Antal Szerb

Reise im Mondlicht

Roman

 

Aus dem Ungarischen von Christina Viragh

Mit einem Nachwort von Péter Esterházy

Vollständige Ausgabe

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2003 der deutschsprachigen Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978-3-423-40150-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13620-4

 

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Der Verlag dankt dem Fonds für Übersetzungsförderung der Stiftung Ungarisches Buch in Budapest für die freundliche Unterstützung der vorliegenden Übersetzung.

Inhalt

Erster Teil: Hochzeitsreise

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Zweiter Teil: Der Flüchtige

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Dritter Teil: Rom

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Vierter Teil: Das Höllentor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Und solange man lebt…

Erster Teil

Hochzeitsreise

Gesetz und Regel halt ich widerwillig ein.

Und was kommt jetzt?

Ich warte auf den Lohn für meine Mühn,

Willkommen und verstoßen wie ich bin.

François Villon

1

In der Eisenbahn ging noch alles gut. Es begann in Venedig, mit den Gäßchen.

Schon als sie mit dem Motoscafo vom Bahnhof stadteinwärts fuhren und vom Canal Grande in einen Seitenkanal abbogen, fielen Mihály an beiden Ufern die Gäßchen auf. Er achtete zwar noch nicht besonders auf sie, völlig eingenommen, wie er war, von der Venedighaftigheit Venedigs. Vom Wasser zwischen den Häusern, von den Gondeln, der Lagune, der rostrot-rosa Heiterkeit der Stadt. Mihály war nämlich zum ersten Mal in Italien, mit sechsunddreißig Jahren, auf der Hochzeitsreise.

Im Lauf seiner lang geratenen Wanderjahre war er weit herumgekommen, hatte in England und Frankreich gelebt, doch um Italien hatte er immer einen Bogen gemacht, im Gefühl, daß die Zeit dafür noch nicht reif, er noch nicht so weit sei. Italien gehörte für ihn zu den Erwachsenendingen, wie das Zeugen von Nachkommen, und heimlich hatte er Angst davor, so wie er auch vor starkem Sonnenschein, Blumenduft und sehr schönen Frauen Angst hatte.

Wenn er nicht geheiratet und beschlossen hätte, ein regelrechtes, mit einer italienischen Hochzeitsreise beginnendes Eheleben zu führen, dann hätte er diese Reise vielleicht bis zu seinem Lebensende aufgeschoben. Auch jetzt war es keine Italienreise, sondern eine Hochzeitsreise,also etwas ganz anderes. So,als Ehemann, durfte er herkommen. So war er von der Gefahr, die Italien darstellte, nicht bedroht. Dachte er.

Die ersten Tage verliefen friedlich, zwischen ehelichen Freuden und gemäßigter Stadtbesichtigung. Nach der Art kolossal intelligenter und selbstkritischer Menschen bemühten sich Mihály und Erzsi, den richtigen Mittelweg zwischen Snobismus und Antisnobismus zu finden. Sie rissen sich kein Bein aus, um alles zu tun, was der Baedeker vorschreibt, aber noch weniger gehörten sie zu den Leuten, die nach Hause fahren und einander stolz ansehen, während sie lässig bemerken: Ach, die Museen … na, da waren wir natürlich nicht.

Eines Abends, als sie nach dem Theater ins Hotel zurückkehrten, hatte Mihály das Gefühl, er würde ganz gern noch etwas trinken. Was, das wußte er nicht so genau, am ehesten war ihm nach einem süßen Wein zumute. Er erinnerte sich an den eigenartigen, klassischen Geschmack des Samosweins, den er in Paris, in einer kleinen Weinhandlung in der Rue des Petits Champs 7, oft getrunken hatte, und er überlegte sich, daß Venedig ja schon halbwegs Griechenland war und man bestimmt Wein von Samos oder vielleicht Mavrodaphne bekam, denn mit den italienischen Weinen kannte er sich nicht aus. Er bat Erzsi, allein hinaufzugehen, er komme gleich nach, er wolle nur rasch etwas trinken – wirklich nur ein Glas, sagte er mit gespieltem Ernst, denn Erzsi hatte ihn, ebenfalls scheinernst, zu Mäßigkeit ermahnt, wie es sich für die junge Ehefrau gehört.

