Jay Bonansinga

Im Angesicht des Todes

[Terrified]

Thriller

Deutsch von Thomas A. Merk

Teil I

Der Mississippi Ripper

Eins

Glaub nicht alles, was man dir sagt! Diese Maxime hatte Dina Dudley versucht zu verinnerlichen, seit sie ein Teenager war und Robbie Pettigrue ihr weisgemacht hatte, er nähme an einer medizinischen Studie teil und müsste die Pille für den Mann testen. Leichtgläubigkeit, so fand sie, war viel schlimmer als Neugier. Im Gegenteil: Ein neugieriger Mensch geriet weniger häufig in Schwierigkeiten als ein gutgläubiger, weil er zumindest die richtigen Fragen stellte. So war es zum Beispiel ein Fehler gewesen, ihrer Mutter zu glauben, dass Dinas Vater mit dem Trinken aufgehört hätte. Gleichermaßen war es ein Fehler, ihrem Freund, der behauptete, Börsenmakler zu sein, nicht genügend auf den Zahn zu fühlen und später feststellen zu müssen, dass er sein Geld in Wirklichkeit mit Koksdealen verdiente. Irgendwie hatte Dina Dudley das Gefühl, dass sie mit zunehmendem Alter immer leichtgläubiger wurde. Ihre Freundinnen waren der Meinung, dass sie ein viel zu großes Herz hätte. Und damit hatten sie recht: Dina Dudley hatte eine Menge übrig für streunende Hunde, schwierige Menschen und Versager. Wenn man dann auch noch so leichtgläubig wie sie war, dann konnte einem ein großes Herz leicht zum Verhängnis werden. Jetzt, als sie gefesselt und geknebelt auf der kalten Ladefläche eines Lieferwagens lag, verfluchte sie beides: ihr großes Herz und ihre Leichtgläubigkeit. Wäre sie nur ein Jota misstrauischer gewesen, dann hätte sie vermutlich nie angehalten und den kleinen, unscheinbaren Mann mit der Jagdmütze auf dem Kopf gefragt, ob sie ihm beim Reifenwechseln helfen könnte. Aber Dina Dudley war nun mal nicht misstrauisch. Dina Dudley war ein Schatz. Und jetzt sah es so aus, als ob Dina Dudley bald eine tote Frau sein würde. Groß und mager, wie sie war- ihr koksdealender Freund nannte sie seit Monaten nur noch «Hungerhaken» -,drehte sie sich auf die Seite und starrte ins Dunkel des Laderaums. Die Arme taten ihr weh, weil ihre Hände auf dem Rücken mit Plastikbändern zusammengebunden waren. Die Fesseln schnitten ihr so fest ins Fleisch, dass ihre Hände schon fast taub waren. Dinas Jeansjacke war an mehreren Stellen zerrissen, und am Hosenboden spürte sie dort, wo sie sich vor einer Stunde vor lauter Angst angepinkelt hatte, noch immer einen kalten, nassen Fleck. Ihr kupferrotes Haar hing ihr in wilden Strähnen ins Gesicht, und ihren Mund verschloss ein breiter Streifen Klebeband, das penetrant nach irgendeiner Chemikalie stank. Am schlimmsten aber war die Angst, die Dina die Kehle zuschnürte. Durch das Dunkel blickte sie hinüber zu ihrer besten Freundin Jenny Quinn, die verschnürt wie ein Rollbraten neben ihr auf der Ladefläche des Lieferwagens lag und sie mit weit aufgerissenen, tränennassen Augen apathisch anglotzte. Das war für Dina das Fürchterlichste an ihrer Situation: dass sie nicht nur sie allein betraf, sondern auch Jenny, ihre stets gutgelaunte und unerschrockene Freundin aus der Schulzeit, die damals auf der Belleville High ganz scharf aufs Flaschendrehen gewesen war und im Vergnügungspark immer mit den verrücktesten Achterbahnen hatte fahren wollen. Dass sie jetzt, als sie gefesselt und geknebelt neben Dina lag, noch viel mehr Angst als sie selbst zu haben schien, brach Dina fast das Herz. Und das alles nur, weil sie, Dina, Jenny dazu überredet hatte, mit ihr eine Woche lang in der Wildnis am Ufer des Mississippi zu campen. Sie hatte sich das als ein wunderbares Abenteuer vorgestellt, aber zwei junge Frauen aus den Vororten von St. Louis waren nun mal keine Entdeckungsreisenden wie seinerzeit Lewis und Clark. Der Lieferwagen holperte ratternd eine schlechte Straße entlang, auf der es von Schlaglöchern nur so zu wimmeln schien. Wo brachte der Fahrer sie denn nur hin?
