AFRIKA WUNDERHORN
Reihe für zeitgenössische afrikanische Literatur
Herausgegeben von Indra Wussow
Roman
Titel der Originalausgabe:
Jesusalém
© 2009 Mia Couto. Nach Vereinbarung mit Literarische Agentur Mertin
Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main
Lektorat: Corinna Santa Cruz
© 2014 Verlag Das Wunderhorn GmbH
Rohrbacher Straße 18
D-69115 Heidelberg
www.wunderhorn.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gesamtgestaltung: sans serif, Berlin
Umschlagabbildung: © plainpicture
Autorenfoto: © Alfredo Cunha
ISBN 978-3-88423-457-0
Die ganze Weltgeschichte scheint mir oft nichts anderes zu
sein als ein Bilderbuch, das die heftigste und blindeste Sehnsucht
der Menschen spiegelt: die Sehnsucht nach Vergessen.
Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt
Ich bin der einzige Mensch an Bord meines Bootes.
Die anderen sind stumme Ungeheuer,
Tiger und Bären, die ich an die Ruder band,
Und meine Verachtung herrscht über das Meer.
[…]
Und es gibt Augenblicke des Fast-Vergessens
In der unermesslichen Süße der Heimkehr.
Meine Heimat ist dort, wo der Wind geht,
Meine Geliebte ist dort, wo die Rosen blühen,
Mein Begehren ist die Spur, die von Vögeln blieb,
Und nie erwache ich aus diesem Traum noch schlafe ich je.
Sophia de Mello Breyner Andresen
Ich horche, weiß aber nicht,
Ist es Stille, was ich höre,
Oder Gott.
[…]
Sophia de Mello Breyner Andresen
Als ich zum ersten Mal eine Frau sah, war ich elf Jahre alt und auf einmal so hilflos, dass ich in Tränen ausbrach. Ich lebte in einer Einöde, wo es nur fünf Männer gab. Mein Vater hatte dem Ort einen Namen gegeben. Ihn ganz einfach so getauft: »Jesusalem«. Hier würde Jesus sich irgendwann vom Kreuz befreien. Punktum, Schluss.
Mein Vater, Silvestre Vitalício, hatte uns erklärt, die Welt sei untergegangen und wir seien die letzten Überlebenden. Hinter dem Horizont befänden sich nur unbewohnte Gebiete, er nannte sie einfach »Dadraußen«. Kurz gesagt, der ganze Planet sähe so aus: menschenleer, keine Landstraßen und keine Tierfährten. Selbst Büßerseelen seien in diesen entlegenen Landstrichen inzwischen ausgestorben.
Dafür gab es in Jesusalem nur Lebende. Die nicht wussten, was Sehnsucht oder Hoffnung bedeutete, die aber am Leben waren. Wir lebten dort so allein, dass wir nicht einmal Krankheiten bekamen, und ich glaubte, wir seien unsterblich. Um uns herum starben nur Tiere und Pflanzen. Und in der Trockenzeit tat unser namenloser Fluss, ein Wasserlauf hinter unserem Lager, als wäre er versiegt.
Die Menschheit, das waren mein Vater, mein Bruder Ntunzi, ich und Zacaria Kalash, unser Gehilfe, der, wie man sehen wird, kaum vorhanden war. Und sonst niemand mehr. Oder fast niemand. Genau genommen habe ich zwei Halb-Mitbewohner vergessen: die Eselin Jezibela, so menschlich, dass sie die Sexphantasien meines alten Vaters stillte. Und meinen Onkel Aproximado habe ich auch nicht mitgezählt. Er verdient, dass ich ihn erwähne, auch wenn er nicht bei uns im Camp lebte. Er wohnte in der Nähe vom Eingang zum Jagdrevier, jenseits der erlaubten Entfernung, und kam uns nur ab und zu besuchen. Seine Hütte und uns trennten Stunden und wilde Tiere.
Für uns, die Jungen, war ein Besuch von Aproximado immer ein großes Fest, er sorgte für Bewegung in unserem kargen Alltag. Der Onkel brachte Lebensmittel, Kleidung, dringend benötigte Dinge. Mein Vater lief aufgeregt dem Lieferwagen entgegen, auf dem sich die Bestellungen stapelten. Er fing den Besucher ab, bevor das Fahrzeug in die Absperrung rings um die Gebäude eindrang. Dort, am Zaun, musste Aproximado sich waschen, damit er keine Ansteckungen aus der Stadt in die Einfriedung brachte. Er wusch sich mit Erde und Wasser, mochte es kalt sein oder dunkel. Wenn er sich gewaschen hatte, entlud Silvestre den Wagen, er hatte es eilig mit der Übergabe, machte die Verabschiedung kurz. Im Nu, schneller als ein Flügelschlag, verschwand Aproximado vor unserem bangen Blick wieder jenseits des Horizonts.
»Er ist kein direkter Bruder«, rechtfertigte Silvestre sich. »Ich will nicht viel reden, dieser Mann kennt unsere Sitten nicht.«
Unsere Minimenschheit, miteinander verbunden wie die fünf Finger, war doch geteilt: Mein Vater, der Onkel und Zacaria hatten dunkle Haut; Ntunzi und ich waren auch Schwarze, aber unsere Haut war heller.