Er entfernte sich vom Canal Grande, an dem das Hotel stand, und geriet in die Gassen um die Frezzeria, wo auch jetzt noch viele Leute unterwegs waren, mit der seltsamen Ameisenhaftigkeit, wie sie die Bewohner dieser Stadt charakterisiert. Die Menschen bewegen sich hier immer nur entlang bestimmter Linien, wie die Ameisen, wenn sie den Gartenweg überqueren. Die anderen Gassen bleiben leer. Auch Mihály hielt sich an eine Ameisenstraße, weil er sich ausrechnete, daß die Bars und Fiaschetterien an den belebten Orten lagen und nicht im unsicheren Halbdunkel der leeren Gassen. Er fand auch zahlreiche Lokale, wo man trinken konnte, aber irgendwie paßte ihm keins. An jedem stimmte etwas nicht. Im einen saßen zu elegante Leute, im anderen zu einfache, und mit keinem konnte er das Getränk, das er suchte, in einen Zusammenhang bringen. Das hatte irgendwie einen heimlicheren Geschmack. Er begann sich einzureden, es gebe in Venedig nur ein einziges Lokal, wo man jenen Wein bekäme, und er müsse den Ort instinktiv finden. So geriet er in die Gäßchen hinein.

Ganz enge Gäßchen mündeten in ganz enge Gäßchen, und in welche Richtung er auch ging, wurden diese Gäßchen immer noch enger und noch dunkler. Wenn er die Arme ausbreitete, konnte er links und rechts die Hauswände berühren, die schweigenden Häuser mit den großen Fenstern, hinter denen sich, dachte er, ein geheimnisvolles und intensiv italienisches Leben abspielte. So nah abspielte, daß es fast schon indiskret war, nachts hier entlangzugehen.

Was war das für eine merkwürdige Bezauberung, was für eine Ekstase, die ihn hier überkam, warum hatte er das Gefühl, endlich heimgekehrt zu sein? Vielleicht hatte er als Kind von so etwas geträumt – als das Kind, das in einer Villa mit Garten gewohnt, sich aber vor zu großer Geräumigkeit gefürchtet hatte –, oder vielleicht hatte er sich als Halbwüchsiger nach Enge gesehnt, nach Orten, wo jeder halbe Quadratmeter seine eigene Bedeutung hat, wo zehn Schritte schon eine Grenzüberschreitung darstellen und wo man Jahrzehnte an einem wackligen Tisch oder sein ganzes Leben in einem Sessel verbringt. Vielleicht, nicht sicher.

Jedenfalls irrte er in den Gäßchen umher, bis er plötzlich merkte, daß der Morgen kam und er auf der anderen Seite von Venedig war, am Neuen Ufer, wo man auf die Friedhofsinsel hinüberblicken kann und auf die weiter entfernten geheimnisvollen Inseln, auf San Francesco in Deserto, wo einst die Leprakranken gehaust haben, und noch weiter weg auf die Häuser von Murano. Am Neuen Ufer wohnen die armen Venezianer, die von den Segnungen des Tourismus höchstens indirekt erreicht werden, hier ist das Krankenhaus, und von hier legen die Gondeln der Toten ab. Das Viertel begann sich zu regen, einige gingen schon zur Arbeit, und die Welt war unermeßlich öde, wie immer nach einer durchwachten Nacht. Mihály fand eine Gondel, die ihn nach Hause brachte.

Erzsi war schon längst krank vor Aufregung und Müdigkeit.

