Das Femegericht
von Uwe Voehl und Catalina Corvo
© Zaubermond Verlag 2012
© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go
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Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen.
Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab.
Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt. Es folgen zahlreiche Zwistigkeiten und teilweise offene Auseinandersetzungen zwischen dem amtierenden Oberhaupt und der Zamis-Sippe, die Asmodi schließlich für sich entscheidet, wodurch Michaels Machtanspruch von einem Tag auf den anderen seine Legitimation verliert: Asmodi hat den Patriarchen der Zamis in einen krötenartigen Freak verwandelt. Die »Geschäfte« der Zamis werden seitdem von Michaels Frau Thekla geleitet.
Folglich sind die Machtverhältnisse in Wien ungeklärt. Dank Asmodis geschickten Winkelzügen wittern die dämonischen Gegner der Zamis Morgenluft und dringen auf ihre Chance, ihnen die Führung unter den Wiener Sippen streitig zu machen.
Thekla Zamis bleibt nichts anderes übrig, als Asmodi um Hilfe anzurufen. Sie setzt auf seinen Familiensinn, da sie doch seine Tochter ist – wenngleich »nur« eine unter vermutlich Hunderten, die der Fürst im Laufe seiner Amtszeit gezeugt hat … Theklas Versuch, auf diese Weise zumindest eine Schonfrist für die Zamis herauszuschlagen, endet in einem »unmoralischen Angebot«, das ihr Vater ihr unterbreitet. Die Entscheidung, dieses anzunehmen und damit ihrer Familie zu helfen oder gegen die anderen Sippen in den Kampf zu ziehen, fällt Thekla nicht leicht.
Letztendlich ist Thekla Zamis nicht gewillt, auf Asmodis ungeheuerlichen Vorschlag einzugehen. Im Gegenteil: Sie stellt den Fürsten der Finsternis vor allen Dämonen bloß. Asmodi tobt, und den Zamis bleibt nur eine allerletzte Chance:
Thekla entschließt sich zur Flucht ins Exil. Die Zamis verlassen Wien und suchen Schutz und Unterstützung bei befreundeten Dämonen. Doch schnell wird klar: Asmodi gibt sich damit nicht zufrieden.
Er gibt die Zamis zur Jagd frei …
Der Hexengeneral
von Catalina Corvo
nach einer Story von Uwe Voehl
»Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe
und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer,
denn sie müssen brennen.«
Johannes 15:6
Hadleigh, Suffolk, 1857
Selbst der Mond wandte sich ab und huschte hinter einen bleichen Wolkenschleier, so als wolle er sein Antlitz verbergen, um die Taten der Nacht nicht mit ansehen zu müssen. So wurde die Nacht zu einem undurchdringlichen Schleier.
Der alte Tim Leyfield hatte gesagt, dass ein großes Unwetter heranzog. Er spürte das in seinem verstümmelten Bein. Doch genau darum hatte die junge Frau diese Nacht für ihr Vorhaben gewählt. Alle hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert, und jeder würde glauben, dass sie noch einen Tag länger ihre Freundin Mathilda im benachbarten Bungay besuchte. Mathilda hatte sie erzählt, dass sie noch am Nachmittag zu Hause sein wollte. Aber statt in Hadleigh hatte sie den Rest des Tages auf dem Heuboden einer Scheune verbracht. Niemand vermisste sie. Der Gedanke, der beruhigen sollte, versetzte ihr einen kleinen Stich.
Jane zog den dünnen Wollmantel enger um die Schultern. Dabei lauschte sie dem düsteren Glucksen des Weihers links des Weges und dem Geräusch ihrer Schritte auf dem Uferpfad. Hastig und unsicher stolperten ihre Füße voran über herbstnasses Laub. Immer wieder blieben ihre Füße an den heimtückischen Wurzeln der Buchen hängen, die wie bösartige Türschwellen in der Dunkelheit lauerten. Sie stürzte, rappelte sich auf und hastete nach kurzer Pause weiter. Ihr Herz schlug bis zum Hals.
Jedes Mal, wenn sie stolperte, hielt sie inne wie eine vor Angst gelähmte Feldmaus. Nicht nur, weil sie in den letzten Wochen stets erschöpft war und immer häufiger nach Atem ringen musste, sondern auch aus Furcht vor Verfolgern. Sie spähte hinter sich auf die andere Seite des Weihers. Zum Dorf. Manchmal glaubte sie, leise Schritte zu hören. Ein verräterisches Rascheln hier und dort. Dann wieder nichts.
Wenn ihr nur niemand gefolgt war. Wenn ihr Fehlen hoffentlich nicht aufgefallen war. Ihre Fantasie malte Jane quälende Szenen von Hohn und Spott aus, aber auch von abergläubischer Furcht. Wie sagte ein altes Sprichwort? Wer zum Teufel ging, der landete in der Hölle.