»Sind wir von einer anderen Rasse?«, fragte ich eines Tages. Mein Vater antwortete:
»Niemand ist von einer Rasse. Rassen«, sagte er, »sind Uniformen, die wir uns überziehen.«
Vielleicht hatte Silvestre recht. Aber ich habe zu spät gelernt, dass diese Uniform mitunter den Menschen an der Seele klebt.
»Das kommt von eurer Mutter Dordalma, dass eure Haut so hell ist. Alminha war ein klein bisschen Mulattin«, erklärte der Onkel.
Die Familie, die Schule, die anderen Menschen, sie alle wählen in uns ein verheißungsvolles Aufleuchten, ein Gebiet, auf dem wir glänzen können. Die einen sind zum Singen geboren, die anderen zum Tanzen, wieder andere sind einfach dazu geboren, andere zu sein. Ich bin zum Stillsein geboren. Meine einzige Berufung ist Schweigen. Mein Vater hat es mir erklärt: Ich habe die Veranlagung, nicht zu sprechen, ein Talent, Stillen einzustimmen. Ganz richtig, ich schreibe Stillen, im Plural. Ja, denn es gibt nicht nur eine einzige Stille. Und jede Stille ist im Entstehen begriffene Musik.
Wenn man mich regungslos und zurückgezogen in meinem unsichtbaren Eckchen sah, war ich nicht erstarrt. Ich war im Einsatz, mit Leib und Seele beschäftigt: Ich spann die zarten Fäden, aus denen man Stille webt. Ich war einer, der die Stille einstimmte.
»Komm her, mein Sohn, komm und hilf mir, still zu sein.«
Am Ende des Tages lehnte der Alte sich im Verandasessel zurück. Und so war es jeden Abend: Ich setzte mich zu seinen Füßen und blickte zu den Sternen hoch oben in der Dunkelheit. Mein Vater schloss die Augen, sein Kopf wankte hin und her, als dirigierte ein Takt seine Ruhe. Dann atmete er tief ein und sagte:
»Das ist die schönste Stille, die ich je gehört habe. Ich danke dir, Mwanito.«
Um richtig still sein zu können, muss man Jahre üben. Ich besaß die natürliche Begabung, als Vermächtnis von einem Vorfahren. Vielleicht hatte ich sie von meiner Mutter Dona Dordalma geerbt, wer konnte das mit Gewissheit sagen? So still war sie, dass es sie nicht mehr gab und es auch nicht auffiel, dass sie nicht mehr unter uns, den leibhaftig Lebenden, weilte.
»Weißt du, mein Sohn, es gibt die Friedhofsstille. Aber die Stille hier auf der Veranda ist anders.«
Mein Vater. Seine Stimme war so verhalten, dass sie nur wie eine Abwandlung von Stille wirkte. Er hüstelte, und sein heiseres Husten, ja, das war verborgenes Sprechen, ohne Worte und Grammatik.
Von weitem ahnte man im Fenster des Nachbarhauses eine flackernde Laterne. Bestimmt beobachtete mein Bruder uns. Schuldgefühl nagte in meiner Brust – ich war der Erwählte, der Einzige, der die Nähe mit unserem ewigen Erzeuger teilen durfte.
»Wollen wir Ntunzi nicht rufen?«
»Lass deinen Bruder. Ich bin am liebsten mit dir allein.«
»Aber ich schlafe fast ein, Vater.«
»Bleib nur noch ein bisschen. Es ist nämlich Wut, so viel aufgestaute Wut. Ich muss diese Wut ersticken, bring es aber nicht übers Herz.«
»Was für eine Wut ist das, Vater?«
»Viele Jahre lang habe ich wilde Bestien genährt und geglaubt, es seien zahme Schoßtiere.«
Ich klagte, ich sei müde, aber er schlief ein. Ich ließ ihn in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, kopfnickend sitzen und ging zurück in unser Zimmer, wo Ntunzi auf mich wartete. Mein Bruder sah mich halb neidisch, halb mitleidig an:
»Wieder dieses Geschwätz von der Stille?«
»Sag das nicht, Ntunzi.«
»Der Alte ist verrückt. Und das Schlimmste ist, dass er mich nicht mag.«
»Stimmt nicht.«
»Warum ruft er mich dann nie?«
»Er sagt, ich kann die Stille einstimmen.«
»Und das glaubst du? Merkst du nicht, dass es eine dicke Lüge ist?«
»Ich weiß nicht, Bruder, was soll ich machen, wenn er es gern hat, dass ich da sitze, so ganz still?«
»Kapierst du nicht, dass das nur Gerede ist? In Wirklichkeit ist es so, dass du ihn an unsere verstorbene Mutter erinnerst.«
Tausendmal hat Ntunzi mir in Erinnerung gerufen, warum mein Vater mich zu seinem Liebling gewählt hatte. Ein einziger Moment war der Grund dafür: Bei der Beerdigung unserer Mutter konnte Silvestre seine Witwerschaft nicht gleich annehmen, er zog sich in eine Ecke zurück und brach dort in Tränen aus. Da lief ich zu meinem Vater, und er hockte sich hin, um mit mir, dem dreijährigen Knirps, auf einer Höhe zu sein. Ich hob die Arme, und anstatt ihm das Gesicht abzuwischen, legte ich ihm meine kleinen Hände auf die Ohren. Als wollte ich ihn zu einer Insel machen und von allem entfernen, was eine Stimme hatte. Silvestre schloss die Augen in diesem Raum ohne Echo, und er sah, dass Dordalma nicht gestorben war. Seine Arme streckten sich blind in das Halbdunkel:
»Alminha!«
Nie wieder hat er ihren Namen ausgesprochen. Auch nie an die Zeit erinnert, in der er mit ihr verheiratet war. Das alles sollte verschwiegen, im Vergessen begraben werden.
