Dieses Buch ist gewidmet
meiner geliebten Frau Susanne,
sechs großartigen Töchtern,
meinen bewundernswerten
Ausnahme-Eltern
sowie meinen Super-Schwiegereltern.
Wir sind schon ein tolles Team!
Vielen Dank.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012
© 2015 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Lektorat und Satz: Bernhard Edlmann Verlagsdienstleistungen, Raubling
Titelfoto: © Damian Kuzdak - istockphoto.com
eISBN 978-3-475-54396-8 (epub)
Carsten Feddersen
Im Visier des Jägers
Der dritte Band des beliebten Autors deutscher Jagderlebnisse entführt uns nach Schleswig-Holstein.
Auf höchst vergnügliche Weise erfahren wir, wie ein Rehbock zweimal starb und zwei Rinder als Jagdhunde erfolgreich waren.
Wir lesen die Geschichte vom erlegten Ziegenbock und dem Jäger, der durch den morschen Hochsitz brach.
Außerdem widmet sich Carsten Feddersen mit besonderer Liebe den Menschen dieses Landstrichs, ihrer auf den ersten Blick rauen, aber immer kameradschaftlichen und hilfsbereiten Art.
Wie oft senkte sich schon das Visier des lauernden, nicht selten vor Jagdfieber zitternden Jägers in das Blatt des arglos äsenden oder auch des aufmerksam sichernden, zum Absprung bereiten Wildes. Wie oft fand die todbringende Kugel ihr Ziel, brachte Freude und doch Wehmut, Erlegerstolz und doch Selbstanklage.
Was aber muss der Jäger in seinem täglichen Leben nicht noch alles ins Visier nehmen! Ist er doch, quasi so nebenbei, häufig auch Ehemann, ehrlich und hart arbeitender Einkommensbeschaffer, Familienvater, Hobbygärtner auf dem eigenen Grundstück oder gar Hobbylandwirt auf eigener Scholle.
Ähnliches gilt für die Jägerinnen, denen oftmals ein vergleichbares Schicksal beschieden ist.
Lassen Sie mich daher erzählen, was ich alles so ins Visier nahm im Laufe der Zeit – vor allem auf der Jagd, aber auch in ganz anderen Bereichen –, als ich mit meiner Familie nach fünf ereignisreichen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern zurückkehrte in die schleswig-holsteinische Heimat (wer mein Buch Frische Fährte gelesen hat, weiß über die hier nur angedeutete Vorgeschichte bereits bestens Bescheid).
Ich lade Sie ein, mit mir gemeinsam durch die verschiedenen Visiere des Lebens zu blicken und dabei eines nicht zu kurz kommen zu lassen: unsere Freude an Pirsch und Ansitz, an Jagd und Beute.
An dieser Stelle möchte ich Herbert Brunner danken, der mir als zuständiger Revierleiter der Försterei Bordesholm erst die Jagd in der Wohldkoppel ermöglichte. Eine Reihe der folgenden Geschichten rankt sich um dieses Revier, an dem mein Herz von Anfang an besonders hing, unter anderem aus familiären Gründen.
Leider ist Herbert Brunner viel zu früh an einer tückischen Krankheit verstorben.
Er prägte die Försterei Bordesholm während der langen Jahre seines Wirkens in seiner ganz eigenen, charakteristischen Art und Weise.
Als gebürtiger Bayer eroberte er mit seiner herzlichen, gradlinigen Art in kurzer Zeit die Herzen vieler Menschen in seinem Umfeld. Noch heute steht im sogenannten Lärchenwald zwischen Brügge und Schönhorst ein großer Stein mit Inschrift zu seinem Gedenken.
Ich danke dir, Herbert, für all die Erlebnisse, die mir durch deine Unterstützung in der Wohldkoppel beschert wurden.
Fünf Jahre ein neues Zuhause in Vorpommern erleben, ein unbekanntes Revier erkunden und erjagen.
Fünf Jahre – ein halbes Jahrzehnt, wie viel und doch wie wenig in unserer schnelllebigen Zeit.
Anfang 1997 hieß es dann Abschied nehmen von Kirschdorf am Greifswalder Bodden. Wehmut mischte sich mit der Vorfreude auf die alte Heimat, auf bekannte Gesichter, auf lange entbehrte Freunde und Bekannte.
Was würde uns wohl erwarten?
