Über dieses Buch

Von 1677 bis 1679 kam es in Salzburg zu der schlimmsten Hexenverfolgung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs – 124 vermeintliche Hexen und Zauberer landeten auf dem Scheiterhaufen. Es waren allerdings nicht die üblichen Opfer des Hexenwahns – heilkundige Kräuterfrauen, angebliche Verführerinnen oder Quacksalber – sondern vor allem Kinder und Jugendliche. Ihnen wurde vorgeworfen, Gefolgsleute des Zauberers Jackl zu sein, der eine Bande von jugendlichen Gefährten um sich geschart hatte und mit ihnen bettelnd und stehlend durch die Länder und Regionen zog.

Nun versuchte die Obrigkeit, diese Bettlerkinder unter dem Vorwand der Zauberei auszurotten. Angesichts der jüngsten Diskussionen um Bettlerfamilien hat dieses historische Thema eine beklemmende Aktualität.

Wolfgang Fürweger

1677–1679

VERBRANNTE
KINDHEIT

Die vergessenen Kinder
der Hexenprozesse
um den Zauberer Jackl

ueberreuter

Dieses Buch widme ich meinen Töchtern Ida, Emma und Eva
in der Hoffnung, sie mögen nie eine Verfolgung von ethnischen oder
sozialen Minderheiten miterleben müssen.

DER ZAUBERER JACKL UND DIE BÄUERINNEN

Es war im Sommer in der Mahdzeit, als die Fanningberger Bauern in den unterhalb des Moserkopfes gelegenen Langwiesen beschäftigt waren. Dorthin pflegen auch heute noch die Bäuerinnen ihren Leuten das Mittagessen zu tragen. Um eine solche Zeit ging der Zauberer Jackl einmal auf den Fanningberg hinauf. Da begegnete ihm eine Bäuerin mit Essen. Der Jackl rief sie an und sagte: „Geh, hast nit an Biss’n übrig für mi, i wa voll Hunga!“ – „A, waschta nit, i hab nix für di, dos Ess’n g’hecht en Leut’n in da Wies’n drob’n!“, sagte die Bäuerin und ging weiter. Nicht lange danach kam eine zweite Bäuerin daher. Als diese des Jackls ansichtig wurde, rief sie ihm zu: „Jo, da Jackl ist a do! Geah mit, kannst mit ins ess’n!“ Dies ließ sich der Jackl nicht zweimal sagen und ging mit. Nach dem Essen sagte der Jackl zu den Leuten: „So, teats amol a bißl heudöhn (schlummern) hiatz.“ Die Leute legten sich daraufhin seitwärts ins Gras und hielten ein Schlummerstündchen. Unterdessen nahm der Jackl ein paar Stäbchen in die Hand und schlug damit vor sich auf den Boden ins Heu, daß die Heubüschl nur so herumflogen. Und merkwürdig! Alles Heu flog in die Heuschupfe hinein. Als das ganze Heu wohlgeborgen in der Schupfe lag, ging der Jackl zum nahe liegenden Bächlein hinüber und machte sich dort zu schaffen. Gleich darauf fing es an zu regnen. Sobald die Leute den Regen spürten, wurden sie wach, und da sahen sie mit Staunen, daß die ganze Wiese schon geheut war und das Heu sich wohlgeborgen in der Schupfe befand. In den Nachbarwiesen aber hatten sie noch das meiste zum Heuen, als der Regen kam. So hat sich der Jackl fürs Essen bedankt.

Quelle: Lungauer Volksleben. Schilderungen und Volksbräuche, Geschichten und Sagen aus dem Lungau (gekürzt).