»Und du hilfst mir dabei, mein Sohn.«
Für Silvestre Vitalício stand fest, wozu ich berufen war: über diese unheilbare Abwesenheit zu wachen, Dämonen zu hüten, die ihm den Schlaf raubten. Einmal, als wir wieder gemeinsam schwiegen, wagte ich die Frage:
»Ntunzi sagt, ich erinnere dich an unsere Mutter. Stimmt das, Vater?«
»Im Gegenteil, du führst mich von den Erinnerungen weg. Ntunzi, ja, der weckt Kümmernisse von früher.«
»Weißt du, Vater, gestern habe ich von Mutter geträumt.«
»Wie kannst du von jemandem träumen, den du nicht gekannt hast?«
»Gekannt habe ich sie, aber ich kann mich nicht erinnern.«
»Das ist dasselbe.«
»Aber ich erinnere mich an ihre Stimme.«
»Welche Stimme? Dordalma hat fast nie gesprochen.«
»Ich erinnere mich an Ruhe, eine Ruhe, die wie, ich weiß nicht, wie Wasser ist. Manchmal glaube ich, dass ich mich an das Haus erinnere, an die große Ruhe im Haus …«
»Und Ntunzi?«
»Was ist mit Ntunzi, Vater?«
»Sagt er oft, dass er sich an die Mutter erinnert?«
»Es vergeht kein Tag, ohne dass er an sie denkt.«
Mein Vater erwiderte nichts. Er brummelte einen ganzen Haufen Ärger vor sich hin, dann verkündete er mit heiserer Stimme, als wäre er bis auf den Grund seiner Seele gegangen:
»Ich sage jetzt etwas, was ich nie wieder sagen werde: Ihr könnt euch gar nicht erinnern und auch nicht träumen.«
»Aber ich träume, Vater. Und Ntunzi erinnert sich an so vieles.«
»Das ist alles nicht wahr. Was ihr träumt, das habe ich euch in den Kopf gesteckt. Verstanden?«
»Ja, Vater.«
»Und woran ihr euch erinnert, das lasse ich in eurem Kopf aufleuchten.«
Träume sind Gespräche mit den Toten, Reisen in das Reich der Seelen. Aber es gab keine Toten mehr und auch kein Reich der Seelen. Die Welt war untergegangen, und ihr Ende war der endgültige Schluss: der Tod ohne Tote. Das Reich der Verstorbenen war aufgelöst, das Reich der Götter abgeschafft. So sprach mein Vater in einem Atemzug. Noch heute kommt mir diese Erklärung von Silvestre Vitalício düster und wirr vor. Doch damals sagte er nachdrücklich:
»Und deshalb könnt ihr weder träumen noch euch erinnern. Denn ich selbst träume nicht und erinnere mich nicht.«
»Aber Vater, kannst du dich nicht mehr an unsere Mutter erinnern?«
»Nein, weder an sie noch an das Haus, an nichts. Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.«
Dann stand er knurrend auf, um den Kaffee aufzuwärmen. Er bewegte sich wie ein Affenbrotbaum, der seine Wurzeln aus der Erde reißt. Er betrachtete das Feuer, als blickte er in einen Spiegel, schloss die Augen und atmete den duftenden Dampf aus der Kaffeekanne tief ein. Noch immer mit geschlossenen Augen flüsterte er:
»Jetzt gestehe ich eine Sünde: Als du geboren wurdest, habe ich aufgehört zu beten.«
»Sag das nicht, Vater.«
»So ist es aber.«
Die einen haben Kinder, um Gott näher zu sein. Er war zu Gott geworden, seit er mein Vater war. So sprach Silvestre Vitalício. Und er fuhr fort: Die angeblich Traurigen, die nicht allein sein können, glauben, dass ihre Klagen gen Himmel aufsteigen.
»Aber Gott ist taub«, sagte er.
Er machte eine Pause, um die Tasse anzuheben und den Kaffee zu kosten, dann schloss er mit den Worten:
»Selbst wenn er nicht taub wäre, mit welchen Worten kann man zu Gott sprechen?«
In Jesusalem gab es keine Kirche aus Stein und kein Kreuz. Mein Vater machte mein Schweigen zu seiner Kathedrale. Dort wartete er auf die Wiederkehr von Gott.
In Wirklichkeit bin ich nicht in Jesusalem geboren. Ich bin sozusagen aus einem Ort ausgewandert, der keinen Namen, keine Geografie, keine Geschichte hat. Nach dem Tod meiner Mutter, ich war drei Jahre alt, nahm mein Vater meinen älteren Bruder und mich und verließ die Stadt. Er durchquerte Wälder, Flüsse und Wüsten, bis er an einen Ort gelangte, den er für am wenigsten zugänglich hielt. Auf dieser Odyssee begegneten wir Tausenden von Menschen, die in die entgegengesetzte Richtung zogen – sie flohen vor dem Krieg auf dem Land, suchten Zuflucht im Elend der Stadt. Die Leute wunderten sich: Warum schlug sich unsere Familie in die Provinz, dorthin, wo das Land in Flammen stand?
