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© Dietmar Friedrich 2014
2. Auflage
„Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt“
ISBN 9-783735-777140
Erste Auflage 1998
im Fouqué Literaturverlag
Egelsbach am Main
Demetrius Friedensreich blickte aus dem Fenster des rasenden Zuges auf nebelverhangene Alpenhänge und auf vor Nässe triefende Tannen, die schwarze, schwere Äste gespenstisch in den dunklen Himmel reckten. Sein Blick irrte über steingraue, geduckte Häuser, die sich wie Schafe in dunkler Nacht, die unsichtbar der Wolf umschleicht, ängstlich aneinander drängten. Schwer hingen schwarze Wolken über dem tiefen Talgrund. Dumpf trommelten Regentropfen gegen die spiegelnde Scheibe des Fensters. Irgendwo gen Süden lockten die grünen Hügel der Toskana, lockten die sonnendurchglühten Dächer von Florenz, lockten die lichtfunkelnden Wogen des Meeres. Demetrius war geflohen vor diesem krank gewordenen Nordlandsommer, vor kalten Regenschauern, die über das, vor kurzen noch heiß durchglühte Land peitschten. Selbst der Himmel, so schien es, wollte ihm sagen, dass die heißen, fiebernden Frühsommertage mit Anna, die er voll brennenden Verlangen geliebt hatte, endgültig vorbei waren.
Jedes Ding zu Hause sprach nur von ihr; die Kaffeetasse aus der sie getrunken, der Stuhl auf dem sie gesessen, das Bett, in dem sie sich geliebt hatten. Die Bank im Garten erzählte von nächtlichen Umarmungen und Küssen; das Hemd, das er trug von ihren flinken, zärtlichen Fingern, die es aufgeknöpft und ausgezogen hatten. Und alles sprach davon, dass dies nun unwiederbringlich vergangen war, dass er niemals mehr ihre zärtlichen Finger auf seiner Haut fühlen würde, dass er niemals mehr ihren Mund küssen würde. Alle diese Tausende kleiner und banaler Dinge, die er täglich hunderte Male sah erregten unablässig Erinnerungen, die sich in sein Herz bohrten wie Maden und nun stetig daran nagten und fraßen. Es war unmöglich, dies länger zu ertragen! Also war er geflohen und hoffte in der Fremde neues Leben und Heilung, oder doch wenigstens Betäubung zu finden. Aber auch jetzt noch, hier im rasenden Zug, verfolgten und quälten ihn unablässig die Gedanken und Erinnerungen an die kurze Zeit mit ihr, die allzu schnell, allzu gewaltsam ihr Ende gefunden hatte.
Besonders ein Erlebnis, das ihm als Höhe- und Wendepunkt des Sommers erschien, erfüllte oft sein ganzes Denken und Fühlen. In diesem einen kurzen Augenblick, der immer und immer wieder seine Erinnerung erfüllte, schienen sich alle Schicksals- und Lebenslinien dieses Jahres zu kreuzen; in diesen einen magischen Augenblick, verdichtete sich alles Erleben dieses kurzen, raschlebigen Sommers in ungeheurer Intensität.
Es war auf einem Sommerfest gewesen. In das alte, verfallene Gemäuer einer Burgruine war für einen Tag festlicher Trubel eingekehrt. Musikanten spielten zum Tanz. Aus den, in den Fels gehauenen Kellern der Burg, wurde dunkles, kühles Bier ausgeschenkt. Hähnchen brieten über offenen Feuern und Quark und Käse wurde aus großen irdenen Töpfen feilgeboten. Auf den Stufen des alten Söllers, von wo einst Raubritter beutegierig in das Tal hinab gespäht hatten, saßen nun Kinder und beobachteten verzückt das festliche Treiben, verzaubert vom Augenblicksglück der Menge. Demetrius und Anna hatten getanzt, um sich nun, erschöpft und erhitzt von Tanz und Sommer, abseits, unter schattigen, hohen Bäumen niederzulassen. Tief unter ihnen wand sich ein kleines, smaragdgrünes Flüsschen durch den sommergrünen Talgrund. Schroffe Felswände stiegen aus dem Wipfelmeer der tiefgrünen Wälder empor. Sie hatten sich eine Zeit lang leise und sanft unterhalten; doch nun saßen sie einfach so da, die Wärme des Sommers genießend und von Zeit zu Zeit dunkles Bier aus schweren Tonkrügen trinkend. Halb betäubt und schläfrig von der Wärme, vom Bier und dem vorausgegangenen Tanz, streckte sich Demetrius im weichen Gras aus. Müde und sommerschwer mischte sich das Konzert der Zikaden in den Wiesen mit den fernen Tönen der Festmusik. Wie zufällig streiften seine Blicke einmal über Annas Körper, über ihr Gesicht, ihre Haare und den feinen Gazellenhals, ohne im Augenblick an etwas zu denken oder etwas anderes zu empfinden, als Wärme und wohlige Müdigkeit.