Inhalt

Einleitung

Prolog: Ein verhängnisvolles Geständnis unter Folter

1. Wie es zur großen Bettlerjagd kommen konnte

2. Der Prozess gegen Dionys Feldner

3. Der Verführer der Jugend

4. Das große Grauen beginnt

5. Wahnsinn mit Methode – die Massenverfolgung

6. Schnellverfahren mit vorgefertigten Geständnissen

7. Brutaler Höhepunkt und Ende der Massenverfolgung

8. Folter und grausame Haftbedingungen

Epilog: Ein Adelstitel als Belohnung

Anhang 1: Die Opfer der Verfolgung

Anhang 2: Liste der Stadt-, Land- und Pfleggerichte

Verwendete Literatur

Danksagungen

Das Erzstift Salzburg zur Zeit des Zauberers Jackl

Politische Karte nach Gerichtsbezirken

Quelle: Historischer Atlas der österreichischen Alpenländer

Einleitung

Der Zauberer Jackl ist die bekannteste Sagengestalt Salzburgs und man kennt ihn auch über die Landesgrenzen hinaus. Anders als viele Figuren in Märchen und Sagen kann man ihn unmittelbar auf eine reale Person zurückführen: Sein richtiger Name war Jakob Koller und er wurde um 1655 als unehelicher Sohn des vagabundierenden Freimannsknechtes Kilian Tischler und der Abdecker-Tochter Barbara Koller geboren. Aufgrund seiner Herkunft gehörte der Bub, der von allen nur Jackl oder Schinder Jackl gerufen wurde, von Geburt an zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Ihm war das Erlernen eines ehrbaren Berufes und das Führen eines bürgerlichen Lebens verwehrt. Dazu kam, dass sein Vater 1660 mitsamt seiner Familie aus dem damaligen Erzstift Salzburg ausgewiesen wurde und kurz darauf starb. Als „Witwe“ eines Vagabunden, die selbst aus den niedrigsten Verhältnissen stammte, war die Mutter daraufhin gezwungen, zu betteln und zu stehlen, wollte sie sich und ihren Sohn ernähren. Auf ihren Bettelrouten legten Mutter und Sohn Koller zwischen Bayern und Kärnten weite Wege zurück. Anfang der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts begannen sie, sich auf das Ausräumen von Opferstöcken in Salzburger Kirchen zu spezialisieren.

1675 wurden Barbara Koller und der halbwüchsige Bettler Paul Kaltenpacher in Golling verhaftet und beschuldigt, Opfergeld in drei Kirchen gestohlen zu haben. Bei den Verhören nannten beide Jackl als Mittäter. Unter der Folter sagte die Mutter zudem aus, sie und ihr Sohn hätten sich an jenen Bauern, die ihnen nichts geben wollten, durch Schadenzauber gerächt. Barbara Koller wurde wegen Diebstahls und Zauberei schuldig gesprochen, zum Tode verurteilt und im August 1675 vor den Toren der Stadt Salzburg erdrosselt und verbrannt. Schon zuvor hatte die Justiz Haftbefehl gegen ihren Sohn und Zauberer-Komplizen erlassen. Damit begann der größte Hexenprozess, den es je im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gab.

1677 erhielten die Behörden Nachricht, Jackl sei gestorben. Allerdings wurde wenige Wochen später der zwölfjährige Bettler Dionys (auch Dionysus) Feldner festgenommen. Dieser sagte aus, er sei mit dem vermeintlich Toten und anderen Buben und Burschen umhergezogen. Jakob Koller, der damals Anfang zwanzig war, scheint ein charismatischer Anführer gewesen zu sein und hatte es geschafft, eine Bande junger Bettler um sich zu scharen, der auch Dionys Feldner angehörte. Die Straßenkinder wanderten bettelnd, stehlend und betrügend durch das Salzburger Land, vor allem durch den Pongau und Lungau, und dürften auch ihre eigenen, geheimen Rituale gepflegt haben. So ist etwa überliefert, die Mitglieder hätten sich durch Blutsfreundschaft miteinander verbunden. Von dahin bis zum Vorwurf der Zauberei gegen alle Gefährten Jackls war es nur ein schmaler Grat, der mit dem Verhör des 14-jährigen Matthias Thoman Hasendorfer überschritten wurde. Dieser gestand, Jackl habe ihn das Zaubern gelehrt; und er nannte die Namen weiterer Bettlerbuben, die er damit ins Verderben stürzte: Die Behörden wollten nun nicht nur Jakob Koller zur Strecke bringen, sondern auch alle seine Gefährten, um eine weitere Ausbreitung der Hexerei unter Jugendlichen zu verhindern.

Im gesamten Erzstift, aber auch in Österreich und Bayern wurde gefahndet, trotzdem konnte Jackl nie gefasst werden. Dafür nahmen die Behörden von Ende 1677 bis ins Frühjahr 1679 immer mehr Bettler fest – vor allem kleine Buben, halbwüchsige Knaben und junge Männer. Die meisten hatten nur mehr losen oder gar keinen Kontakt zu Jackl gehabt. Viele waren Waisenkinder, aus Not von zu Hause fortgeschickt worden oder von selbst weggelaufen. Die meisten litten körperlich an den Folgen von Krankheiten, Unfällen oder Gewalterlebnissen. Einige waren geistig behindert und wussten nicht einmal ihre Namen. Unter Druck, nach Schlägen oder aus Angst vor (weiterer) Folter gestanden sie nach Vorlage eines vorgefertigten Kataloges an Suggestivfragen die unmöglichsten Vergehen: Eine geschändete Hostie soll sich etwa in den Heiland verwandelt haben, dieser sei dann von der Bande erneut gekreuzigt worden. Die Unzucht mit Tieren und dem Teufel gehörte zum Standardrepertoire der erpressten Geständnisse. Natürlich sollen Jackl und seine Zauberergesellen auf Besen zum Hexentanz geritten sein. Jackl soll außerdem die Fähigkeit besessen haben, sich entweder in ein Tier zu verwandeln oder sich unsichtbar machen zu können. Die Geschichten um ihn wurden von Verhör zu Verhör einfallsreicher, schauriger und blutrünstiger. Dabei ist nicht einmal klar, ob Jakob Koller auf dem Höhepunkt der Verfolgung noch lebte.

