Florian Freistetter
KRAWUMM!
Florian Freistetter
KRAWUMM!
Ein Plädoyer für den Weltuntergang
Florian Freistetter
Krawumm!
Ein Plädoyer für den Weltuntergang
1. Auflage
© 2012 Ecowin Verlag, Salzburg
Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck
Gesamtherstellung: www.theiss.at
Gesetzt aus der Optima
Printed in Austria
ISBN 978-3-7110-5024-3
www.ecowin.at
Für Fabian.
Und die Geschichte
über die Abenteuer der Weltraumspinne
schreiben wir auch noch!
Vorwort
Kapitel 1: Im Licht der Kollisionen
Kapitel 2: Kollidierende Welten
Kapitel 3: Fallende Steine
Kapitel 4: Der Weltuntergang ist halb so schlimm
Kapitel 5: Zwerge und Riesen
Kapitel 6: Kollisionen ohne Rums
Kapitel 7: Das Ende und ein neuer Anfang
Nach dem großen Knall – noch mehr Bücher und abschließende Bemerkungen
Glossar
Register
A
B
C
E
F
G
H
I
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z
Wenn zwei Dinge miteinander zusammenstoßen, gehen sie dabei oft kaputt. Das finden wir ärgerlich – besonders dann, wenn es sich bei dem kaputten Ding um unser Auto handelt. Aber manchmal muss man etwas kaputt machen, damit aus seinen Bestandteilen etwas Neues entstehen kann. Das war das Ziel der Teilchenphysiker, die sich am 10. September 2008 in Genf versammelt hatten. In der Kontrollzentrale des Teilchenbeschleunigers LHC des europäischen Kernforschungszentrums CERN wartete man gespannt darauf, dass dieses gewaltige Gerät den Betrieb aufnahm. In einem 27 Kilometer langen, kreisrunden Tunnel, der sich unterirdisch von Genf bis nach Frankreich und wieder zurück erstreckt, sollten winzige Bestandteile von Atomkernen, die Protonen, auf enorme Geschwindigkeiten beschleunigt werden. Von außen sieht man nicht viel von den dramatischen Ereignissen, die sich da tief unter der Erde abspielen. Ein Teilchenpaket rast im Uhrzeigersinn durch die Tunnelröhre, ein anderes gegen den Uhrzeigersinn und jedes davon besteht aus knapp hundert Milliarden Protonen. Und dann, wenn die kleinen Teilchen annähernd Lichtgeschwindigkeit erreicht haben, gibt ein Wissenschaftler ein paar Kommandos in den Computer ein und sorgt dafür, dass die Teilchen nun nicht mehr aneinander vorbeifliegen, sondern frontal aufeinanderprallen! Jetzt kommt es zur Kollision: Die Protonen stoßen zusammen. Sie zerstören sich gegenseitig und setzen auf kleinstem Raum große Mengen an Energie frei, aus der eine Vielzahl neuer Teilchen entsteht. Messgeräte so groß wie mehrstöckige Häuser sind entlang des Tunnels aufgestellt, um möglichst viele dieser Kollisionen zu registrieren und analysieren. Irgendwann wird bei diesen Zusammenstößen auch ein Teilchen entstehen, das wir bisher noch nicht kennen. Vielleicht ist es das „Higgs-Teilchen“, das die Wissenschaftler schon seit Jahren suchen. Vielleicht ist es aber auch etwas völlig Unbekanntes, etwas, das uns zwingt, uns komplett neue Gedanken über die Struktur des Universums zu machen. Doch was auch immer geschieht, eines ist sicher: Wenn im LHC nur genügend Kollisionen stattfinden, dann werden wir etwas Neues über unser Universum lernen!