Dina holte durch die Nase tief Luft und versuchte nachzudenken. In dem Lieferwagen roch es abgestanden und ranzig. Es ist noch nicht zu spät, sagte sie sich, noch kannst du da wieder heil rauskommen. Jenny ist am Ende, sie kann dir nicht mehr helfen, aber du kannst es schaffen, euch beide zu retten, wenn du auf den richtigen Moment wartest. Irgendwie muss dieser Dreckskerl doch zu überrumpeln sein. Der Lieferwagen fuhr so abrupt um eine scharfe Kurve, dass Dina gegen die Seitenwand geschleudert wurde. Kurz darauf hielt er mit quietschenden Bremsen an, und Dinas Herz begann wie wild zu schlagen. Ihr Mund wurde vor Angst ganz trocken, als sie hörte, wie die Fahrertür geöffnet wurde und der Mann auf dem knirschenden Schotter an der Seite des Fahrzeugs entlang nach hinten ging. Die Angst verbreitete sich wie ein eiskaltes Gift in ihren Adern und ließ ihre Glieder ganz taub werden. Reiß dich zusammen!, dachte sie voller Panik. Werde jetzt bloß nicht starr vor Angst! Sie hörte, wie die hintere Tür quietschend geöffnet wurde. Die Luft, die von draußen hereinkam, roch nach Fichtennadeln, totem Fisch und fauligem Schlamm. Im Rechteck der Tür erschien eine im Mondlicht schimmernde Gestalt, die sie und Jenny mit seltsamen Blicken anstarrte. Alles an dem Mann war stinknormal und unscheinbar- von der Jagdmütze mit ihrem langen, an einen Entenschnabel erinnernden Schild bis hin zu den schmutzigen Khakihosen. «Hallo, ihr Hübschen», sagte er in munter klingendem Ton. «Ich hoffe, ich habe euch nicht allzu sehr durchgeschüttelt.» Dina versuchte, irgendein Merkmal an ihm zu finden, anhand dessen sie ihn vielleicht später identifizieren könnte, aber das war bei den schlechten Lichtverhältnissen ein Ding der Unmöglichkeit. Auch wenn der Mond den Mann von hinten beschien, blieb sein Gesicht dennoch in tiefem Schatten. Auch als er sie vor einer knappen Stunde am Straßenrand in seine Gewalt gebracht hatte, war es Dina vor lauter Schreck nicht möglich gewesen, sich sein Gesicht einzuprägen. Sie hatte nur mitbekommen, dass er ein Weißer mittleren Alters war und über enorme Körperkräfte sowie eine melodische, fast freundlich klingende Stimme verfügte, die Dina irgendwie an die eines Fernsehmoderators erinnert hatte. «Keine Sorge, meine Hübschen», murmelte der Mann und zog die leise vor sich hin wimmernde Jenny wie einen Sack mit schmutziger Wäsche nach draußen. Dabei sagte er etwas, das Dina fast das Blut in den Adern gefrieren ließ. «Es ist gleich vorbei.» In diesem Augenblick wurde ihr unwiderruflich klar, dass dieser höfliche Psychopath vorhatte, sie und Jenny zu ermorden. Möglicherweise nicht sofort, vielleicht wollte er sie zuvor noch quälen und vergewaltigen, aber töten wollte er sie, so viel stand fest. Als Dina das bewusst wurde, fasste sie den Entschluss, das nicht kampflos zuzulassen. Sie würde sich wehren bis zum letzten Atemzug. Die Zeit verging quälend langsam, während der Verrückte sich die am ganzen Körper zitternde Jenny Quinn auf die Schulter packte und in die Dunkelheit des Waldes schleppte. Dina schoss ein neuer Schub Adrenalin durch den Körper. Er hämmerte in ihren Ohren und brachte ihr die Kopfhaut zum Jucken. In ihrem Mund verspürte sie auf einmal einen strengen, metallischen Geschmack, als würde sie an einer alten Münze lutschen. Und dann machte sie eine wichtige Entdeckung: Das Seil, mit dem er ihre Fußknöchel zusammengebunden hatte, war ziemlich lose. Sie konnte noch treten, und sie konnte noch springen. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihr klar, was sie zu tun hatte. Als die knirschenden Schritte des Mannes sich wieder dem Lieferwagen näherten, zog Dina beide Beine an. Dann fiel sein Schatten auf die Ladefläche, und Dina wagte es nicht mehr zu atmen. «Jetzt bist du dran, meine Süße», sagte er, während er sich in das Wageninnere beugte und nach ihr tastete. «Ich verspreche dir, dass du -» So schnell und fest sie nur konnte, trat Dina mit beiden Füßen nach ihm. «Verdammt!» Der Mann stieß einen erschrockenen Schrei aus und riss gerade noch den Kopf zurück, bevor die Absätze von Dinas Trekkingstiefeln ihn direkt an der Stirn trafen. Durch die ruckartige Bewegung geriet er ins Straucheln und fiel, weil er mit einem Fuß in ein Schlagloch geriet, mit einem lauten Grunzen auf den Rücken. Dina rutschte, so schnell sie konnte, zur Tür und sprang hinaus auf die Schotterstraße, wo sie mit ihren gefesselten Füßen in Richtung Waldrand hoppelte, wie bei einem perversen Sackhüpfen auf Leben und Tod. Unter anderen Umständen hätte sie den Gedanken, dass eine spindeldürre Städterin in ihren teuren Outdoor-Klamotten wie Bugs Bunny über eine mitternächtlich verlassene Schotterstraße hüpfte, bestimmt urkomisch gefunden, aber jetzt empfand sie nichts als Angst. Sie hörte Jennys jämmerliches Stöhnen, hörte das kehlige Knurren des sich hastig wieder aufrappelnden Mannes, der seine Höflichkeit vergessen hatte und einen obszönen Fluch nach dem anderen ausstieß. Dina hatte unterdessen den Waldrand erreicht und sprang beherzf in eine Lücke zwischen den dicht an dicht stehenden Bäumen. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass ihr Sprung ins Leere führte. Die Böschung neben der Straße war viel steiler, als sie gedacht hatte, und ein paar bange Sekundenbruchteile lang hatte sie das Gefühl, sie stürze ins Bodenlose. Dann knallte sie auf dem Waldboden auf, überschlug sich zwei-, dreimal und rollte wie in einem völlig außer Kontrolle geratenen Karussell wild um sich schlagend durch die Dunkelheit nach unten. Auf einer Geröllbank am Ufer des Flusses schlug sie schließlich so hart mit dem Kopf gegen einen Stein, dass sie sofort das Bewusstsein verlor. Dina hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Dunkelheit gelegen hatte. Ihr Rücken tat so weh, als hätte ihn jemand in einen riesigen Schraubstock gespannt, und ihre immer noch aneinandergefesselten Beine waren bei dem Sturz in einem unnatürlichen Winkel verdreht worden. Das Atmen fiel ihr so schwer, dass sie sich fragte, ob ihr nicht ein spitzer Stein oder ein abgebrochener Ast die Lunge durchbohrt hatte, aber das hatte angesichts dessen, was jetzt auf sie zukam, ohnehin keine Bedeutung mehr. Sie hörte Laub rascheln und Zweige knacken, als ihr Peiniger leichtfüßig wie eine Katze den Hang herunterkam. Als er schließlich über ihr stand und sein Schatten sich wie ein Leichentuch auf sie legte, schloss sie die Augen. Ihr Entsetzen war seltsamerweise verflogen, und sie hatte auch keine Angst mehr. Weder zog ihr Leben noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber, noch verspürte sie Trauer oder Bedauern, lediglich eine gewisse Enttäuschung über sich selbst und ein unbestimmtes VerlustgefühL Auf eine so erbärmliche Art und Weise von einem scheißfreundlichen Psychopathen umgebracht zu werden ging Dina Dudley zutiefst gegen den Strich. Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht, ein anständiger, bescheidener und besonnener Mensch zu werden, und die letzten neun Jahre hatte sie sich bei Haglett und Myers mühsam auf der Karriereleiter emporgearbeitet, bis sie schließlich eine der erfolgreichsten Immobilienmaklerinnen im Mittleren Westen geworden war. Ihr Engagement im Job hatte sie ihre Ehe gekostet, und wenn sie jetzt von dieser Welt abtrat wie eine Nutte vom Straßenstrich, die man, mit ihrer eigenen Strumpfhose erdrosselt, in einem Gebüsch findet, würde die Welt um einen gutgläubigen Trottel ärmer sein. Der Mann beugte sich zu ihr herunter und suchte keuchend nach den richtigen Worten. «Musste das sein? Musstest du es unbedingt auf die harte Tour versuchen?» Er klang wie ein strenger Lehrer, der kurz davor ist, eine ungehorsame Schülerin zu bestrafen. Dina spürte, wie sämtlicher Mut sie verließ und sie in sich zusammenfiel wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft lässt. Dann packte er sie an ihren kupferrot gefärbten Locken und riss ihr den Kopf so brutal nach oben, dass Dina dabei ein Halswirbel ausgerenkt wurde. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durchs Genick und drückte ihr die Luft ab. Im Geiste bereitete sie sich darauf vor, dass der Mann ihr in der nächsten Sekunde mit einem Rasiermesser die Kehle durchschneiden würde. Sie schloss die Augen und betete um einen raschen Tod. Das war's dann, Dina, altes Haus, sagte sie zu sich selbst. Das ist dein letzter Atemzug ... Aber das Rasiermesser kam nicht. Ebenso wenig wie der Tod. Zumindest nicht so, wie sie ihn erwartet hatte. Der Verrückte riss Dina das Klebeband vom Mund, dann packte er sie unter den Armen und schleppte sie wie einen Kartoffelsack rückwärts den Abhang hoch. Dabei schleiften ihre Beine gefühllos hinter ihr her, sodass Dina sich fragte, ob sie sich bei dem Sturz das Rückgrat verletzt hatte. W ährend sie dem angestrengten Keuchen des Mannes lauschte, überlegte sie fieberhaft, was er wohl von ihr wollte. Er schleppte sie wieder hinauf zur Straße, so viel war klar. Dabei kam er ihr oft so nahe, dass sie seinen Schweiß und sein penetrantes Rasierwasser riechen konnte. Wenn es etwas gab, das Dina den Magen umdrehte, dann war es ein Mann, der sich halb in Aftershave ertränkte. Sie konnte nicht anders, sie musste etwas sagen. Und es war auch egal, denn sterben musste sie sowieso. «Haben Sie heute Abend in Aqua Velva gebadet?», presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. «Wie bitte?» In der Stimme des gesichtslosen Mannes, der sie angestrengt den Hang hochschleppte, schwang noch immer diese unheimliche Höflichkeit mit. «Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber bitte lassen Sie meine Freundin frei. Wenn Sie möchten, blase ich Ihnen einen.» «Das ist leider nicht möglich», erwiderte er und klang dabei wie ein Beamter, der jemandem eine Baugenehmigung verweigert. «Bitte, haben Sie Verständnis dafür.» «Was ist nicht möglich?», fragte Dina. «Dass ich Ihnen einen blase? Oder dass Sie meine Freundin freilassen? Bitte, lassen Sie sie gehen, sie hat Ihnen doch nichts getan.»
«Tut mir wirklich leid.» Sie waren oben an der Böschung angelangt, und Dina bemerkte, dass das Gras am Rand der Straße nach Fichtennadeln und Auspuffgasen roch. Ein leichter Nieseiregen hatte eingesetzt, durch den sie undeutlich die Scheinwerfer des Lieferwagens erkennen konnte. In der Nähe hörte sie das erstickte Wimmern ihrer besten Freundin, deren Mund offenbar immer noch zugeklebt war. Der Mann ging zu seinem Wagen und öffnete einen verbeulten Metallkoffer, der gleich hinter der Tür auf der Ladefläche stand. Am liebsten hätte Dina ihm die Eier abgebissen. «Lassen Sie sie. frei, und ich tue alles, was Sie von mir verlangen», rief sie ihm zu. «Wofür brauchen Sie denn uns beide?» Der Mann hielt inne und drehte sich zu Dina um. Im schwachen Schein der Innenbeleuchtung sah sie, wie er grinste. Das Grinsen ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. «Weil es nun mal nur mit zweien geht», erklärte er in leisem, höflichem Ton.

Zwei

