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»Kann denn Liebe Sünde sein«, »Yes, Sir«, »Davon geht die Welt nicht unter« – ihre Lieder sind Evergreens, ihre Bühnenauftritte Legende. Die Stimme allein ist Wahrzeichen der Leander, der Schatten ihrer Karriere: ihr Wirken im Dritten Reich. Jutta Jacobi hat bisher unbekannte Fakten zutage gefördert, die das Bild der Diva in einem neuen Licht erscheinen lassen. Es ist eine wahrhaft europäische Geschichte, und sie handelt von der Gier nach Ruhm und Geld, von großen Triumphen und vom Ausgestoßensein, von Lampenfieber, Alkohol und Depressionen, von anhänglichen Fans und gehässigen Journalisten, von nie enden wollenden Spionagegerüchten und einer grandiosen Selbstinszenierung: als Diva.

JUTTA JACOBI ist Feature- und Buchautorin. Die promovierte Germanistin lebt in Hamburg. Schwerpunkte ihres Schreibens sind Literatur und Gesang. Zuletzt erschien von ihr »Die Schnitzlers. Eine Familiengeschichte«.

Jutta Jacobi

Zarah Leander
Das Leben einer Diva

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1. Auflage

Genehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2015,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 2006 by

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

Die Autorin wird vertreten durch
Aenne Glienke | Agentur für Autoren und Verlage,
www.AenneGlienkeAgentur.de

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagfoto: © Scherl/SZ Photo

UB · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-14427-2
V002

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INHALT

VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE

HINTERM VORHANG

VOR DEM SPIEGEL

THEATER

DIE RIGA-KUR

ZARAH BEKOMMT EIN DENKMAL

STOCKHOLMER BRUCHLANDUNGEN

VARIATIONEN ÜBER DIE GEBURT EINES STARS

ZARAH GEHT ZUR REVUE

DIE ELEGANZ DER SAISON

AN DER SEITE VON GÖSTA EKMAN

DREI SCHWEDISCHE FILME

KARL GERHARDS PRIMADONNA

NACH WIEN

AXEL AN DER HIMMELSTÜR

ANNALISA ERICSON

DIE OPERATION LEANDER

YES, SIR!

EIN UFA-STAR WIRD BENUTZT

DIE GROSSE LIEBE

ABSCHIED MIT DREI BOMBEN UND DÄNISCHER FLORA

ELISABETH RALF

IM REGEN

LUNCH AUF DEM KRÄHENSCHLOSS

DIE LEANDER-DEBATTE

SPIONAGEGERÜCHTE

DER SÜNDENBOCK IN SEINEM REVIER GEFANGEN

HARALD HULTMAN

DAS COMEBACK

MAGO

REISEN UND REPRISEN

HÜLPHERS!

TORSTEN FÖLLINGER

DES GANZEN VOLKES ZARAH

DIVENGLÜCK

ZARAH BEREITET IHREN ABSCHIED VOR

BRIGITTE PETTERSSON

DANK

LITERATUR

BILDNACHWEIS

Madame Scandaleuse

Ist Ihnen nicht bös

Wenn Sie von ihr berichten

Tausend herrliche Geschichten (…)

Sie ist unmöglich

Aber deliziös

peter kreuder /alexander nebhut,
madame scandaleuse

Für meine Mutter

VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE

»Und muß ich mein irdisches Dasein beenden, Yes, Sir, sollt ihr euch nicht gleichgültig von mir wenden, No, Sir!« – Zarah Leanders Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Als der russische Schriftsteller Arkadij Waksberg vor Jahren behauptete, dass die schwedische Sängerin und Schauspielerin mit der unverwechselbaren Stimme unter dem Decknamen »Rose-Marie« für Sowjetrussland spioniert habe, da machte das Thema in ganz Europa Schlagzeilen – lange nach ihrem Tod. Zarah Leander sang für die Deutschen und sorgte für die gute Laune, die Goebbels als wichtigste Waffe im Krieg bezeichnete. War sie in Wirklichkeit »Genossin Zarah«? Das war die Frage, die mich bis in die Gartenlaube des pensionierten Chefs der schwedischen Spionageabwehr brachte und zum Moselwein mit Zarah Leanders ältestem Bruder, der mit 102 Jahren noch militärhistorische Abhandlungen schrieb. Daraus wurde ein Feature für den Hörfunk. Es hieß, ebenfalls nach einem Leander-Lied: »Kluge Frauen sagen nur: Vielleicht«. Die Akte Zarah Leander.

Ich kannte Zarah Leander von ihren Auftritten im Deutschen Fernsehen und hatte schon als Kind den sonderbaren Reiz empfunden, der von der alten Diva ausging, von ihren pompösen Roben, der tiefen Stimme, dem rollenden Rrrrr, den großen Gesten ihrer außergewöhnlich schönen Hände. Sonst wusste ich nichts über sie, außer, dass sie Schwedin war und sich durch ihre Jahre als Filmstar in Nazi-Deutschland zu Hause unbeliebt gemacht hatte. Die Recherchen in Schweden zeigten mir schnell, was für eine interessante Geschichte es da zu entdecken gab. Es stimmt nicht, dass erst die Deutschen Zarah Leander entdeckt haben. Als sie 1937 zur Ufa ging, war sie in Skandinavien längst ein Star, und die Mehrheit der schwedischen Presse verfolgte ihre weitere Karriere »auf dem Kontinent« mit Stolz und Zustimmung. Aber als sie 1943 nach Schweden zurückkehrte, wollte niemand etwas von ihr wissen. Was war geschehen? Gewiss, sie hatte mit einem Land Geschäfte gemacht, das einen Krieg gegen die halbe Welt angezettelt hatte, aber das hatten andere Schweden auch – aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Konnte es sein, dass »die Leander« für etwas büßen musste, das das halbe Land anging? Warum wurde gerade sie zum Sündenbock?

Diese Fragen lehrten mich eine Menge über das Land, in dem ich damals lebte, aber auch über das Wesen der Diva. Sie hat ein »bad girl« zu sein, so will es die Rolle. Die Jahre, in denen sie in ihrem Heimatland Schweden allgemein verhasst war, gingen vorbei, anrüchig blieb sie, auch nach ihrem Comeback. Hatte sie – oder hatte sie nicht für die Sowjetunion, für Deutschland, vielleicht sogar für das eigene Land spioniert?

Das Rätsel Zarah Leander ist nicht gelöst, dem Mythos schadet das nicht, ganz im Gegenteil. Sie selbst wusste das und erklärte in einem Fernsehinterview: »Ich bin die Leander, das muss reichen. Ich weiß selbst nicht, wer ich bin.« Sie inszenierte sich geschickt – als offenes Kunstwerk. Eben diese Mehrdeutigkeit macht sie für ein sich ständig verjüngendes Publikum immer neu und attraktiv. Die ARTE-Dokumentation des Autorenduos Simone Dobmeier und Torsten Striegnitz wurde kürzlich im Ersten Deutschen Fernsehen wiederholt und interessierte trotz später Sendezeit 1 Million Zuschauer.