Etwas, was uns vorläufig nicht erwartete, stand in diesem Moment jedoch schon fest: nämlich ein neues Heim.
Während meine Frau Susanne mit unseren Töchtern Mareike und Annika erst einmal in Kirschdorf blieb, um potenziellen Käufern unser Anwesen zu präsentieren, ging ich, der Not gehorchend, mit Feuereifer auf die berühmt-berüchtigte Budensuche, frei nach dem allseits bekannten Film Feuerzangenbowle.
Fieberhaft studierte ich die Mietangebote in der örtlichen Presse, wobei die Ergebnisse eher dürftig ausfielen. Zu teuer, zu groß, zu klein, zu weit weg vom Arbeitsplatz, zu belebt, zu einsam. Vor allem aber wünschten sich die Vermieter einen langfristigen Mietvertrag, während ich ja nur eine Interimsbleibe suchte, bis ein neues Haus gefunden war.
Ich haderte bereits mit meinem Schicksal und sah ein campingähnliches Domizil bedrohlich näher rücken, als der erlösende Tipp von meinem Vater kam: Das Rentnerwohnheim der idyllisch gelegenen Gemeinde Groß Buchwald, gleich neben dem Haus meiner Eltern, suchte für eine Übergangszeit einen Nachmieter für eine kleine Wohnung. Herz, was willst du mehr!
Schon am nächsten Abend zog ich mit Sack und Pack in mein Refugium ein und begrüßte meine neuen Nachbarn, die sich im ersten Moment schon ein wenig über den jungen Rentner wunderten. Doch immerhin senkte ich den Altersschnitt in diesem Umfeld ganz gewaltig.
Ich kehrte damit in das Dorf zurück, in dem ich den Großteil meiner Jugend verbracht hatte. Jeden Weg und Steg kannte ich hier. Der Dorfplatz mit seinen alten Linden und Eichen, die Gehöfte, der Wald, die Menschen, alles war so vertraut, war einfach die Heimat.
Nur meine Frau und die Kinder fehlten mir zum vollständigen Glück. Doch auch die Zeit unserer Wochenendehe würde vorübergehen.
Nachdem nun die Frage der Unterbringung erst einmal mehr als zufriedenstellend gelöst war, galt es natürlich auch jagdlich wieder Tritt zu fassen.
So wunderschön, beschaulich und entspannend ein abendlicher Spaziergang durch Feld und Flur auch sein mag, das heimliche, vorsichtige Pirschen mit der Waffe über der Schulter fehlte mir doch sehr, und immer intensiver beschäftigte mich die Frage, wie diesem Missstand wohl abzuhelfen wäre.
Die Rettung nahte in Form eines Bayern in Schleswig-Holstein. Mein alter Freund Herbert Brunner, ehemals aus südlichsten deutschen Gefilden stammend, leitete seit einigen Jahren die Revierförsterei Bordesholm und prägte sie mit seiner unverwechselbaren Art. Ich klagte ihm mein Leid, und zu meiner freudigen Überraschung wusste er spontan Abhilfe zu schaffen.
»Die Begehungsscheine in den Waldrevieren sind momentan alle vergeben, aber für dich habe ich noch ein ganz besonderes Schmankerl in petto.«
Glücklicherweise reichten meine Fremdsprachenkenntnisse zumindest so weit aus, um ihn bei dem Ausdruck »Schmankerl« erwartungsvoll anzublicken.
Verschmitzt lächelte Herbert mich an: »Ein Teil des Dosenmoors wird forsttechnisch von mir betreut. Aufgrund der starken Vernässung und der vielen alten Torfkuhlen ist die Bejagung relativ schwierig und vor allem nicht ganz ungefährlich. Aber du liebst ja solche Herausforderungen, oder?«
Freudestrahlend, wenn auch mit einem leicht mulmigen Gefühl in der Magengegend, schlug ich ein.
