurz vor Beginn des Käserollens setzte sich die Menge allmählich in Bewegung. Nur um die Bude, an der man nach Fröschen tauchen konnte, drängte sich noch das Publikum. Es war eine sehr beliebte und lustige Attraktion – vor allem für die nicht tauchenden Zuschauer. Leider fehlte in diesem Jahr der Mann, der sich Wiesel in die Hose steckte. Sein Rekord stand angeblich bei neun Wieseln in einer einzigen Hose. Seine Anhänger rätselten, ob ihm die ganze Sache vielleicht doch zu kitzelig geworden war. Aber früher oder später versammelten sich alle an der Startlinie für das Käserollen. So wollte es die Tradition.
Da der Hang an dieser Stelle steil und die Rivalität zwischen den Käsebesitzern groß war, kam es zu einem ungestümen Gerangel, das jedes Mal in Knüffe, Püffe und Tritte überging und gelegentlich auch mit einem Arm- oder Beinbruch enden konnte. Während sich die wartenden Männer mit ihren Laiben in einer Reihe aufstellten, bemerkte Tiffany – offenbar als Einzige – einen ominösen Käse, der aus eigener Kraft an den Start rollte. Ein schwarzer Käse mit einer dicken Staubschicht, der ein schmutziges blau-weißes Tuch umgebunden hatte.
»Oh nein«, seufzte sie. »Horace! Und wo du bist, ist der Ärger nicht weit.« Sie blickte sich forschend um. »Jetzt hört mal gut zu«, sagte sie leise. »Ich weiß, dass mindestens einer von euch in der Nähe sein muss. Dieser Wettkampf ist nicht für euch, sondern für die Menschen. Verstanden?«
Aber es war schon zu spät. Der Rennleiter, der einen großen Schlapphut mit spitzenbesetzter Krempe trug, erhob die Stimme und verkündete: »Lasset die Laibe rollen!« Eine etwas hochtrabende Ausdrucksweise für »Auf die Plätze, fertig, los«, aber ein Mann mit Spitzenborte am Hut würde niemals etwas platt ausdrücken, wenn es auch geschwollen ging.
Tiffany traute sich kaum hinzusehen. Die Läufer kugelten und schlitterten mehr den Hügel hinunter, als dass sie rannten. Schon erhob sich lautes Geschrei. Der schwarze Käse, der sich blitzschnell an die Spitze des Feldes gesetzt hatte, machte immer wieder unvermittelt kehrt, um einen seiner unschuldigen Käsekollegen von der Strecke zu drängen. Während er den Hügel hinaufschoss, gab er ein leises Grollen von sich.
Schimpfend versuchten die Käseläufer, ihn festzuhalten, doch obwohl sie mit Stöcken nach ihm schlugen, setzte der Schurkenkäse seinen Weg der Zerstörung unbeirrt bis ins Ziel fort, wo das Rennen in einer schrecklichen Massenkarambolage aus Leibern und Laiben seinen Höhepunkt fand. Anschließend rollte er gemächlich wieder nach oben und blieb, sanft vibrierend, auf der Startlinie hocken.
Am Fuß des Hügels brach derweil unter den kampffähig gebliebenen Käse-Jockeys eine Schlägerei aus. Und da das Publikum nur noch Augen für dieses wilde Getümmel hatte, nutzte Tiffany die Gunst des Augenblicks, Horace an sich zu nehmen und ihn in ihrer Tasche zu verstauen. Schließlich gehörte er ihr. Zumindest hatte sie ihn gemacht. Allerdings musste ihr dabei irgendetwas Seltsames in die Milch geraten sein, denn Horace war der einzige Käse, der nicht nur Mäuse fraß, sondern, wenn man ihn nicht festnagelte, sogar andere Käse. Es war deshalb auch kein Wunder, dass er sich so prächtig mit den Wir-sind-die-Größten8 verstand, die ihn zum Ehrenmitglied ihres Clans ernannt hatten. Er war eben ein Käse ganz nach ihrem Geschmack.
Möglichst unauffällig hob Tiffany sich die Tasche an den Mund und zischte: »So etwas gehört sich nicht! Schäm dich!« Die Tasche wackelte ein bisschen. Leider kam das Wort »schämen« in Horaces Wortschatz nicht vor – was auch für alle anderen Wörter galt. Sie ließ die Tasche wieder sinken, entfernte sich ein paar Schritte von der Menge und sagte: »Ich weiß, dass du da bist, Rob Irgendwer.«
Schon saß er auf ihrer Schulter. Sie konnte ihn riechen. Da die Größten, wenn es nicht gerade regnete, kaum mit Wasser in Berührung kamen, rochen sie immer wie leicht beschwipste Kartoffeln. »Die Kelda9 wollte wissen, wie’s dir so geht«, sagte der Große Mann des Clans. »Du has‘ dich schon zwei Monate nich mehr bei ihr inner Höhle blicken lassen. Ich glaub, sie macht sich Sorgen um dich, wo du doch immer so schwer schuften muss‘.«
Tiffany stöhnte, aber nur innerlich. »Das ist sehr nett von ihr. Die Kelda kann sich bestimmt denken, dass ich sehr beschäftigt bin. Die Arbeit hört eben nie auf. Ich werde immer irgendwo gebraucht. Aber sie muss sich keine Sorgen machen. Es geht mir gut. Und lass bitte Horace nicht mehr frei herumrollen – du weißt doch, wie leicht er über die Stränge schlägt.«
Folklore
»Mach das, Rob Irgendwer. Ich wäre dir sehr dankbar«, antwortete Tiffany. »Wenn ich das richtig sehe, muss ich jetzt erst mal los, ein paar Leute verbinden.«
Heldenhaft ratterte Rob Irgendwer – ein Mann auf undankbarer Mission – nun doch noch den Satz herunter, den ihm seine Frau für Tiffany mitgegeben hatte: »Die Kelda sagt, andre Väter haben auch schöne Söhne!«
Tiffany stand da wie erstarrt. Ohne ihn anzusehen sagte sie leise: »Ich danke der Kelda für ihren Rat. Aber die Arbeit wartet, Rob. Und vergiss nicht, der Kelda meinen Dank auszurichten!«
Die meisten Zuschauer hatten sich inzwischen im Zielraum eingefunden, die einen, um zu gaffen, die anderen, um den laut jammernden Käseläufern mit laienhaften Mitteln Erste Hilfe zu leisten. Aber für alle war es ein spannender Zeitvertreib. So einen eindrucksvollen Haufen aus Männern und Käsen bekam man schließlich nicht alle Tage zu sehen. Und womöglich waren da ja auch noch ein paar wirklich interessante Verletzungen zu bestaunen.