Erst um halb zwei war ihr in den Sinn gekommen, daß man, so unwahrscheinlich es klingt, auch in Venedig die Polizei anrufen konnte, was sie mit Hilfe des Nachtportiers dann auch tat, selbstverständlich ohne Ergebnis.

Mihály glich noch immer einem Schlafwandler. Er war entsetzlich müde und konnte auf Erzsis Fragen nichts Vernünftiges antworten.

»Die Gäßchen«, sagte er, »einmal muß man doch die Gäßchen bei Nacht gesehen haben, das gehört dazu, auch andere tun das.«

»Aber warum hast du nichts gesagt? Oder mich nicht mitgenommen?«

Mihály wußte keine Antwort, er verkroch sich mit beleidigter Miene ins Bett und schlief verdrossen ein.

Das also ist die Ehe, dachte er, so wenig begreift sie, so hoffnungslos ist jeder Erklärungsversuch? Naja, ich versteh’s ja selbst nicht.

2

Erzsi hingegen schlief nicht, sondern lag mit gerunzelter Stirn und unter dem Kopf verschränkten Armen und dachte nach. Im allgemeinen vertragen die Frauen das Wachen und das Nachdenken besser. Für Erzsi war es weder neu noch überraschend, daß Mihály Dinge tat und sagte, die sie nicht verstand. Eine Zeitlang hatte sie ihr Unverständnis erfolgreich bemäntelt, hatte klugerweise keine Fragen gestellt, sondern getan, als wäre sie sich sowieso über alles im klaren, was mit Mihály zusammenhing. Sie wußte, daß diese schweigende, künstliche Überlegenheit, die Mihály für die angeborene Weisheit der Frauen hielt, das beste Mittel war, ihn an sich zu binden. Mihály war voller Ängste, und Erzsis Aufgabe war es, ihn zu beruhigen.

Aber alles hat seine Grenzen, sie waren ja jetzt ein Ehepaar, auf seriöser Hochzeitsreise, und unter solchen Umständen eine ganze Nacht wegzubleiben war doch seltsam. Einen Augenblick kam ihr der natürliche weibliche Gedanke, daß Mihály bei einer anderen Frau gewesen war, aber sie verwarf ihn gleich wieder, denn das war völlig unvorstellbar. Abgesehen davon, daß die Sache höchst unanständig gewesen wäre, war Mihály mit fremden Frauen vorsichtig und ängstlich, er fürchtete sich vor Krankheiten, es reute ihn das Geld, und überhaupt interessierten ihn die Frauen nur mäßig.

Eigentlich wäre es ganz beruhigend gewesen, wenn Mihály bloß einer Frau nachgelaufen wäre. Dann hätte diese Unsicherheit ein Ende, dieses völlig leere Dunkel, die Unmöglichkeit sich vorzustellen, was Mihály die ganze Nacht getrieben hatte. Und sie dachte an ihren ersten Mann, Zoltán Pataki, den sie Mihálys wegen verlassen hatte. Erzsi hatte immer gewußt, welche Tippmamsell gerade Zoltáns Geliebte war, obwohl er sich krampfhaft, errötend und rührend um Diskretion bemühte, aber je mehr er das tat, um so klarer war die Sache. Bei Mihály war es gerade umgekehrt: Er erklärte jede seiner Gesten peinlich gewissenhaft, war manisch darauf bedacht, daß Erzsi ihn durch und durch kenne, doch je mehr er erklärte, um so verworrener wurde das Ganze. Erzsi wußte seit langem, daß Mihály Geheimnisse hatte, die er sich selbst nicht eingestand, während er auch sie, Erzsi, nicht verstand, weil es ihm gar nicht in den Sinn kam, sich für das Innenleben eines anderen Menschen zu interessieren. Trotzdem hatten sie geheiratet, weil Mihály behauptete, sie beide verstünden sich vollkommen, und ihre Ehe basiere gänzlich auf Vernunft und nicht auf vergänglichen Leidenschaften. Wie lange konnte man an solchen Fiktionen festhalten?