Auf dem Sitz vorn saß zusammengesackt mein Vater. Anscheinend war ihm übel, vielleicht war ihm klar geworden, dass er eher in einem Boot als in einem Fahrzeug auf vier Rädern unterwegs war.
»Das hier ist die motorisierte Arche Noah«, verkündete er, während wir in die alte Klapperkiste einstiegen.
Mit uns auf der Pritsche saß Zacaria Kalash, der ehemalige Soldat, der meinem Vater bei der täglichen Arbeit half.
»Wohin fahren wir?«, fragte mein Bruder.
»Ab jetzt gibt es kein Wohin mehr«, verkündete Silvestre.
Am Ende dieser langen Reise ließen wir uns in einem seit Jahren ungenutzten Jagdrevier nieder und fanden in einem verlassenen Jägercamp Unterschlupf. Ringsum hatte der Krieg alles entvölkert, von Menschen keine Spur. Selbst Tiere waren rar. Reichlich vorhanden war nur der unwirtliche Busch, durch den sich schon längst keine Straße mehr zog.
Wir richteten uns in den Ruinen des Camps ein. Mein Vater in der Hauptruine; Ntunzi und ich im Anbau. Zacaria bezog einen alten Schuppen weiter hinten. Das ehemalige Verwaltungsgebäude blieb frei.
»Dieses Haus«, sagte Vater, »ist von Geistern bewohnt und von Erinnerungen beherrscht.«
Dann befahl er:
»Keiner geht da hinein!«
Nur wenige Ausbesserungsarbeiten wurden vorgenommen. Silvestre wollte nicht missachten, was er das »Werk der Zeit« nannte. Er widmete sich nur einer einzigen Tätigkeit: Am Eingang zum Camp gab es einen kleinen Platz mit einer Stange, an der früher Fahnen gehisst wurden. Mein Vater hängte an die Fahnenstange ein riesiges Kruzifix. Über dem Kopf der Christusfigur brachte er ein Schild an, mit der Inschrift: »Sei willkommen, Herrgott.« Davon war er überzeugt:
»Eines Tages wird Gott kommen und uns um Vergebung bitten.«
Der Onkel und der Helfer bekreuzigten sich hastig, um die Ketzerei zu bannen. Wir lachten zuversichtlich: Bestimmt würde ein göttlicher Schutz uns vor Krankheiten, Schlangenbissen oder Tierangriffen bewahren.
Unzählige Male fragten wir: Warum sind wir hier, so weit weg von allem und allen? Mein Vater antwortete:
»Es gibt keine Welt mehr, Kinder. Nur noch Jesusalem.«
Ich glaubte den väterlichen Worten. Doch Ntunzi hielt das alles für ein Hirngespinst. Trotzig fragte er weiter:
»Und es gibt keine anderen Menschen mehr?«
Silvestre Vitalício atmete tief ein, als verlangte die Antwort viel Beherztheit, dann gab er einen langen Seufzer von sich und murmelte:
»Wir sind die Letzten.«
Vitalício bemühte sich, uns fürsorglich und gewissenhaft zu erziehen. Dabei aber zu vermeiden, dass die Fürsorge in Zärtlichkeit abglitt. Er war ein Mann. Und wir wurden darin geschult, Männer zu werden. Die einzigen und letzten Männer. Ich erinnere mich, dass er mich sanft, aber bestimmt von sich schob, als ich ihn umarmte:
»Schließt du die Augen, wenn du mich umarmst?«
»Ich weiß nicht, Vater.«
»Das darfst du nicht.«
»Die Augen schließen?«
»Mich umarmen.«
Trotz der körperlichen Distanz war Silvestre Vitalício immer mütterlicher Vater, gegenwärtiger Vorfahre. Ich wunderte mich über sein Bemühen. Denn dieser Eifer war die Negation all dessen, was er predigte. Solch ein Engagement war nur sinnvoll, wenn es irgendwo an einem noch verborgenen Ort eine Zeit voller Zukunft gab.
»Aber erzähl uns, Vater, wie ist die Welt gestorben?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht mehr.«
»Aber Onkel Aproximado …«
»Der Onkel erzählt viele Geschichten …«
»Dann erzähl du es uns, Vater.«
»Die Sache war so: Die Welt ist noch vor dem Ende der Welt untergegangen …«
Das Universum war ohne großes Spektakel, ohne Blitz und Donner vergangen. Ausgezehrt, von Hoffnungslosigkeit erschöpft. Und so, ganz vage, ließ sich mein Vater über das Ende des Kosmos aus. Zuerst waren die weiblichen Orte ausgestorben: die Quellen, die Strandflächen, die Lagunen. Dann die männlichen Orte: die Weiler, die Häfen, die Wege.
»Nur dieser Ort ist übrig geblieben. Hier leben wir für immer.«
Leben? Leben heißt doch Träume erfüllen, Nachrichten erwarten. Aber Silvestre träumte nicht, erwartete auch keine Nachrichten. Anfangs wollte er einen Ort, an dem niemand sich seines Namens erinnerte. Nun wusste er selbst nicht mehr, wer er war.
Onkel Aproximado goss Wasser in den Wein der Hirngespinste unseres Vaters. Der Schwager habe die Stadt aus banalen Gründen verlassen, die üblich seien bei Menschen, die das Alter spürten.