Im Teilchenbeschleuniger haben wir die Kollisionen selbst verursacht und können sie kontrollieren. Unser Universum ist aber voll mit Objekten der verschiedensten Art, die ständig ganz von allein, ungewollt und unkontrolliert miteinander zusammenstoßen. Das mag für manche überraschend klingen. Wir stellen uns den Weltraum gerne als groß, leer und im Wesentlichen unveränderlich vor. Und was das „groß und leer“ angeht, haben wir damit auch völlig recht. Das Universum ist groß und es ist im Wesentlichen leer. Nur ab und zu wird die Einöde des Kosmos durch den einen oder anderen Stern aufgelockert. Aber auch wenn das Universum so wahnsinnig groß und leer ist, ist es doch auf keinen Fall langweilig. Denn trotz der gewaltigen Menge an Nichts, trotz des überreichlich vorhandenen Platzes im Universum schaffen es die Planeten, Sterne und Galaxien doch irgendwie, immer wieder miteinander zusammenzustoßen. Manche dieser Kollisionen sind gewaltiger und katastrophaler, als wir sie uns jemals vorstellen können. Manche dieser Zusammenstöße finden von uns völlig unbemerkt statt. Manche Kollisionen zerstören Leben. Manche erzeugen es dagegen erst. Aber wie auch immer die Objekte in unserem Universum miteinander kollidieren: Es steckt jedes Mal eine spannende Geschichte dahinter, und wir haben aus den Kollisionen im All mindestens genauso viel über unser Universum gelernt wie aus den Zusammenstößen, die wir in den Teilchenbeschleunigern erzeugt haben.
Früher war der Himmel ein Ort, der von Ordnung und Perfektion geprägt war. Es war der Bereich der Götter und ihrer göttlichen Gesetze. Erst langsam schafften es die Forscher, das religiöse Denken abzulegen und das wahre Gesicht des Universums zu betrachten. Es ist für uns Menschen nicht sehr schmeichelhaft. Wir sind nicht das Zentrum der Welt, wir sind nicht die Krone der Schöpfung. Wir bewohnen einen kleinen Planeten, der gemeinsam mit sieben anderen Planeten einen kleinen Stern umkreist. Wir wissen, dass unser Planetensystem absolut nicht einzigartig ist. Auch viele andere Sterne werden von Planeten umkreist. Unsere Sonne nimmt ebenfalls keine besondere Stellung ein. Zusammen mit Hunderten Milliarden anderer Sterne ist sie Teil eines gewaltigen Systems, der Milchstraßen-Galaxie, in deren Randbereich sich Sonne und Erde befinden. Aber selbst die große Milchstraße mit all ihren Milliarden Sternen ist nur ein kleiner Teil des viel größeren Universums. Da draußen sind noch Hunderte Milliarden weiterer Galaxien, die alle ebenfalls wieder Hunderte Milliarden Sterne enthalten, von denen viele von Planeten umkreist werden.
Zumindest einer dieser Planeten hat genau die richtigen Bedingungen hervorgebracht, damit darauf Lebewesen entstehen konnten. Lebewesen, die mittlerweile klug genug geworden sind, um die Welt um sich herum nicht nur betrachten zu können, sondern auch die Fähigkeit besitzen, sich zu fragen, wie diese Welt und sie selbst entstanden sind. Lebewesen, die Antworten auf diese Fragen finden wollen und zu diesem Zweck nicht nur große Teilchenbeschleuniger gebaut, sondern auch die kosmischen Kollisionen erforscht haben. Diese Kollisionen können Katastrophen hervorrufen, deren Ausmaße für uns unvorstellbar sind. Im All stehen Katastrophen auf der Tagesordnung. Der Weltuntergang ist – aus kosmischer Sicht – etwas völlig Normales. Wir Menschen empfinden bei dem Gedanken daran nur deswegen Unbehagen, weil wir zufällig auf einer dieser Welten leben und es ungern sähen, wenn sie – und wir mit ihr – zerstört werden würde. Aber wir vergessen dabei oft, dass die gleichen Kollisionen, die uns Menschen, unsere Zivilisation oder gar unseren Planeten komplett auslöschen können, überhaupt erst dafür verantwortlich sind, dass es uns gibt. Wenn nicht ab und zu zwei Dinge ineinanderkrachen würden, wäre das Universum ein dunkler, lebloser und langweiliger Ort. Erst die Kollisionen machen es zu dem, was es heute ist. Kollisionen gibt es nur, wenn sich etwas bewegt, und Bewegung ist die Grundlage für ein dynamisches Universum. In einem Universum ohne Bewegung und Dynamik gäbe es zwar keine Kollisionen und keine durch sie ausgelösten Katastrophen. Es gäbe aber auch nichts, das durch solche Katastrophen zerstört werden könnte. So ein Universum wäre von Anfang an tot und leblos. Wir sollten ruhig ein wenig Respekt vor den kosmischen Kollisionen haben. Mit ihnen ist nicht zu spaßen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es uns ohne sie gar nicht erst geben würde. Dieses Buch handelt nicht nur von der gewaltigen Zerstörungskraft der kosmischen Katastrophen, sondern ist auch ein Plädoyer für den Weltuntergang. Wir haben den Kollisionen viel zu verdanken.