Andererseits, was hatte sie zu verlieren? Alfrod hatte sie bereits verloren und mit ihm ihre Zukunft, alle Pläne, das ganze Leben, das ihr zustand. Und ihre Schönheit war dahin, ihre Jugend. All das. Ihre Gebete waren unerhört verhallt. Nicht einmal in den Augen des Dorfes gab es Gnade. Selbst Mutter, Vater und Evie mieden mittlerweile ihre Gegenwart. Kein Wunder, die schwärenden Ekzeme hatten begonnen, widerlich zu stinken, wie eine faule Kartoffel mitten in einem Sack guter.
Was konnte ihr also noch Schlimmeres passieren? Sie stolperte weiter, den Weiher entlang zum Dorfteich und dort zu dem toten Arm, der stets ein wenig nach Sumpf roch. Dann weiter über die wackelige Holzbrücke, von der niemand wusste, wer sie erbaut hatte, und schließlich den Schafspfad über die Hügelwiesen bis in das Tal, wo das alte Schäferhaus stand. Das Haus des Hexers.
Aus dem rußgeschwärzten Schornstein dampfte Rauch. Im Dorf sparten die meisten Familien das Holz und wagten noch nicht zu heizen, aber er hatte wohl keine finanziellen Sorgen. Ja, er nahm gutes Geld für seine Hilfe. Und manchmal auch ein wenig mehr, wie der alte Lowell anmerkte, sobald das Gespräch auf den Hexer von den Hügeln kam. Den »Cunning Man«, wie man ihn in ganz Suffolk nannte.
Es war der alte Name, den seinesgleichen von jeher auf den Inseln für sich beanspruchte. »Cunning People«. Zauberer und Hexen. Aber sie waren nicht nur schlau, diese gotteslästerlichen Heiden, sie waren auch boshaft. Jeder wusste, dass eine grausame Verderbtheit in den verbotenen Künsten steckte. Dennoch … wenn man nichts mehr zu verlieren hatte?
Trotz allem zitterte Janes Faust und sie verharrte zögernd vor dem dunklen Holz des alten Fachwerkhäuschens. In der Zwischenzeit hatte sich der Wind gelegt. Selbst hier, am Hang des grasbedeckten Weide-Hügels, wehte kein Lüftchen mehr. Es war stiller als in einem Grab. Jane glaubte, das Gras zu hören, wie es unter ihren Füßen leise seufzte. Ihr eigener zurückgehaltener Atem erschien ihr laut wie ein Blasebalg. Ihre Knie bebten längst. In der Totenstille lag eine Warnung, zugleich aber auch eine gespannte Erwartung.
Verschwinde, drohte der schweigende Hügel. Oder ich verschlinge dich.
Oder tu endlich, weswegen du herkamst, raunte unhörbar die sternenlose Nacht.
Im nächsten Augenblick knarrte die Tür. Jane erstarrte. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre ihr eine Flucht unmöglich gewesen. Eine zehrende Schwäche griff nach ihr wie ein Kavalier, der sie in einen langsamen, anmutigen Tanz zog. Kerzenschein lockte aus dem Inneren der Hütte. Und zugleich begegnete ihr der Blick der strahlendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte.
Er war klein. Kleiner, als sie gedacht hatte. Jane hatte sich den Hexer vom Hügel immer größer vorgestellt. Mit struppigem Bart und stechendem Blick, wie einer der mythischen Riesen, die nach alter Sage die Steinkreise erschaffen hatten, um darin mit Dämonen und anderen Ungetümen zu tanzen.
Aber so sah der Gesuchte ganz und gar nicht aus. James Cunning Murrell war klein und stämmig, hatte wettergegerbte Haut wie ein Bauer, der tagein, tagaus sein Feld bestellte, und den milden, aber auch durchdringenden Blick eines vornehmen Lords.
Einige fiebrige Herzschläge lang musterte er Jane schweigend, dann lud er sie mit einer Geste ein, sein Haus zu betreten.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sein eigentümlicher Blick wischte jeden Widerspruch fort wie ein bedeutungsloses Staubkorn. Janes Verstand wehrte sich. Und doch wollte ein stärkerer, ursprünglicher Teil ihrer Seele diesem unscheinbaren Mann in sein dunkles, geheimnisvolles Reich folgen. Ehe sie sich versah, klappte die Tür hinter ihr ins Schloss. Das Geräusch ließ sie zusammenzucken. Doch schnell fing sie sich wieder und sah sich neugierig in der Wohnstube um.
