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Stephen Baxter: Transzendenz
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Titel der englischen Originalausgabe
TRANSCENDENT
Deutsche Übersetzung von Peter Robert
Redaktion: Angela Kuepper
Copyright © 2005 by Stephen Baxter
Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
www.heyne.de
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-08768-5
V002
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Der Autor
Widmung
ERSTER TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
ZWEITER TEIL
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
DRITTER TEIL
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Copyright

Der Autor

Der Engländer Stephen Baxter, geboren 1957, zählt zu den weltweit bedeutendsten Autoren naturwissenschaftlich-technisch orientierter Science Fiction. Aufgewachsen in Liverpool, studierte er Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Baxter lebt und arbeitet in Buckinghamshire.

1

Das Mädchen aus der Zukunft hat mir erzählt, der Himmel sei voller sterbender Welten.

Man kann sie aus weiter Ferne sehen, wenn man weiß, wonach man Ausschau halten muss. Wird ein Stern alt, so heizt er sich auf, die Meere seiner Planeten verdunsten, und man sieht die Wasserstoff- und Sauerstoffwolken, die sich langsam zerstreuen. Sterbende Welten, in die Überreste ihrer Meere gehüllt, wie faules Obst in den Spiralarmen der Galaxis hängend: Das werden die Menschen vorfinden, wenn sie irgendwann einmal von der Erde ins All aufbrechen. Ruinen, Museen, Mausoleen.

Wie seltsam. Wie traurig.

Mein Name ist Michael Poole.

 

Ich bin nach Florida heimgekehrt. Allerdings nicht ins Haus meiner Mutter, das zunehmend Gefahr läuft, ins Meer zu rutschen.

Ich habe eine kleine Wohnung in Miami bezogen. Ich bin gern unter Menschen, höre gern den Klang ihrer Stimmen. Manchmal vermisse ich den Verkehrslärm, das scharfe Kratzen der Flugzeuge am Himmel, die Geräusche meiner Vergangenheit. Aber das Lachen der Kinder entschädigt mich dafür.

Das Wasser steigt noch immer. Es gibt viel Elend in Florida, viele Umsiedlungen. Ich verstehe das. Aber irgendwie mag ich das Wasser, die allmähliche Auflösung des Staates in einen Archipel. Der langsame, jeden Tag, jede Woche unterschiedlich starke Anstieg des Wasserspiegels gemahnt mich daran, dass nichts so bleibt, wie es ist, dass die Zukunft kommt, ob es uns nun gefällt oder nicht.

Die Zukunft und die Vergangenheit begannen mein Leben im Frühling des Jahres 2047 zu komplizieren, als ich einen zornigen Anruf meines älteren Bruders John erhielt. Er war hier, in unserem Haus in Miami Beach. Ich solle »heimkommen«, wie er sich ausdrückte, und ihm helfen, »Mom zur Vernunft zu bringen«. Natürlich flog ich hin. 2047 war ich zweiundfünfzig Jahre alt.

Als Kind war ich glücklich in Florida, in meinem Elternhaus. Natürlich hatte ich meistens ein Buch oder ein Spiel vor der Nase oder tat so, als wäre ich »Ingenieur«, und bastelte unablässig an meinem Rad oder meinen Inline-Skates herum. Die Welt außerhalb meines eigenen Kopfes nahm ich kaum wahr. Vielleicht ist das auch heute noch so.

Aber ganz besonders liebte ich den Strand hinter dem Haus. Vergessen Sie nicht, dies waren die neunziger Jahre des zwanzigsten oder die ersten Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als es in diesem Teil von Florida noch einen Strand gab. Ich weiß noch, wie ich immer von unserer Veranda mit ihren großen, ans Dach montierten Hängeschaukeln auf den Kiesweg zu den niedrigen Dünen trat und weiter zum Sandstrand hinunterging. Wenn man dort saß, konnte man Raumfähren und andere Wunder der Raketentechnik auf Cape Canaveral beobachten, die wie auffahrende Seelen in den Himmel stiegen.

Meistens sah ich mir diese Starts alleine an. Außer mir interessierte sich in meiner Familie niemand dafür. Aber einmal, ich glaube, so um das Jahr 2005 herum, besuchte uns mein Onkel George, der Bruder meiner Mutter aus England, und er kam mit mir hinaus, um sich einen nächtlichen Start anzusehen. Er wirkte so steif und alt, dass er kaum in der Lage schien, sich nieder ins struppige Dünengras zu setzen. Dabei war er damals wohl erst in den Vierzigern. George arbeitete in der Informationstechnologie; er war so eine Art Ingenieur, also eine verwandte Seele.