Um zu verstehen, wie wichtig Kollisionen im All auch heute noch für uns sind, brauchen wir nur zum Himmel zu blicken – zur Sonne. Den Menschen war lange Zeit unklar, was die Sonne eigentlich ist und warum sie leuchtet. Eine Erklärung war auch nicht wirklich nötig. Jeder wusste, dass die Erde von den Göttern erschaffen wurde, damit die Menschen darauf leben können. Und zum Leben brauchen wir Licht und Wärme, also mussten die Götter eben eine passende Glühbirne an den Himmel hängen. Ob es nun die Mythen der alten Zivilisationen im Ägypten der Pharaonen oder dem antiken Griechenland waren oder die Schöpfungsgeschichte in der Bibel: Die Sonne war Lebensspenderin, extra geschaffen für die Menschen, um die Erde zu wärmen und zu erhellen. Zu Recht, immerhin galt die Erde als Zentrum des Universums. Natürlich gab es trotzdem immer schon Menschen, die spekulierten: Was war eigentlich mit den anderen Lichtpunkten am Himmel, die man nur in der Nacht sehen konnte, den Sternen? Die Sonne war ein großes helles Ding, die Sterne waren kleine helle Dinger und beide befanden sich am Himmel. Vielleicht waren die Sterne auch Sonnen, nur eben viel weiter weg?
Diese Spekulationen waren zwar spannend (vor allem weil man nie wusste, ob man nun wegen solcher Häresien mit der religiösen Obrigkeit in Konflikt geraten würde oder nicht), aber über die wahre Natur der Sonne lernte man dabei wenig. Was war sie denn nun? Ein Gott oder ein Symbol der Götter? Ein Teil der Maschinerie der Schöpfung, der keiner Erklärung bedurfte? Das wollten manche der ersten Wissenschaftler nicht akzeptieren. Sie wollten wissen, wie groß die Sonne ist, wie weit entfernt sie ist, woraus sie besteht und warum sie so hell und warm ist. Vor allem im antiken Griechenland begann man diese Fragen zu beantworten. Man fand heraus, dass die Sonne tatsächlich viel größer ist als die Erde, und Forscher wie Aristarch von Samos (der vor etwa 2300 Jahren lebte) fingen an, sich vorsichtig die Frage zu stellen, ob es dann nicht vielleicht logischer wäre, wenn die kleinere Erde um die größere Sonne kreisen würde statt umgekehrt. Man fand auch heraus, dass die Sonne ziemlich weit weg ist, auf jeden Fall weiter als all die Distanzen, die man vom irdischen Alltag gewohnt war. Aber warum sie nun leuchtet, blieb ein Rätsel. Vielleicht bestand sie aus spezieller Materie, die es nur im Himmel gibt und die eben leuchtet? Der Philosoph Anaxagoras (von dem im 3. Kapitel noch die Rede sein wird) probierte erstmals, die Prozesse am Himmel mit dem zu erklären, was man von der Erde kannte und meinte, die Sonne wäre ein glühender Stein. Aber genau genommen musste man zugeben: Man wusste es nicht. Und es schien auch keine Möglichkeit zu geben, es jemals herauszufinden. Daran änderte sich auch in den nächsten Jahrhunderten nichts.
Aber zumindest lernte man im Laufe der Zeit ein bisschen mehr über den Aufbau des Sonnensystems. Die Erde stellte sich doch nicht als das Zentrum des Universums heraus, sondern nur als einer von vielen Planeten, die die Sonne umkreisen. Man fand heraus, dass die Planeten und Sterne nicht auf Sphären aus Kristall montiert waren, die sich um die Erde drehen. Und wenn man auch nicht wusste, woher die Sonne ihre Energie nahm, stellte man zumindest fest, dass sie ein ganz normaler Himmelskörper war und keine Gottheit.