Gleich der nächste Abend führte mich hinaus an meine neue jagdliche Wirkungsstätte. Auch wenn nur ein Bruchteil des etwa 500 Hektar großen Hochmoores für meine Jägerambitionen zur Verfügung stand – der Anblick war einzigartig. Offene Flächen, nur mit Torfmoosen und niedrigem Gras bewachsen, wechselten sich mit buschigen Birken- und Erlenbeständen ab. Das Ganze strahlte eine kaum zu beschreibende Atmosphäre aus, faszinierend und furchteinflößend zugleich. Leise zitterte das Wollgras im sanften Sommerwind des zu Ende gehenden Julitages, Lerchen jubilierten hoch am Himmel, während verschiedenste Schmetterlinge und Libellen über die an Savannen erinnernde Freifläche gaukelten. Bei jedem noch so vorsichtig angesetzten Schritt gurgelte braunes Wasser unter den Gummistiefeln, und hier und dort schimmerten offene Wasserstellen heimtückisch zwischen den einzelnen Grasbülten.
»Nur schön auf Binsen- und Grasbüscheln bleiben und nicht danebentreten«, befahl das besorgte Hirn den doch etwas wackligen Beinen.
Dann endlich entdeckte das suchende Auge einen anscheinend etwas trockeneren Platz hinter einer fast zwergwüchsigen, offenbar ums Überleben kämpfenden Eiche. Dort, mit Blick auf die Freifläche und die angrenzende Dickung aus Erlen und Birken, platzierte ich meinen Jagdstuhl und harrte der Dinge, die da kommen würden.
Ruhig und beschaulich lag das Moor vor mir, während die Sonne sich mehr und mehr hinter aufziehenden düsteren Wolken verbarg.
»Ein Gewitter im Moor, das hat mir gerade noch gefehlt«, dachte ich frustriert und wollte mir verärgert gerade eine Zigarette anzünden, als sich plötzlich ein roter Fleck aus dem Grün der Birken herausschob.
Die Zigarette landete erst einmal wieder in der Brusttasche des Hemdes, und das Jagdglas wanderte zu den Augen. Ein junger Rehbock, ein schwacher Jährling mit kleinfingerlangen Spießchen, zog, immer wieder ängstlich zurückäugend, langsam auf etwa 80 Gänge vor mir durch die Moorlandschaft. Sollte etwa noch ein älterer in dem undurchdringlichen Grün stecken, auf den weiteres Warten und Passen lohnte?
Ein erster, ferner Donnerschlag brachte die Entscheidung. Schnell hob ich den Drilling, legte über meine Bonsai-Eiche an, und der Schuss peitschte über das Moor. Mein kleines Böckchen schnellte mit allen vieren in die Luft, preschte hochflüchtig etwa 50 Meter von mir weg und verschwand hinter einem Büschel Wollgras. Erste schwere Regentropfen und ein greller Blitz sorgten dafür, dass die Zigarette auch diesmal ungeraucht blieb, da ich sofort meinen ersten Moorbock bergen wollte, bevor das Gewitter richtig über das Dosenmoor fegte, mit mir mittendrin.
Ich hüpfte also wie ein, wenn auch etwas schwergewichtiger, Kobold von Bülte zu Bülte auf meine Beute zu, umrundete das Wollgras und stand nicht etwa vor dem malerisch daliegenden Bock, sondern vor einem Moorloch, aus dem gerade noch ein Hinterlauf des eben Gemeuchelten gen Himmel ragte.
Hier war guter Rat teuer und zweifelsohne Eigeninitiative sowie Kreativität gefragt. Da nun, wie in der Landwirtschaft hinlänglich bekannt, in fast jeder Lebenslage ein Stück Sacksband weiterhelfen kann, gehört dieses Utensil auch für mich zum festen Bestandteil meiner jagdlichen Ausrüstung. Also schnell eine Schlinge geknüpft, an einem abgestorbenen Ast befestigt und bäuchlings Richtung Moorloch gerobbt. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, die der Donnergott jedes Mal mit einem gehörigen Krachen kommentierte, gelang es mir tatsächlich, die Schlinge am Hinterlauf festzuzurren und den Bock seinem kühlen Grab zu entreißen. Bei prasselndem Regen zog ich meine Beute, so schnell es nur ging, hinter mir her, um wieder trockene und damit sichere Gefilde zu erreichen.
Fehltritte werden im Leben jedoch meist umgehend bestraft. Bei dem wilden und hektischen Gezerre rutschte ich von einer Bülte ab. Flugs versank das linke Bein bis zum Oberschenkel im Moor, und auch der Drilling rutschte mir dabei von der Schulter, um augenblicklich in der braunen Brühe zu versinken.