Durch das Dach der Blätter drangen gebündelte, goldene Lichtstrahlen und fielen auf ihr schimmerndes Haar, spielten auf ihren Nacken, ihren feinen Hals und den nackten Schultern. Ätherisch zeichneten sich unter ihrem weißen, weichen Sommerkleid die zarte Wölbung ihrer Brüste, der feine Bogen ihres Bauches ab, mehr zu erahnen und die Phantasie beflügelnd, als tatsächlich zu erkennen. Auf ihrer Haut schimmerten Schweißtropfen wie Perlen, sinnlich und verlockend.
Da hatte Demetrius zum ersten Mal gesehen, wie schön und begehrenswert sie doch eigentlich war. Oder nein, es war etwas anderes gewesen. Schön und begehrenswert war sie für ihn immer gewesen, schon als er sie das erste Mal gesehen hatte; damals, auf irgendeiner Geburtstagsfeier, als sie neu und fremd gewesen war in der kleinen Stadt, in der Demetrius lebte. Sie war damals gerade siebzehn oder achtzehn Jahre alt gewesen, jung, ungestüm und wild, und auch ein wenig unsicher und backfischhaft. Ein Freund von Demetrius hatte sie zur Party mitgebracht. Sie hatten sich erst eine Woche vorher kennengelernt und waren ein Paar geworden und zeigten nun allen, dass sie zusammen gehörten und sich lieb hatten.
Ja, Demetrius hatte sie auch damals schon begehrt, das wusste er jetzt, doch hatte er es sich niemals eingestanden, hatte es verdrängt, denn sie wahr tabu an der Seite seines Freundes. Jetzt erst wurde es ihm vollkommen klar, jetzt erst gestand er es sich voll und ganz ein, wie sehr er sie in all der Zeit begehrt hatte. Seltsam wie stark und lange er vor dieser Begierde, vor dem leisen Schmerz, den ihre Geschlechtlichkeit in ihm erzeugt hatte, die Augen und Ohren verschlossen hatte und es nicht wahrhaben wollte. Nun erst bekamen manche Bilder, manche Zuckungen seiner Seele aus jener Zeit Sinn. Nun erst wusste er dieses bittersüße Gefühl, gemischt aus schlechtem Gewissen und Glückseligkeit, aus Begehren und Scham zu deuten, das ihm des Öfteren, wie von ungefähr erfasst hatte, wenn er mit ihr zusammen gewesen war. Und auch die Kühle und Distanz, die er manchmal ihr gegenüber künstlich hervorgekehrt hatte und die er selbst nicht recht verstand, sah er nun in einem neuen Lichte, sie hatte nun ebenfalls Sinn, ließ sich begreifen und einreihen.
Nein, schön und begehrenswert war sie für ihn immer schon gewesen. Vielleicht hatte er sie sogar schon immer auf eine stille, sehnsüchtige Weise geliebt, so wie man eine unerreichbare Heilige lieben mag, geheim und uneingestanden vor der Welt, geheim und uneingestanden vor sich selbst.