Er lebte in erstaunlich bescheidenen Verhältnissen. Die einfache, bäuerliche Einrichtung des Cottages des Hexenmeisters unterschied sich kaum von den Häuschen seiner Kunden. Hübsche Schnitzarbeiten und ein paar Jagdtrophäen hätten auch in jedes andere Landhaus gepasst. Ebenso wie der eichene Kleiderständer neben der Tür. Er trug den dunklen Mantel und den vornehmen Hut, ohne die Meister Cunning Murrell angeblich nie ausging, ebenso wie den schwarzen Regenschirm, den er gerüchteweise stets bei sich trug.
Aber da waren auch die Masken. Wie stumme, mürrische Beobachter hingen sie über dem Kamin. Von der Decke baumelte eine Hasenpfote. Ein Fuchsschädel auf der Fensterbank starrte nach draußen. Die Augenhöhlen des Fuchses lagen weit auseinander. Vielleicht etwas zu weit.
Murrell, der Cunning Man, ließ Jane keine Zeit, sich allzu genau umzuschauen. Er winkte sie in die Küche. Auch dort war alles unerwartet gewöhnlich. Nur der große Kessel über dem offenen Herd hatte etwas Hexenhaftes. Ebenso der würzige, schwere Kräuterduft, der aus dem dampfenden Kesselinhalt aufstieg. Leise blubberte das Gebräu vor sich hin.
Mit sanften und geschmeidigen Gesten servierte der Hexer einen kräftigen Darjeeling. Prüfend ließ die junge Frau einen Schluck über die Zunge gleiten. Der Geschmack war intensiv, und der Tee offenkundig teuer und rein. Murrell hatte sich ihr gegenüber an einen winzigen Küchentisch gesetzt. Der Blick der blauen Augen ruhte auf ihr. Im Licht einer tönernen Öllampe flackerten diese Augen unheimlich. Wie ein gezähmter Blitz, schoss es Jane durch den Kopf. In Murrells Augen wohnte eine unverständliche, unheimliche Kraft. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fuhr diese Kraft in Janes Körper. Spürbar wie ein Kribbeln, eine kühle Berührung.
»Also …«, begann Jane und geriet ins Stocken. »Ich bin hier … verzeihen Sie die Störung. Es ist nur …«
»Ich weiß, warum du hier bist«, unterbrach Murrell ihr zusammenhangloses Gemurmel. »Ich sehe es auf deiner Haut. Der nächste Ausbruch steht kurz bevor, nicht wahr?«
Jane duckte sich unwillkürlich. Seine Worte saßen wie ein gut platzierter Schlag.
»Du willst, dass es aufhört«, stellte er nüchtern fest.
Sie nickte stumm.
»Verständlich, wer würde das nicht wollen. Sie müssen dir unwahrscheinliche Schmerzen bereiten, deine Knochen. Und deinen Anblick kannst du kaum noch ertragen. Du hast bereits begonnen, alle Spiegel in deiner Umgebung zu zerschlagen. Deine Fingerknöchel beweisen es. Aber du konntest noch auf eigenen Füßen herlaufen, also hast du es seit etwa drei Monaten. Drei Schübe, nicht wahr? Der vierte würde dich vermutlich bettlägerig machen. Also?«
Jane öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Es war noch nicht einmal Zauberei notwendig gewesen, sie stumm zu machen. Seine rücksichtslose Beobachtungsgabe hatte genügt. »Sie kennen diese Krankheit?«, würgte sie schließlich hervor.
Seine schmalen Lippen brachten ein dumpfes Lachen hervor, das wie ein verzerrtes Echo des Kessels klang.
»Krankheit? Du leidest an keiner Krankheit.«
»Aber meine Knochen«, brach es endlich aus Jane heraus. Sie begriff nicht, wie er ihren Zustand plötzlich leugnen konnte. »Ich spüre, wie es zieht, als säße in mir ein Tier, das an meinen Eingeweiden nagt.«
Sein Lachen endete abrupt. Auf sein Gesicht stahl sich ein Ausdruck der Faszination. Er neigte sich zu ihr hin.
»Ja, man sieht schon die ersten Zeichen des nächsten Anfalls. Er wird dich scheußlich verunstalten. In eine Bestie verwandeln.«
»Bitte helfen Sie mir.«
»Du meinst, bevor es erneut geschieht?«
Er spielte mit ihr. Janes Augen brannten von Tränen, die sie mit letzter Kraft niederkämpfte. Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. »Bitte.«
Er maß sie mit kühlem Blick wie ein Stück Vieh auf dem Markt. »Alles hat seinen Preis.«
Auf diese Forderung war sie vorbereitet. Hastig zog sie die kleine Geldbörse mit ihrem Ersparten und kratzte mit bebenden Fingern blinkende Pennystücke und sogar ein paar Pfundnoten zusammen. »Hier, das ist alles, was ich habe.« Sie streckte es ihm hin.