3

Ein paar Abende danach kamen sie in Ravenna an. Am folgenden Morgen stand Mihály sehr früh auf, zog sich an und ging aus dem Hotel. Er wollte sich die byzantinischen Mosaiken, Ravennas berühmteste Sehenswürdigkeit, allein anschauen, denn jetzt wußte er schon, daß er mit Erzsi vieles nicht teilen konnte. Dazu gehörten auch die Mosaiken. Erzsi war in kunstgeschichtlicher Hinsicht viel beschlagener und empfänglicher als er, und sie war auch schon in Italien gewesen, so daß Mihály meistens sie entscheiden ließ, was man zu besichtigen und was man dabei zu denken hatte. Ihn selbst interessierten Bilder nur selten, nur zufällig, in einem Aufblitzen, eins von Tausend. Aber die Mosaiken von Ravenna … das war ein Denkmal seiner eigenen Vergangenheit.

Die Mosaiken hatten sie einst zusammen angeschaut, er, Ervin, Tamás Ulpius und Éva, Tamás’ jüngere Schwester, in einem großen französischen Buch, unerklärlich nervös und geängstigt, an einem Weihnachtsabend bei den Ulpius zu Hause. Im riesigen Nebenzimmer war der Vater von Tamás einsam auf und ab gegangen, sie hatten die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, so betrachteten sie das Buch, und der goldene Hintergrund der Bilder schimmerte ihnen entgegen wie ein Licht unbekannten Ursprungs in der Tiefe eines Minenschachts. An den byzantinischen Bildern war etwas, das ganz unten in ihrer Seele ein Grauen aufwühlte. Um Viertel vor zwölf zogen sie ihre Mäntel an und machten sich verfrorenen Herzens auf den Weg zur Mitternachtsmesse. Dort fiel Éva in Ohnmacht; es war das einzige Mal, daß ihr die Nerven einen Streich spielten. Danach war einen Monat lang alles Ravenna, und für Mihály blieb die Stadt eine undefinierbare Art von Angst. Das alles, jener tief versunkene Monat, erwachte in ihm, als er jetzt in San Vitale vor den wundervollen, hellgrün getönten Mosaiken stand. Seine Jugend kam mit solcher Wucht über ihn, daß ihm schwindlig wurde und er sich an eine Säule stützen mußte. Es dauerte aber nur einen Augenblick, danach war er wieder ein ernster Mensch.

Die anderen Mosaiken interessierten ihn nicht mehr. Er ging ins Hotel zurück, wartete, bis Erzsi fertig war, und dann besichtigten und besprachen sie alle Sehenswürdigkeiten ordnungsgemäß. Mihály sagte natürlich nicht, daß er am frühen Morgen schon in San Vitale gewesen war, er drückte sich ein bißchen verschämt in die Kirche hinein, als ob ihn etwas verraten könnte, und um seine morgendliche Erschütterung zu kompensieren, sagte er, so toll sei das ja gar nicht.

Am Abend des folgenden Tages saßen sie auf der kleinen Piazza vor einem Café, Erzsi aß Eis, Mihály probierte ein unbekanntes bitteres Getränk, das ihm aber nicht schmeckte, und er zerbrach sich den Kopf, womit er den bitteren Geschmack hinunterspülen könnte.

»Fürchterlich, dieser Geruch«, sagte Erzsi. »Wo immer man hingeht in dieser Stadt, riecht man ihn. Ich stelle mir einen Gasangriff so vor.«

»Kein Wunder«, sagte Mihály. »Die Stadt hat einen Leichengeruch. Ravenna ist ein dekadenter Ort, der seit mehr als tausend Jahren verkommt. Der Baedeker sagt das auch. Die Stadt hatte drei Glanzzeiten, die letzte war im achten Jahrhundert nach Christus.«