Natürlich ist das alles längst Vergangenheit. Die altehrwürdigen Startrampen, von denen sie zum Mond geflogen sind, wurden wegen der Klimaerwärmung, des ansteigenden Meeresspiegels, der unablässigen Stürme über dem Atlantik aufgegeben; Canaveral ist jetzt ein Themenpark hinter einem Deich. Ich glaube, ich hatte Glück, dass ich mir mit zehn Jahren solche Sachen anschauen konnte. Es war, als hätte sich die Zukunft in die Gegenwart zurückgefaltet.

Was hätte der zehnjährige Michael Poole wohl gedacht, wenn er gewusst hätte, was mir das Mädchen aus der Zukunft über all diese alten und sterbenden Welten dort draußen erzählt hat, die im All auf uns warten?

Und was hätte er wohl von der Transzendenz gehalten?

 

Irgendwie denke ich die ganze Zeit über diese seltsamen Ereignisse nach, über meinen Kontakt mit der Transzendenz. Es ist wie eine Sucht, etwas, dessen man sich ständig bewusst ist, das unmittelbar unter der Oberfläche vor sich hin brodelt, ganz gleich, auf welche Weise man sich abzulenken versucht.

Und doch kann ich mich nur noch an so wenig erinnern. Es ist so ähnlich, als jage man nach dem Erwachen einem Traum nach; je tiefer man sich auf ihn konzentriert, desto mehr schmilzt er dahin.

Mittlerweile habe ich mir Folgendes zusammengereimt:

Die Transzendenz ist unsere Zukunft – oder jedenfalls eine Zukunft. Eine ferne Zukunft. Die Transzendenten hatten sich zu etwas unvorstellbar Machtvollem entwickelt (oder werden es tun). Und nun standen sie auf der Schwelle, kurz vor dem Sprung zu etwas ganz und gar Neuem. Danach würden sie einen Zustand erreichen, den wir für Göttlichkeit halten würden  – oder sie würden sich einem Feind geschlagen geben, von dem ich kaum auch nur einen flüchtigen Blick erhascht habe. So oder so würden sie nicht mehr menschlich sein.

Aber momentan, diesseits der Schwelle, waren sie noch menschlich. Und sie wurden von einer sehr menschlichen Trauer geplagt, einer Trauer, die überwunden werden musste, bevor sie ihre Menschlichkeit endgültig ablegten. In diesen seltsamen inneren Konflikt war ich hineingezogen worden.

Meine Arbeit zur Abwehr der Klimakatastrophe ist allgemein bekannt. Aber niemand weiß, dass ich mit etwas viel Größerem zu tun hatte: mit den Qualen eines im Entstehen begriffenen übermenschlichen Geistes der fernen Zukunft, der kulminierenden Logik unseres kollektiven Schicksals.

Die Zukunft, die sich in die Gegenwart zurückfaltet. Jener Zehnjährige am Strand hätte es wahrscheinlich toll gefunden, wenn er es gewusst hätte. Im Rückblick ängstigt es mich auch jetzt noch zu Tode.

Aber vermutlich war ich schon damals mit den Gedanken woanders gewesen. Denn ich hatte an jenem Strand etwas noch viel Bemerkenswerteres gesehen als ein startendes Raumschiff.

 

Die Frau, die manchmal zum Strand kam, war schlank und hoch gewachsen, mit langen, rotblonden Haaren. Sie winkte und lächelte mir immer zu, und manchmal rief sie etwas zu mir herüber, aber wegen des Wellenrauschens und des Möwengeschreis konnte ich ihre Worte nie verstehen. Sie schien sich immer am Rand des Wassers aufzuhalten, und die Sonne stand jedes Mal so tief, dass ihr Licht das Meer sprenkelte wie brennendes Öl und ich die Augen zusammenkneifen musste, um die Frau zu sehen – oder sie tauchte an einer anderen, gleichermaßen problematischen Stelle auf, verborgen vom Licht.