Im sanften Zwielicht vor Anbruch der Morgendämmerung erwachte Ulysses Grove vom leisen Klingeln seines Handys. Nachdem er erkannt hatte, dass das Geräusch nicht aus dem Lautsprecher des Babyfons auf dem Nachttisch stammte, drückte er auf die Taste, die das Handy auf stumm schaltete, und warf einen kurzen Blick hinüber zu seiner Frau Maura, die neben ihm noch immer schlief. Ein Anruf auf diesem Handy um diese Stunde konnte nur eins bedeuten: dass sein Chef Tom Geisel- möglicherweise auch dessen langjährige Assistentin Shirley Milch- ihn über einen weiteren Doppelmord des Mississippi-Rippers informieren wollte. Grove nahm das Handy aus der Ladestation und setzte sich auf die Bettkante. Ulysses Grove war ein langgliedriger, schlanker Afroamerikaner mit der Figur eines Marathonläufers und dunklen mancleiförmigen Augen. Wie immer im Bett trug er ein ärmelloses T-Shirt und Boxershorts in den Farben der Michigan Wolverines. An seinen nach vorn gebeugten Schultern und den geröteten, ins Leere blickenden Augen konnte man erkennen, dass er in den vergangeneu Wochen nur wenig Schlaf gefunden hatte, was unter anderem an den Schmerzen in seinem linken Auge lag. Im vergangeneu Jahr hätte er es um ein Haar verloren, als er auf einem alten Friedhof bei New Orleans in die Gewalt des psychopathischen Mörders Michael Doerr geraten war. Doerr hatte versucht, Grove das Auge herauszureißen, und dabei mit einem Messer seiner Hornhaut schwere Verletzungen zugefügt. Eine Weile hatte Grove geglaubt, er müsse für den Rest seines Lebens als zweiter Sammy Davies Junior herumlaufen, aber die Ärzte am Johns-Hopkins-Krankenhaus hatten es in drei schwierigen Operationen geschafft, sein Auge zu erhalten - allerdings um den Preis, dass es nun so gut wie blind war. Grove war dankbar, dass er es überhaupt noch hatte, denn obwohl er auf jede Narbe an seinem Körper stolz war wie auf eine Tapferkeitsmedaille, hätte er sich mit einem Glasauge nur sehr schwer anfreunden können. Weil er auf einem Auge praktisch blind war, hatte er beim Autofahren, Lesen und Schreiben hin und wieder ein paar kleinere Probleme, aber die waren nichts im Vergleich mit den Albträumen, die ihn seit dem Beinaheverlust seines linken Auges quälten. Meist träumte er von apokalyptischen Ereignissen und Weltuntergängen, von denen er glaubte, dass er sie ausschließlich mit dem linken Auge wahrnahm, während sein rechtes, noch intaktes Auge ihm in diesen Träumen nur unscharfe Bilder lieferte. Mit dem linken hingegen sah er die absonderlichsten Dinge: Stra ßenschilder voller Blutspritzer, dunkle Gestalten, die im Wald lauerten, gespenstische schwarze Reiter, deren Pferde auf den Gebeinen von in der Schlacht gefallenen Soldaten herumtrampelten. Eines Nachts träumte er, dass er mit dem blinden Auge in die Zukunft blicken könne, und erwachte schweißgebadet, nachdem er seine Familie abgeschlachtet in ihren Betten hatte liegen sehen. Sein Psychotherapeut bezeichnete diese Träume als «nur zu verständlich» und sogar als «heilsame Reinigung» angesichts der schrecklichen Dinge, die Grove in seinem Berufsleben bereits gesehen hatte. Aber es waren nicht nur diese beängstigenden Visionen, die Grove in letzter Zeit nicht schlafen ließen, ebenso wenig wie es allein am Stress in der Arbeit oder an dem emotionalen Hindernislauf lag, den er in seiner jungen Ehe zu absolvieren hatte, oder an der Tatsache, dass er die beruflichen Anforderungen als einer der gefragtesten Profi.ler des FBI nicht immer mit seinen Pflichten als junger Vater in Einklang bringen konnte. Was Ulysses Grove in letzter Zeit nachts am häufigsten hochschrecken ließ, war das Gefühl, dass er kurz davor stand, den Mississippi-Ripper zu enttarnen. Dieser Serientäter, der in den vergangeneu zwölf Monaten acht Frauen umgebracht hatte und über den Grove eine mehr als hundert Seiten starke Akte angelegt hatte, ließ ihn sogar in seinen Träumen nicht mehr los. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Ripper dingfest gemacht wurde, davon war Grove felsenfest überzeugt. Er klappte das Handy auf und schaute auf das Display. Die Nummer des Anrufers hatte eine Vorwahl aus Virginia, und während Groves schlaftrunkenes Hirn die weiteren Zahlen zusammengefügte, wuchs die Gewissheit, dass es der Anruf war, den er erwartet hatte. Ein Anruf von einem neuen Tatort, der ihn noch näher an den Ripper heranbringen würde. Während er mit einer Hand das Telefon abschirmte, spürte Ulysses Grove, wie er an Armen und Beinen Gänsehaut bekam. «Grove», flüsterte er in den Apparat. «Einen wunderschönen guten Morgen», sagte eine ihm vertraute Stimme am anderen Ende der Verbindung. Tom Geisel war seit gut zehn Jahren Chef der Einheit zur Analyse von T äterverhalten beim FBI. Er hatte Grove ausgebildet, und immer wenn dieser die tiefe, bärbeißige und vom Whiskey raue Stimme seines Chefs hörte, hatte sie sofort einen beruhigenden Effekt auf ihn. «Tut mir leid, wenn ich Sie aus dem Bett geholt habe, Uly, aber Sie wissen ja, wie das ist ... » Grove juckte die Kopfhaut, während er aus dem Schlafzimmer hinaus in den dunklen Flur schlüpfte. Gegenüber schlief das Baby in seinem Kinderzimmer, dessen T ür einen Spalt offen stand. «Die Drecksäcke da draußen schlafen wohl nie», flüsterte er ins Telefon. «Da haben Sie recht.» «Der Ripper, oder?» «Zwei weiße Frauen, derselbe Modus Operandi. Passt alles.» «Wo hat man die Leichen gefunden?» «Sechzehn Meilen südlich von Quincy in Illinois am Ufer des Mississippi.» «Okay. Und wer ist für die Ermittlungen zuständig? St. Louis?» «Ja», sagte die Stimme. «Bill Menner von der Zentrale im Mittleren Westen fährt grade hin. Ihr Ticket liegt am Reagan Airport für Sie bereit. Flugnummern, Abflugzeiten und eine Karte, auf der der Fundort eingezeichnet ist, finden Sie in Ihrer E-Mail.» «Supen>, antwortete Grove und warf einen Blick auf die T ür des Zimmers, in dem der kleine Aaron schlief. An der T ür hing ein Plüsch-Pu, und Grove verspürte einen plötzlichen Anflug von Schuldgefühl: Der Tag, der gerade anbrach, war ein Sonntag, und er hatte eigentlich vorgehabt, sich ganz seiner Frau und dem Kind zu widmen. Das musste er nun verschieben. «Wie sieht es diesmal am Fundort aus?», fragte er. Eine kurze Pause. Dann fragte Geisel: «Wie meinen Sie das?» «Na ja, ist er ordentlich abgesperrt? Ist die erste Spurensiche- . rung ordentlich durchgeführt worden?» Wieder eine Pause. «Geht so.» «Geht so?» Geisels Stimme klang eine Oktave tiefer. «<rgendeine Knalltüte bei der Polizei von Pike County hatte nichts Besseres zu tun, als die Medien zu verständigen, und jetzt wimmelt es dort von Pressefuzzis.» Grove fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stellte