Er aber nahm das Geld nicht einmal zur Kenntnis, würdigte es keiner Beachtung. »Ich will vor allem eins. Ich will deinen nächsten Anfall sehen und deinen Körper in allen Einzelheiten studieren. Dann erst wirst du Heilung erfahren.«
Jane schlug die Hände vor den Mund. Entsetzt starrte sie ihn an, in der unsinnigen Hoffnung, dass er sich nur einen Scherz erlaubte.
»Es beginnt«, sagte er dumpf. »Ich spüre bereits, wie deine Knochen zu arbeiten beginnen. Also zieh dich aus.«
Adalmar (Gegenwart)
Später konnte Adalmar nicht mehr sagen, was ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hatte. War es eine Bewegung am Rande seines Blickfelds? Ein Aufblitzen irgendwo? Seine magischen Sinne, die ihm verrieten, dass eine nicht zu unterschätzende magische Kraft im Begriff war, sich zu manifestieren? Vielleicht auch der eine Herzschlag in vollkommener Stille, der jedem großen Ereignis vorausging? Oder eine Mischung aus allem?
Noch bevor seine sinnliche oder übersinnliche Wahrnehmung die Lage überhaupt analysiert hatte, meldete sich ein stärkerer, ursprünglicher Sinn für Gefahr. Jene leichte Gabe zur Präkognition, die er stets leugnete, denn sie reichte nicht für hellsichtige Visionen. Nicht einmal mit magischer Unterstützung. Was nützte ihm also ein verkümmertes Talent? Adalmar war nie stolz gewesen auf eine so niedere Fähigkeit, die sich jeder bewussten Kontrolle entzog. Er war keine zugedröhnte Pythia und kein weibischer Hermaphrodit.
Dennoch handelte Michael Zamis' Sohn im Reflex, als seine Intuition ihn warnte. Unbewusst hatte er den Moment vorhergeahnt, und so fiel es ihm leicht, ohne nachzudenken in den schnelleren Zeitablauf zu verfallen.
Die Welt um ihn herum blieb stehen. Er jedoch rannte. Der schnellere Zeitablauf war nicht sein stärkster Zauber, war es nie gewesen. Sein Vater, aber auch Georg und sogar Coco beherrschten diese Disziplin um Längen besser. Darum hatte Adalmar schon früh gelernt, den Mangel auf diesem Gebiet durch Fleiß auszugleichen. Er hatte sich schnell so viele andere Zauber angeeignet, dass es weder Vater noch seinen Geschwistern einfiel, seine magische Kraft infrage zu stellen. Und so hatte Adalmar stets die Tatsache verborgen, dass er ausgerechnet diesen mächtigen, speziellen Zauber nicht gut ausführen konnte.
Außerdem war da noch etwas Unbekanntes im Spiel. Von irgendwoher kam ein Sog, aber er zerrte nicht an Adalmars Körper, oder seinem Geist, sondern ausschließlich an seiner Zaubermacht. Wie eine Welle, ein Vakuum, ein unsichtbarer Strudel. Adalmar spürte, wie seine Kräfte erlahmten, und sein Zauber brach, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Zum Glück hatte er sich gerade rechtzeitig weit genug entfernt. Er wollte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, näher am Zentrum dieser Anti-Kraft zu sein.
So reichte es immerhin für einen unüberlegten Sprung über die Reling, und ein paar Schwimmzüge außerhalb des gefährlichen Bereichs der Schiffsschraube. Dann lief die Zeit wieder normal. Die Fähre dampfte weiter.
Keine zwei Atemzüge später hagelte es Metall.
Die Stärke der Explosion verblüffte Adalmar trotz aller Vorahnungen doch. Wer immer das getan hatte, musste das ganze Schiff vermint haben. Oder ein Zauber, der mit dem seltsamen Sog zu tun hatte? Die namenlose Macht, dieser bezwingende Diebstahl seiner magischen Energie, beunruhigte ihn weitaus stärker als das Gleißen und der Knall.
Was von dem Schiff noch übrig war, versank schnell in den dunklen Fluten. Auch der Schwimmer spürte den kalten Sog der Tiefe. Mit wässrigen Fingern griff die Nordsee nach seiner Kleidung. Mit den Wellen kroch die Kälte unter seine Haut. Hastig murmelte Adalmar einen Zauber, der ihn mit der Energie des Feuers verband. Die magische Hitze half ihm, schneller und besser gegen das Meer anzuschwimmen. Dennoch bedurfte es magischer Ausdauer, um den Weg zum Ufer zu schaffen.