Auch Zarah Leander wurde nicht als Diva geboren. Als Sara Stina Hedberg kam sie im wärmländischen Karlstad zur Welt. Als ich dieses Buch schrieb, ging es mir darum, den Weg von der braven Bürgertochter zum Mythos nachzuvollziehen, die Motive ihres Handelns zu begreifen und mich der künstlerischen Persönlichkeit, die sie war, über die Lebensgeschichte anzunähern. Ich bin sicher, dass es noch andere Menschen gibt, die über die Bewunderung hinaus diese Neugier teilen, und freue mich, dass das Buch nun als Taschenbuchausgabe vorliegt.

Hamburg, im September 2014

HINTERM VORHANG

Sie ist noch nicht dran. Sie weiß, es wird noch einige Jahre dauern. Ein Vorhang aus brokatverziertem Plüsch trennt sie von der Welt der Erwachsenen. Dahinter steht das kleine rothaarige Mädchen auf bloßen Füßen und wartet auf seinen Auftritt. Noch ist sie Zuschauerin, und die Bühne gehört den Eltern und deren Freunden.

Im Kinderzimmer liegen die Brüder in ihren weiß gestrichenen Betten und schlafen fest. Sie hat ihre tiefen Atemzüge gehört, aber das hat sie nicht beruhigt. Die Stimmen und das Gelächter der Erwachsenen von fern sind wie das Versprechen zukünftiger Vergnügungen, deren Mittelpunkt sie selber sein wird. Sie hat ihre Füße auf den gewebten Teppich neben dem Bett gesetzt, ist in geduckter Haltung, den Zeigefinger auf den Mund gelegt, aus dem Zimmer gehuscht und dann über den langen Gang in ihr Versteck im Herrenzimmer geschlichen. Das leise Knacken der Dielenböden hätte sie verraten können. Ihr Herz pocht heftig.

Auch sie möchte schöne, elegante Kleider tragen wie Mama und sich so viele Fleischstücke bei Tisch auftun dürfen wie Papa. Sie mag sich nicht herumkommandieren lassen, nicht dauernd zu hören bekommen: Zarah, davon verstehst du nichts, dafür bist du noch zu klein. Zornig pustet sie ihren Atem in den weichen Stoff vor ihrer Nase. Sie will den Mund auftun und reden, und alle sollen sie ansehen und ihr zuhören, so wie jetzt dem Onkel Victor, Papas Vetter Victor Nyman. Sie will endlich groß sein. Aber es wird noch viele Jahre dauern.

Kaiser Wilhelms Rüstungsanstrengungen und die Sorge um den Krieg waren die Gesprächsthemen der Herren bei Cognac und Zigarren. An solchen Abenden, wenn Papa und Mama ihre Freunde in der Elf-Zimmer-Wohnung in der Järnvägsgatan um sich versammelten und Zigarrenrauch über dem Raum lag wie nach einem Gefecht, pflegte ich mich anzuschleichen und zuzuhören. Stück für Stück erfasste ich die Landkarte der Erwachsenenwelt. Ich sog alles in mich auf wie ein Schwamm … niemand sah mich, wie ich mich im Nachthemd hinter den Falten der schweren Vorhänge verborgen hielt. Es gab Nächte, da hielt ich bis zum Morgengrauen aus, bis Ruth kam und mich ins Bett scheuchte.1

Sechs oder sieben Jahre alt muss Zarah Leander bei ihren Ausflügen in die Erwachsenenwelt gewesen sein. Zu den Kindheitserinnerungen, die sie in ihrem ersten Memoirenbuch »Wollt ihr einen Star sehn« für berichtenswert hält, gehören die Nächte hinterm Vorhang.

In diesem ersten Band, entstanden 1958, kurz vor dem Tod der Mutter, schrieb sie einiges über das Leben in ihrer Heimatstadt Karlstad und über die beiden Frauen, die ihr als Vertraute zur Seite standen: die geliebte Großmutter, mit der sie eine Weile das Schlafzimmer geteilt hatte, und Ruth, das »Familienfaktotum«. 1973, diesmal mit Hilfe des Fernsehjournalisten Jan Gabrielsson, hat sie einen zweiten Anlauf genommen, ihr Leben zu beschreiben. Nun liegt das Schwergewicht auf dem Doppelporträt ihrer Eltern. Die Schilderung ihrer frühen Theaterleidenschaft und des elterlichen Widerstands gegen ihre Bühnenpläne nehmen in beiden Büchern gleich viel Platz ein. Natürlich muss man das auch lesen als »Selbstporträt der Künstlerin als Kind«: Das, was sie geworden ist, bestimmt ihren Blick auf das, was früher war. Trotzdem: Auffällig ist die Orientierung an den Erwachsenen und das Desinteresse an Gleichaltrigen. Sie hatte es offenbar eilig, erwachsen zu werden.

Hatte die Diva das, was man eine »glückliche Kindheit« nennt? Hat sie, lustvoll und selbstvergessen, die Tage verspielt? Hat sie mit den vier Brüdern phantasievolle Abenteuer ausgeheckt? Jedenfalls berichtet sie davon nichts, berichtet von keiner »Bullerbü-Kindheit« wie die andere berühmte Schwedin, die 1907 geboren wurde, Astrid Lindgren, sie erlebt, beschrieben und als Idealbild von Kindheit in die Welt hinausgetragen hat. Bei Zarah Leander ist von solcher Freiheit nicht die Rede, von Geborgenheit schon, aber auch von Kontrolle, vom »Müssen«, das die Mutter verkörpert, und von den kleinen Fluchten, die möglich waren. Prägend, vielleicht sogar ausschlaggebend für die künstlerische Existenz von beiden ist die Herkunft aus der schwedischen Provinz. Was Vimmerby für Astrid Lindgren, das war Karlstad für Zarah Leander. Dort wurde sie als Sara Stina Hedberg am 15. März 1907 geboren. Sara mit »S« und ohne »h«, nach der Großmutter mütterlicherseits, Sara Charlotta Sundin.

Ein »Sandwichkind«: Vor ihr kamen die Brüder Jonas (Jahrgang 1903) und Ante (1905). Ein jüngerer Bruder, der auf den Namen Sigvard Sebastian getauft wurde, starb zehn Tage nach der Geburt am 7. Juli 1909 »aufgrund allgemeiner Schwäche«. Die Arme waren so dünn, berichtet der 102-jährige Jonas Hedberg, dass der Vater seinen Ehering darüber streifen konnte. Von großer Trauer um das tote Kind habe er persönlich wenig mitbekommen. Aber vielleicht Zarah, die damals zwei Jahre alt war. 1911 und 1912 wurden zwei weitere Brüder geboren: Gustaf und Bror.