»Euer Vater beklagte sich, dass er alt wird.«
Alt sein ist etwas anderes als älter werden: Es heißt erschöpft sein. Wenn wir alt sind, sehen alle Menschen gleich aus. So klagte Silvestre Vitalício. Als er sich zu der endgültigen Reise entschloss, waren alle Orte, alle ihre Bewohner nicht mehr zu unterscheiden. So manches andere Mal – viele, viele Male – hatte Silvestre erklärt: Das Leben ist zu kostbar, um es in einer entzauberten Welt zu verplempern.
»Euer Vater redet sehr psychologisch«, fand der Onkel. »Das wird ihm noch vergehen, irgendwann.«
Tage und Jahre vergingen, und unser Vater blieb bei seiner Wahnvorstellung. Mit der Zeit wurden die Besuche des Onkels seltener. Ich litt darunter, dass er immer länger ausblieb, doch mein Bruder öffnete mir die Augen:
»Onkel Aproximado ist nicht der, für den du ihn hältst«, sagte er.
»Ich verstehe nicht.«
»Er ist ein Gefängniswärter. Ja, das ist er, ein Gefängniswärter.«
»Wie meinst du das?«
»Dein lieber Onkel hütet dieses Gefängnis, zu dem wir verurteilt sind.«
»Wieso sollten wir im Gefängnis sitzen?«
»Wegen des Verbrechens.«
»Welches Verbrechen?«
»Das unser Vater begangen hat.«
»Sag so was nicht, Bruder.«
Alle Geschichten, die unser Vater sich dazu ausdachte, warum er die Welt verlassen wollte, all die phantasievollen Versionen hatten einen einzigen Zweck: unseren Verstand zu benebeln, uns von Erinnerungen an die Vergangenheit fernzuhalten.
»Es gibt nur eine Wahrheit: Der Alte ist auf der Flucht vor der Justiz.«
»Und was hat er verbrochen?«
»Das erzähle ich dir irgendwann.«
Was auch immer der Grund für unsere Verbannung war, unseren Rückzug vor acht Jahren nach »Jesusalem« hatte Aproximado am Steuer eines schrottreifen Lieferwagens geleitet. Der Onkel kannte den Ort, der uns bestimmt war. Früher hatte er in diesem ehemaligen Revier als Jagdaufseher gearbeitet. Der Onkel kannte sich aus mit Tieren und Gewehren, mit den Wäldern und dem Schwemmland, den tandos. Während er mit uns in seiner alten Klapperkiste fuhr, den Arm lässig aus dem Fenster gehängt, hielt er uns Vorträge über die Schliche der Tiere und die Geheimnisse des Buschs.
Besagter Wagen – die neue Arche Noah – erreichte sein Ziel, gab aber vor dem, was unser neues Zuhause werden sollte, endgültig den Geist auf. Dort verrottete er, dort wurde er zu meinem Lieblingsspielzeug, dorthin zog ich mich zum Träumen zurück. Am Steuer der verstorbenen Maschine hätte ich endlose Reisen ersinnen, Zäune und Entfernungen überwinden können. Ich hätte rund um den ganzen Planeten reisen können, bis das Universum mir untertan wäre – was jedes andere Kind getan hätte. Doch dazu kam es nie – mein Traum hatte nicht zu reisen gelernt. Wer sein Leben wie festgenagelt an ein und demselben Ort verbracht hat, kann nicht von anderen Orten träumen.
In meiner Vorstellungskraft eingeschränkt, entwickelte ich andere Mittel gegen Sehnsucht. Um darüber hinwegzutäuschen, wie langsam die Stunden vergingen, verkündete ich:
»Ich gehe an den Fluss.«
Sehr wahrscheinlich hörte mich niemand. Trotzdem machte mir diese Ankündigung so viel Freude, dass ich sie auf dem Weg hinunter ins Tal immer wieder aussprach. Unterwegs blieb ich vor einem ehemaligen Strommast stehen, der nie in Betrieb genommen worden war. Alle anderen in den Erdboden gerammten Masten hatten grün ausgetrieben und waren heute Bäume mit mächtigen Kronen. Dieser Mast stand als einziger dürr wie ein Skelett und trotzte einsam der Unendlichkeit der Zeit. Dieser Strommast, sagte Ntunzi, sei kein in die Erde getriebener Stamm, das sei der Mast eines Bootes, das sein Meer verloren hatte. Deshalb umarmte ich ihn immer, um mich von einem alten Verwandten trösten zu lassen.
Am Fluss hielt ich mich mit ausgedehnten Träumen auf. Ich wartete auf meinen Bruder, der am späten Nachmittag baden kam. Ntunzi zog sich aus, blieb so schutzlos stehen und blickte genauso sehnsüchtig auf das Wasser, wie er den Reisekoffer betrachtete, den er jeden Tag ein- und auspackte. Einmal fragte er mich:
»Warst du schon unter Wasser, Kleiner?«
Ich schüttelte den Kopf, wohl wissend, dass ich die Reichweite seiner Frage nicht verstand.