sich eine mit Kameras und Mikrophonen bewaffnete Menschenmenge vor, die sich vor dem Absperrband der Polizei drängte. Er hatte das alles schon erlebt und wusste, dass die Medien einen kolossal bei der Arbeit behindern konnten. Grove vergaß sein Schuldgefühl Frau und Sohn gegenüber, weil ihm gerade ein ganz anderer Gedanke kam. Lass sie doch filmen und ihre Fotos machen, dachte er. Sie sollen der Welt ruhig zeigen, was er angerichtet hat. Dieses Gefühl hatte Grove schon seit ein paar Monaten - genauer gesagt seit dem Tag, an dem man die ersten beiden Opfer auf einem leeren Grundstück hiriter dem Liegeplatz eines Casinoschiffs in Davenport, Iowa, entdeckt hatte. Es waren die ersten in einer langen Reihe von immer zwei Toten gewesen, die ihr Mörder immer exakt drei Meter entfernt von- einander so hingesetzt hatte, dass sie einander ansehen mussten. Die Obduktionsergebnisse hatten ergeben, dass eines der Opfer immer etwa eine Stunde vor dem anderen getötet worden war. Erhöhte Serotonin- und Histaminspiegel in den Wunden legten den Schluss nahe, dass es vor dem Tod einen Kampf, möglicherweise auch Folter gegeben hatte. In den folgenden Monaten hatte man an den verschiedenen Tatorten, die sich von Rock Island bis nach Memphis das Tal des Mississippi entlangzogen, eine Fülle von Spuren gefunden: Schuhabdrücke der Größe 43, Fasern von Kleidungsstücken und Teppichen sowie Fingerabdrücke und DNA-Spuren aus diversen Ausscheidungen. Allerdings hatten weder die Fingerabdrücke noch die DNA-Spuren in irgendwelchen Datenbanken eine Übereinstimmung ergeben. Bisher zumindest nicht. Was aber viel wichtiger war als all diese Spuren- und was Grove in zunehmendem Maße seinen Schlaf raubte-, war das sich ständig wiederholende Muster von zwei Opfern, die sich gegenseitig ansehen mussten, sowie die stets eine Stunde auseinanderliegenden Todeszeiten. Was genau es damit auf sich hatte, hatte sich Grove bisher noch nicht vollständig erschlossen, aber er ahnte, dass er kurz davorstand, es herauszufinden. Die Lösung des Falles lag in der Luft, und manchmal glaubte er, sie an den Tatorten richtiggehend riechen zu können. In seinen Träumen lauerte sie immer knapp außerhalb des Blickfelds seines blinden Auges irgendwo in der Dunkelheit. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ans Licht kommen würde, das wusste Grove genau. Auch seine Kollegen wussten es, und vielleicht wusste es sogar der Mörder. Möglicherweise war das auch der Grund, weshalb Grove in diesem Fall die Anwesenheit der Medien nichts ausmachte. Nachdem er in der Vergangenheit mehrere spektakuläre Mordfälle gelöst hatte, stand er im Licht der Öffentlichkeit, und wenn der Mörder erfuhr, dass ihm ein berühmter Ermittler wie Ulysses Grove auf den Fersen war, wurde er möglicherweise nervös und beging einen entscheidenden Fehler. Als Grove den von einem Dämon besessenen Richard Acker-
man in dem aufsehenerregenden Sun-City-Fall zur Strecke gebracht oder im Auge des Hurrikans Fiona eine grausige Serie von Ritualmorden gestoppt hatte, hatte man das in sämtlichen Zeitungen nachlesen können. Von den Schattenseiten dieser Erfolge, den Depressionen und spirituellen Krisen, war allerdings nie etwas zu lesen gewesen. Grove führte sie darauf zurück, dass er der Nachfahre einer langen Reihe von afrikanischen Schamanen war. Durch dieses Erbe hatte er eine besondere Verbindung zum Übersinnlichen, die für die Presse hochinteressant, für ihn selbst aber eher belastend war. Anfangs hatte er sie noch geleugnet, aber nach allem, was er in den letzten Jahren erlebt hatte, konnte er das nicht mehr. «Leben Sie Ihr Leben, Ulysses», hatte sein Psychotherapeut ihm immer wieder geraten, lange bevor Grove das Wagnis von Ehe und Vaterschaft eingegangen war. Grove hatte den Rat befolgt und eines Tages damit aufgehört, gegen sein wahres Selbst, seine Aufgabe und seine Bestimmung anzukämpfen. Lass die Pressefuzzis nur zusehen. «Okay», meinte er schließlich zu Geisel. «Ich melde mich, wenn ich am Tatort bin.» «Gut. Und sehen Sie zu, dass Sie den Mistkerl zur Strecke bringen, bevor er nochmal zuschlägt.» Grove verabschiedete sich, klappte das Handy zu und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich für die Reise anzuziehen. Maura drehte sich um und sah verschlafen den Mann an, den sie vor elf Monaten geheiratet hatte. Ulysses stand vor dem Spiegel und betrachtete sich eingehend, was Maura sogar in ihrem schlaftrunkenen Zustand ein Lächeln entlockte. «Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, du ziehst dich für einen nächtlichen Beutezug an.» Ulysses zuckte zusammen und drehte sich um, wobei ihm einer seiner Manschettenknöpfe herunterfiel. «Habe ich dich aufgeweckt, Liebling?», fragte er. «Das tut mir wirklich leid.» «Du hast mich nicht aufgeweckt», erwiderte Maura sanft. «Das war die Milchfee.» Sie deutete auf ihre schweren Brüste, die sich wie zwei prall aufgepumpte Ballons anfühlten. In den sechs Monaten seit Aarons Geburt hatte Maura manchmal das Gefühl gehabt, als hätten Außerirdische Besitz von ihrem schlanken Körper ergriffen und ihn nach Gutdünken manipuliert. Innerhalb weniger Wochen war ihre Brust um vier BH-Größen gewachsen, was bei Ulysses Entzücken ausgelöst, ihr selbst aber etwa so viel Spaß gemacht hatte wie ein an ihr Hinterteil gebundener Amboss. Jetzt verspürte sie ein unangenehmes Ziehen in den Brustwarzen und setzte sich im Bett auf. «Nimm doch die getupfte Krawatte», riet sie nach einem raschen Blick auf den gut bestückten Krawattenständer, der sich mit Hilfe eines Elektromotors drehen ließ. «Die passt viel besser zu diesem Hemd.» «Meinst du?» Ulysses lächelte sie an, bevor er sich wieder seinen über fünfzig sorgfältig auf den Ständer gehängten Seidenkrawatten in allen möglichen Farben und Mustern zuwandte. «Also ich würde die von Florsheim nehmen und nicht die von Bill Blass», sagte