»Ach was, du Trottel«, sagte Erzsi lächelnd. »Du denkst immer gleich an Tod und Verwesung. Dieser Gestank kommt doch gerade vom Leben, vom Wohlstand:von einer Kunstdüngerfabrik, von der ganz Ravenna lebt.«

»Ravenna lebt vom Kunstdünger? Die Stadt, in der Theoderich der Große und Dante begraben sind, die Stadt, neben der Venedig ein Parvenu ist?«

»Jawohl, mein Lieber.«

»Was für eine Schweinerei.«

In dem Augenblick kam ein Motorrad auf die Piazza gedonnert, und der bebrillte und unglaublich motorradmäßig ausgestattete Fahrer schwang sich herunter wie von einem Pferd. Er schaute um sich, erblickte Mihály und Erzsi und kam geradewegs auf ihren Tisch zu, das Motorrad gewissermaßen an der Hand führend. Beim Tisch angekommen, schob er seine Brille hoch wie das Visier eines Helms, und sagte: »Servus, Mihály. Dich habe ich gesucht.«

Mihály erkannte zu seiner größtenVerwunderung János Szepetneki, und so plötzlich fiel ihm nichts anderes ein als: »Woher weißt du, daß ich hier bin?«

»Im Hotel in Venedig haben sie gesagt, du seist nach Ravenna gefahren. Und wo wäre man in Ravenna nach dem Abendessen, wenn nicht auf der Piazza? Das war wirklich keine Hexerei. Ich bin von Venedig direkt hierhergefahren. Aber jetzt will ich mich ein bißchen setzen.«

»Äh … darf ich dich meiner Frau vorstellen«, sagte Mihály nervös. »Erzsi, dieser Herr ist János Szepetneki, mein ehemaliger Klassenkamerad, von dem ich dir … glaube ich, noch nie erzählt habe.« Und er errötete heftig.

János musterte Erzsi mit unverhüllter Abneigung, verbeugte sich, schüttelte ihr die Hand, wonach er sie nicht mehr zur Kenntnis nahm. Überhaupt sagte er nichts, außer um eine Limonade zu bestellen.

Nach längerer Zeit sagte Mihály:

»Na, red schon. Du hast doch bestimmt einen Grund, mich hier in Italien zu suchen.«

»Ich erzähle es dann. Vor allem wollte ich dich sehen, weil ich gehört habe, daß du geheiratet hast.«

»Ich dachte, du seist mir noch böse«, sagte Mihály. »Das letzte Mal, als wir uns in London in der ungarischen Botschaft getroffen haben, bist du aus dem Saal gelaufen. Aber klar, jetzt hast du keinen Grund mehr, mir böse zu sein«, fuhr er fort, als János nichts erwiderte. »Man wird ernsthaft. Alle werden ernsthaft, und allmählich vergißt man, warum man jemandem jahrzehntelang böse war.«

»Du redest, als wüßtest du, warum ich dir böse war.«

»Natürlich weiß ich es«, sagte Mihály und wurde wieder rot. »Dann sag’s, wenn du’s weißt«, sagte Szepetneki kämpferisch.

»Nicht hier … vor meiner Frau.«

»Das macht mir nichts aus. Sag’s nur ganz tapfer. Warum, meinst du, habe ich dich in London geschnitten?«

»Weil du dich erinnert hast, daß ich einmal dachte, du hättest meine goldene Uhr gestohlen. Inzwischen weiß ich, wer sie gestohlen hat.«

»Da siehst du, was du für ein Esel bist. Die Uhr habe ich gestohlen.«

»Also doch?«

»Na klar.«

Erzsi war schon bis dahin unruhig auf ihrem Platz herumgerutscht, denn mit Hilfe ihrer Menschenkenntnis hatte sie János Szepetnekis Gesicht und Händen längst angesehen, daß er jemand war, der von Zeit zu Zeit eine goldene Uhr stahl, und sie preßte nervös ihre Handtasche mit den Pässen und den Reiseschecks an sich. Schon darüber, daß der sonst so taktvolle Mihály die Uhrengeschichte erwähnt hatte, war sie ziemlich verstimmt, aber die Stille, die jetzt eintrat, war erst recht unerträglich. Unbehaglicher geht’s kaum mehr: Einer sagt dem anderen, er habe ihm die Uhr gestohlen, und dann Schweigen … Sie stand auf und sagte:

»Ich gehe ins Hotel zurück. Die Herren haben ja gewisse Dinge zu besprechen …«

Mihály schaute sie äußerst gereizt an.