Im 18. und 19. Jahrhundert fand man sogar ein paar neue Planeten. Der erste dieser neuzeitlichen Planeten wurde 1781 von dem nach England ausgewanderten Deutschen Friedrich Wilhelm Herschel entdeckt. Herschel begann seine Karriere als Musiker und war anfangs nur Hobby-Astronom. Er verstand es allerdings wie kein anderer, Teleskope zu bauen und seine Geräte waren bald die besten und größten in ganz Großbritannien. Kein Wunder also, dass er mehr sah als die anderen und als erster Mensch der Neuzeit einen bisher unbekannten Planeten entdeckte. Der wurde Uranus genannt und Herschel weltberühmt. Er konnte jetzt die Musik sein lassen und sich ganz der Astronomie widmen. Er durchsuchte weiter den Himmel, allerdings nun nicht mehr auf der Suche nach neuen Planeten, sondern weil er herausfinden wollte, wie die Sterne am Himmel verteilt sind. Über die Planeten machte er sich trotzdem noch Gedanken. Er vertrat zum Beispiel die Meinung, dass jeder einzelne davon – so wie die Erde – von intelligenten Lebewesen bewohnt sei. Auch die Sonne! Mit dieser heute seltsam anmutenden Idee stand er aber nicht allein da. Schon im 15. Jahrhundert war der Philosoph Nikolaus von Kues überzeugt davon, dass die Sonne der Erde ähnlich war. In seinem Buch „De docta ignorantia“ („Über die belehrte Unwissenheit“) schreibt er im Jahr 1440:
„Betrachtet man nämlich den Körper der Sonne, dann besitzt er in der Mitte etwas, das der Erde gleicht und im Umkreis etwas Lichthaftes, das Feurige, und dazwischen eine Art Wasserwolke und klarere Luft; er besitzt dieselben Elemente wie die Erde.“
Die Sonne sei also ein fester Körper, umgeben von leuchtenden Wolken. Die Erde übrigens auch; könnte man sie aus dem All beobachten, würde sie leuchten wie die Sonne, meinte Nikolaus von Kues. So würden sich auch die dunklen Flecken erklären, von denen man seit der Erfindung des Teleskops immer mehr auf der Sonnenoberfläche beobachten konnte: Es handelt sich einfach nur um Löcher in der leuchtenden Wolkendecke der Sonne, durch die man auf den kühlen Boden blickt[1]. Viele Astronomen waren dieser Meinung, unter ihnen auch Herschel (siehe Abbildung 1). Den Stand des Wissens der damaligen Zeit über die Sonne fasst ein Eintrag im damals gebräuchlichen „Physikalischen Wörterbuch“ (1787–1795) von Johann Samuel Traugott Gehler aus Leipzig zusammen:
„Im Grunde kan man aus den Wirkungen der Sonnenstralen in die Erdkörper ganz und gar nicht auf die Beschaffenheit der Sonne selbst schließen. (…) Andere stellen sich die Sonne als eine elektrische Kugel vor, die durch ihren schnellen Umlauf elektrisches Licht hervorbringe und durch das ganze Sonnensystem verbreite. (…) Die Beobachtungen zeigen uns nur die Oberfläche der Sonne. Also nur von dieser wissen wir, daß sie leuchte. Daß das Innere dunkel sey, ist möglich, und wird aus der Erscheinung der Sonnenflecken sogar wahrscheinlich. Man hat daher wohl Grund, die Sonne für einen dunkeln Körper zu halten, den blos ein leuchtender Ueberzug umkleidet (…). Ob aber nun dieser Ueberzug aus einem verdichteten Aether, aus Materie des Lichts, aus elektrischer Materie, oder, (…) aus brennbarer durch Elektricität entzündeter Luft u. s. w. bestehe, und ob sich auf der dunklen Kugel unter der leuchtenden Hülle ein Wohnplatz für denkende und empfindende Wesen befinde, ist aus Beobachtungen, auch nur muthmaßlich, zu bestimmen unmöglich. Das Beste ist also wohl, aufrichtig zu gestehen, daß man von der Beschaffenheit, dem Stoffe und der Bewohnbarkeit des Sonnenkörpers gar nichts zu sagen wisse.“
Das Licht der Sonne wird also vielleicht elektrisch erzeugt. Oder durch leuchtenden „Äther“. Oder durch sonst irgendetwas. Und entweder ist sie bewohnt oder nicht. Im Endeffekt lief es darauf hinaus, dass man immer noch nicht schlauer war als die Leute im antiken Griechenland. Erst im 19. Jahrhundert ging es langsam voran. 1834 schlug der deutsche Physiker Hermann von Helmholtz als Erster einen halbwegs brauchbaren Mechanismus vor, aus dem die Sonne ihre Energie gewinnen konnte. Dass die Sonne viel größer und massereicher ist als die anderen Planeten, wusste man damals ja schon. Was, wenn die Sonne unter ihrer eigenen Gravitationskraft langsam in sich zusammenfallen würde? Sie würde dabei immer dichter und heißer werden und dieser Prozess könnte die Energie liefern, die sie dann durch Sonnenstrahlen wieder an die Erde und die anderen Planeten abgibt. Helmholtz berechnete, dass die Sonne auf diese Weise genug Energie erzeugen würde, um einige Millionen Jahre strahlen zu können. Das war gut, denn alle bisherigen Theorien hatten ein großes Problem: Die Sonne schien nicht alt genug zu sein.