Wie unterschiedlich sich auch später das Verhältnis zu jedem der vier entwickelte – Gustaf, der Schauspieler wurde, liebte sie so, dass er seine beiden Töchter nach der großen Schwester benannte, Kerstin Zara Ingegerd die erste, Zarah Eva Susanna die zweite –, in Zarah Leanders Memoiren bekommen sie den Platz einer »unbarmherzigen« Brüderbande zugewiesen, die der Vater mit harter Hand zügeln muss. Unbarmherzig, weil sie für ihre Bühnenträume nichts als Spott übrig hatten:

Ich hatte in der Aula des Gymnasiums Jenny Hasselquist tanzen sehen. Das Erlebnis war so aufwühlend, so unerhört gewesen, dass ich mich nicht beherrschen konnte, sondern zu Hause aufgeregt verkündete: »Ich will Tänzerin werden!«

Meine abscheulichen, geliebten Brüder brüllten und bogen sich vor Lachen, bis Papa sie am Schlafittchen packte, ihre Köpfe gegeneinanderstieß und sie in eine Ecke schleuderte. »So, und Mama erfährt nichts davon! Kein Sterbenswörtchen! Vergesst das nicht, Jungs!«, drohte Papa.

»Määännerrrr umschwirrn mich wie Motähän das Licht« … Das Lied gehört Marlene Dietrich, und auch Zarah Leander hat es gesungen, auf Schwedisch. Es beschreibt die Grundfigur ihrer Bühnenchoreografie von den ersten schwedischen Filmrollen an bis zu den letzten Fernsehauftritten. Das Drohnenballett der gut abgerichteten Herren im Frack umschwärmt die Diva, die ihrem Dasein Ordnung und Sinn verleiht, reagiert auf das kleinste Zeichen ihres ausgestreckten Fingers, lässt sich anlocken und fortschicken, geht in die Knie, schickt bewundernde Blicke und wartet auf ein Zeichen. Sie, die lächelnde Dompteurin, bewegt sich nur sparsam. Sie hat es nicht nötig, sich zu sehr zu verausgaben. Der Mittelpunkt ist sie in jedem Fall.

Die Brüder dachten nicht daran, sich so zu verhalten. Das Sandwichkind ist eingeklemmt zwischen den brüderlichen Hälften, notwendige Zutat des Ganzen, nicht mehr. Aber immerhin ist sie ein Mädchen, das einzige, und damit anders, angreifbar. Im Vater hat sie ihren starken Ritter. Zarah, die Vatertochter. Ein festes Band ist das gemeinsame Musizieren, der Vater auf der Flöte, sie auf dem Klavier.

Papa gab mir oft Noten: »Hier, guck mal, das ist wunderschön. Üb das heute, dann spielen wir morgen zusammen.« Und am nächsten Tag spielten wir, und mit den leichten Tönen aus der Flöte glitt sein Blick weit weg, über die Noten, den Notenständer, die Sesselschoner, Familienfotos und Zimmerpflanzen. Mir schien, als würden seine blauen Augen um noch eine Nuance heller, wenn er spielte, und ich wünschte mir, den Blick mit ihm teilen und sehen zu können, was er sah. Ich ahnte es. Die Schule war die Hölle, die Brüder konnten unerträglich sein, Mama war so, wie sie war. Aber Papa und ich feierten ein Fest in einer Welt, die nur uns gehörte. Bis Mama kam: »Was treibt ihr denn, mitten am Tag? Zarah soll doch die Palmen waschen!«

Beide zitierten Passagen – der Vater, der sich schützend vor seine Tochter stellt, und die Fluchten zu zweit in die exklusive Welt des Musizierens – sind Schlüsselszenen des Zarah-Mythos. Sie fehlen in keiner biografischen Skizze. Hinzu kommt noch eine dritte, oft und gern zitierte. Es handelt sich um einen Dialog zwischen Vater und Tochter, den die Künstlerin aus dem Gedächtnis folgendermaßen wiedergibt:

»Ich bin so anders als alle anderen, Papa. Alle anderen Mädchen sehen anders aus. Bloß ich sehe so aus …«

»Rotes Haar ist doch schön!«

»Aber ich denke auch nicht wie die anderen, ich denke anders als sie.«

»Mach du nur weiter damit, es ist nichts Verkehrtes daran, zu sein, wie man ist.«

»Ich mag nur Musik, und die anderen reden von Handarbeiten. Ich kann das nicht, ich kann nicht nähen, ich sehe ja nichts.«

»Du könntest schon, wenn du nur wolltest. Aber wenn du nicht willst, dann musst du auch nicht.«

Es ist ein überaus liebevolles Bild, das Zarah Leander von ihrem »kolossalen Papa« bewahrte. Vermutlich aus Liebe schweigt sie über das vorzeitige Ende ihrer Kindheitsidylle. Nach Berichten des Bruders Jonas beginnen sich, kaum ist der Erste Weltkrieg vorbei, die ersten Anzeichen für die bedrohliche Krankheit des Vaters bemerkbar zu machen, eine Krankheit, die zu seiner vollständigen körperlichen und geistigen Zerrüttung führen sollte. Heute, glaubt Jonas Hedberg, würde man sie »Alzheimer« nennen. Damals hatte man keinen Namen dafür. Ein großes Unglück für die siebenköpfige Familie.

Anders Lorentz Sebastian Hedberg wurde 1872 im wärmländischen Gunnarskog geboren. Die Familie war angesehen, eine alte, wärmländische Bürgerfamilie mit Stammbaum und Familienwappen und allem, was dazugehört, in der die Männer Kaufleute, königliche Beamte, Gutsbesitzer und -verwalter waren. Die Frauen der Familie glaubt man vor sich zu sehen, wenn man die Romane der Värmländerin Selma Lagerlöf liest, besonders »Gösta Berling«. Über Zarah Leanders Urgroßmutter Brita Maria Gyllström wurde gesagt, sie sei ein »schönes, nobles Frauenzimmer, aber sehr herrisch. Auf Festen war sie es, die voranging, und es wurde still im Raum, wenn sie sich zeigte.« Die Mutter des Vaters, Laura Kristina Gyllström, galt als ausgesuchte Schönheit und wurde »Rose von Frykdal« genannt. Ihre letzten beiden Lebensjahre nach dem Tod ihres Mannes lebte sie im Haus ihres Sohnes, sehr geliebt von der heranwachsenden Enkelin Zarah: »Großmutter war ein Prachtweib – gerade im Rücken wie ein Gardeoffizier, aber leicht und graziös wie eine Ballettratte. Ich glaube, sie hatte Schuhgröße 34. Außerdem war sie Wärmländerin.« Sie fügt etwas Unübersetzbares hinzu, was ungefähr bedeutet, dass in jeder Wärmländerin eine Hexe steckt, eine Portion Zauberkraft.