»Bleib du nur da. Jetzt bist du meine Frau, jetzt betrifft dich das alles auch.« Und er wandte sich an Szepetneki und schrie ihn an:

»Warum hast du mir dann in London die Hand nicht gegeben?«

»Du weißt schon, warum. Wenn du es nicht wüßtest, wärst du jetzt nicht so wütend. Aber du weißt, daß ich recht hatte.«

»Drück dich verständlich aus.«

»Du verstehst es genauso, einen nicht zu verstehen, wie du es verstanden hast, die nicht zu finden, die verschwunden sind und die du nicht einmal gesucht hast. Deshalb hatte ich eine Stinkwut auf dich.«

Mihály schwieg eine Weile.

»Aber wenn du mich treffen wolltest, bitte, in London haben wir uns getroffen.«

»Ja, aber zufällig. Das zählt nicht. Übrigens weißt du ganz genau, daß es nicht um mich ging.«

»Wenn es um jemand anders ging … den hätte ich umsonst gesucht.«

»Deshalb hast du’s gar nicht erst versucht, was? Obwohl du vielleicht bloß die Hand auszustrecken brauchtest. Aber du hast noch eine Chance. Hör zu. Ich glaube, ich habe Ervin gefunden.«

Mihálys Miene veränderte sich schlagartig. Zorn und Verblüffung wichen einer freudigen Neugier.

»Wirklich? Wo ist er?«

»Genau weiß ich es noch nicht, aber er ist in Italien, in einem Kloster in Umbrien oder in der Toskana. Ich habe ihn in Rom gesehen, in einer Prozession,zwischen vielen Mönchen. Ich konnte nicht zu ihm hin, ich durfte ja nicht stören. Aber da war ein Priester, den ich kenne, und der hat gesagt, das seien Mönche aus einem Kloster in Umbrien oder in der Toskana. Das wollte ich dir sagen. Wenn du schon hier bist, könntest du mir suchen helfen.«

»Ja. Danke. Aber ich weiß nicht, ob ich dir helfen werde. Ich wüßte auch nicht, wie. Und dann bin ich auf der Hochzeitsreise, ich kann nicht sämtliche Klöster Umbriens und der Toskana abklappern. Und ich weiß auch nicht, ob Ervin Lust hat, mich zu treffen. Wenn er mich sehen wollte, hätte er mir schon längst schreiben können, wo er lebt. Und jetzt geh weg, János Szepetneki. Ich hoffe, daß du dich wieder ein paar Jahre lang nicht blicken läßt.«

»Ich geh ja schon. Deine Frau ist eine höchst unsympathische Person.«

»Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten.«

János Szepetneki saß auf sein Motorrad auf.

»Bezahl meine Limonade«, rief er und verschwand in der Nacht.

Das Ehepaar blieb zurück und schwieg lange. Erzsi ärgerte sich, fand die Situation aber auch komisch. Wenn sich Klassenkameraden treffen … Offenbar wurde Mihály von diesen Angelegenheiten aus der Schulzeit tief berührt. Man müßte ihn einmal fragen, wer diese Jugendfreunde waren … obwohl das Ganze überhaupt nicht verlockend klang. Mit Jungen und Halbfertigen konnte Erzsi nicht viel anfangen.