Wenn auf der Sonne irgendeine Art von normalem Feuer brennen würde, dann würde auch ihre gewaltige Größe nicht genug Brennstoff liefern. Wäre die Sonne eine brennende Kugel aus Kohle, wäre sie schon nach wenigen tausend Jahren komplett verbrannt. Das wäre zwar okay, wenn man der Schöpfungsgeschichte der Bibel glaubt, nach der das Universum ja höchstens 6000 Jahre alt sein sollte. Aber im 19. Jahrhundert begann sich die Wissenschaft langsam von der Religion zu lösen. Geologen und Biologen wie Charles Darwin fanden heraus, dass die Welt und die Lebewesen von langsamen Prozessen gestaltet werden, die viel Zeit benötigen, um sich zu entfalten; deutlich mehr als ein paar tausend Jahre. Helmholtz’ Berechnungen lieferten nun eine brauchbare Erklärung, wie die Sonne auch über solche langen Zeiträume Energie erzeugen konnte. Ein anderer Vorschlag kam von Julius Robert von Mayer. Der Arzt aus Heilbronn war der Erste, der erkannte, dass Energie nie vernichtet werden kann, sondern immer nur umgewandelt wird. 1848 veröffentlichte er eine auf diesem Energieerhaltungssatz basierende Idee, laut der kleine Asteroiden, die mit der Sonne kollidieren, die nötige Energie liefern könnten. Wenn ein Objekt sich schnell bewegt und dann durch eine Kollision plötzlich abgebremst wird, verschwindet seine Bewegungsenergie nicht einfach. Das kann man bei jedem Autounfall und den enormen Kräften sehen, die bei einem Zusammenstoß frei werden und das Auto komplett verformen. Auch die Bewegungsenergie der Asteroiden wird bei einer Kollision mit der Sonne nicht vernichtet, sondern beim Aufprall in Wärmeenergie umgewandelt. Ist das also die Erklärung, wieso Kollisionen für die Sonnenenergie verantwortlich sind? Nein, leider nicht. So ein Dauerbombardement von Asteroiden wäre zwar eine coole Energiequelle – aber wenn dem so wäre, dann müssten wir beobachten, wie die Masse der Sonne im Laufe der Zeit immer größer wird, und das tun wir nicht.
Der englische Astronom Richard Christopher Carrington (der nicht nur einer der erfolgreichsten Astronomen seiner Zeit war, sondern auch eine Bierbrauerei leitete) fand in den 1850er-Jahren heraus, dass verschiedene Teile der Sonne unterschiedlich schnell rotierten. Er beobachtete die Sonnenflecken, die fast immer auf der Sonne zu sehen waren. Dabei stellte er fest, dass sie unterschiedlich schnell rotierten. Ein Fleck am Äquator der Sonne braucht 24 Tage für eine komplette Rotation. Ein Fleck in der Nähe der Pole der Sonne rotiert dagegen wesentlich langsamer, er braucht etwa 31 Tage. Das konnte nur der Fall sein, wenn sie eine große Kugel aus Gas ist und kein Festkörper. Wenn Teile eines Festkörpers unterschiedlich schnell rotieren, fällt er auseinander; nur eine Kugel aus Gas kann sich so verhalten, wie die Sonne es tut. Die alte Idee von der erdähnlichen, bewohnten Sonne war nun also endgültig tot, Lebewesen konnten dort nicht existieren. Aber nicht nur die Idee der Sonnenbewohner musste man aufgeben. Ende des 19. Jahrhunderts konnte man sich auch von Helmholtz’ Theorie der Sonnenenergie verabschieden. Da entdeckte nämlich der französische Physiker Antoine Henri Becquerel die Radioaktivität, und mit ihrer Hilfe war es möglich herauszufinden, wie alt die Erde war.