Großmutter Laura war mit Johan Alfred Hedberg verheiratet. Dunkle Haare, schmales Gesicht, sehr intensive Augen, kleiner Mund. Man glaubt, in seiner Physiognomie das »herrische Wesen« seiner Mutter Brita wiederfinden zu können. Wäre der Mann Schauspieler geworden, hätte ihn sein Gesicht für die Rolle des Mephisto empfohlen. Er handelte mit Holz und Holzkohle und verlor einen großen Teil seines Vermögens, als in der wirtschaftlichen Depressionsphase nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 die Kohlepreise drastisch fielen. In dieser Zeit wurde der älteste Sohn geboren, Zarahs Vater. Er war sechzehn, als die Familie nach Karlstad zog.

Die wärmländische Hauptstadt Karlstad liegt an der Mündung des Klarälv in den Vänersee. Auf dem Klarälv, der in den Bergen Mittelnorwegens südlich des Femundsees entspringt, lassen sich Baumstämme transportieren. Der Ort passte auch sonst gut für einen Neuanfang des Holzhändlers Johan Hedberg. Am 2. Juli 1865 hatte ein großer Brand die Stadt fast vollständig zerstört. Nur »die Domkirche, das Schulhaus, das Lazarett, das Bezirksgefängnis, die Häuser des Bischofs und der Hypothekenvereinigung«, wie Nordisk familjebok von 1910 auflistet, waren übrig geblieben. In den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten wurde Karlstad neu aufgebaut, mit breiten großzügigen Straßen, die mit Alleebäumen bepflanzt wurden. Die moderne Zeit begann, aus Handwerksbetrieben wurden Industriebetriebe, Ende der 1880er Jahre bekam die Stadt ihre Wasserleitung, so dass fast alle Haushalte fließendes Wasser hatten, 1890 baute die Wennberg-Werft ihr erstes Dampfschiff, 1905 wurden die ersten elektrischen Leitungen gelegt. Zwischen 1889 und 1909 verdoppelte sich die Zahl der Einwohner fast, von 8601 auf 16 762.

1913 arbeiteten in Karlstad 1735 Männer und Frauen in 43 Fabriken. Über Schweden herrschte der Tennis spielende König Gustav V., und die sozialen Unterschiede waren groß. In ihrer Kinderzeit hätten die Dienstmädchen in der Küche geschlafen, schreibt Zarah Leander, auf einer ausziehbaren Bettbank, in der sie auch ihre Habseligkeiten unterbrachten. Das empfand sie als »Ungerechtigkeit«.

Anders Lorentz Sebastian Hedberg hatte von seiner Mutter die Schönheit geerbt. Ein Foto zeigt ihn als jungen Mann mit Vatermörderkragen, Fliege und hochgezwirbeltem Schnurrbart. Aber diese äußeren Attribute, die ihn als strebsamen Bürgersohn kennzeichnen, stehen im Kontrast zu dem weichen Kinn, den halbgeschlossenen Augen, dem nach innen gerichteten Blick. In seiner korrekten Kleidung wirkt er wie eingezwängt in ein stählernes Korsett. Später verlor er seine blonden Locken, wurde dick und war nicht wiederzuerkennen. Ein 140 Kilo schweres Polster gegen die Rohheit der Welt hatte er sich zugelegt. »Papa hatte die Seele eines Poeten«, schreibt Zarah Leander.

Durfte dieser Mann, der Flöte spielte und mundartliche Gedichte schrieb, die in Nya Wermlandstidningen unter dem Pseudonym »Finnalsh« gedruckt wurden, jemals daran denken, seine Neigung zum Beruf zu machen? Er versuchte es zunächst mit einem Kompromiss und absolvierte eine Ausbildung als Klavier- und Orgelbauer in Leipzig. Das war Ende der neunziger Jahre. Der Plan nach seiner Rückkehr war, die mit wenig Erfolg arbeitende Pianofabrik in Karlstad zu übernehmen und zu modernisieren, aber daraus wurde nichts. Eine Zeit lang arbeitete er dort als Angestellter, verschaffte dem Betrieb sogar eine Goldmedaille bei einem Wettbewerb in Norrköping. Irgendetwas muss ihn dazu gebracht haben, sich von seinem alten Berufsziel zu verabschieden. Hat ihm die Arbeit keinen Spaß gemacht? Warf sie zu wenig Geld ab? Gab es Streit? Soll man an ein Zerwürfnis denken?

Mit dreißig heiratete er. Mathilda Ulrika Wikström war genauso alt wie er, zum Heiraten für damalige Begriffe schon ziemlich alt, und sie kam vom Norden, aus Västersjäland, wo ihr Vater eine Lachszuchtanstalt betrieb. Als einzige Gemeinsamkeit mit der Mutter hebt Zarah Leander die Schwäche für gut aussehende Männer hervor. Anders Hedberg, wie gesagt, sah gut aus. Dass auch die Mutter eine Schönheit war, wie Zarah behauptete – aber welche Tochter glaubt das nicht von ihrer Mutter –, kann man bezweifeln, wenn man sie auf Bildern sieht. Rote Haare hatte sie, wie Zarah, aber die sieht man auf den Schwarzweißbildern nicht, und mit ihrer langen Nase war sie nicht fotogen. Zweifellos aber war sie tüchtig.

Die Hochzeit war am 26. Februar 1902, nur wenige Monate später, im September, eröffnete sie »mit Erlaubnis ihres Gatten« ein Geschäft für Lebensmittelspezialitäten. So steht es im Handelsregister der Stadt. Ohne ausdrückliche Zustimmung des Ehemanns durfte eine verheiratete Frau damals keine Geschäfte machen, in Schweden nicht anders als in Deutschland. Außerdem kam es nicht sehr häufig vor. Jonas Hedberg weiß nur noch von einer weiteren Frau, die während seiner Kinderzeit in Karlstad unternehmerisch tätig war. Sie hatte einen Fuhrbetrieb und stellte sich, wenn Streik war, auch selber auf den Kutschbock und chauffierte.

Gemeinsam betrieb das Ehepaar Hedberg alle möglichen Unternehmungen, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Zu den erfolgreicheren gehört die Maklerfirma. Zwei Umstände waren gut für das Geschäft: die weit verzweigten verwandtschaftlichen Kontakte der Familie Hedberg in Wärmland und die Auflösung der Union mit Norwegen im Jahr 1905. Von Karlstad ist es nicht weit bis zur norwegischen Grenze. Dass die beiden Länder nun getrennte Wege gingen, beförderte die Neigung der Grenzlandbewohner, Grund und Boden zu kaufen, zu verkaufen und klare Verhältnisse zu schaffen.