Als ich noch klein war, besuchte sie mich gelegentlich, nicht regelmäßig, vielleicht einmal im Monat. Ich hatte nie Angst vor ihr. Sie wirkte immer freundlich. Manchmal, wenn sie mir etwas zurief, winkte ich zurück, oder ich rief auch etwas, aber das Rauschen der Wellen war stets zu laut. Ein paar Mal lief ich ihr nach, aber es ist sehr anstrengend, in weichem, nassem Sand zu laufen, selbst wenn man erst zehn ist. Auch wenn ich noch so schnell rannte, ich schien nie näher an sie heranzukommen. Und sie zuckte die Achseln und trat zurück, und wenn ich den Blick abwandte, war sie fort.

Erst viel später fand ich heraus, wer sie war und wie wichtig sie einmal für mich sein würde.

Onkel George hat sie nicht gesehen, als er dieses eine, einzige Mal am Strand einen Raumschiffstart beobachtet hat. Ich wünschte, er hätte es getan. Ich hätte gern mit ihm darüber gesprochen. Mit zehn wusste ich nicht viel über Geister; jetzt weiß ich nur wenig mehr. George wusste vieles, und er war ein aufgeschlossener Mensch. Vielleicht hätte er mir eine simple Frage beantworten können: Kann man von Geistern verfolgt werden, die nicht aus der Vergangenheit kommen, sondern aus der Zukunft?

Die mysteriöse Frau am Strand, die während meiner gesamten Kindheit und Jugend in unregelmäßigen Abständen zu mir kam, war nämlich mein erster Besuch aus der Zukunft. Es war Morag, meine tote Frau.

Die Zukunft, die sich in die Gegenwart zurückfaltet.

2

Das Mädchen aus der Zukunft hieß Alia.

Sie war auf einem Sternenschiff geboren, fünfzehntausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Sie lebte eine halbe Million Jahre nach Michael Pooles Tod. Und dennoch wuchs sie praktisch mit Michael und all seinen Angehörigen auf.

Sie hatte sein Leben beobachtet, fast seit ihre Mutter und ihr Vater sie aus den Geburtsbehältern heimgebracht hatten, als ihre Hände und Füße noch nichts anderes hatten greifen können als das Fell auf der Brust ihrer Mutter und die Welt ein undifferenzierter Ort aus hellen, leuchtenden Formen und lächelnden Gesichtern gewesen war. Michael Poole war schon damals für sie da gewesen, von Anfang an.

Doch nun war sie fünfunddreißig, fast alt genug, um als Erwachsene zu gelten. Michael Poole war ein Relikt aus der Kindheit, sein kleines Leben wie eine Lieblingsgeschichte, die sie sich wieder und wieder anhörte. Immer, wenn sie Trost suchte, wandte sie sich ihm zu. Aber er war ein kleiner, sentimentaler Teil ihrer Welt; seine Geschichte lag im Beobachtungstank versteckt und blieb manchmal tagelang unbeachtet.

Alias derzeitige Lieblingsbeschäftigung war das Skimmen.

 

Sie traf ihre Schwester im Maschinenraum, in den tiefsten Eingeweiden der Nord, wo ungeschlachte, anonyme Maschinen in stahlgrauem Licht aufragten. Die Schwestern standen sich gegenüber und lachten in freudiger Erwartung dessen, was gleich passieren würde.

Drea war nackt, ebenso wie Alia; so konnte man am besten skimmen. Dreas von goldenen Haaren bedeckter Körper war hübsch proportioniert; ihre Arme waren nicht viel kürzer als ihre Beine, und mit ihren nicht ganz fingerlangen Zehen konnte sie Dinge greifen und manipulieren. Es war natürlich ein Körper, der für die Schwerelosigkeit und das Hochvakuum geschaffen war, die natürliche Umgebung der Menschheit, aber man glaubte, dass dieser Körperbau weitgehend dem der ursprünglichen Menschen auf der alten Erde glich. Drea war zehn Jahre älter als Alia. Die Schwestern sahen sich sehr ähnlich, aber Drea wirkte gesetzter und Alia ein wenig lockerer. Während sich das Licht änderte, glitten Mehrfachlider über Dreas Augen.

Drea beugte sich vor, und Alia roch ihren frischen Atem. »Fertig?«

»Fertig.«

Drea fasste Alia an den Händen. »Drei, zwei, eins …«

Plötzlich befanden sie sich im Landwirtschaftsdeck der Nord.

Dies war eine hohe, dunstige Halle, durch deren Decke sich riesige Rohre und Leitungen herabschlängelten. Lampen warfen einen kühlen blauen Lichtschein, und grüne Pflanzen wuchsen in Hydrokulturtanks mit durchsichtigen Wänden. Die Nord war ein Sternenschiff, eine geschlossene Ökologie. Die großen Rohre beförderten Abwasser und verbrauchte Luft von den Wohndecks oben hierher und transportierten Nahrung, Luft und sauberes Wasser zurück.