Zurück an Land gönnte er sich einen Moment der Erschöpfung. Er saß still in der Nähe der niederländischen Küstenstadt Hoek van Holland auf den malerischen Dünen des Naturparks Kapittelduinen, als einziger Eindringling in ein Vogelparadies, während seine Kleidung auf magische Weise trocknete. Doch das Temperament der Zamis brodelte hinter Adalmars verschlossenen Zügen.
Wer immer ihn gezwungen hatte, die halbe Nordsee schwimmend zu durchqueren, sollte dafür büßen. Dafür und für die Frechheit, einen solchen Anschlag zu planen. Und wenn Anton da auch nur mit dem kleinsten Fädchen in der Sache drinhing, dann mochte ihm die Hölle gnädig sein.
Zum Glück trug er noch eine kleine Kristallkugel bei sich, die Thekla ihm kurz vor der Trennung gegeben hatte. Akribisch durchsuchte er seine Jackentasche, um dann zufrieden festzustellen, dass zumindest dieser Teil des Plans klappte. Die Kugel war noch da.
Prüfend sah er sich um. Es herrschte erfreuliche Einsamkeit an diesem Strandabschnitt.
Dann zog er die magische Kugel hervor, beugte sich darüber und aktivierte den Zauber, der ihn mit seiner Mutter verband.
Es dauerte einige Augenblicke, dann bequemte sich Thekla jedoch zum Glück, den Kontaktversuch zu erwidern.
Im Inneren des Kristalls erschien ihr ernstes Gesicht. »Adalmar? Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Was fragst du?«, brummte er zurück. »Groß kann deine Sorge nicht sein. Du hast dir ja schön Zeit gelassen, bis du meinen Kontakt erwiderst. Glaubst du, ich verschwende zum Spaß meine magische Kraft, um eine geistige Verbindung zu dir herzustellen?«
Theklas Mundwinkel zuckten. »Also geht es dir offensichtlich gut, wenn du noch deinen Atem verschwenden kannst, um herumzumeckern. Das beantwortet meine Frage auch.«
»Interessiert es dich gar nicht, was ich dir zu sagen habe?«, knurrte er das Abbild an.
Sie machte mit eine einladende Geste. »Natürlich. Sprich.«
Er schilderte die Ereignisse in knappen Worten. Bei jedem Satz verfinsterte sich die Miene seiner Mutter. Als er geendet hatte, grübelte sie einige Augenblicke. Nachdenklich tippte sie sich gegen die Lippen.
»Vielleicht können wir die verzwickte Lage wie so oft zu unserem Vorteil nutzen«, sagte sie schließlich.
»Und wie?« Adalmar gab sich kurz angebunden. Das Gespräch ging ihm bereits auf die Nerven.
»Nun, wenn ich die Ereignisse richtig deute«, fuhr Thekla fort, »dürften unsere Feinde noch davon ausgehen, dass du die Explosion der Fähre nicht überlebt hast. Oder gibt es Zeugen für deine Flucht?«
Er verneinte.
»Dann lassen wir sie doch in dem Glauben.« Für den Bruchteil eines Atemzugs huschte ein verschmitztes Lächeln über ihren strengen Mund. »Es kann für uns nur von Vorteil sein, wenn sie uns unterschätzen. Du wirst untertauchen und zum entscheidenden Zeitpunkt unsere Trumpfkarte sein, weil niemand mehr mit dir rechnet.«
»Ich soll also in Reserve gehen?«
»Das und mehr«, erwiderte sie zufrieden. »Du wirst dich ein wenig umsehen, deine Intuition spielen lassen. Denn wir müssen wissen, ob diese beiden Dämonen von der Fähre wirklich für Asmodi gearbeitet haben. Wenn ja, sind sie sicher sehr mächtig und operieren womöglich nicht allein.«
So herumkommandiert zu werden, gefiel Adalmar gar nicht. Aber im Sinne der Sache hatte Thekla sicher eine logische Entscheidung getroffen. Er nickte knapp. »Wenn es sein muss.« Dann blieb noch eine letzte Sache zu klären.
»Was ist mit dieser schmierigen Figur Anton?«, fragte er. »Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn mir vorknöpfe?«
»Nicht prinzipiell.« Thekla lächelte dünn. »Aber praktisch.«
»Soll heißen?«
»Dass du anderes zu tun hast. Anton überlässt du mir. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Adalmar knurrte. Nicht das kleinste bisschen Vergnügen wurde einem gegönnt.
»Fass ihn nicht mit Samthandschuhen an«, forderte er.
Sie nickte. »Ich bin nicht deine Schwester.«
Es war klar, welche Schwester sie meinte. »Wollen wir es hoffen«, brummte er. Da alles gesagt war, beendete Adalmar die Verbindung grußlos.