Aber eigentlich ärgerte sie sich über etwas ganz anderes. Nämlich und natürlich darüber, daß sie János Szepetneki so gar nicht gefallen hatte. Nicht, daß es irgendeine Rolle spielte, was so ein … so eine dubiose Existenz von ihr dachte. Aber trotzdem, für eine Frau gibt es auf der Welt nichts Fataleres als die Meinung der Freunde ihres Mannes. Die Männer sind ungeheuer beeinflußbar, wenn es um Frauen geht. Gut, dieser Szepetneki war nicht Mihálys Freund. Jedenfalls kein Freund im konventionellen Sinn des Wortes,aber offenbar war da doch eine starke Bindung. Und überhaupt, in diesen Dingen konnte auch der gräßlichste Typ einen anderen Mann beeinflussen.

Verdammt nochmal, was an mir hat ihm nicht gefallen?

Daran war Erzsi wirklich nicht gewöhnt. Sie war eine reiche, hübsche, gutgekleidete Frau, und die Männer fanden sie attraktiv oder zumindest sympathisch. Daß alle Männer anerkennend von ihr sprachen, spielte eine große Rolle in Mihálys Beziehung zu ihr, das wußte sie. Manchmal dachte sie sogar, Mihály sehe sie gar nicht mit seinen eigenen Augen, sondern mit den Augen der anderen. Als ob er zu sich selbst sagte: Wie sehr würde ich diese Erzsi lieben, wenn ich so wäre wie die anderen Männer. Und jetzt kam so ein Strizzi daher, und dem gefiel sie nicht. Sie konnte nicht anders, sie mußte es erwähnen.

»Sag mir bitte, warum ich deinem Freund, dem Taschendieb, nicht gefallen habe.« Mihály lächelte.

»Ach komm. Nicht du hast ihm nicht gefallen. Es hat ihm nicht gefallen, daß du meine Frau bist.«

»Warum?«

»Weil er denkt, ich hätte um deinetwillen meine Jugend, unsere gemeinsame Jugend, verraten. Ich hätte die vergessen, die … Ich hätte jetzt mein Leben auf andere Beziehungen aufgebaut. Obwohl … Wahrscheinlich wirst du jetzt sagen, ich hätte schöne Freunde. Darauf könnte ich antworten, daß Szepetneki nicht mein Freund ist, aber das wäre natürlich nur eine Ausflucht. Doch, wie soll ich sagen, es gibt auch solche Menschen … Der Uhrendiebstahl war nur eine kindliche Vorübung. Szepetneki ist seither ein erfolgreicher Hochstapler geworden, er hatte auch schon sehr viel Geld, und er hat mir verschiedene Summen aufgedrängt, die ich ihm nicht zurückzahlen konnte, weil ich nicht wußte, wo er sich herumtrieb. Er war auch schon im Gefängnis, und aus Baja hat er mir einmal geschrieben, ich solle ihm fünf Pengő schicken. Von Zeit zu Zeit kreuzt er auf und sagt jedesmal unangenehme Dinge. Aber wie gesagt, es gibt auch solche Menschen. Falls du das nicht wüßtest, hast du jetzt einen gesehen. Sag mal, ließe sich nicht eine Flasche Wein bekommen, die wir im Zimmer trinken könnten? Mir ist das öffentliche Leben, das wir hier auf der Piazza führen, schon verleidet.«

»Das kannst du auch im Hotel bekommen, da ist ja ein Restaurant.«

»Und es gibt dann keinen Skandal, wenn wir die Flasche ins Zimmer mitnehmen? Darf man das?«

»Mihály, mit deiner Angst vor Kellnern und Hoteliers bringst du mich noch ins Grab.«

»Ich habe dir das doch schon erklärt. Ich habe gesagt, daß sie die erwachsensten Menschen der Welt sind und daß ich besonders im Ausland nichts Regelwidriges tun will.«

»Na schön. Aber wieso mußt du schon wieder trinken?«

»Ich muß unbedingt etwas trinken. Weil ich dir erzählen will, wer Tamás Ulpius war und wie er gestorben ist.«