Fluchend und mit aufkeimender Angst zog ich die Waffe am Lauf wieder aus dem Moorloch und legte sie auf den Bock. An den Grasbülten festgekrallt, entriss ich dann mit aller Kraft mein Bein den saugenden Moorgeistern, wobei der Gummistiefel irgendwo in düsteren Tiefen auf der Strecke blieb.
Irgendwann erreichte ich dann doch das rettende Auto, von oben bis unten nass, bedeckt von einer dicken Schicht aus Moorwasser und Matsch.
Mein Stiefel steckt noch heute tief im Moorloch. Sollten ihn eines Tages Forscher späterer Generationen finden, wird ihnen die Erklärung des merkwürdigen Befunds sicher einige Denkarbeit abverlangen.
Es lag nicht in meiner Absicht, im Rentnerwohnheim auf meine tatsächliche Verrentung zu warten – zumal hier kein Platz für meine Familie war. Daher galt es, Augen und Ohren offen zu halten, ob nicht in der Umgebung ein Gehöft zum Verkauf stand, das unseren Vorstellungen entsprach. Groß sollte es sein, für unsere Töchter, die bereits das Licht der Welt erblickt hatten – und auch für diejenigen, die diesen großen Moment noch vor sich hatten. Eine eher einsame Lage war erwünscht, denn wir hatten uns in Vorpommern an ein nicht von Nachbarn reglementiertes Leben gewöhnt und wollten nur ungern darauf verzichten. Weide- und Ackerland sollte möglichst dabei sein, da wir unseren landwirtschaftlichen Ambitionen auch weiterhin frönen wollten.
Sie sehen, uns zeichnete nicht gerade Bescheidenheit aus. Weil derartige Objekte nicht so zahlreich gesät sind, beschlossen wir, auch einige Immobilienmakler mit der Suche zu beauftragen, um ja keine Chance ungenutzt zu lassen.
Da meine Frau, wie bereits erwähnt, in Kirchdorf die Stellung hielt, oblag es mir, die Erstbesichtigungen durchzuführen und eine gewisse Vorauswahl zu treffen. Erschien mir ein Objekt überlegenswert, besprach ich die Sache am Telefon mit meiner Frau, worauf meine persönliche Sachverständige kurzerhand aus dem Osten anrückte.
Was mir dann von einigen sogenannten kompetenten Maklern alles angeboten wurde, ist ein Kapitel für sich.
»Das Objekt habe ich gerade eben reinbekommen, ein wahrer Leckerbissen. Wie für Sie geschaffen. Bilder habe ich noch keine, deshalb müssen Sie es sich unbedingt selbst anschauen. Sie werden entzückt sein« – so oder ähnlich lauteten die verlockenden Angebote, die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder frohes Hoffen in mir aufkeimen ließen. Vor Ort schlug das von interessierter Seite heraufbeschworene Entzücken dann mit ebenso schöner Regelmäßigkeit in blankes Entsetzen um, denn irgendein gravierender Pferdefuß lauerte stets auf mich: Entweder war das Weideland für die nächsten zehn Jahre verpachtet, oder die Autobahn nahm ihren Weg quasi über die Terrasse.
Ein wirklich entzückendes Anwesen am Rande eines Naturparks brachte dann auch meine Augen zum Leuchten und meine Gedanken zum Träumen. Ein großes, gepflegtes Bauernhaus mit Scheune und Stallungen, nicht zu groß und damit wie geschaffen für ein wenig Ackerbau und Viehzucht nebenbei. Weiden, ein kleiner Mischwald und sogar ein malerischer See umgaben das Gehöft, und ein Nachbarhaus schimmerte aus weiter Ferne. Hier stimmte alles, dachte ich glückselig, stieg in mein Auto und stellte mir schon vor, wie von zu Hause aus meine Frau anrief und von diesem Glücksgriff berichtete.
Bei meiner ganzen verklärten Träumerei verpasste ich leider die richtige Ausfahrt – oder glücklicherweise. Ich irrte orientierungslos durch die Feldmark und fand mich kurze Zeit später vor einer riesigen Müllkippe wieder, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem Traumanwesen lag und nur heute aufgrund entgegengesetzter Windrichtung ihren Gestank nicht in diese Richtung verbreitete.