Nun gut. Spionage also. Aber er würde den Teufel tun, wie ein verlotterter Waisenknabe am Strand zu hocken. Ein Domizil musste her, und zwar ein anständiges. Aber auch unauffällig. Am besten, er verschaffte sich eine Tarnidentität. Die Hände in die Taschen vergraben schlenderte Adalmar in Richtung des Jachthafens des Touristenstädtchens Hoek van Holland, oder wie die Einheimischen es nannten: de Hoek.
Als die beiden Dämonen gutgelaunt die Lobby des Four Seasons verließen, ahnten sie nicht, dass sie beobachtet wurden. Sie wähnten sich so sicher, dass sie es völlig vergaßen, in ihrer Umgebung nach anderen schwarzmagischen Auren zu suchen. Vielleicht beherrschten die erbärmlich schwachen Hexer diese Fähigkeit auch einfach nicht. So entging ihnen, dass der Bettler, der im Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein paar selbstgebastelte Strohpuppen verkaufte, kein gewöhnlicher Sterblicher war. Sie warteten lediglich gelangweilt auf ihr Taxi und weigerten sich, vom Rest der Welt Notiz zu nehmen. Adalmar begrüßte diese Arroganz. Sie erleichterte seine Arbeit enorm.
Ebenso wenig bemerkten sie, dass sie demselben Mann schon zum vierten Mal innerhalb eines Tages begegneten. Der Gärtner auf dem Golfplatz, der Opa auf der Parkbank und der schneidige Millionär, der beim Frühstück am Nachbartisch gesessen hatte – sie waren alle dieselbe Person.
Mit den fahrigen Gesten eines Gewohnheitstrinkers strich sich Adalmar über den falschen verfilzten Bart, der nun seinen echten ersetzte. Noch immer bedauerte er den Verlust seines lieb gewonnenen Bartes, aber für eine Spionagemission war Unauffälligkeit angesagt. Magie konnte die gewohnte Gesichtsbehaarung zum Glück jederzeit neu entstehen lassen. Wie es seiner Rolle entsprach, blinzelte Adalmar trübe in die Gegend, ließ dabei jedoch die beiden anderen Dämonen nicht aus den Augen.
Die van Auderkerkes wähnten sich sicher. Kein Wunder, hatten sie doch das Städtchen fest im Griff. Andere Dämonen hatten Angst vor dieser Familie, die hier den Lokalmatador mimte. Warum, das verstand Adalmar jedoch nach einer Woche des Kundschaftens immer noch nicht. Keiner der Dämonen des Clans der van Auderkerkes hatte bemerkenswerte Magie oder sonst einen Machtbeweis gezeigt. Ihre Ausstrahlung war schwach. In Wien hätte man über solche gescheiterten Emporkömmlinge gelacht, da war sich Adalmar ganz sicher. Und doch stützten sich die van Auderkerkes hier auf eine seltsame, ihnen entgegengebrachte Furcht.
Entweder waren diese Belgier äußerst subtil oder sie mussten ihren Machtanspruch auf etwas anderes als Magie stützen. Das jedoch erschien nahezu undenkbar innerhalb der Schwarzen Familie. Wie sonst konnte eine Familie ihren Machtanspruch sichern?
Mit Hilfe eines winzigen, unsichtbaren Geisterdieners gelang es Adalmar, das Gespräch auf der anderen Straßenseite zu belauschen, so als stünde er daneben. Die beiden jungen Leute diskutierten das abendliche Unterhaltungsprogramm. Zum Glück einigten sie sich auf eine Tour durch verschiedene Clubs und Restaurants. Adalmar verzog geringschätzig die Mundwinkel. Armselig, oberflächlich und dem Niveau dieser Familie vollständig angemessen. Immerhin würden sie so leicht zu beschatten sein.
Coco, England, Hadleigh (Gegenwart)
Die Pension »Sunny Meadow« war weder sonnig noch sonst sehr einladend, aber sie besaß den unschlagbaren Vorteil, die einzige freie Pension am Ort zu sein. Das Fünfhundert-Seelen-Dörfchen besaß sonst nur noch zwei Pubs an der Dorfstraße, ein »Dollhouse« genanntes Puppengeschäft und ein paar weitere kleine Läden, die wir bereits bei der ersten Durchfahrt entdeckt hatten. Außerdem verfügte der Ort über eine pittoreske alt-anglikanische Kirche und Fachwerkhäuser, die allesamt einem Charles-Dickens-Roman entsprungen sein konnten.
Miss Pickingales für den schmucken Ort erstaunlich schäbiges Hostel war das einzige Haus, an dessen Gartentür das typische hellblaue Schild mit dem Bett und dem Teller klebte. Betten und Frühstück. Mehr war zwischen den in die Jahre gekommenen Fachwerkwänden nicht zu erwarten. Dafür boten zumindest die nach vorne gelegenen Zimmer einen schönen Ausblick auf den Marktplatz.