Mit dem Wort „Radioaktivität“ wurde ein neuartiges physikalisches Phänomen bezeichnet: Manche Atome sind nicht stabil, sondern zerfallen im Laufe der Zeit zu anderen Atomen. Ob und wie sie das tun, hängt davon ab, wie ihr Kern aufgebaut ist. Jeder Atomkern besteht aus winzigen Kernbausteinen, den elektrisch positiv geladenen Protonen und den neutralen Neutronen. Die Atome eines bestimmten Elements haben immer gleich viele Protonen. Wasserstoff zum Beispiel hat nur 1 Proton, Kohlenstoff 6, Eisen hat immer 26 und Gold 79 Protonen. Sie können aber unterschiedlich viele Neutronen haben. Diese Variationen eines Elements mit unterschiedlich vielen Neutronen nennt man „Isotop“. Wir Menschen und alle anderen Lebewesen auf der Erde bestehen zu einem großen Teil aus Kohlenstoff. Dieses chemische Element hat in seiner normalen und häufigsten Form einen Atomkern, der aus 6 Protonen und 6 Neutronen besteht. Es existiert aber auch ein spezielles Isotop des Kohlenstoffs, das nicht 6, sondern 8 Neutronen in seinem Atomkern besitzt; er hat also anstatt 12 insgesamt 14 Kernbausteine. Diese beiden zusätzlichen Kernteilchen machen ihn instabil. Der Kern hält nicht mehr zusammen und er fällt auseinander. Das Kohlenstoffatom wandelt sich in ein anderes chemisches Element um: Stickstoff. Die überschüssige Energie wird als Strahlung abgegeben. Genau diese Umwandlung von Elementen nennt man „Radioaktivität“. Kohlenstoff-14 ist also radioaktiv, er kommt in kleinsten Mengen in der Natur vor und alle Lebewesen nehmen ihn – gemeinsam mit dem normalen Kohlenstoff – ständig auf[2]. Da er instabil ist, zerfällt er aber immer wieder. Solange wir lebendig sind und weiter Nahrung aufnehmen, ersetzen wir den zerfallenen Kohlenstoff-14 stets durch neuen. Erst wenn wir sterben und keine Nahrung mehr aufnehmen, wird kein neuer Kohlenstoff-14 mehr nachgeliefert. Wenn nun zum Beispiel Archäologen ein Stück organisches Material (zum Beispiel Knochen) ausgraben und nachmessen, wie viel Kohlenstoff-14 es noch enthält, können sie daraus berechnen, wie alt das Material ist.
Denn jedes radioaktive Element hat eine ganz bestimmte sogenannte Halbwertszeit. Bei Kohlenstoff-14 beträgt sie 5730 Jahre. Das bedeutet, dass nach 5730 Jahren die Hälfte der ursprünglich vorhandenen Menge von Kohlenstoff-14-Atomkernen zerfallen ist. Nach weiteren 5730 Jahren ist wieder die Hälfte verschwunden – und so weiter. Die Menge des im Material vorhandenen Kohlenstoffs wird immer geringer, dafür steigt aber die Menge der Elemente, in die der Kohlenstoff zerfällt (in diesem Fall in Stickstoff-14). Natürlich kann man mit dieser Methode nicht beliebig alte Objekte datieren. Irgendwann ist nur noch so wenig Kohlenstoff-14 übrig, dass es sich nicht mehr messen lässt. Aber es gibt jede Menge andere natürlich vorkommende radioaktive Elemente, die sich auf die gleiche Weise benutzen lassen und die langsamer zerfallen. Man misst, wie viel von diesem Element noch vorhanden ist und wie häufig die Atome des Elements sind, zu dem es zerfällt. Kennt man nun noch die Halbwertszeit des radioaktiven Stoffes, dann lässt sich daraus sofort das Alter des Objekts berechnen. Auch die Elemente, aus denen die verschiedenen Gesteinsarten bestehen, haben radioaktive Isotope. So wie sich mit Kohlenstoff-14 das Alter organischer Stoffe bestimmen lässt, kann man mit ihnen das Alter der Steine bestimmen. Das hat man gemacht und dabei festgestellt, dass sie ein paar Milliarden Jahre alt waren! Das war deutlich zu lang, so ein hohes Alter der Sonne konnte Helmholtz’ Mechanismus nicht erklären. Glücklicherweise aber erlebte die Welt Anfang des 20. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Revolution, in deren Verlauf das Rätsel der Sonnenenergie endlich gelöst werden sollte.