Alia atmete tief ein und aus. Nach der kalten, statischen Kargheit des Maschinenraums war sie auf einmal von der lebensprühenden Wärme der »Farm« umgeben, wie sie diesen Raum nannten, und die gewaltigen Mengen an Flüssigkeit und Luft, die herein- und hinausgepumpt wurden, ließen die Bodenplatten dumpf vibrieren. Selbst die Schwerkraft fühlte sich hier auf subtile Weise anders an. Alia hatte nichts vom Skimmen gespürt: Während eines Skims verging keine Zeit, deshalb gab es auch keine Zeit für Sinneswahrnehmungen. Aber der Übergang selbst war sehr angenehm, ein Schwall neuer Empfindungen, als spränge man aus kalter Luft in ein Becken mit warmem Wasser.

Und das war erst der Anfang.

Dreas Augen glänzten. »Diesmal mit Sprung. Drei, zwei, eins …« Die Schwestern streckten die langen Zehen und segelten in die Luft hinauf, und am Scheitelpunkt ihres koordinierten Sprungs verschwanden sie abrupt.

Weiter eilten die Schwestern, zu all den vielen Decks der Nord; sie materialisierten flimmernd in Parks, Schulen, Museen, Sporthallen und Theatern. Überall blieben sie nur ein paar Sekunden, gerade lange genug, um sich in die Augen zu schauen, sich über ihre nächste Aktion zu verständigen und diese mit einem Sprung, einer Pirouette oder einem Purzelbaum einzuleiten. Es war tatsächlich eine Art Tanz; die Herausforderung bestand darin, die Genauigkeit jedes Skims und die spiegelbildliche Präzision ihrer Positionen und Bewegungen bei jedem Auftauchen zu kontrollieren.

Skimmen – willensgesteuerte Teleportation – war so leicht, dass kleine Kinder es lange vor dem Laufen lernten. Alias Körper bestand aus Atomen, die in Molekülen gebunden waren, aus elektrischen und Quantenunschärfe-Feldern. Alias Körper war sie. Aber ein Kohlenstoffatom war beispielsweise identisch mit einem anderen – absolut identisch in seiner Quantenbeschreibung – und konnte darum ausgetauscht werden, ohne dass sie etwas davon bemerkte. Sie war nur ein Ausdruck einer zeitweiligen Ansammlung von Materie und Energie, so wie Musik ein Ausdruck ihrer Partitur ist, ungeachtet des Mediums, in dem diese geschrieben ist. Für Alia spielte das allerdings überhaupt keine Rolle.

Und wenn man es einmal begriffen hatte, war leicht einzusehen, dass sie, Alia, ebenso gut von einem Haufen Atome dort drüben wie hier herüben ausgedrückt werden konnte. Es war im Grunde nur eine Frage des Willens, der bewussten Entscheidung, mit freundlicher Unterstützung der Nanomaschinen in ihren Knochen und ihrem Blut. Und nur sehr wenig, was Alia wollte, wurde ihr verweigert.

Die meisten Kinder skimmten, sobald sie herausfanden, dass sie es konnten. Erwachsenen fiel es schwerer, oder sie gaben es auf, wie sie das Laufen und Klettern aufgaben. Aber nur wenige gleich welcher Altersstufe skimmten so geschickt wie Alia und Drea. Überall, wo die Schwestern erschienen und erschrockene Vögel aufscheuchten, bedachten die Jüngeren sie mit neidischen Blicken, und die Älteren lächelten nachsichtig und versuchten ihr Bedauern zu verbergen, dass sie nie wieder so anmutig würden tanzen können.

Und jedes Mal hingen unmittelbar nach dem Verschwinden der Mädchen zwei silbrige Staubwolken, die noch immer die Umrisse der beiden Schwestern zeigten, bleich und durchsichtig in der Luft. Doch in den künstlichen Brisen des Schiffes lösten sich diese Chimären von unbewohnter Materie rasch auf.

 

In einem letzten, großen Skim sprangen die Mädchen ganz aus der Nord heraus.

Alia spürte die Spannung des Vakuums in ihrer Brust; die harte Strahlung brannte so herrlich in ihrem Gesicht wie eine Eiswasserdusche auf bloßer Haut. Da ihre Lungen fest verschlossen waren und der Dunst aus Biomolekülen und Nanomaschinen, der ihren Körper erfüllte, eifrig nach Schäden suchte, bestand keine Gefahr für sie.