Ich folgte Mutter durch die schmale niedrige Eingangstür in ein verräuchertes Empfangszimmer. Der Gestank von kaltem Tabak zog durchs ganze Haus, über Bauernmöbel aus Pressspan.
Von innen waren die Fenster noch vergilbter als von außen. Tageslicht fand nur schwer einen Weg durch staubergraute Spitzengardinen und billigen Plastikblumen auf den morschen Fensterbänken. Aber abgesehen vom allgegenwärtigen Tabakgeruch und der Tatsache, dass die Einrichtung seit Jahren nach Modernisierung schrie, war der Empfang durch die Hausbesitzerin angenehm freundlich.
Miss Pickingale war eine wohlbeleibte Mittfünfzigerin. Ihre schlecht blondierte Dauerwelle und eine hellgrüne Kittelschürze passten zur Umgebung und eine brennende Zigarette im Mundwinkel offenbarte sich als Quelle des muffigen Odeurs.
Noch während wir die billigen Pensionszimmer bezogen, lungerte sie im Flur herum, anscheinend in der Hoffnung auf Tratsch und die Gelegenheit, uns auszufragen. Ob wir hier Verwandte besuchten oder einfach nur Urlaub machten. Ob wir wegen der Hexengeschichten da seien.
Ich spitzte die Ohren. Auch Lydia, mit der ich mir ein Zimmer teilen musste – wir bedauerten diesen Umstand gleichermaßen – warf mir einen neugierigen Blick zu.
»Hexengeschichten?«, hakte ich nach. »Wir wollten eigentlich die Landschaft genießen.«
»In Hadleigh?« Die ältliche Miss kicherte. »Was gibt es denn hier schon zu sehen? Ein paar Hügel und Schafe und ein paar Hügelgräber. Sonst gibt es hier nichts. Wilmington hat den langen Mann, Avesbury einen richtigen Steinkreis und Glastonbury immerhin das alte Avalon. Leute, die durch Hadleigh reisen, sind meistens solches Esoterikervolk, die des alten Cunnings wegen kommen. Aber die werden schnell enttäuscht. Hier gibt es keine wilden Leute mehr, keine Elfen und auch keine Zauberei. Aber das werden Sie selbst noch merken.«
»Aber ihr habt doch sicher einen Friedhof.« Georg polterte mit Mutters Koffern über den Flur. »Ich mag englische Friedhöfe. Der Geruch dort erinnert mich immer an was.«
»Ach«, machte Miss Pickingale verdutzt, während mein Bruder gut gelaunt grinsend an unserem Zimmer vorbeizog. Mit dieser Information konnte sie scheinbar nichts anfangen. Sie sah Georg verdutzt nach, als er in Mutters Zimmer verschwand. Auch Lydia schüttelte den Kopf angesichts solcher Aussagen. »Der hat immer noch einen Knall«, murmelte sie. »Rede nicht so über unseren Bruder«, wies ich sie zurecht. Daraufhin tippte sie sich an die Stirn.
Die jähe Stimme im Flur erinnerte mich daran, dass unsere Vermieterin sicher neugierig lauschte, und so bat ich sie um einen Erfrischungstee. »Natürlich. Ich serviere um vier Uhr Cream Tea im Salon.«
»Cream Tea?«, tönte Georgs Stimme durch die Sperrholztür des Gästezimmers. »Ausgezeichnet!« In diesem Haus blieb anscheinend nichts geheim.
»Was ist das überhaupt?«, maulte Lydia missgelaunt. »Bestimmt irgendein widerlicher Fraß aus der Mikrowelle. Ich hab diese Reise sowas von satt.«
Cream Tea bezeichnete, wie sich herausstellte, die verführerischste Attraktion Südenglands. Kräftiger belebender Assamtee mit viel Milch und Zucker, dazu ofenwarme Scones mit hausgemachter Sahne und Marmelade. Sogar Lydia war sich ausnahmsweise nicht zu fein, kräftig zuzulangen.
Wieder fragte uns Miss Pickingale aus. Längst hatte ich sie in Gedanken Miss Picky getauft. Diesmal antwortete ihr Mutter. Ja, auf einer Erholungsreise. Nein, an Hexenwerk und Esoterik nicht interessiert. Nein, wir seien keine Deutschen. Nein, auch nicht aus Bayern. Nein, das sei nicht dasselbe wie Österreich.