Seine gefangenen Komplizen bekamen den gesamten Hass der Gesellschaft zu spüren, der sich vor allem aus der Angst vor der Zauberer-Gestalt und dem Abscheu vor den heruntergekommenen Bettlern speiste. Der Hexenwahn war zwar religiös unterfüttert und bezog seine Legitimation aus der Bibel, dennoch war für die Prozesse in Salzburg nicht die kirchliche Inquisition verantwortlich, sondern die weltliche Gerichtsbarkeit. Die vermeintlichen Hexen und Zauberer wurden aus allen Teilen des Landes in die Residenzstadt gebracht und im Rathaus in enge Zellen gepfercht. Als diese überfüllt waren, wurde in einem Turm der Stadtmauer ein eigenes Hexengefängnis eingerichtet. Der Hofrat fällte als Justizbehörde unendlich grausame Urteile: Die oft noch jugendlichen Opfer wurden meist erdrosselt oder enthauptet und anschließend verbrannt. Für die Hinrichtung von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren wurde als „Gnadenakt“ eigens ein Fallbeil aus Italien importiert. Schonung gab es nur für die meisten, aber nicht alle Mädchen und Buben, die jünger als zehn Jahre alt waren – sie kamen zu Pflegeeltern, mussten aber vorher zum Teil die Hinrichtungen ihrer Eltern und Geschwister mit ansehen.

Die große Verfolgungswelle dauerte von Ende 1677 bis Mitte 1678. Inklusive einiger „Nachbeben“ loderten bis 1690 die Scheiterhaufen im Salzburger Land. Rund 200 vermeintliche Zauberer wurden verhaftet, insgesamt fanden 159 den Tod. Das jüngste Opfer des Staatsterrors gegen die unterste soziale Schicht des kleinen Staates war der erst sieben- oder achtjährige Matthias Hauser aus dem Pongau, der geköpft und anschließend verbrannt wurde, das älteste Margarete Reinberger, die mit 80 Jahren eine für damalige Verhältnisse bereits uralte Frau war. Die Prozesse leitete federführend der ehrgeizige und gnadenlose Jurist Sebastian Zillner. Er wurde auch von seiner eigenen panischen Angst vor Hexen und Zauberern angetrieben und von der Abscheu vor sozialer Not.

Höchst umstritten ist die Rolle des Landesherrn: Einerseits entschuldigen einige Historiker den damaligen Fürsterzbischof und späteren Kardinal Maximilian Gandolph Graf von Kuenburg mit dem Hinweis, dieser sei ein Kind seiner Zeit gewesen, habe sich als solches nicht über den allgemeinen Volksglauben hinwegsetzen können und daher monatelang alle Todesurteile des Hofrats bestätigt. Andererseits ließ er zeitgleich alte Volksbräuche wie rituelle Bittgebete verbieten, die seiner Meinung nach „mehrerteils aus einem Aberglauben“ praktiziert wurden. Außerdem stellte der Kirchenfürst die Beichtväter der verhafteten Hexen und Zauberer kalt, weil diese Zweifel und Kritik an den Geständnissen geäußert hatten. In der Gesamtschau ergibt sich das Bild, Max Gandolph und seine Beamten benutzten die Hexenprozesse, um sich eines immer drängender werdenden sozialen Problems zu entledigen: der Bettelei durch herumziehende Kinder, Jugendliche und ganze Familien.

Die Prozessflut im Zusammenhang mit dem Zauberer Jackl ist aus mehreren Gründen eine traurige Besonderheit – vor allem im Hinblick auf die Zahl der Angeklagten, Verurteilten und Hingerichteten. Zudem fand die Verfolgung statt, als an anderen Orten der Hexenwahn bereits überwunden war. Und man ging in Salzburg nicht gegen die üblichen Verdächtigen vor, also gegen Hebammen, Kräuterweiberl, Bader oder Quacksalber. Vielmehr sollte zum ersten Mal eine gesamte soziale Gruppe ausgerottet werden – die Verfolgung wurde nicht so, wie anderenorts üblich, durch die Bevölkerung getragen, sondern von der Obrigkeit. Jackl war als vermeintlicher Anführer der Bettler, zu dem er wahrscheinlich erst durch die Verfolgung hochstilisiert wurde, doppelt gefährlich: Zum einen glaubten die Menschen tatsächlich an Zauberei, zum anderen war er in den Augen des Hofrats, welcher die oberste Polizei- und Justizbehörde darstellte, ein Aufrührer und potenzieller Anführer einer Rebellion der Armen.