Zum Familienimperium gehörten auch zwei Hotels, die in der Järnvägsgatan (das heißt Eisenbahnstraße) direkt gegenüber dem Bahnhof lagen. Damals war das eine Toplage. 1869 war die erste Bahnstrecke Karlstad – Kristinehamn mit Fanfaren, Kanonensalut und Hurrarufen eingeweiht worden. Das Bahnhofsgebäude mit Kontor, Restaurationsbetrieb und Wartesälen für die erste, zweite und dritte Klasse war pünktlich zu dem Ereignis fertig geworden. Es galt als architektonisch außerordentlich geglückt und wurde zur Attraktion für die Landbewohner. Zwei Jahre später, im Juni 1871, gab es wieder einen Grund zum Feiern: Über die Gleise in Karlstad rollten die wimpelgeschmückten Lokomotiven »Engelbrekt« und »Viger Spaa« in Richtung Westen. Die neue Bahnstrecke nannte man »die zweite Union mit Norwegen«. Der Bahnhof – ein Symbol des Fortschritts.

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Karlstad um 1900: In der Straße mit den Alleebäumen quer zu dem großen Platz wurde Sara Stina Hedberg am 15. März 1907 geboren.

Auf dem Bahnhof wurden die riesigen Fässer mit deutschem Wein aus den Güterwaggons geladen, die Anders Hedberg am Rhein und an der Mosel einkaufte. Anschließend wurde der Wein in einer Limonadenfabrik im Keller unter dem »Cosmorama«, dem ersten Kino der Stadt, auf Flaschen gezogen und verkauft. Spätestens 1919 muss damit Schluss gewesen sein. Von da an gab es Wein in Schweden nur noch im staatlich kontrollierten »Systembolaget« zu kaufen, rationiert und gegen Vorlage eines Kontrollbüchleins, das erst 1955 wieder abgeschafft wurde. Die schwedische Nüchternheitsbewegung hatte sich durchgesetzt.

Mit Blick auf den Bahnhof, in der Järnvägsgatan 1, lebte die Familie Hedberg viele Jahre lang. Die Wohnung inklusive Kontor hatte elf Zimmer und lag in der ersten Etage des damals neuen Mietshauses. Nebenan der Tabakladen, mit dem Mutter Mathilda die Familie über Wasser hielt, als der Vater nicht mehr in der Lage war, Geschäfte zu machen.

Zarah war als letztes der drei älteren Kinder in der Kungsgatan 4 geboren worden. Das unauffällige Haus liegt mitten in der Stadt zwischen der Domkirche mit ihrem Glockenspiel, dem Postgebäude an der Ecke und Walfrid Svenssons Möbelgeschäft, gegründet 1892; dann brauchte die Familie mehr Platz. Die Nähe zur Kirche, in deren Schatten Zarah laufen lernte, darf man nicht im übertragenen Sinn sehen – Hedbergs waren nicht fromm. Die Eltern gingen so lange zum Gottesdienst, solange sie Lust an der Selbstdarstellung hatten, später dann nicht mehr. Aber sie waren die Ersten, die Propst Carl-Vilhelm Bromander, der aus einfachen Verhältnissen kam, zu seinem Amtsantritt gratulierten.

Eine gutbürgerliche Familie, jedenfalls vor dem Zusammenbruch des Vaters. Mathilda und Anders Hedberg pflegen freundschaftlichen Umgang mit städtischen Honoratioren (wie dem Latein- und Griechischlehrer Sjövall) und Gutsbesitzern aus dem Umland (wie den Melkqvists auf Hammar). Zum Haushalt gehören zwei Dienstmädchen sowie Ruth, das »Mädchen für alles«:

Eigentlich war sie angestellt als Kindermädchen, aber sie steuerte alles. Sie war es, die morgens in den Kachelöfen Feuer machte, sie war es, die die Dienstmädchen antrieb. Sie war es, die einen Riesenaufstand machte, wenn die Mädchen vergessen hatten, die Wasserkannen auf den grünen Marmorwaschbecken aufzufüllen. Sie war es, die jeden Morgen um sieben mit dem immergleichen Weckruf in das Kinderzimmer kam: »Auf auf, ihr Kinder. Der Wein ist sauer, die Milch hat eine Haut, und die Frau hat schlechte Laune. Aber das geht vorbei.«

Wenn die kleine Zarah zum Kinderball ins »Stadshotellet« darf, dann wird sie von Ruth begleitet, die ihr in einem Beutel die feinen Schuhe hinterherträgt. Das »Stads«, der Ort für die gesellschaftlichen Höhepunkte des kleinstädtischen Lebens: In dem anspruchsvollen Hotel aus Karlstads Gründerjahren nach dem großen Brand wohnte die norwegische Delegation, als zwischen Mai und Oktober 1905 über die Auflösung der norwegisch-schwedischen Union verhandelt wurde, und jedes Jahr trafen sich hier die Holzbarone.

In dem großen Saal im Erdgeschoss mit den hölzernen Wandpaneelen und den vier Marmorsäulen mit den vergoldeten Kapitellen werden die Feste gefeiert. Sieben deckenhohe Bogenfenster lenken den Blick auf den Klarälv und das Theater auf der anderen Seite der Brücke. Im Winter wird das Eis mit Pechfackeln erleuchtet. Unter der Stuckdecke umschlingen sich langschnäbelige Tiere mit Ansätzen von Flügeln in Jugendstilmanier. Sind das vielleicht Drachen? Nein, wenn man genau hinsieht, sieht man: Es sind Schwäne mit leicht, wie zum Singen geöffneten Schnäbeln. Gleich werden sie ihre melancholische Klage über den Klarälv schicken.

In dieser phantasiebeflügelnden Pracht hat die kleine Zarah ihren ersten Auftritt. Auf einem der erwähnten Kinderbälle darf sie einen Walzer vortragen. Sie ist sechs, und sie genießt den Applaus. Ihre musikalische Begabung wird früh gefördert. Ihr erster Klavierlehrer ist ein Deutscher namens Hiller. An das Singen verschwendet sie zu der Zeit nicht einen Gedanken. Ihre Brüder sind die mit den hübschen Stimmen. Zu Hause wird viel Musik gemacht – Hausmusik, das ist ein bürgerlicher, ein angemessener Zeitvertreib. Aber wie wäre jemand aus der Kaufmannsfamilie Hedberg ernsthaft auf den Gedanken verfallen, dass man Geld verdienen könnte – mit Musik? Vielleicht auch Zarah nicht, unter anderen Umständen.