Dann würgte Mutter das Gespräch ab, und wir aßen schweigend unsere Scones, während Miss Picky vorgab, den Essensraum zu schrubben. Mutter beobachtete sie dabei eindringlich. Irgendetwas an ihrem Verhalten kam mir spanisch vor. Und erst recht die folgende Frage:
»Sagen Sie, Miss Pickingale, haben Sie vielleicht meine Großeltern gekannt? Sie waren 1934 schon mal in Hadleigh. Hier, in Ihrer Pension! Sie haben mir sogar Fotos hinterlassen. Die Inhaberin muss eine Ihrer Vorfahren gewesen sein. Sie sieht Ihnen sehr ähnlich. Eigentlich wie aus dem Gesicht geschnitten …«
»Das kann sein«, erwiderte Miss Pickingale wie aus der Pistole geschossen. »Wir Pickingales sehen alle sehr ähnlich aus.«
Sie wollte weiterschrubben, doch die nächste Frage meiner Mutter brachte sie vollends aus dem Takt.
»Sind Sie sicher, dass es hier keine Hexen gibt?«, fragte Mutter ganz plötzlich in scharfem Ton. Selbst für uns Kinder kam diese Frage unerwartet. Miss Picky ließ verdutzt den Schrubber fallen. »Wie?«, fragte sie verwirrt. »Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie nicht deswegen …«
»Ich meine ja nur. Es könnte schließlich sein. Man erkennt nicht jeden Dämon sofort. Es wäre ziemlich närrisch, sich heutzutage als dunkles Geschöpf jedem Erstbesten zu erkennen zu geben. Passen Sie auf, dass Ihnen niemand einen Fluch anhext.«
»Mir?« Miss Picky hatte sich wieder gefangen. Lächelnd stellte sie Schrubber und Wischeimer beiseite. »Ich lebe hier doch unbehelligt. Mich verflucht niemand. Außerdem gibt es ja auch keine Hexen.«
»Dann stehen die Chancen ja gut, dass dieses Haus auch weiterhin eine fluchtfreie Zone bleibt.«
»Nun kommen Sie schon.« Mit verschmitztem Lächeln räumte die Wirtin unseren Tisch ab. »Sie können es doch sagen. Sie sind also doch wegen der Hexengeschichten hier, nicht wahr?«
»Vielleicht.« Mutter erwiderte das Lächeln. Aber etwas in der Art, wie sie die allzu neugierige Miss musterte, verhieß nichts Gutes. Eine kitschige Schwarzwälder Kuckucksuhr krähte sechsmal, Miss Picky entschuldigte sich. »Jetzt kommt meine Lieblingsserie. Wenn Sie mich noch brauchen, ich bin hinten im Zimmer am Ende des Flurs. Klingeln Sie einfach. Eine Glocke steht am Empfang.«
Mutter schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird.« Ihr Lächeln war kühl und verunsicherte Miss Picky sichtlich.
»Diese neugierige Fragerin sind wir fürs Erste los«, verkündete Mutter zufrieden, kaum dass die Vermieterin nebst Geschirr verschwunden war.
Aber auch uns gegenüber hüllte sich Mutter in Schweigen. Selbst mit vereinten Kräften bekamen wir lediglich ein paar Andeutungen aus ihr heraus. Während dieser Umstand Georg und Lydia nichts auszumachen schien, machte ich mir Sorgen um Adalmar. Sein Verbleib war ebenso ungeklärt wie sein Schicksal. Und Mutter schwieg.
Ich wollte mich bewegen. Wir hatten viel zu viel Zeit im Auto verbracht. Nicht nur Lydia ging diese »Reise«, wie sie es nannte, auf die Nerven. Ich nannte es »Flucht«. Niemand sprach es gern aus, aber mit jedem Tag erschien mir unser Verhalten planloser. Wir wurden gejagt. Adalmar mochte unseren Häschern zum Opfer gefallen sein oder auch nicht. Wir unternahmen jedenfalls nichts dagegen. Wir setzten unsere Flucht fort. Aber hatte Mutter überhaupt ein Ziel? Hier? In England? Oder hoffte sie einfach, genug Abstand zu gewinnen, um in Ruhe unterzutauchen? Ich hatte das Gefühl, dass sich die Schlinge um unseren Hals jeden Tag weiter zuzog.
Bevor ich darüber länger grübeln konnte, drangen spitze Schreie an mein Ohr. Alarmiert sprang ich auf und folgte dem Gekreisch. So viel zum Stichwort Untertauchen.
Wo wir auch hinkamen, der Ärger folgte uns. Aber diesmal traf er das falsche Ziel. Miss Pickingale stürmte mir in der Diele entgegen. Ihre Schürze stand in Flammen. Rasend schnell breitete sich die gelbe Lohe über ihren Körper aus. »Runter!«, brüllte ich und griff mir das erstbeste Stück Stoff in Reichweite.