Zutiefst frustriert und unsagbar enttäuscht sowie absolut reif für mein Rentnerwohnheim fuhr ich zurück Richtung Groß Buchwald. Kaum stand ich in der Tür, klingelte das Telefon. »Oh Gott, bloß nicht noch so ein Makler«, dachte ich und zögerte bereits, überhaupt den Hörer zu ergreifen. Doch die Neugier siegte, und zu meiner Freude meldete sich Herbert Brunner, seines Zeichens Revierförster von Bordesholm.
»Ich dachte mir, du hättest vielleicht Lust, nach deinen nassen Füßen im Moor einmal auf festem Boden zu jagen. Im Revierteil Brüggerholz habe ich aufgrund der hohen Verbissschäden noch einen Bock zum Abschuss freibekommen. Übrigens treibt sich dort ein zurückgesetzter älterer Sechser herum, der recht regelmäßig auf der großen Waldwiese austritt.«
Vor Freude hätte ich den Förster durchs Telefon holen können. »Mensch, Herbert, natürlich habe ich Lust, wann darf ich starten?«
»Wenn du gleich bei mir vorbeikommst und dir den Erlaubnisschein abholst, von mir aus morgen Früh. Ich …«
Mehr hörte ich nicht, denn ich saß bereits im Auto und fuhr Richtung Försterei.
Am nächsten Morgen, vor Tau und Tag, pirschte ich vorsichtig den geschlungenen Waldweg in dem nur vier Kilometer entfernten Brüggerholz entlang. Das Ziel war eine geräumige Kanzel. Direkt am Waldrand gelegen, bot sie einen guten Überblick über die gepriesene Waldwiese.
Ich kannte den ganzen Komplex wie meine Westentasche, denn jedes Jahr nach dem Abschleudern des Rapshonigs half ich meinem Großvater und später meinem Onkel, die Bienenstöcke für die Sommertracht in dieses Waldgebiet zu bringen. Auch das Pilzesammeln und der Holzeinschlag erfolgten vorzugsweise in Brüggerholz, sodass ich bereits von Kindesbeinen an den ganzen Wald erkundet hatte.
Stern um Stern erlosch. Langsam wich das Dunkel der Nacht dem ersten Zwielicht. Hier und da begrüßten die Amseln verschlafen erst mich und dann immer kräftiger und sangesfreudiger den anbrechenden Tag mit ihrem Morgenlied. Eine erste zarte Röte überzog den Himmel, wurde allmählich stärker und intensiver, bis schließlich der rote Sonnenball einen schönen Spätsommertag ankündigte. Ein einzelner Hase hoppelte gemächlich genau unter meiner Kanzel Richtung Waldwiese, schüttelte sich behaglich den Morgentau aus dem Balg und begann mümmelnd mit dem Frühstück.
Da – ein leises Knacken vom gegenüberliegenden Waldrand. Kam der ersehnte ältere Bock? Vorsichtig wanderte das Jagdglas zum Auge.
Ein roter Fleck zeigte sich unter den tief hängenden Ästen einer ausladenden Randeiche. Daneben schob sich ein zweiter Wildkörper auf die Bildfläche. – Entwarnung! Damtier und Kalb wechselten vertraut auf die Wiese und ästen wie gewohnt an den vielfältigen Gräsern und Kräutern.
Dann fing das Auge eine weitere Bewegung ganz links unten am letzten Zipfel der Freifläche auf. Tatsächlich, etwa 150 Meter entfernt zog ein Bock! Der Pulsschlag erhöhte sich, der Atem ging ein wenig schneller.
Doch wieder Entwarnung! Was sich dort präsentierte, war ein zweijähriger Bock, dessen Gehörn mit seinen gut entwickelten Vordersprossen und leicht angedeuteten Hintersprossen knapp über die Lauscher reichte. Also wieder nicht der Gesuchte und Ersehnte.
Aber halt, irgendwie wirkte der Bock unförmig, irgendetwas irritierte das betrachtende Auge. Nochmals glitt der Blick durch das vergrößernde Glas über den Wildkörper. Ich stutzte, zweifelte, überprüfte nochmals, bestätigte mir meinen Eindruck, zweifelte dennoch. Aber die Erkenntnis blieb. Der Bock war übersät mit kleinen und großen Blasen. Immer noch unschlüssig hob ich den Drilling, sprach nochmals durch das Zielfernrohr an. Da, selbst das Haupt schien verquollen.
Dann schickte ich das 11,5-Gramm-Geschoss auf die Reise, und nach wenigen Fluchten brach der Bock zusammen.