»Unter Wasser«, sagte Ntunzi, »kann man unglaubliche Dinge sehen.«
Ich konnte die Worte meines Bruders nicht entschlüsseln. Doch nach und nach spürte ich: Dieser namenlose Fluss war das Lebendigste und Wahrhaftigste, was es in Jesusalem gab. Dass Tränen und Gebete verboten waren, hatte also doch seinen Sinn. Mein Vater war nicht so verwirrt, wie wir glaubten. Sollte er Anlass zum Beten oder Weinen haben, würde er es hier tun, am Flussufer, auf dem nassen Sand kniend.
»Vater sagt doch immer, die Welt sei gestorben, stimmt’s?«, fragte Ntunzi.
»Ach, Vater sagt so vieles.«
»Es ist umgekehrt, Mwanito. Nicht die Welt ist gestorben. Wir sind es, die sterben.«
Ich bekam eine Gänsehaut, ein kaltes Schaudern lief mir von der Seele in den Körper, vom Körper über die Haut. Dann war das, wo wir uns befanden, der Tod?
»Sag das nicht, Ntunzi, das macht mir Angst.«
»Damit du es weißt: Wir wurden ausgestoßen, wie ein Stachel aus dem Körper.«
Seine Worte taten mir so weh, als wäre das Leben in meinen Körper eingedrungen und als müsste ich, um groß zu werden, den Splitter herausziehen.
»Irgendwann erzähle ich dir alles«, sagte Ntunzi und beendete das Thema. »Aber willst du, mein kleiner Bruder, jetzt vielleicht die andere Seite sehen?«
»Welche andere Seite?«
»Die andere Seite, du weißt schon: die Welt, das Da-draußen!«
Ich sah mich in der Umgebung um, bevor ich antwortete. Ich fürchtete, dass unser Vater uns beobachtete. Ich blickte hinauf zum Hügel, dem Gelände hinter den Gebäuden. Womöglich ging Zacaria dort oben gerade vorbei.
»Los, zieh deine Sachen aus.«
»Du tust mir nicht weh, Ntunzi?«
Ich dachte an damals zurück, als er mich in das morastige Wasser des Weihers geworfen hatte und ich hängen blieb, weil sich meine Füße in den Schilfwurzeln unter Wasser verfangen hatten.
»Komm mit«, forderte er mich auf.
Ntunzi ging in den Fluss, seine Füße versanken im Schlick. Er ging weiter, bis ihm das Wasser bis zur Brust reichte, und spornte mich an, ihm zu folgen. Ich fühlte die Strömung um mich herum wirbeln. Ntunzi nahm mich an die Hand, aus Angst, ich könnte vom Wasser mitgerissen werden.
»Wollen wir ausreißen, Bruder?«, fragte ich verhalten begeistert.
Ich wollte kaum glauben, dass ich noch nie auf diese Idee gekommen war – der Fluss war eine offene Straße, ein Graben ohne Absperrungen. Da führte ein Weg hinaus, aber wir hatten es nicht zu erkennen vermocht. Ich bekam immer größere Lust und schmiedete laut Pläne: Vielleicht sollten wir ans Ufer zurückkehren und uns ein Kanu bauen? Ja, ein kleines Kanu würde genügen, um dieses Gefängnis hinter uns zu lassen und in die weite Welt zu gelangen. Ich sah Ntunzi an, den meine Träumereien gleichgültig ließen.
»Aus einem Kanu wird nichts, niemals. Vergiss es.«
War mir etwa entfallen, dass weiter unten Krokodile und Flusspferde den Fluss verseuchten? Und was war mit den Stromschnellen und Wasserfällen, kurzum, den zahllosen Tücken und Gefahren, die der Fluss barg?
»Ist denn schon einmal jemand dort gewesen? Wir haben das ja nur gehört …«
»Gib Ruhe und sei still.«
Ich folgte ihm gegen die Strömung, und wir pflügten durch die Wellen, bis wir eine Stelle erreichten, wo der Fluss sich reuig schlängelt und das Flussbett einen Kieselteppich trägt. Hier, wo das Wasser stand, wurde es überraschend klar. Ntunzi ließ meine Hand los und wies mich an, ich sollte ihm alles nachmachen. Dann tauchte er unter, und als er ganz unter Wasser war, öffnete er die Augen und beobachtete das Licht, das sich an der Oberfläche brach. Das tat ich auch: Aus dem Leib des Flusses beobachtete ich das Glitzern der Sonnenstrahlen. Und dieses Funkeln blendete mich, versetzte mich in sanfte, wohlige Blindheit. Gäbe es die Umarmung einer Mutter, dann müsste sie genau so sein wie dieses Schwinden der Sinne.
»War das schön?«
»Und ob! Das ist so schön, Ntunzi, wie flüssige Sterne, so taghell!«
»Siehst du, Kleiner? Das ist es, die andere Seite.«
Ich tauchte noch einmal unter, um mich an dieser Herrlichkeit zu berauschen. Dieses Mal aber überkam mich ein Schwindelgefühl, plötzlich verlor ich die Orientierung und verwechselte den Grund mit der Oberfläche. Ich drehte mich im Kreis wie ein blinder Fisch und wusste nicht, wie ich wieder nach oben kommen konnte. Hätte Ntunzi mich nicht ans Ufer gezogen, wäre ich ertrunken. Als ich wieder bei mir war, gestand ich, dass mich unter Wasser ein Schaudern erfasst hatte.