Nach einer Reihe von Biografien über bekannte österreichische Unternehmer und Politiker, wie Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz, VW-Patriarch Ferdinand Piëch, Magna-Milliardär Frank Stronach, Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser oder zuletzt Hans Peter Haselsteiner, widme ich mich dieses Mal einem historischen Thema, das mich bereits seit Jahren im Hinterkopf beschäftigt und das in unregelmäßigen Abständen immer wieder unvermittelt vor mir auftauchte – sei es in Form eines Romans, den meine Frau zum Geburtstag geschenkt bekam, oder bei einem Besuch eines Freundes, der zufällig dort wohnt, wo einst der Hexenturm stand. Dieses Buch soll keine Schauergeschichte mit wahrem Hintergrund erzählen, wenngleich der Stoff alles dafür hergeben würde. Vielmehr soll es die historische Wahrheit über eines der dunkelsten Kapitel der Salzburger Geschichte einer breiteren Masse näherbringen. Denn bisher gibt es zwar Romane, ein Theaterstück, eine TV-Doku (an deren Entstehung ich nicht ganz unbeteiligt war), wissenschaftliche Arbeiten sowie einige Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über den Zauberer Jackl, aber noch kein allgemein verständliches Sachbuch. Ich wollte nicht nur den Ablauf der Prozesse schildern und die haarsträubenden Zauberei-Delikte, die völlig verängstigte Straßenkinder und Bettler gestanden hatten, sondern mich beschäftigte auch die Frage, wie sich die Stimmung der Bevölkerung und Obrigkeit dermaßen aufheizen konnte, dass es zu einer solchen Serie von Verbrechen unter dem Deckmantel der Justiz kommen konnte.

Dieses Buch wird zeigen, dass ein Klima der Angst und der Intoleranz den Nährboden bildete, auf dem ein fanatischer Schreibtischtäter wie Sebastian Zillner seine volle Wut entfalten konnte. Dieses Klima der Angst und Intoleranz nährte sich aus einer lange anhaltenden wirtschaftlichen Krise, aus einer Reihe von Missernten und den daraus folgenden Jahren der Not und aus religiösem Eifer. Die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges lag erst eine Generation zurück – der Handel hatte sich noch lange nicht erholt. Dazu brachte die sogenannte Kleine Eiszeit ungewöhnlich starke Unwetter und harte Winter. Ganze Ernten wurden durch Frost, Hagel und Sturm vernichtet; auch zahlreiche Menschen kamen bei Naturkatastrophen ums Leben. In Zeiten der Not tut es der Gesellschaft offenbar gut, wenn sie sich an Sündenböcken abreagieren kann.

Und damit erhält das an sich historische Thema auch eine aktuelle Komponente: Es ist noch gar nicht lange her, dass in Deutschland und Österreich unter dem Zeichen des Hakenkreuzes oder in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts während des Krieges auf dem Balkan aus ethnischem Hass zu „Hexenjagden“ aufgerufen wurde. Noch heute werden in afrikanischen Staaten und im Nahen Osten unter dem Deckmantel der religiösen Frömmigkeit die fürchterlichsten Verbrechen begangen. Auch der Glaube an Hexen und Zauberer ist noch lange nicht überwunden: Seit den 1960er-Jahren sollen in Afrika mehr Menschen wegen des Vorwurfs der Hexerei hingerichtet oder ermordet worden sein als während des gesamten Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit in Europa. In Kamerun, Togo und Malawi wurden nach dem Erreichen der Unabhängigkeit eigene Gesetze gegen Hexerei eingeführt. In Tansania sollen bis heute pro Jahr bis zu 200 angebliche Hexen und Zauberer getötet worden sein. Ähnliche Zahlen werden auch für Indien gemeldet, wo immer wieder Frauen als vermeintliche Hexen öffentlich gelyncht werden. Leider ist die Verfolgung von Straßenkindern ebenfalls kein rein geschichtliches Thema. Das zeigen beklemmende Berichte über Morde an Kindern in Angola, Benin, im Kongo oder in Nigeria, die für die Verbreitung von Aids verantwortlich gemacht werden, oder das Wüten von Todesschwadronen in brasilianischen Favelas – zuletzt wieder im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2014.