Mich hielt nichts mehr auf der Kanzel. Kurze Zeit später stand ich vor der geschundenen Kreatur. Unzählige Eiterblasen, teilweise groß wie Tennisbälle, entstellten den Wildkörper. Eine dieser Blasen hatte das Geschoss durchschlagen. Die stinkende gelbliche Flüssigkeit vermischte sich mit dem Schweiß und tropfte träge an der Decke herunter. In diesem Moment brachte ich es einfach nicht über mich, den Bock aufzubrechen, um die inneren Organe auf mögliche Ursachen zu untersuchen. Ich schoss lediglich einige Beweisfotos und vergrub den Rehbock tief im Rand der Waldwiese. Immer wenn ich das Gehörn an der Trophäenwand betrachte, grüble ich darüber nach, was wohl die Ursache für diese verheerende Infektion gewesen sein mag. Doch dieses Geheimnis nahm der Bock mit sich in sein kühles Grab.
Zufrieden über diesen Hegeabschuss fuhr ich nach Hause. Dort wartete bereits die nächste Überraschung. An der Haustür klebte eine Nachricht:»Bitte sofort kommen, habe wichtige Info, Mutter.«
Augenblicke später saß ich ihr am Küchentisch gegenüber.
»Wie weit ist denn deine Haussuche gediehen?«, fragte sie mich, ein wenig süffisant schmunzelnd.
»Na, ja, du weißt ja, die Makler«, antwortete ich irritiert auf die unerwartete Frage.
»Makler sind dafür nicht die richtigen Ansprechpartner«, konstatierte sie belehrend. »Du musst eine Masseuse fragen.«
Mir blieb buchstäblich erst einmal die Spucke weg.
Mutter lachte mich an. »Nun hör mal gut zu«, begann sie ihren Bericht, »ich war heute Vormittag zur Massage. Dabei erzählte mir die Masseuse, dass ihr Onkel aus Altersgründen seinen Resthof, hier ganz in der Nähe, verkaufen will. Vielleicht schaust du dir das mal an.«
Zwei Stunden später stand ich staunend auf dem Hof. Alles, was wir uns erhofft und erträumt hatten, stand in seiner ganzen Pracht vor mir.
Schon am nächsten Tag folgte ein weiterer Besuch, diesmal mit meiner Frau. Auch sie verliebte sich fast sofort in dieses schöne Fleckchen Erde mit Haus, Stallungen und einer geräumigen Halle. Baulich warteten allerlei Herausforderungen auf uns, doch die schoben wir beiseite – zugegebenermaßen ein wenig leichtsinnig, wie die Zukunft zeigen sollte. Kurzerhand entschlossen wir uns zum Kauf und fanden damit unser neues Zuhause für uns und unsere Kinder – unsere zukünftige Heimat im wunderschönen Dosenbek.
Fast zeitgleich mit unserem neuen Heim fanden wir einen Käufer für unseren Hof in Kirchdorf. Dieser hatte seinen ursprünglichen, im Hamburger Raum gelegenen Besitz bereits veräußert und drängte zwar höflich, jedoch mit Nachdruck darauf, den herrlichen Blick auf den Greifswalder Bodden täglich genießen zu können. Zudem hatte sich bei uns wieder Nachwuchs angekündigt. Also hieß es, nunmehr endgültig, die Siebensachen zu packen.
Dieser kleine, so lapidar klingende Satz hatte es in sich, denn mit dem Befüllen zweier großer Möbelwagen war es beileibe nicht getan. Zusätzlich galt es, die landwirtschaftlichen Maschinen vom Trecker über diverse Anhänger bis hin zum Kreiselmäher heil wieder nach Schleswig-Holstein zu schaffen. Auch das liebe Vieh scharrte bereits mit den Hufen, um ja nicht vergessen zu werden: unsere beiden Ponys Hanna und Willi sowie unsere Rinder, allen voran die Kuh Klausi, meinen treuen Lesern bereits aus der Frischen Fährte bekannt. Selbst die Bienen brummten unruhig in ihren Stöcken und verzichteten beim Check-in auf die obligatorische Selbstverteidigung in Form schmerzhafter Stiche.