sie und rieb sich die Brüste. Sie fühlten sich an wie mit warmem Wasser gefüllte Ballons, die jeden Augenblick zerplatzen konnten. Ihr Mann drückte auf eine Taste an seinem Krawattenständer. Ulysses Grove legte sehr viel Wert auf korrekte Kleidung und liebte Seidenhemden, gestärkte Manschetten und sorgfältig geschlungene Windsorknoten, von teuren, auf Hochglanz polierten italienischen Schuhen ganz zu schweigen. Das hatte Maura gleich am Anfang an ihm bemerkt - einer Frau stach es nun einmal sofort ins Auge, wenn ein Mann Socken von Armani und teure Kaschmirschals trug -, aber jetzt, wo sie verheiratet waren, bekam sie seinen Klamottenfimmel fast jeden Tag mit. Selbst bei ihrer Hochzeit im vergangeneo Sommer hatte er sich über die Kleinigkeiten wie die richtige Farbe für den Frack des Trauzeugen oder die Form der Serviettenhalter den Kopf zerbrochen. Seine Kollegen beim FBI machten sich wegen dieser Dinge gnadenlos über ihn lustig, aber Maura, der seine Pingeligkeit zunächst wie eine Art Abwehrmechanismus gegen die grausigen Aspekte seines Berufs vorgekommen war, fragte sich in letzter Zeit immer öfter, ob sie nicht vielleicht doch eine tiefere Bedeutung hatte. V ielleicht war sie ja auch die Vorstufe einer Zwangsneurose? Maura wusste, dass es albern war, sich wegen solcher ungelegten Eier Sorgen zu machen, aber irgendwie hatte sie sich immer mehr zu einer Frau entwickelt, die sich relativ viel Sorgen machte. Wann das angefangen hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Als Journalistin hatte sie über viele erschreckende und traumatische Dinge berichtet und sie trotzdem nicht an sich herankommen lassen. Die meisten Verirrungen der Natur, über die sie geschrieben hatte, waren ihr nicht nahegegangen, aber seit sie Ulysses Grove kennengelernt hatte, hatte sich das verändert. Seitdem hatte sie einen persönlichen Bezug zu ihren Geschichten - manchmal sogar ein bisschen zu viel, und das hatte sie sogar ein paar Mal in Lebensgefahr gebracht. Aber all das gehörte nun der Vergangenheit an. Maura hatte ihren Beruf an den Nagel gehängt und war nur noch Ehefrau und Mutter, und auch ihr Mann wollte sich in Zukunft nicht mehr in Gefahr bringen ... zumindest hatte er ihr das in der Nacht vor ihrer Hochzeit versprochen. «Du brauchst deswegen gar nicht so glücklich zu grinsen», sagte sie schließlich in einem scherzhaften Ton, während er sich die von ihr vorgeschlagene Pünktchenkrawatte umband. «Weswegen brauche ich nicht glücklich zu grinsen?», gab Ulysses zurück und schlüpfte in das Jackett seines Nadelstreifenanzugs. «Wovon redest du überhaupt?» «Der Anruf war doch von Tom Geisel, oder etwa nicht?» Grove sagte nichts, aber er machte ein Gesicht wie ein Junge, der es kaum erwarten kann, beim Footballspiel eingewechselt zu werden. Maura ließ einen leisen Seufzer hören. «Die meisten Menschen würden solche Nachrichten wohl eher als schlecht empfinden.» Groves Lächeln wich einem ernüchterten Gesichtsausdruck, und dann erzählte er seiner Frau, dass wieder zwei Tote gefunden worden waren. «Wie lange wirst du wegbleiben?» Er antwortete, dass er das nicht genau sagen könne, versprach aber, sie gleich nach der Besichtigung des Tatorts vom Hotel aus anzurufen. Während er das sagte, fuhr er sich mit einer Fusselrolle über seinen maßgeschneiderten Anzug. Dann zog er sich seinen Burberry-Mantel an, zupfte die Ärmel zurecht und überprüfte sein Aussehen noch einmal im Spiegel. Er ging hinüber zu Maura und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Sein Atem roch nach Mundwasser. «Ich ruf dich heute Abend an», raunte er ihr ins Ohr. «Vergiss nicht, deine Folsäuretabletten zu nehmen», erinnerte Maura ihn mit einem leisen Seufzer. «Ja, Mom», erwiderte Ulysses mit einem spitzbübischen Grin- sen, bevor er sich umdrehte und aus dem Zimmer ging. «Und wenn es regnet, zieh deine Überschuhe an!» «Ja,Mom.» Sie hörte, wie er die Treppe nach unten ging. An der Haustür hielt er für einen Augenblick inne, bevor ein leises Klirren seiner Schlüssel ihr sagte, dass er sie aufschloss. Als die T ür wieder ins Schloss gefallen war, senkte sich Stille über das kleine, einstöckige Gebäude inmitten eines Bilderbuch Vororts in Virginia, das mit seinem hübschen, von einem Staketenzaun umgebenen Garten fast wie ein Puppenhaus wirkte. Nur das Babyfon gab ein leise summendes Geräusch von sich, das bald darauf vom leisen Glucksen des soeben erwachenden Aaron übertönt wurde. Maura atmete tief durch und stieg aus dem Bett. Sie zog Morgenmantel und Pantoffeln an und schlurfte über den Flur hinüber ins Kinderzimmer. In dem dunklen, angenehm duftenden Raum beugte sie sich über die Wiege und betrachtete eine Weile ihren Sohn Aaron, der sich verschlafen reckte und räkelte. Er gab ein paar knurrende Geräusche von sich, öffnete die Augen und sah Maura an. Maura war jedes Mal entzückt, wenn sie mit ihrem Söhnchen Augenkontakt hatte. Vom Augenblick seiner Geburt an - die wegen Mauras enger Gebärmutter per Kaiserschnitt erfolgt war - hatte das Baby mit ungewöhnlich wachen Augen seine Umgebung gemustert. Bisher hatte Maura über das esoterische Gerede von Kindern, die «alte Seelen» seien, immer nur verständnislos den Kopf geschüttelt, aber jetzt, nachdem sie ihren engelhaften Aaron mit seiner karamellfarbenen Haut auf die Welt gebracht hatte, begann sie sich allen Ernstes zu fragen, ob daran nicht vielleicht doch etwas war. Auf jeden Fall schien der Kleine über eine ganz eigenartige Aufgewecktheit zu verfügen. «Sieh mal, wer da ist», sagte Maura sanft. Sie öffnete den Morgenmantel und nahm eine ihrer Brüste aus dem Still-BH. Das Baby stieß einen entzückten Schrei aus und schmatzte mit den Lippen. «Die Milchbar ist eröffnet», verkündete Maura mit einem breiten Grinsen. Sie hob den Kleinen aus der Wiege und trug ihn zu dem Schaukelstuhl in einer Ecke des Zimmers. Aaron fing an zu saugen, und