Tiffany, die froh war, helfen zu können, brauchte sich nicht erst lange zu den Opfern durchzukämpfen. Vor dem spitzen schwarzen Hut teilte sich die Menge schneller als die Fluten eines seichten Meeres vor einem heiligen Mann. Zuerst verscheuchte sie die Schaulustigen, wobei sie den Begriffsstutzigeren unter ihnen mit ein paar Rippenstößen nachhelfen musste. Zum Glück war das Gemetzel in diesem Jahr nicht allzu blutig ausgefallen: nur ein gebrochener Arm, ein gebrochenes Handgelenk, ein gebrochenes Bein und jede Menge Schrammen, Beulen und Schürfwunden, die bei der Schlitterpartie am Hang entstanden waren – Gras ist nicht unbedingt jedem Menschen grün. Mehreren jungen Männern, die offenbar große Schmerzen litten, aber nicht willens waren, ihre Verletzungen mit einem weiblichen Wesen zu erörtern, gab Tiffany den Rat, die betroffenen Stellen zu Hause mit kalten Umschlägen zu behandeln, und sah ihnen nach, wie sie krummbeinig davonwackelten.
Tiffany konnte mit sich zufrieden sein. Unter den neugierigen Blicken der Menge hatte sie ihr Können unter Beweis gestellt und sich – nach allen Bemerkungen, die sie ringsum aufschnappte – durchaus achtbar geschlagen. Vielleicht war es nur Einbildung, dass ein, zwei Leute ein verlegenes Gesicht machten, als ein alter Mann, dem der Rauschebart bis zur Hüfte hing, mit einem Grinsen zu ihr sagte: »Ein Mädel, das Knochenbrüche richten kann, kriegt bestimmt noch einen Kerl ab«, aber das ging vorbei. Als es nichts mehr zu gaffen gab, stiegen die Menschen den Hügel langsam wieder hinauf … Doch dann fuhr die Kutsche vorbei und – was noch viel schlimmer war – hielt an.
An der Tür prangte das Wappen der Familie Souvenir. Ein junger Mann stieg aus, auf seine Art nicht unansehnlich, aber so steif, dass man auf ihm Hemden hätte bügeln können. Das war Roland. Er war erst einen Schritt weit gekommen, als eine scharfe Stimme aus dem Inneren der Kutsche hinter ihm herschnarrte, was ihm denn einfalle, den Wagenschlag selbst zu öffnen. Für so etwas habe man schließlich Lakaien. Außerdem solle er sich gefälligst sputen, man habe ja nicht den ganzen Tag Zeit.
Der junge Mann hastete auf die Dorfbewohner zu, die sich eilig den Staub von der Kleidung klopften. Immerhin war er der Sohn des Barons, dem der größte Teil des Kreidelands und darin fast jedes Haus gehörte. Obwohl der Baron ein durchaus väterlicher Landesvater war, konnte es sicher nicht schaden, seiner Familie etwas Höflichkeit entgegenzubringen …
Junge Dame?
So weit, so gut. Doch jetzt öffnete sich die Tür der Kutsche ein zweites Mal, und ein weißes Füßlein senkte sich hinunter auf den Feuerstein. Das war sie: Lappalia – oder Larifaria? Tiffany wusste natürlich ganz genau, dass sie Lätitia hieß, aber eine klitzekleine, noch dazu unausgesprochene Bosheit musste ihr doch wohl erlaubt sein. Lätitia! Was für ein Name. Läppisch, lästig, lächerlich. Und wie kam diese Lätitia überhaupt dazu, Roland vom Jäte-Jahrmarkt fernzuhalten? Er gehörte dorthin! Sein Vater hätte sich den Besuch sicher nicht nehmen lassen, wenn er dazu imstande gewesen wäre! Und dann noch diese Schuhe, beziehungsweise Schühchen! So weiß und zierlich! Wie lange würden die wohl halten, wenn ihre Trägerin einer geregelten Arbeit nachgehen müsste? Tiffany zügelte sich: Eine kleine Bosheit musste reichen.
Lätitia warf einen furchtsamen Blick auf Tiffany und die Menge und sagte zu Roland: »Lass uns fahren, ja? Mutter wird schon ungeduldig.«
Die Kutsche rollte weiter, der Leierkastenmann zog ab, die Sonne ging unter. Einige Menschen verweilten noch ein wenig in den warmen Schatten der Abenddämmerung, aber Tiffany flog allein nach Haus – so hoch, dass nur die Fledermäuse und Eulen ihr Gesicht sehen konnten.