Grundlage für diese Erkenntnis war die Lösung eines anderen Problems, eines, von dem die Astronomen eigentlich dachten, dass es für immer ungelöst bleiben müsse: herauszufinden, woraus die Sterne bestehen. Im Gegensatz zu anderen Naturwissenschaftlern haben die Astronomen ja das große Problem, dass ihre Forschungsobjekte alle unvorstellbar weit entfernt sind. Es besteht so gut wie keine Chance, sie tatsächlich aus unmittelbarer Nähe in Augenschein zu nehmen und mit ihnen experimentieren zu können. Da, wo Physiker messen und wiegen können, wo Zoologen und Mediziner sezieren und diagnostizieren, können die Astronomen nur schauen. Ihnen bleibt bloß das Licht, aus dem sie alle Informationen ziehen müssen. Wie sollte man nur mit dem Licht der Sterne herausfinden können, was in ihrem Inneren vorging? Sterne waren unvorstellbar weit weg, ihr Licht erreichte die Erde oft erst nach Zehntausenden von Jahren und dieses Licht war alles, was die Astronomen hatten. Allein damit auf die Zusammensetzung der Sterne zu schließen, schien unmöglich.
Aber 1859 entdeckten Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen[3] in Heidelberg, dass es wider Erwarten doch möglich war. Sie entwickelten eine neue wissenschaftliche Disziplin: die „Spektroskopie“. Schon Isaac Newton zeigte im 17. Jahrhundert, dass ein Lichtstrahl, der sich durch ein spezielles Stück Glas – ein Prisma – bewegt, sich aufspaltet. Am anderen Ende des Prismas kommt kein weißes Licht mehr raus, sondern die verschiedenen Farben, aus denen es sich zusammensetzt. Genau das passiert auch in einem Regenbogen. Hier übernehmen die Wassertropfen des Regens die Rolle des Prismas und spalten das Licht der Sonne in seine einzelnen Farben auf. Das klappt auch im Labor! Leitet man dort Sonnenlicht durch ein Prisma und schaut man ganz genau hin, dann erkennt man im entstehenden Regenbogen ein paar dunkle Linien. Das entdeckte schon 1814 der Münchner Optiker Joseph von Fraunhofer, wusste aber nicht, wo diese Linien herkamen. Erst Kirchhoff und Bunsen konnten es erklären: Erhitzt man ein Material stark, sodass es zu strahlen anfängt und Licht abgibt, dann erkennt man auch hier Linien im aufgespaltenen Licht. Und so wie ein Fingerabdruck charakteristisch und für jeden Menschen eindeutig ist, sind auch die Linien bei jedem chemischen Element unterschiedlich. Sie entstehen, wenn die Lichtteilchen auf die Atome des Materials treffen. Ein Atom besteht nicht nur aus einem Kern; dieser Kern ist außerdem von einer Hülle aus Elektronen umgeben. Wenn Lichtteilchen mit genau der richtigen Menge an Energie auf die Elektronen treffen, können sie diese Energie auf die Elektronen übertragen. Die Elektronen nehmen dem Licht also einen kleinen Anteil weg und dadurch entsteht eine dunkle Linie im Regenbogen.
Jene Energie, die das Licht haben muss, um mit den Elektronen wechselwirken zu können, hängt von der Anordnung der Elektronen ab. Die ist aber für jedes chemische Element unterschiedlich und charakteristisch, und deswegen erzeugt jedes Element auch ein ganz spezielles Muster von Linien. Man musste also nur das Licht eines Sterns durch ein Prisma schicken, die entstandenen Linien betrachten und nachsehen, welche Elemente genau so ein Muster erzeugten – schon wusste man, woraus ein Stern beschaffen war. Hauptsächlich aus Wasserstoff, lautete die Antwort. Die meisten Sterne bestanden tatsächlich zum Großteil aus diesem einfachsten aller Elemente. Den Rest machte Helium aus, das Element mit dem nächst-komplizierteren Aufbau, und dann gab es noch verschwindend geringe Mengen verschiedener anderer chemischer Stoffe.