nach einem kurzen Augenblick des Schmerzes begann in Mauras Brust ein warmer Strom zu fließen, zu dem die zarten, kleinen Schmatzgeräusche eine wundervolle Begleitmusik waren. Maura hatte noch nie ein solches Glück verspürt. Sie schloss die Augen und sprach ein stummes Dankgebet, dem sie gleich noch eine Fürbitte für die Familien der Opfer neun und zehn anhängte. Die Leichen, die man in einem dichten Gestrüpp aus Rohrkolben und anderen Pflanzen am Ufer des Mississippi gefunden hatte, waren- wie alle vorherigen Opfer auch - drei Meter voneinander entfernt platziert worden. Weil sie auf dem östlichen Ufer des Flusses waren, fiel die Aufklärung des Verbrechens eigentlich in die Zuständigkeit der Behörden des Staates Illinois, aber als klar wurde, dass es sich um weitere Opfer des Mississippi-Rippers handelte, zogen diese das FBI hinzu, das auch die anderen Verbrechen dieses Serienmörders untersuchte. Kurz nach den Er- mittlern trafen bereits die ersten Journalisten und Kamerateams aus verschiedenen Bundesstaaten am Fundort der Leichen ein. Ein Reporter der St. Louis Post machte den Anfang, gefolgt von einem Team des lokalen Fernsehsenders aus dem nahe gelegenen Quincy sowie Journalisten des Journal Star aus Peoria, des Pentagraph aus Bloomington sowie der Chicagoer Sun- Times. Adams County ist ein von schmalen Teerstraßen durchzogener, zirka achtzig Meilen langer Streifen Schwemmland, in dem es außer der Stadt Quincy nur kleine Ansiedlungen gab. Am steilen Ostufer des Mississippi gelegen, bestand Adams County aus hügeligem, nicht sonderlich fruchtbarem Land, dessen Bewohner sich als Landarbeiter oder im Kalziumkarbonatwerk südlich von Quincy ihr spärliches Gehalt verdienten. Der breite, wie ein graues Leichentuch träge dahinfließende Mississippi verlieh dem ganzen Landstrich eine düstere, bedrückende Atmosphäre, und an einem grauen Regentag und einem Ort menschlichen Leidens wie diesem war sie noch trostloser als sonst. Uniformierte Polizisten hatten auf halbem Weg zwischen dem Ufer und der am Fluss entlangführenden Straße gelbes Absperrband gezogen, das Schaulustige und Medienvertreter vom Fundort der Leichen fernhalten sollte. W ährenddessen waren Beamte rings um die unter weißen, vom Sprühregen durchnässten T üchern liegenden Toten mit der Sicherung der Spuren beschäftigt. Als Ulysses Grove gegen elf Uhr eintraf, hatten sie bereits sechs Gigabyte an digitalen Aufnahmen im Kasten und Hunderte von nummerierten Markierungsfähnchen zur Kennzeichnung von wichtigen Spuren wie Stofffetzen, Schuhabdrücken und Blutstropfen in den aufgeweichten Boden gesteckt. Groves Ankunft ähnelte der eines Rockstars, der inkognito bleiben möchte. In einem neutralen Kleinbus des FBI mit dunklen Fensterscheiben und blinkenden Scheinwerfern fuhr er durch die Menge der Reporter, vorbei an deren kreuz und quer am Stra ßenrand abgestellten Fahrzeugen. Der aus einem dunkelgrauen Himmel niedergehende Regen hatte die ungeteerte Straße in eine Schlammpiste verwandelt, auf der der Kleinbus nur sehr lang- sam vorankam. Grove, der gefasst mit seiner Digitalkamera in der Hand auf der Rückbank saß, beachtete die aufgeregten Stimmen der Reporter ebenso wenig wie das grelle Blitzlichtgewitter. Als sie die Pressemeute passiert hatten und sich dem Fundort der Leichen näherten, bat Grove seinen Begleiter, einen freundlichen, untersetzten FBI-Agenten aus St. Louis namens William Menner («Big Bill» für seine Freunde), ihn oben an der Uferböschung aussteigen zu lassen. Zuerst schien Menner etwas verblüfft wegen dieses Ansinnens, aber dann tat er kommentarlos das, was Grove von ihm verlangte. Er sagte dem Fahrer, er sollte kurz hinter dem Wagen des Gerichtsmediziners anhalten und Grove aussteigen lassen. Grove bedankte sich bei den beiden und stieg aus. Mit der Kamera in der Hand ging er zu ein paar jungen Fichten am oberen Rand der Uferböschung und blickte durch ihre Zweige hinunter auf die Stelle, an der man die beiden Toten gefunden hatte. Ein Ring aus Polizeiwagen und aufgeregten Reportern umgab sie wie eine Korona aus funkelndem Licht. Grove sah das gelbe Absperrband im Wind flattern, sah die Markierungsfähnchen aus dem Gras leuchten, sah die Spurensucher und die etwas abseits wartenden Leichenträger in ihren gespenstisch wirkenden weißen Schutzanzügen. Und schließlich fiel sein Blick auf das Zentrum, um das sich alles drehte: die mit T üchern abgedeckten toten Körper zweier Frauen im Gestrüpp direkt am Flussufer. Dann fing Grove mit der «Spirale» an, einer Technik, die er schon in seinem ersten Jahr als Ermittler für das FBI entwickelt hatte. Sie diente dazu, möglichst alles von einem zu untersuchenden Ort zu erfassen und dabei langsam vom objektiven in den subjektiven Raum vorzudringen, und begann damit, dass Grove sich zunächst so weit von dem Opfer entfernte, bis er es gerade noch sehen konnte. Wenn er alles mit Fotos dokumentiert hatte, ging er ein Stück weiter auf das Opfer zu, um das Spiel aus etwas weniger Abstand erneut zu beginnen. Dabei beschrieb er eine immer enger werdende Spirale um das Opfer und achtete auf alles, was er auf dem Boden, in den Bäumen oder am Himmel sah, denn auch das kleinste Detail konnte eine Bedeutung für die Aufklärung des Verbrechens haben, die mindestens ebenso wichtig war wie die am unmittelbaren Tatort gefundenen Spuren. An diesem grauen, feuchten Vormittag am Ufer des breiten, schlammgrauen Flusses machte er es genauso. Er achtete auf alles, auch auf Dinge, die mit dem eigentlichen Tatort nichts zu tun hatten, wie die Bäume am Abhang der Böschung, den grauen Himmel zwischen ihren Zweigen, den Regen, der unablässig fiel. Etwas war merkwürdig an diesem Tatort, ein Umstand, der ihm nicht sofort auffiel und deshalb umso bemerkenswerter war. Erst als er den halben Weg hinunter zum Fluss zurückgelegt hatte, bemerkte er, was es war: Es war die