Nichts dokumentiert das schwankende ökonomische Geschick der Familie Hedberg besser als die wechselnden Sommerhäuser. Im Sommer zieht Schweden aufs Land und kultiviert die eigenen ländlichen Wurzeln. Das ist nicht »Urlaub« im mitteleuropäischen Sinn, das ist Teil des schwedischen Jahresrhythmus seit der Industrialisierung und Verstädterung des Landes. Von Mitte Juni bis Mitte August sind die Schulen geschlossen, und das ganze öffentliche Leben wird auf kleinstem Gang gefahren. Wer kann, verlegt seinen Haushalt aufs Land und nimmt lange Wege zum Arbeitsplatz in Kauf. Man genießt die Natur und die hellen Nächte, geht einfachen handwerklichen Tätigkeiten nach und feiert Feste mit der Familie und den Nachbarn in der Sommerkolonie. Anders Hedberg liebte es zu fischen. Vor Koskär gab es schöne, große Aborren, und die Kinder mochten das geräumige, grüne Haus. Es lag zwanzig Minuten mit dem Boot von Karlstad entfernt. Das erste Sommerhaus hingegen, erinnert sich Jonas Hedberg, hatte nur vier Zimmer.

Dann, vor dem Ersten Weltkrieg, wurde es richtig hochherrschaftlich. Der Vater kaufte »Högeruds såg och torvströfabrik«, eine Torffabrik in der Nähe von Arvika, mitsamt Sägewerk und einem Herrenhof, in dem die Familie von da an die Sommer verbrachte. Ein paar Jahre lang gingen die Geschäfte glänzend. In dem Sägewerk wurden Holzschindeln hergestellt, die zum Dachdecken gebraucht wurden. Eine Reihe von Aufträgen vom Königshof brachte Geld und Ehre ein. Noch lukrativer war das Geschäft mit dem Torf. Mit Torf konnte man heizen, als im Krieg die Kohle knapp wurde. Als Zarah Leander zwanzig Jahre später ihr Können zum Höchstpreis an die Nazis verkaufte, tat sie nichts anderes, als dem familiären Muster zu folgen. Sie verhielt sich konsequent als Unternehmerin.

Wann genau es mit den Geschäften des Vater bergab ging, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Lag es an seiner schwindenden Verstandeskraft oder, wieder einmal, an den – jetzt ungünstigen – Zeitläuften? Vielleicht war es eine Kombination aus beidem. Von der Depression nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war auch die schwedische Wirtschaft schwer betroffen. Anfang der zwanziger Jahre musste die Wennberg-Werft in Karlstad die Hälfte ihrer Arbeiter entlassen. Der Tiefpunkt war zur Jahreswende 1920/21 erreicht, danach ging es allgemein wieder bergauf. Aber nicht mit Anders Hedbergs Geschäften. Im Juli 1928, ein Jahr vor seinem Tod, verzeichnet das Handelsregister von Karlstad: »Die für Anders Hedberg ausgestellte Prokura wird zurückgenommen.« Zum Schluss musste das Herrenhaus verkauft werden.

Auf Jugendfotos lächelt das Mädchen Zarah nie. Sie sieht traurig aus. Aber sie weicht der Kamera nicht aus, sie zeigt, was in ihr ist. Kein konventionelles, beschönigendes Lächeln. Über ihre Mutter schreibt sie, sie sei eine »Frau vom alten Schlag« gewesen: »eine, die stark sein musste und deshalb stark wurde, die Stärke mit Schroffheit verwechselte und die ihre Stärke wie ein hochgeschlossenes Korsett trug, das nur im Schlafzimmer abgelegt werden durfte. Es war nicht leicht, Gefühle durch diesen Panzer zu schicken, in die eine wie die andere Richtung.« Das ist das einzige Mal, das sie eine Andeutung auf die häusliche Tragödie macht. Interessanterweise hat sie die Berufstätigkeit der Mutter mit keinem Wort erwähnt. »Mama war Herrscherin über zehn Zimmer, Diele, Küche, Speisekammer und Waschküche. Wir anderen waren das Fußvolk.«

In der rückwärtigen Betrachtung der Tochter erscheint Mathilda Hedberg als ungemein tüchtige und ordnungsliebende Hausfrau, Schlüsselbewahrerin, Gastgeberin, Kinogängerin, als autoritäre, kalte und ignorante Mutter. Wäre es zu viel der Ehre gewesen, dieser dominanten Frau auch noch eine ökonomische Mitverantwortung für die Familie zu bescheinigen, eine Ehre, die eventuell zu Lasten des väterlichen Bildes gegangen wäre? Oder war es eine Revanche für den mangelnden Respekt der Mutter ihrer eigenen beruflichen Arbeit gegenüber?

Eines hatte Mathilda Hedberg sicher nicht im Sinn für ihre Tochter: eine Bühnenlaufbahn.

1Sämtliche Zitate aus Zarah Leanders Erinnerungsbüchern sind aus dem schwedischen Original übersetzt.

VOR DEM SPIEGEL

Es war einmal in einer kleinen schwedischen Stadt ein Mädchen mit roten Haaren und vielen Sommersprossen. Das hatte einen großen, starken Papa. Aber kein Pferd auf der Veranda. Es schämte sich für seine roten Haare und für die Sommersprossen. Statt erwachsene Männer im Fingerhakeln herauszufordern, saß es am Klavier und übte Chopin.

Sara Stina Hedberg war kein rebellisches Kind. Sie war – snäll. Jonas Hedberg gebraucht diesen Ausdruck, der einen ähnlichen Unterton hat wie das deutsche »nett«: freundlich, lieb und artig, wohlerzogen. Genau so, wie es von einem Mädchen aus gutbürgerlichen Kleinstadtkreisen erwartet wurde. Das Schulabgangszeugnis vom Frühjahr 1923 bescheinigt ihr die Bestnote »A« in »Betragen« ebenso wie in »Fleiß und Aufmerksamkeit«. Dieses Zeugnis ist übrigens ausgestellt für »Zarah Hedberg«, während sie bei ihrer Einschulung als »Sara« im Schulkatalog eingetragen ist. Irgendwann in den Jahren dazwischen muss sich also die Schreibweise mit dem aggressiver klingenden »Z« am Anfang durchgesetzt haben.

In »Singen« hat sie eine gute Note, nämlich ein kleines »a«, aber besser noch ist sie im »Zeichnen«. Überhaupt schneidet sie in den Nebenfächern gut ab: in Biologie und Gesundheitslehre, Handarbeit, Gymnastik, häuslicher Ökonomie, Religionslehre. In den Sprachen – Schwedisch, Deutsch, Englisch und Französisch – steht sie mit »Ba« oder »B« eher durchschnittlich da, und im Mündlichen ist sie durchweg besser als im Schriftlichen. In Mathematik und Geschichte ist sie auf dem gleichen mittleren Niveau. Die einzige schlechte Note hat sie in Schriftfranzösisch.