Aber auch im reichen Salzburg gibt es wieder Bettler und Straßenkinder: Weil sie in ihrer Heimat von Politik und Verwaltung völlig im Stich gelassen werden, kommen jedes Jahr Hunderte Roma aus Rumänien, um hier durch Betteln für einige Wochen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Darunter ganze Familien, deren Kinder keine Schulen besuchen und unter fürchterlichen hygienischen und sozialen Verhältnissen und auf der Straße aufwachsen. In den Augen vieler sind diese Bettler nur ein Ärgernis, das die Behörden beseitigen müssten. Von der starken Hand zum Staatsterror ist es oft nur ein kleiner Schritt, wie ein Blick zurück in die eigene Geschichte zeigt. Insofern soll dieses Buch auch zum Nachdenken anregen.

Der große (Volks-)Dichter Felix Mitterer setzte mit seinem Schauspiel „Die Kinder des Teufels“ den Opfern der Zauberer-Jackl-Verfolgung ein so beeindruckendes wie beklemmendes literarisches Denkmal. Ich habe mir erlaubt, einzelne Kapitel dieses Buches mit Szenen aus dem Stück einzuleiten, um sie mit mehr Leben zu erfüllen.

Abschließend noch zwei formale Bemerkungen: Erstens habe ich Zitate aus jüngerer Literatur in die neue Rechtschreibung übergeführt, da uns diese mittlerweile geläufiger ist als die alte. Jene aus historischen Quellen beließ ich in der damals verwendeten Sprache und setzte sie kursiv, um sie textlich hervorzuheben. Das Lesen des Schriftdeutschs aus dem 16. und 17. Jahrhundert mag zwar am Anfang etwas schwierig sein; es lohnt sich aber, schon allein der Authentizität wegen. Zweitens: Da mir und meinen Lesern klar ist, dass es keine Hexen und Zauberer gibt, habe ich darauf verzichtet, die Begriffe unter Anführungszeichen zu setzen oder sie nur in Verbindung mit den Attributen „angeblich“ oder „vermeintlich“ zu verwenden, damit der Textfluss nicht gestört wird.

Maishofen, im November 2014

Maleficos non patieris vivere.
(Die Zauberer sollst du nicht leben lassen.)

Exodus, Kapitel 22, Vers 18

Die Ereignisse des Prozesses gegen die Malefikantin Barbara Kollerin habe ich genau im chronologischen Ablauf dargestellt. Der Leser sollte dadurch den Einblick gewinnen, aus welch belanglosen Dingen und Aussagen ein Zauberer- bzw. Hexenprozeß entstehen konnte, wie die rechtlichen „Gebräuche“ in Salzburg der damaligen Zeit aussahen, wie ein Kriminalprozeß durchgeführt wurde, wie die Zusammenarbeit zwischen den Land- und Pfleggerichten mit dem Hofrat gewährleistet wurde, wie das Rechtsdenken in puncto Hexendelikte in der Bevölkerung und bei den Justizstellen war usw. Kurz gesagt: Der Prozeß soll den Leser in das Denken und Fühlen der 2. Hälfte des 17. Jhs. einführen. Dadurch wird er meine späteren Ausführungen über den eigentlichen Zauberer-Jacklprozeß besser und leichter verstehen können, denn in groben Zügen hat der Prozeß gegen Barbara Kollerin alle wesentlichen Faktoren des Strafverfahrens gegen Hexenpersonen bereits vorweggenommen.

Aus: Heinz Nagl, Der Zauberer-Jacklprozeß

Prolog: Ein verhängnisvolles Geständnis unter Folter

Das Grauen begann unspektakulär: Am 5. Dezember 1674 berichtete das Pfleggericht in Golling dem Hofrat in der Residenzstadt, beim Öffnen der Opferstöcke in der Pfarrkirche von Kuchl sowie in den Filialkirchen von St. Koloman und St. Ulrich (Scheffau im Lammertal) sei zu wenig Geld gefunden worden. Zwar seien alle Schlösser unbeschädigt, allein in Kuchl fehlten aber gegenüber dem gewohnten Betrag 13 Gulden. Offenkundig seien Diebe am Werk gewesen. Der Schaden in den drei Gotteshäusern betrage insgesamt 40 bis 50 Gulden. Als erste Maßnahme seien die Schlösser aller Opferstöcke ausgetauscht worden; nach den Tätern werde gefahndet. Als einzigen Hinweis hatten diese Spuren von Fischbein und Vogelleim hinterlassen – ein beliebter Trick bei Langfingern: Sie bestrichen Gräten oder Holzspäne mit Leim oder Pech und angelten damit die Münzen aus den Geldkassetten. Vogelleim wurde aus reifen Mistelbeeren gewonnen und mit eingedicktem Birnen- oder Zwetschkensaft und Honig noch klebriger gemacht und gegen das Austrocknen geschützt. Die einfachen Zutaten zeigen: Praktisch jeder konnte ihn herstellen, was die Fahndung nach den Verdächtigen zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen machte.