»Könnte es sein, dass uns jemand von der anderen Seite belauert?«
»Ja, man belauert uns. Das sind die, die uns eines Tages angeln kommen.«
»Hast du ›fangen‹ gesagt?«
»Nein, angeln.«
Ich zuckte zusammen. Die Vorstellung, wir würden zu Fischen, im Wasser gefangen, führte mich zu dem schrecklichen Schluss: Die Anderen, die auf der Seite der Sonne, waren die Lebenden, die einzigen Menschengeschöpfe.
»Ntunzi, stimmt es wirklich, dass wir tot sind?«
»Das können nur die Lebenden wissen. Nur die.«
Der Zwischenfall im Fluss hielt mich nicht ab. Im Gegenteil, ich ging immer wieder zu der Flussbiegung und ließ mich im ruhenden Wasser auf den Grund sinken. Ich verbrachte dort endlose Zeit und betrachtete mit verzücktem Blick die andere Seite der Welt. Mein Vater hat das nie erfahren, doch dies war der Ort, an dem ich die Kunst, Stille einzustimmen, mehr als irgendwo sonst vervollkommnet habe.
[…]
Du hast umgekehrt gelebt
Dich fortwährend rückwärts gewandt
Deiner selbst entledigt
Von dir selbst verlassen
[…]
Sophia de Mello Breyner Andresen
Ich habe meinen Vater früher als mich selbst kennengelernt. Deshalb bin ich auch ein wenig er. Weil ich keine Mutter hatte, war Silvestre Vitalícios knochige Brust mein einziger Schoß, sein altes Hemd war mein Taschentuch, seine magere Schulter mein Kopfkissen. Sein eintöniges Schnarchen war mein einziges Wiegenlied.
Jahrelang war mein Vater ein sanftmütiger Mensch, seine Arme umfassten die ganze Welt, und in ihnen fand sich die tiefste Ruhe. Trotz seines seltsamen und unberechenbaren Wesens war der alte Silvestre in meinen Augen der Einzige, der die Wahrheit kannte, der wie kein anderer Vorzeichen deuten konnte.
Heute weiß ich: Mein Vater hatte die Orientierung verloren. Er sah Dinge, die niemand sonst erkennen konnte. Solche Erscheinungen traten vor allem auf, wenn die Winde im September über die Savanne fegten. Für Silvestre war der Wind ein Tanz der Gespenster. Die windgepeitschten Bäume wurden zu Menschen, zu klagenden Toten, die ihre eigenen Wurzeln ausreißen wollten. Das sagte Silvestre Vitalício, eingeschlossen in seinem Zimmer, wo er hinter Fenstern und Türen verbarrikadiert auf Windstille wartete.
»Der Wind steckt voller Krankheiten, der Wind selbst ist eine ansteckende Krankheit.«
An solchen stürmischen Tagen erlaubte der Alte niemandem, das Zimmer zu verlassen. Er rief mich zu sich, und ich versuchte vergeblich, noch tiefere Stille einzustimmen. Doch konnte ich ihm nie Ruhe verschaffen. Im Rascheln des Laubs hörte Silvestre Motoren, Züge, städtischen Lärm. Das Brausen der Windstöße in den Ästen brachte all das mit sich, was er so gern vergessen wollte.
»Aber warum diese Angst, Vater?«, fragte ich vorsichtig.
»Ich bin ein Baum«, erklärte er.
Ein Baum, ja, aber nicht natürlich verwurzelt. Er ankerte in fremdem Boden, in diesem unsteten Land, das er für sich ersonnen hatte. Seine Angst vor Erscheinungen verstärkte sich mit der Zeit. Von den Bäumen dehnte sie sich auf nächtliche Pfade und den Leib der Erde aus. Irgendwann verlangte mein Vater, bei Sonnenuntergang müsse die Brunnenöffnung abgedeckt werden. Aus dem Riesenloch könnten fürchterliche Geschöpfe mit gewissen Absichten auftauchen. Die Vorstellung, Ungeheuer würden aus dem Erdboden aufsteigen, ließ mich schaudern.
»Vater, was könnte denn aus dem Brunnen herauskommen?«
Ich wisse nichts von manchen Reptilien, die in den Gräbern der Verstorbenen wühlen und zwischen den Krallen und Zähnen Reste des leibhaftigen Todes haben. Diese Eidechsen kriechen die feuchten Wände der Brunnen hinauf, suchen unseren Schlaf heim und benässen die Laken der Erwachsenen.
»Deswegen kannst du nicht bei mir schlafen.«
»Aber ich habe Angst, Vater. Ich möchte nur, dass du mich in deinem Zimmer einschlafen lässt.«
Mein Bruder hat nie darüber gesprochen, dass ich bei unserem Vater schlafen wollte. Mitten in der Nacht sah er mich verstohlen durch den Gang schleichen und vor der verbotenen Tür des väterlichen Zimmers stehen bleiben. So manches Mal hat Ntunzi mich zurückgeholt, wenn ich wie ein Lumpen schlafend auf dem kalten Boden lag.