Die langwierige Rückreise quer durch Rostock und Wismar, denn die komfortable A 20 präsentierte sich zur damaligen Zeit erst auf dem Reißbrett, barg jedoch auch ihre Gefahren. Das bekamen wir sehr eindringlich am eigenen Leib zu spüren, als wir Hanna und Willi im Pferdeanhänger Richtung Dosenbek transportierten.
Mein Vater fuhr an diesem Morgen den Geländewagen, meine Großmutter fungierte als Beifahrerin, während ich selbst mir eine kleine Verschnaufpause gönnte und mich im Gefühl absoluter Sicherheit genießerisch auf der Rückbank ausstreckte. Der leistungsstarke Motor brummte monoton. Ansonsten herrschte Schweigen, denn mein Vater konzentrierte sich auf den starken Verkehr, während meine Großmutter ihren eigenen Gedanken nachhing.
Immer tiefer versank ich in Schlaf, träumte wohlig vor mich hin, bis mich jäh Omas plötzlicher Aufschrei und Vaters gewaltiges Fluchen aus meiner beschaulichen Ruhe rissen. Bevor ich mich überhaupt vom Rücksitz emporstemmen konnte, um mir einen Überblick über die offenbar brenzlige Situation zu verschaffen, gab es einen gewaltigen Knall, und ich landete ungebremst zwischen Vordersitzen und Rückbank auf dem harten Autoboden.
»Der hat doch glatt versucht, mit seinem Trabbi die ganze Kolonne zu überholen, und das auch noch in der Kurve«, stotterte mein Vater, ganz blass um die Nase. Mühsam, die schmerzenden Körperteile reibend, rappelte ich mich wieder auf, um vorsichtig die Lage zu peilen.
»Als ich ihn von vorn kommen sah, habe ich noch versucht, nach rechts auszuweichen, aber die Leitplanke ließ mir keinen Spielraum mehr«, fuhr mein Vater, wohl eher im Selbstgespräch, fort.
Da gab es nur eins, aussteigen und gucken. Der erste Eindruck war niederschmetternd. Der gesamte linke Kotflügel unseres Frontera war zu einem unförmigen Blechhaufen zusammengedrückt, der linke Vorderreifen war wie das eingefahrene Fahrwerk eines Flugzeugs unter den Motorblock geklappt. Von unserem rasanten Trabbi-Fahrer fehlte vorerst jede Spur. Nur einzelne Teile, hier eine Stoßstange, dort die Motorhaube, lagen verstreut auf der Straße. Sie wiesen jedoch zweifelsfrei den weiteren Weg, nämlich eine steile Böschung hinab. Menge und Zerlegungsgrad dieser Teile ließ Schlimmstes ahnen. Mit dem Erste-Hilfe-Koffer in der Hand, die eigenen leichten Blessuren vergessend, lief ich Richtung Böschung.
Doch wie groß war meine Überraschung und Erleichterung, als im selben Moment ein junger Mann den steilen Hang heraufkraxelte. Er blickte sich um, kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr, grinste mich, wenn auch verlegen, an und sprach den denkwürdigen Satz: »Ist Gott sei Dank ja nichts passiert.«
Es ist eben alles eine Frage der Perspektive!
In der Zwischenzeit liefen die Bauarbeiten auf unserem neuen Hof auf vollen Touren. Viele meiner Freunde aus dem fernen Vorpommern opferten Freizeit und Urlaub, um dem Wessi in seiner alten Heimat wieder ein bewohnbares Domizil zu schaffen. Eltern und Schwiegereltern waren beinahe Tag und Nacht im Einsatz, während meine Großmutter die große Mannschaft täglich mit Essen versorgte.
Hofplatz auskoffern und pflastern, Terrasse an legen, alte Wände niederreißen, neue ziehen, Isolie rung verbessern, Heizkörper setzen, neue Balken lagen einbauen, die Sanitäranlagen modernisieren, die gesamte Elektroverkabelung austauschen … Endlos ließe sich die Aufzählung fortsetzen. Haus und Hof glichen einem Schlachtfeld. Eines Abends stand mein Schwiegervater mit sorgenvoller Miene vor dem ganzen Chaos, schüttelte verzweifelt den Kopf, legte mir schwer seine Hand auf die Schulter und riet mir, halb im Scherz, halb im Ernst, zum To talabriss. »Nimm einfach eine Bombe, sprenge den Trümmerhaufen in die Luft und baue alles neu auf, sonst wirst du niemals fertig.«