Überall um die Schwestern herum waren Sterne, über ihnen, unter ihnen, zu allen Seiten; sie hingen im dreidimensionalen Raum. In einer Richtung bahnte sich ein grelleres, kräftigeres Licht seinen Weg durch den dicken Sternenschleier. Das war der Kern, das Zentrum der Galaxis. Die Nord war rund fünfzehntausend Lichtjahre vom Zentrum entfernt, ungefähr halb so weit wie Sol, die Sonne der Erde. Nur ausgefranste Staub- und Gaswolken lagen vor dieser aufgeblähten Lichtmasse, und wenn man genau hinsah, konnte man Schatten von tausend Lichtjahren Länge erkennen.

Alia schaute auf die Nord hinunter, ihre Heimat.

Das Schiff unter ihr war eine komplexe Skulptur aus Eis, Metall und Keramik, die sich langsam im fahlen Licht der Galaxis drehte. Man konnte die ursprüngliche Form des Raumfahrzeugs noch andeutungsweise erkennen, einen dicken Torus mit einem Durchmesser von ungefähr einem Kilometer. Aber diese Grundstruktur war überbaut, ausgehöhlt und erweitert worden, bis ihre Konturen unter einem Wald aus Parabolantennen, Manipulatorarmen und Sensorkapseln verschwunden waren. Eine Wolke grün und blau leuchtender, halbautonomer Behausungen schwamm träge ums Schiff: Es waren die Heimstätten der Reichen und Mächtigen, die der Nord wie ein Fischschwarm folgten.

Mit ineinander verschränkten Händen drehten sich die Schwestern langsam umeinander; ihr Restschwung drückte sich in einer langsamen Kreisbahn aus. Komplexes Sternenlicht spielte über Dreas lächelndes Gesicht, aber ihre Augen waren hinter den multiplen Membranen verborgen, die schützend über die feuchten Oberflächen glitten. Alia genoss den Augenblick. In jüngeren Jahren waren die Schwestern füreinander die wichtigsten Menschen an Bord der Nord gewesen. Doch nun wurde Alia allmählich erwachsen. Dies war ein Wendepunkt in ihrem Leben, eine Zeit der Veränderung – und der Gedanke, dass es vielleicht nicht mehr allzu viele solche Momente geben könnte, machte ihn umso schöner.

Doch Alia wurde von einer leisen Stimme abgelenkt, einem Flüstern in ihrem Ohr.

Ihre Mutter rief sie. Komm nach Hause. Du hast Besuch …

Besuch? Alia runzelte die Stirn. Wer von den Leuten, die sie besuchen würden, konnte so wichtig sein, dass ihre Mutter sie rief? Niemand von ihren Freundinnen und Freunden; die konnten alle warten. Aber ihre Mutter hatte irgendwie ernst geklungen. Etwas hatte sich während ihres Tanzes durch die Nord verändert, dachte Alia. Drea hielt ihre Hände fest; ihre Miene war komplex, besorgt. Sie wusste etwas, erkannte Alia und verspürte eine Aufwallung von Liebe zu ihrer Schwester, der Gefährtin ihrer Kindheit. Doch auf einmal gab es eine kaum wahrnehmbare Barriere zwischen ihnen.

Sie trieben aufeinander zu und skimmten ein letztes Mal. Wie ein Beckenschlag gingen ihre Körper ineinander über, die Atome und Elektronen, Felder und Quantenunschärfen verschmolzen. Natürlich wurde diese Verschmelzung missbilligt; sie war ein gefährliches Kunststück. Aber für Alia war es herrlich, vom innersten Wesen ihrer Schwester umfangen zu sein, sie unter dem Herzen zu tragen; alles an ihnen war zu einer einzigen wolkigen Masse vereint, alles bis auf eine reliktartige Spur der Getrenntheit in ihren Seelen. Es war noch intimer als Sex.

Aber es dauerte nur eine Sekunde. Nach Luft schnappend, skimmten sie auseinander und schwebten Seite an Seite. Und nun, wo dieser Moment ozeanischer Nähe vergangen war, kehrte Alias nagende Sorge zurück.

Komm, wir müssen heim, sagte Drea.

Die Schwestern trudelten zu den hellen, komplizierten Lichtern der Nord hinab.