Doch damals, auf den Sommerfest, als er sie so sitzen sah, in ihrem dünnen, weißen Sommerkleid, das nach Weiblichkeit und Verführung und zugleich nach mädchenhafter Unschuld duftete, da war es, als wäre ihre Schönheit und der uralte Zauber des Geschlechts wie ein gebündelter, glühender Strahl tief in seine Seele gedrungen, tiefer als je zuvor, und hätte ihn entzündet und von innen durchglüht. Von da an liebte er sie bedingungslos, von da an hatte sie Macht über ihn, von da an würde er sie sogar bis zur Selbstaufgabe lieben können. Dieser eine Blick, mit dem er sie halb unbewusst gestreift hatte, war Höhe und Wendepunkt seiner Liebe zu Anna gewesen. Niemals vorher, niemals nachher, würde er jemals mehr so ganz von ihrer Schönheit und Weiblichkeit erfüllt und durchdrungen sein, wie in diesem einen Augenblick. Auch jetzt, da er schon lange von ihr getrennt war, da er sie niemals mehr wiedersehen würde, da er sie niemals mehr in den Arm nehmen würde, da er auf der Flucht war, liebte er sie noch immer. Freilich auf eine ganz andere Weise, bitterer und schmerzlicher sicherlich, aber vielleicht auch sanfter und stiller als damals in jenem magischen Augenblick.
Überhaupt. Es war seltsam. So oft er mit Anna zusammen gewesen war, sogar so oft er an sie dachte, jedes Mal war es eine etwas andere Liebe, jedes Mal hatte sie ein etwas anderes Gesicht, immer war es neu und erregend gewesen. Und so kam es ihm vor, als wäre in jenen wenigen Wochen, in denen er sie geliebt hatte, mehr Erleben gedrängt, als in vielen Monaten und Jahren zuvor. Und in dem einen Augenblick wiederum, in dem er sie von der Seite angeschaut hatte, wie sie erhitzt und glühend von Fest und Sommer blühte wie eine Rose, war es ihm, als wäre alles Gefühl, alles Erleben in einen einzigen, winzigen Punkt gebündelt worden, bevor dieser in weicher Explosion barst und ihn ganz erfüllte. Neben jenen einen und wichtigsten Moment dieser Liebe aber, da er so ganz und tief und bis zur Selbstaufgabe von ihrer gleißenden Weiblichkeit erfüllt gewesen war, war ihm vor allen Dingen ihr erster gemeinsamer Abend, an dem sie zusammen gewesen waren und an dem sie sich zum ersten Male geliebt hatten, wichtig und teuer, geheimnisvoll und rätselhaft.
Der Mai, der große Erlöser, hatte die launischen und regenreichen Apriltage vertrieben; eine wärmende Sonne überflutete das frische Grün der Felder und Wälder und erweckte alles zu neuem, fiebernden Leben. Jedes Tier, jedes Blatt, jeder Grashalm war durchglüht vom uralten Gesetz des Werdens und Neubeginns. Jeder Vogelgesang kündete die ewige Wahrheit des Lebens, jedes Nest mit Vogeljungen war Dienst am ewig sich wandelnden, ewig fließenden Lebensstrom, jede keimende Blüte sprach von Verwandlung, von Frucht und fiebernder Existenz.
In einer der lauen Maiennächte saß Demetrius in einer Gartenwirtschaft, trank frisch gezapftes, schäumendes Bier und hörte zu, wie sich die Äste der großen alten Kastanienbäume leise im Wind wiegten. Bunte Glühbirnen tanzten auf und ab, von lauer Luft sanft geschaukelt.
Auch Demetrius träumte den Traum der Bäume, träumte von neuem Leben, von einem glühenden Sich-Hingeben an den Frühling, an Wind und Sonne und Sterne, an das Werden und Vergehen in der Welt. Er träumte von Lebenslust und Lebensgier, träumte von weißen, namenlosen Gliedern, die einander umschlangen; er träumte von Untergang und Wiedergeburt, von einsamen, bunten Lichtern im Sturmwind, von Mädchenhaar und leuchtenden Sternennebeln.
Endlich war die stille Nacht noch stiller geworden. Die wenigen Gäste, die vorher noch an den Gartentischen gesessen waren,