Stille. Normalerweise war es am Tatort eines sensationellen, von den Medien beachteten Verbrechens nie still. Fahrzeuge kamen und fuhren wieder fort, Ermittler kommunizierten über plärrende Funkgeräte, Reporter und Kameraleute rangelten sich um die besten Plätze am Absperrband. Hier jedoch war das nicht der Fall. Grove blieb stehen, blickte hinunter zum Fundort und erkannte, was der Grund für die seltsame Stille war: Alle Blicke dort unten waren auf ihn gerichtet, wie er zwischen zwei Bäumen am Abhang stand und seine Digitalkamera in der Hand hielt. Die Presseleute, die Schaulustigen, die Leichenträger, die Polizisten in Uniform und sogar die Beamten von der Spurensicherung sahen zu ihm herauf, dem berühmten und mysteriösen Special Agent Ulysses Grove. Sie warteten darauf, dass er etwas tat, und diese Erwartung, gepaart mit der ungewöhnlichen Stille, war so unheimlich, dass Grove ein Jucken am ganzen Körper verspürte. Es war kein Wunder, dass sie alle wussten, wer er war, denn schließlich war in den letzten Jahren in der Boulevardpresse immer wieder von ihm zu lesen gewesen. Den «Monsterjäger vom FBI» hatten sie ihn genannt und «den Mann mit den mystischen Methoden». Auch seine Romanze und Heirat mit der Wissenschaftsjournalistin Maura County war in den Klatschspalten breitgetreten worden, und darüber hinaus hatte Groves gutes Aussehen für zusätzliche Medienpräsenz gesorgt: Erst vor Kurzem hatte ihn das Ebony-Magazin zu einem der fünfzig bestaussehenden Schwarzen in Amerika gekürt. Das hatte ihm wiederum eine Einladung in die Tavis-Smiley-Show eingebracht, wo er mit einer verwegen aussehenden Augenklappe im Gesicht über den jüngsten Anstieg der Gewalt von Schwarzen gegen Schwarze diskutierte. Jetzt, an diesem Vormittag, als alle Menschen unten am Tatort zu ihm heraufstarrten, war das etwas anderes. Am liebsten hätte er Agent Menner, der ihm diskret gefolgt war, hinuntergeschickt und den uniformierten Beamten sagen lassen, sie sollten die Leute wegschicken, damit er in Ruhe arbeiten konnte. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, sie ihm beim Arbeiten zusehen zu lassen. Aber dann kam ihm auf einmal eine Erkenntnis, die ihn wie der Blitz traf. All diese Menschen blickten durch den Nieseiregen zu ihm nach oben wie das Publikum in einem makabren Schauspiel. Dutzende von Augenpaaren waren auf ihn gerichtet, ebenso wie Kameraobjektive und Mikrophone, und die Reporter der Printmedien warteten mit gezücktem Bleistift darauf, dass er etwas tat, was sie in ihre Notizbücher schreiben konnten. Das Gefühl, das diese geballte Kraft in ihm auslöste, kam ihm fast sinnlich vor, wie ein plötzlicher Hormonschub. Und dann fiel sein Blick auf die beiden traurigen Bündel menschlicher Überreste in der Mitte des Kreises, deren rot befleckte Leichentücher sich mit der Feuchtigkeit des Sprühregens vollgesogen hatten. «Agent Menner», murmelte er benommen wie nach einem Keulenschlag, während er unverwandt weiter auf die beiden Opfer starrte. «Ja, Sir?» Der untersetzte Agent blieb neben ihm stehen und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. «Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun», sagte Grove, während er sich wieder in Bewegung setzte. «Jederzeit», erwiderte Menner. Grove stieg die Böschung hinunter und trat auf das erste Opfer zu, neben dem bereits eine Bahre zum Abtransport bereitstand. Der nasse Stoff des Leichentuchs ließ die Konturen der Toten darunter erahnen. «Ich möchte, dass Sie mir einen Spezialisten besorgen, Menner», sagte Grove, während er sich ein paar Latexhandschuhe überstreifte und neben der Leiche in die Hocke ging. «Und zwar so schnell wie möglich.» Menner klappte seinen spiralgebundenen Notizblock auf und blickte Grove erwartungsvoll an. Als Grove das Tuch zurückschlug und die etwa fünfunddreißig Jahre alte, zusammengekauert wie ein Embryo daliegende Weiße betrachtete, fing sein Herz schneller zu schlagen an. Wie er später erfahren sollte, hieß sie Dina Louise Dudley, und die Striemen an ihrem Hals deuteten darauf hin, dass sie erdrosselt worden war, bevor ihr Mörder sie ausgeweidet hatte. Alle seine bisherigen Opfer hatten einen deutlich erhöhten Spiegel freier Histamine und Serotonine im Blut aufgewiesen, was ein Hinweis darauf war, dass er sie vor ihrem Tod gefoltert hatte. Wie und weshalb, entzog sich noch der Kenntnis der Ermittler. Grove schaute zu der anderen, ebenfalls mit einem Tuch abgedeckten Leiche, die drei Meter weit entfernt zwischen den Rohrkolben lag. Später würde der Gerichtsmediziner feststellen, dass diese Tote ein bis zwei Stunden vor Dina Dudley verstorben war. Auch das war bei allen bisherigen Taten dieses Serienmörders so gewesen: zwei tote Frauen, die auf identische Weise hindrapiert, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten gestorben waren. «Okay», sagte Menner nach einer Weile. «Was für einen Spezialisten hätten Sie denn gern, Sir?» Grove kam es so vor, als dringe die Stimme aus weiter Entfernung an sein Ohr. Grove gab keine Antwort, sondern beugte sich zu der Toten hinunter und berührte mit der Hand die feuchten, dunklen Spuren an ihren Wangen. Er führte den Finger an seinen Mund und leckte vorsichtig an seiner Spitze. Aus dem salzig-alkalischen Geschmack von Tränen war deutlich ein bitteres Aroma herauszuschmecken, das Grove sofort erkannte.
«Wie konnte mir das bis jetzt nur entgehen?», murmelte er leise vor sich hin. «Pardon? Agent Grove? Haben Sie gerade etwas gesagt?» Grove stand auf. Er schluckte schwer, steckte die Handschuhe wieder ein und wandte sich an Big Bill Menner. «Ich brauche so schnell wie möglich einen Augenarzt.» Der stämmige FBI-Agent war sich nicht sicher, ob er Grove richtig verstanden hatte. «Wie bitte?», fragte er. «Einen Augenarzt», wiederholte Grove ungeduldig. «<rgendwo in dieser Gegend muss doch ein Augenarzt aufzutreiben sein.»

Drei