Der Pfleger von Golling hatte kaum Hoffnungen, die Diebe zu schnappen. Opferstöcke waren damals beliebte Ziele von Langfingern. Da die Geldbehälter nur selten entleert wurden, waren die Täter meist über alle Berge, wenn die Diebstähle entdeckt wurden. Dieses Mal hatten die Behörden aber Glück: Anfang Jänner 1675 wurde der 15-jährige Bettler Paul Kaltenpacher verhaftet. Dieser war der uneheliche Sohn eines Sattelmachers aus Berchtesgaden – eine uneheliche Geburt bedeutete damals eine Schande und einen Makel fürs Leben. Von der Mutter wusste er nichts, der Vater hatte seinen Sohn regelmäßig misshandelt. Deshalb war der Bub zwei Jahre vor seiner Festnahme von zu Hause weggegangen und über den Dürrnberg nach Hallein und damit ins Erzstift Salzburg gewandert. Hier zog er dann ein Jahr mit der Schinder Wäberl und dem Schinder Jackl umher.

Sein allgemeiner Gesundheitszustand war erbärmlich, am meisten litt er an einem unbehandelten Leistenbruch. Daher leistete er im Verhör keinen Widerstand, sondern gab sofort zu, bei den Diebstählen dabei gewesen zu sein. Als Täter nannte er die „Schinder Wäberl“ (auch Bärbel für Barbara) und deren Sohn „Jagl“ (auch Jaggl oder Jackl für Jakob). Er selbst habe immer mit dem Hund seiner Begleiter vor der Kirche spielen müssen, während die Wäberl bei der Kirchentüre aufgepasst und ihren Sohn, den eigentlichen Dieb, durch lautes Husten vor anderen Kirchgängern gewarnt hätte. Auch auf Bauernhöfen hätten die Wäberl und der Jackl alles gestohlen, was sie erwischen konnten. Und zumindest Jackl sei nicht allein unterwegs: „Jagl hat pueben, Hannßl, Lippl, Görgl, Wolferl, Michl, ziehen mit ihme, halten sich da und dort auf.“

Der Gollinger Pfleger wusste nun, wen er suchen musste – eine Woche später wurde die Schinder Wäberl verhaftet, deren richtiger Name Barbara Koller war. Schinder oder Abdecker waren die Tierkörperverwerter des Mittelalters, der Frühen Neuzeit und des Barock: Die Bauern waren verpflichtet, alle Kadaver von nicht essbaren Tieren wie Hunden und Katzen, jene von altersschwachem und krankem Vieh und übrig gebliebene Schlachtabfälle dem Schinder zu übergeben. Dieser vergrub die Überreste auf einem Schinderanger oder bei seinem Anwesen. Das Wort „Schinder“ kommt vom mittelhochdeutschen „schinden“, was „die Haut abziehen“ bedeutet. Im Erzstift war die Schinderei ein streng reglementiertes Gewerbe, das Gebietsschutz genoss und dem jeweiligen Abdecker immer von der Obrigkeit übertragen wurde. Dennoch galt der Beruf wegen seiner Unreinheit als unehrlich oder verfemt. Deshalb mussten die Schinder auch stets außerhalb der Siedlungen leben. Das bedeutete zwar soziale Ausgrenzung, hatte aber den Vorteil, dass es bei den großen Pestepidemien unter den Schindern die meisten Überlebenden gab, weil sich diese kaum anstecken konnten. Der Schinder stand auf einer der untersten Stufen des komplexen sozialen Gefüges. Unter ihm waren nur mehr der Henker, auch Freimann genannt, der aber besser bezahlt wurde, und dessen Knechte. Einen unehrlichen Beruf auszuüben hieß, dass die betreffenden Personen – so wie auch ledige Kinder, Verbrecher und Heiden – rechtlos waren und weitgehend außerhalb der Lebens- und Standesordnung standen. Sie konnten bei Gericht keine Anklage erheben, keine öffentlichen Ämter bekleiden und keinen Handwerkszünften beitreten. Diese brutale Diskriminierung wurde erst im Laufe des 18. Jahrhunderts überwunden.

Es ist aber gut möglich, dass für Barbara Koller ihr Rufname gar nicht so negativ war, wie er heute für uns klingt. Denn die Schinder waren nicht nur Tierkörperverwerter, sondern betätigten sich vielerorts auch als Heiler für Mensch und Tier: Sie wussten aufgrund ihrer Arbeit mehr über den Körper als die meisten anderen; und man sagte ihnen eine Nähe zu positiven magischen Fähigkeiten nach. Dazu passt, dass Kaltenpacher im Verhör erwähnte, Mutter und Sohn Koller würden magische Praktiken anwenden, die er aber nicht näher beschrieb. Durch ihren Ruf könnte also die Schinder Wäberl so manche warme Mahlzeit und so manches Nachtlager erhalten haben.