Ein anspruchsvolles Curriculum für die Klasse 8A an »Karlstads Högre elementarläroverk för flickor«. Das war die Schule für die »Höheren Töchter«, die erste von der Kommune unterstützte Mädchenschule in der Stadt überhaupt. Das Bildungsprivileg für Mädchen war damals ziemlich neu. Der große Brand hatte die Stadt in Schutt und Asche gelegt, aber daraus hatten sich Chancen ergeben, das öffentliche Leben neu zu organisieren. Vor dem Brand hatte es nur private Pensionate gegeben, in denen die Schülerinnen in Schönschrift, Rechnen, Handarbeit und Französisch unterrichtet wurden. Die Alternative war die Volksschule. Da konnte man im 19. Jahrhundert von Glück reden, wenn man Lesen und Schreiben lernte. Bis zu dreihundert Schüler gingen in eine Klasse, und die Lehrer arbeiteten üblicherweise ehrenamtlich und ohne besondere Ausbildung. In Karlstad wurde der erste examinierte Lehrer im Volksschuldienst 1859 eingestellt. Viele Eltern fanden die Schulpflicht ihrer Kinder – in Schweden seit 1842 – völlig unnütz und boykottierten sie aus unterschiedlichen Gründen.

Einer von denen, die für verbesserte Bildungseinrichtungen stritten, war der Karlstader Domprobst Jakobsson. Der hatte – als große Ausnahme unter den Honoratioren der Stadt – selbst die Volksschule besucht und setzte sich nun für eine Mädchenschule ein. 1878 wurde »Karlstads Högre elementarläroverk för flickor« als Aktiengesellschaft gegründet und bald darauf eingeweiht. Das neue Gebäude in der Nähe des Doms platzte schnell aus allen Nähten, als die Schulzeit nach zwanzigjähriger Erfahrung von sieben auf acht Jahre ausgedehnt wurde. Man beschloss also, das leer stehende alte Lazarettgebäude umzubauen. Im Herbst 1914 konnte die Mädchenschule in das neu renovierte, dreigeschossige Haus umziehen. Auf welche Bildungsschwerpunkte für Mädchen damals Wert gelegt wurde, verrät eine zeitgenössische Beschreibung:

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Die Schule fand sie öde: Zarah (2. Reihe, 3. v. rechts) in »Karlstads Högre elementarläroverk för flickor«.

Im Erdgeschoss ist die Schulküche mit allen neuzeitlichen Einrichtungen gelegen: Gas, Elektrizität, fließend warmem und kaltem Wasser und vielem mehr. Dort befinden sich auch der Speisesaal, die Vorratskammer, Waschküche und Plättstube. Auf der gleichen Etage am anderen Ende der große, prächtige Gymnastiksaal in ganz modernem Zuschnitt. Zu dieser Abteilung gehört auch das Lehrerinnenzimmer, der Dusch- und Ankleideraum.

Die Klassenräume im ersten und zweiten Stock sowie die Fachräume für Physik, Chemie und Biologie erwähnt der Schreiber zwar, geht aber auf ihre Ausstattung nicht näher ein.

Ein Foto des Lehrerinnenkollegiums von 1882 zeigt lauter streng aussehende Damen in hochgeschlossenen schwarzen Kleidern mit Hauben oder Hüten auf dem Kopf. Ab 1913 hieß die Leiterin Anna Danielsson, und die Mode wird sich geändert haben. Trotzdem: »Die Schule war die Hölle«, schreibt Zarah, ohne ihre Qualen näher zu erläutern. Das Abgangszeugnis verzeichnet für das vergangene Halbjahr 58 »krankheitsbedingte« Fehlstunden. An diese Krankheit glaubt der große Bruder keine Sekunde lang. »Zarah war ziemlich faul«, bemerkt der uralte Mann in vertraulichem Ton. Vielleicht lag es daran, dass sie das Ziel ihrer schulischen Laufbahn so wenig inspirierend fand?

Ein Mädchen aus guter Familie in der schwedischen Provinz wurde im ersten Teil unseres Jahrhunderts für nur eine einzige Aufgabe im Leben erzogen: nämlich, um Hausfrau in einer neuen guten Familie in der schwedischen Provinz zu sein. Sie musste alles lernen, um es dann später an die Mädchen aus guter Familie weiterzugeben, die sie gebären sollte: Schlachten, Einkochen, die einfachere und die feinere Küche, Nähen, Waschen, das Stärken der Herrenhemden, guten Ton und Etikette sowie die richtige Temperatur des Burgunders beziehungsweise Mosels. Vielleicht lernte sie auch ein bisschen Porzellanmalerei oder Klavierspielen – passende Beschäftigungen für die Freizeit, die die Hausfrau leider nicht hatte.

Ich lernte alles dieses. Ich kann Herrenhemden und Knopflöcher nähen. Ich kann Schweine abbrühen und Marmelade aus Pomeranzenschalen machen. Sogar Schnaps kann ich brennen, wenn es mal eng wird.

Wer Zarah Leander später näher kannte, bestätigt ihre Talente als Hausfrau, Gastgeberin und Köchin. Es war offensichtlich nicht diese Art von Tätigkeiten, die ihr zuwider war, sondern die Vorstellung, dass darin nun ihr Lebenszweck bestehen sollte, zumal in der Kleinstadt.

Viele Jahre später, da ist sie längst die gefeierte Stockholmer Revueprimadonna, spielt sie in einem ihrer ersten schwedischen Filme eine erfolgreiche und in vierter Ehe verheiratete Bildhauerin, die einen Wettbewerb in der Provinz gewonnen hat. Sie fährt also in ihrem eleganten, offenen Auto in das Städtchen »Broköping« und trifft dort die Mutter des jugendlichen Verehrers und angehenden Lokalpolitikers, dem sie den Auftrag verdankt. Die Mutter ist besorgt, weil sie befürchtet, die gefährliche Frau aus der Großstadt könnte es auf ihren Sohn abgesehen haben. Aber Tora/Zarah kann sie schnell trösten. Sie lacht ein lautes, übermütiges Lachen und legt ihr die Hand auf den Arm: »Ich habe nicht das geringste Verlangen, hier zu leben.« Man glaubt es ihr. Selten war Zarah in einer Rolle so überzeugend. Die Enge der Provinz hat sie durchkostet, genauso wie Astrid Lindgren, deren Pippi Langstrumpf die kleinstädtischen Damen der Gesellschaft mit frechen Sprüchen brüskiert.

Man sagte in Karlstad damals nie, dass es fein war, sich so und so zu verhalten – stattdessen hieß es: »Das macht man nicht, das gilt als unfein.« Wie die neue Frau zum Beispiel. Eine neue Familie war nach Karlstad gezogen, und das war natürlich sehr spannend. Die neue Frau wurde in Windeseile zu jedem anstehenden Kaffeeklatsch eingeladen, und die Karlstader Frauen standen Schlange, um die Neue in Augenschein zu nehmen. Aber ach, du meine Güte! Das Mensch rauchte Zigaretten. Direkt vor der Nase der Bankdirektorsgattin und der Gemahlin des Superintendenten zog das Mensch eine so genannte Zigarette hervor und steckte sie sich zum Kaffee an. Das galt als wirklich sehr unfein. Und es kam noch schlimmer. Beim Kaffeeklatsch wurde alles lang und breit beredet. Die Frauen in der Stadt hatten angefangen sich anzumalen! Auch das galt als höchst unfein. Bis dahin hatten alle Damen sich mit dem einzigen Parfum zufriedengegeben, das es in der Stadt zu kaufen gab: Mille fleur. Aber nun ging es bergab mit dem Gefühl für Sitte und Anstand. Jetzt ging jede Frau Sowieso los und kaufte teure neumodische Schönheitsmittel in Stockholm. Man schüttelte den Kopf. Das reine Sündenbabel.