»Geh zurück in dein Bett, Vater darf dich nicht hier finden.«
Ich folgte ihm, viel zu verschlafen, um ihm dankbar zu sein. Ntunzi brachte mich zu meinem Bett. Und einmal nahm er meine Hand und sagte:
»Du denkst, du hast Angst? Damit du es weißt, Vater hat noch viel mehr Angst.«
»Vater?«
»Er will dich nicht in seinem Zimmer haben, und weißt du, warum? Weil er fürchterliche Angst hat, er könnte dabei ertappt werden, wenn er im Schlaf spricht.«
»Er spricht? Worüber?«
»Über Unaussprechliches.«
Wieder war Dona Dordalma, unsere abwesende Mutter, der Grund für alle Seltsamkeiten. Anstatt im Früher zu verblassen, drängte sie sich in die Risse der Stille, in die Kerben der Nacht. Und es gab keine Möglichkeit, dieses Gespenst zu begraben. Ihr mysteriöser Tod, ohne Grund und Abbild, hatte sie nicht der Welt der Lebenden geraubt.
»Vater, ist Mutter gestorben?«
»Vierhundert Mal.«
»Wie bitte?«
»Ich habe euch schon vierhundert Mal gesagt: Eure Mutter ist tot, vollständig tot, als hätte sie nie gelebt.«
»Und wo ist sie begraben?«
»Also, begraben ist sie überall.«
Vielleicht war es das: Mein Vater hatte die Welt geleert, um sie mit seinen Phantasien zu füllen. Anfangs waren wir noch entzückt über die Vögel, die unvermutet aus seinen Worten hervorkamen und wie Rauch aufstiegen.
»Die Welt – wollt ihr wissen, wie sie aussieht?«
Nur unsere Augen antworteten. O ja, wir wollten es unbedingt wissen, als hinge davon ab, auf welchen Boden wir unsere Füße setzten.
»Also, die Welt, Kinder …«
Er machte eine Pause und wiegte den Kopf, als lasteten die Gedanken mal auf der einen Seite, mal auf der anderen. Dann stand er auf und wiederholte mit Grabesstimme:
»Die Welt, Kinder …«
Anfangs machte mir dieses Abwägen Angst. Womöglich wusste mein Vater gar nicht, was er antworten sollte, und das wäre eine Schwäche, die ich kaum ertragen hätte. Silvestre Vitalício wusste alles, und dieses absolute Wissen war das Haus, das mir Schutz bot. Er war es, der den Dingen Namen gab, der Bäume und Schlangen taufte, der Stürme und Überschwemmungen vorhersah. Mein Vater war der einzige Gott, der uns zustand.
»Also gut, ihr habt es verdient, ich werde erzählen, wie die Welt ist …«
Er seufzte, ich seufzte. Er hatte die Sprache wiedergefunden, und seine Sicherheit gab mir erneut Halt.
»So, die Sache ist einfach, Kinder: Die Welt ist gestorben, es gibt nichts mehr außer Jesusalem.«
»Ist da draußen nicht vielleicht eine Frau übrig geblieben?« fragte einmal mein Bruder.
Silvestres Augenbraue zog sich hoch. In dem Bewusstsein, dass seine Frage provozierend war, setzte Ntunzi besänftigend nach: Ohne Frauen würde uns keine Saat mehr bleiben. Der Vater hob die Arme und hielt sie sich fast wie ein Kind vor den Kopf. Ntunzi fragte noch einmal, als kratzte er mit einem Fingernagel über Glas:
»Ohne Frauen bleibt keine Saat …«
Silvestres Schroffheit bestätigte das alte, doch nie ausgesprochene Verbot: Frauen waren ein verbotenes Thema, noch verbotener als das Gebet, eine größere Sünde als Tränen oder Gesang.
»Ich will davon nichts hören. Frauen haben hier nichts zu suchen, ich will nicht einmal das Wort hören …«
»Beruhige dich, Vater, ich habe doch nur gefragt …«
»Darüber wird in Jesusalem nicht gesprochen. Frauen sind alle … die sind alle Huren.«
Noch nie hatten wir dieses Wort aus seinem Mund gehört. Aber es war, als wäre ein Knoten aufgegangen. Seitdem war »Hure« zwischen uns ein anderes Wort für »Frau«. Und wenn Aproximado versehentlich etwas sagte, das mit Frauen zu tun hatte, schleppte sich mein Alter brüllend durchs Haus:
»Die sind alle Huren!«
Dieses Ausfälligwerden war für Ntunzi der Beweis, dass Silvestre Vitalício immer mehr den Verstand verlor. Für mich war unser Vater allenfalls vorübergehend erkrankt. Die Krankheit führte dazu, dass wir mitten im Winter, wenn die Wolken nutzlos wurden, im harten Erdboden Brunnen graben mussten, blinde, trockene Brunnen.
Am Ende des Tages inspizierte unser Vater die kümmerlichen Gruben, die wir zwischen Erdklumpen und Geröll ausgehoben hatten. Um sich von der Effizienz unserer Arbeit zu überzeugen, kontrollierte er sie auf folgende Weise: Ntunzi wurde an den Füßen an einen langen Strick gebunden und in den steinigen Schlund hinunter gelassen. Ängstlich sahen wir zu, wie er an der letzten Verbindung zur Welt der Lebenden von der Tiefe verschluckt wurde. Der straffe Strick in Silvestres Händen war das Gegenstück zu einer Nabelschnur. Mein Bruder wurde hochgezogen und oben losgebunden, damit wir alsbald anfangen konnten, das nächste Loch zu graben. Am Abend waren wir erschöpft, voller Sand, die Haare steif vom Staub. Hin und wieder wagte ich noch zu fragen:
»Warum graben wir, Vater?«
»Nur damit Gott es sieht. Nur damit Er es sieht.«