Der Gollinger Gerichtsschreiber Thoman Kopeindl, der im Verfahren gegen sie federführend war, weil der Gerichtsleiter, der sogenannte Pfleger, aus unbekannter Ursache die meiste Zeit ausfiel, beschrieb sie als alte, körperlich schwache und sehr kleine Frau. Sie war um 1625 in Werfen, dem Nachbarort von Golling, als Tochter des dortigen Abdeckers zur Welt gekommen. Mehrere Jahre lebte sie mit dem herumziehenden Freimannsknecht Kilian Tischler zusammen. Deshalb wird ihr einziger Sohn, der um 1655 in Werfen geboren wurde, in der Literatur manches Mal fälschlicherweise auch Jakob Tischler genannt. 1660 wurde Tischler aus nicht überlieferten Gründen verhaftet – wahrscheinlich ging es um ein Gewaltdelikt, das er verübt hatte. Die Bauersleute, die ihn und seine Familie aufgenommen und verpflegt hatten, gaben vor Gericht an, sie hätten das nur getan, weil der Freimannsknecht ihnen gedroht hatte, Haus und Hof anzuzünden. Daraufhin wurden Tischler, seine Frau und sein kleiner Sohn aus Salzburg ausgewiesen.

Zwei Jahre später bat Barbara Koller den Hofrat in Form einer schriftlichen Eingabe, mit ihrem Sohn wieder im Gerichtsbezirk Werfen leben zu dürfen. Damals hatte sie sich also bereits von ihrem Lebensgefährten getrennt, der dann angeblich 1664 in Goisern (Oberösterreich) starb. Wer der Schinder Wäberl das Bittschreiben aufgesetzt hatte, ist nicht bekannt. Sie hatte aber mit Sicherheit Hilfe, denn als Tochter eines Schinders konnte sie weder schreiben noch lesen. Vieles deutet darauf hin, dass Mutter und Sohn Salzburg überhaupt nicht verlassen hatten. Denn als Antwort auf das Bittgesuch wurden die beiden erneut ausgewiesen, was nicht nötig gewesen wäre, wenn sie außerhalb des Erzstifts gelebt hätten. Mehrere Jahre zogen die beiden dann durch Kärnten, Tirol und Bayern; ab Herbst 1673 waren sie wieder in Salzburg. Koller bat die Behörden erneut in schriftlicher Form, in Werfen bleiben zu dürfen. Ihr inzwischen erwachsener Sohn könnte die ehemalige Schinderstelle seines Großvaters betreuen, da der aktuelle Abdecker seinem Gewerbe nur sehr nachlässig nachgehe. Der Hofrat lehnte auch dieses zweite Ansuchen ab und steckte die Absenderin zudem zwei Tage in eine Keuche (Zelle) – als Strafe für die böse Beschuldigung des Werfener Schinders, mit dessen Arbeit der dortige Pfleger sehr zufrieden war. Auch von Jakob Koller ist eine schriftliche Eingabe an den Hofrat erhalten: Er zeigte Ende 1673 an, ein Bauer würde ihm ein Traggestell nicht mehr aushändigen, das er diesem zur Aufbewahrung übergeben hatte. „Es erscheint bemerkenswert und spricht für die Wehrhaftigkeit von Mutter und Sohn, dass es ihnen als vagierende Bettler gelang, mehrfach Bittschriften am Hofgericht einzureichen“, bemerkt der Hexenforscher Gerald Mülleder. „Andererseits zeugt der plumpe Versuch, als (ehemalige) des Landes verwiesene Personen, den Abdecker aus seiner Stellung zu vertreiben, nicht unbedingt von einem guten Sensorium zur Einschätzung ihres eigenen Verhältnisses zur landesfürstlichen Verwaltung.“

Bevor sie verhaftet wurde, hatte Barbara Koller vor allem von Almosen der örtlichen Bevölkerung und von Gelegenheitsdiebstählen gelebt. Hinter der Freigebigkeit der Bauern dürfte auch eine gehörige Portion Angst gestanden haben: Denn wie etwa der 32-jährige Bauer Georg Eibl später aussagte, sei die Schinder Wäberl „in einhollung deß heiligen allmuesen ein beses weib gewest und von villen leithen geforchten worden“. Wer sie ohne eine milde Gabe wegschickte, den schüchterte sie ein: Einem Bauern drohte sie, den Hof anzuzünden, einem anderen, ihr Sohn Jackl werde jeden erschießen. Diese Drohung war durchaus glaubhaft, denn laut Paul Kaltenpacher besaß Jackl eine Büchse, mit der er auch Jagd auf Hirsche machte. Da der junge Bettler kein Jagdrecht hatte, ging es nun nicht mehr nur um Diebstahl, sondern auch um Wilderei.