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Sie kannte die kleinstädtischen Tugendwächterinnen aus eigener Anschauung. Szenenfoto aus dem Film »Heimat« mit Zarah Leander als gefallene Tochter der Stadt, Magda von Schwartze.

Man sieht sie vor sich, die ehrbaren, freudlosen, engherzigen, zu kurz gekommenen, pharisäerhaften Frauen in dem Film »Heimat«, die sich entrüstet und auch ein bisschen verwirrt abwenden, als die gefallene Tochter der Stadt (Zarah, tief dekolletiert, mit dem Lied »Eine Frau wird erst schön durch die Liebe«) ihr Recht auf Lust und Liebe einklagt.

Aber das kommt später. Noch ist sie ein Kind und sieht die Welt mit der Brille, die die Erwachsenen ihr aufgesetzt haben. Als sie auf dem Toilettentisch ihrer Mutter gleich neben der Waschschüssel und der Kanne aus grünem Porzellan eine Puderdose findet, ist sie entsetzt: ihre anständige Mama! Der Vater versucht sie zu beruhigen: Mama muss Puder benutzen, um ihre Sommersprossen zu verdecken. Das versteht sie. Die Sommersprossen, die roten Haare und die helle Haut hat sie von Mama geerbt. Wer so aussieht, fällt auf. Und welches brave Mädchen will schon auffallen.

In Karlstad fand man, dass ich Talent hatte, weil ich Klavier spielen konnte. Ich war sechs, als ich meinen ersten öffentlichen Auftritt hatte. Es war Kinderball im Stadthotel, und die kleine Zarah hatte einen Chopinwalzer auswendig gelernt. Der Beifall war stürmisch, und der Abend gehörte mir. Das Einzige, was mich schmerzte, war das flaschengrüne Kleid und die braunen Schuhe, in die man mich gezwungen hatte. Alle Mädchen waren im weißen Kleid mit einem breiten Band um die Taille und einer Riesenschleife hinten. Und sie hatten weiße Schuhe. Aber der Familienrat hatte beschlossen, dass Klein-Zarahs bleiche Hautfarbe sich in Bunt besser machen würde.

Zarah fand, sie sei das »hässlichste Mädchen der Stadt«. Hinterher schreibt sich so was leicht. Das überwundene Unglück kann den Genuss der Gegenwart sogar noch steigern, und das Publikum mag solche Bekenntnisse. Es empfindet Mitgefühl für das bedauernswerte Kind, das sein Star einmal war. Arme Zarah Leander, arme Penelope Cruz! Nur das hässliche Entlein selber kennt ja noch nicht den Ausgang der Geschichte.

Das gängige Schönheitsideal hat sich im 20. Jahrhundert sehr zugunsten der (echten und gefärbten) Rothaarigen entwickelt. Schauspielerinnen wie Zarah Leander, Rita Hayworth und Katherine Hepburn haben dazu beigetragen.

Was die Sommersprossen angeht, war die Sache noch schwieriger. Man setzte sich einen großen Hut auf und versuchte, sie gar nicht erst zu bekommen. Hatte man sie, benutzte man das quecksilberhaltige Wundermittel »Schwanenweiß«, um die Haut zu bleichen, oder Puder, um sie abzudecken. Dagegen wirbt heute ein schwedischer Reiseveranstalter im Frühling für Reisen nach Griechenland und Südfrankreich mit dem Argument: »Zeigen Sie als Erste Sommersprossen.«

Als wäre es nicht schon schlimm genug, sich mit Haut und Haaren anders zu fühlen, kamen in Zarahs Fall noch zwei Dinge hinzu: ihre auffallende Länge und die Schuhgröße. Ein kleiner, zierlicher Fuß galt schon bei Aschenputtel als Attribut von Schönheit und Eleganz. Zarah hatte 41½. Mit ihrer Körpergröße von 1,74 Meter wäre sie für heutige europäische Maßstäbe ganz normal groß, aber als Mädchen überragte sie alle anderen.

Ihr extravagantes Äußeres machte sie nicht zur Außenseiterin unter Gleichaltrigen, das nicht. Unter ihren Freundinnen konnte sie lustig und »ausgelassen« – uppsluppen sein, berichtet Jonas Hedberg, und sie galt als »gute Kameradin«, ein Urteil, das man übrigens auch von späteren (männlichen und weiblichen) Schauspielerkollegen immer wieder bestätigt bekommt.

Folgt man ihr selbst und ihren Erinnerungen, dann liegt der Hund in der Familie begraben. Mal sind es die »unbarmherzigen« Brüder, mal die Mutter, die ihr ihre »Hässlichkeit« spiegeln. Im gnadenlosen Blick auf sich selbst wird Zarah ausgerechnet, wenn auch unbeabsichtigt, von ihrer Mutter unterstützt. Weil sie ihre Ohren immer irgendwo hat, belauscht sie ein Gespräch, das ihr unvergesslich bleiben wird: »Annie, es tut mir so leid um Zarah. Deine Tochter ist so hübsch, und Zarah ist so hässlich. Ich leide mit ihr, es tut mir richtig weh. – Die Freundin antwortet: »Aber hör mal, was redest du denn da? Ich finde Zarah schön mit ihrem kupferroten Haar. Sie ist süß und eine Persönlichkeit, und außerdem hat sie schöne Hände.«

Bei diesem Wortwechsel durchlebt Zarah eine Berg- und Talfahrt der Gefühle. Die Bemerkung der Mutter nimmt ihr fast den Atem, während die Antwort der Freundin wie Balsam wirkt. Auf jeden Fall: Die Rettung kommt von außen.

Als Leser ihrer Memoiren erfahren wir nicht, wie alt das Mädchen Zarah damals war, alt genug jedenfalls, um sich über sein Äußeres Gedanken zu machen, alt genug auch, um aus dem ästhetischen Verdikt der Mutter die Ablehnung herauszuhören – und damit möglicherweise zu einem Zeitpunkt, als der Vater als Verbündeter und emotionales Gegenwicht keine große Rolle mehr spielen konnte.

Was tut man in einer solchen Lage? – Man wird melancholisch. Man verwirft die Maßstäbe der anderen, nach denen man schlecht abschneidet, und entwickelt seine eigenen. Man beginnt, sich für das Theater zu interessieren. Oder alles zusammen.