In den Prozessunterlagen, die weitgehend vollständig erhalten sind, wird Barbara Koller als „beherzenhafft“ und „zimblich verstokht“ beschrieben. Daher empfahl das Hofgericht dem Gollinger Pfleger, ihr „mitls wohlempfündtlicher an- und zueschraufung des daumbstockhs“ die Wahrheit zu entlocken. Nach der ersten Folter gab sie zu, beim Opferstock-Diebstahl in St. Koloman beteiligt gewesen zu sein. Dabei habe ihr Sohn die stattliche Summe von 30 Gulden erbeutet, von der sie aber nichts erhalten habe. Als sie die Folterknechte am 5. Februar 1675 ein zweites Mal marterten, dieses Mal mit „wohlempfündtlicher Bindung zum Seil“ (Schnüren), brach die Schinder Wäberl zusammen: Sie gestand, beim Opferstock-Diebstahl von St. Koloman doch einen Anteil von sechs Gulden erhalten zu haben. Außerdem sei sie zwei Jahre davor bei einem brutalen nächtlichen Überfall auf den Bauernhof vom (Michael) „Wallmann am Wibmperg“ in Adnet dabei gewesen und habe später versucht, einen dort erbeuteten Überrock zu verkaufen. Und vor allem: Sie gab zu, auf der Taugl – einer Hochebene bei Hallein und das heutige Gemeindegebiet von St. Koloman – durch Zauberei zwei Kühe getötet zu haben. Zu dieser letzten Aussage vermerkt das Protokoll: „über dises kühne sie auch nit negiren.“ Der Vorwurf der Hexerei war ihr also vorgesagt worden, was in fast allen folgenden Zaubereiprozessen auch der Fall sein sollte.

Weil Recht auch seine Ordnung haben musste, forschte das Gollinger Gericht nach den Opfern von Barbara Kollers Zauberei, um den Wahrheitsgehalt des Geständnisses unter Folter zu überprüfen: Der Bauer Blasius Ramsauer sagte aus, seine Kühe könnten seit einem Jahr nicht mehr richtig kalben, sondern würden dabei verenden. Außerdem habe er an seinem Türstock braunes Pulver gefunden. Die etwa 60-jährige Maria Pichler gab an, auf ihrem Hof verende seit bereits 30 Jahren regelmäßig ein Rind pro Jahr. Die beiden beschuldigten zwar niemanden konkret, Gerichtsschreiber Kopeindl meldete sie dennoch als Geschädigte „der Khollerin“ nach Salzburg und schrieb in seinem Bericht auch, bei der Gefangenen sei ein verdächtiges braunes Pulver gefunden worden, von dem er eine Probe beifüge. Von da an nahm das Verhängnis seinen Lauf. Nach einer weiteren peinlichen Befragung gestand Barbara Koller, mit ihrem Pulver und unter Anrufung des Teufels habe sie auch zwei Kinder verhext – eines, ein dreijähriger Wirtssohn aus Anif, sei durch den Zauber erkrümmt und anschließend gestorben. Der Pfleger von Glanegg berichtete auf Nachfrage des Gollinger Gerichts, die Anifer Wirtsleute wären tatsächlich von einer Frau aufgesucht worden, auf die die Beschreibung der Schinder Wäberl passe, und ihr Sohn sei kurze Zeit später gestorben.

Erschwerend kam für die Delinquentin hinzu, dass sie unter der Folter keine einzige Träne vergoss. Im berüchtigten „Hexenhammer“ – das Buch gab die Anleitung zur Jagd auf Hexen und Zauberer – stand dazu, nur Schweigezauber könne jemanden gegen die Schmerzen der Folter gefühllos machen. Der Teufel halte ihr wohl das Maul verschlossen, damit sie nicht gestehen könne, hieß es in solchen Fällen. Und eben daran sei hinreichend zu erkennen, dass eine Frau eine Hexe sei. Barbara Koller muss in der Lage gewesen sein, unglaubliche Schmerzen ohne lautes Wehklagen zu ertragen. Denn der Gollinger Amtmann überschritt das Maß der erlaubten Folter bei Weitem, wofür er sich auch vor dem Hofrat verantworten musste, nachdem „die Khollerin“ Anfang März 1675 wegen der Schwere der Verbrechen an das Obergericht in der Residenzstadt überstellt worden war.

Der Hofrat ließ Barbara Koller erneut mit „wohlempfündtlicher Bindung zum Seil“