So langsam kamen die verschiedenen Teile zusammen, die schließlich das Rätsel um die Herkunft der Sonnenenergie lösen würden. Bunsen und Kirchhoff brachten die Spektroskopie. Antoine Henri Becquerel fand die Radioaktivität. Man wusste also nun, dass manche Elemente zu anderen zerfallen können und dabei Energie in Form von radioaktiver Strahlung entsteht. Man wusste, aus welchen Elementen die Sonne besteht. Jetzt fehlte nur noch eine passende Verbindung, und die lieferte Albert Einstein.
Man kann kaum über irgendeine große Entwicklung der modernen Physik sprechen, ohne dabei irgendwann auf Einstein zu treffen. 1905 war er gerade mal 26 Jahre alt und hatte eben seine Dissertation eingereicht. Daneben fand er noch Zeit, innerhalb weniger Monate gleich vier wissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen, die jede für sich genial waren und die zukünftige Entwicklung der Physik dramatisch veränderten. Eine davon nannte sich „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ und enthält das, was wir heute als „spezielle Relativitätstheorie“ kennen. Abgesehen davon, dass Einstein mit dieser Arbeit das komplette Weltbild der Physik auf den Kopf stellte (dazu mehr in Kapitel 7), schuf er im Zuge der Relativitätstheorie auch die einzige wirklich weltbekannte Formel: E = mc². Energie und Masse sind äquivalent[4]; das eine kann in das andere umgewandelt werden und schon ein winziges Stück Masse enthält eine enorme Menge Energie.
Die Sonne ist aber kein winziges Stück Masse, sondern gewaltig groß und muss daher eine noch gewaltigere Menge an Energie enthalten. Den Astronomen wurde immer klarer, dass die Sonne ihre Energie irgendwie direkt aus ihrer Masse bezog. Aber wie genau? Auch das fand man heraus, und wieder war es eine Arbeit von Einstein, die die Lösung brachte. Neben der Relativitätstheorie veröffentlichte er 1905 auch einen Artikel mit dem etwas sperrigen Titel „Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen zur brownschen Molekularbewegung“.
Darin untersuchte Einstein ein schon länger bekanntes Phänomen, das der britische Botaniker Robert Brown entdeckte: Betrachtet man winzige Blütenpollen, die in einer Flüssigkeit schwimmen, unter dem Mikroskop, dann sieht man, wie sie scheinbar völlig zufällig hin und her wackeln und sich willkürlich durch die Flüssigkeit bewegen. Brown selbst dachte, der Grund dafür wäre die „Lebensenergie“ der Pflanzenteilchen. Spätere Wissenschaftler konnten zeigen, dass die Ursache für die Bewegung der Pollen die unzähligen Stöße waren, die sie bei Kollisionen mit den für das menschliche Auge nicht sichtbaren Molekülen der Flüssigkeit bekamen. In seiner Arbeit konnte Einstein schließlich ein detailliertes mathematisches Modell dieser Stöße ableiten und genau erklären, wie die einzelnen Atome, die ständig in der Flüssigkeit hin und her flitzen, die zufällige Bewegung der Pollen erzeugen. Der französische Chemiker Jean Perrin wollte nun auf Einsteins Arbeit aufbauen und versuchte, dessen mathematisches Modell auch experimentell zu überprüfen. Aus der genauen Analyse der Bewegung der Pollen und ausgestattet mit der Theorie von Einstein war Perrin jetzt sogar in der Lage, Größe und Gewicht einzelner Atome zu bestimmen.
Sieht man sich den Aufbau der Atome an, entdeckt man etwas Seltsames. Jeder Atomkern besteht aus einer bestimmten Anzahl von Protonen und Neutronen. Man könnte nun meinen, das Gesamtgewicht eines Atomkerns wäre einfach die Summe aus dem Gewicht aller Protonen und Neutronen, die im Kern vorhanden sind. Perrins Ergebnisse zeigten, dass diese simple Idee falsch ist. Ein Atomkern wiegt weniger als die Summe seiner Teile, denn es braucht Energie, um die einzelnen Bestandteile der Atomkerne zusammenzuhalten und Energie ist nichts anderes als Masse, wie wir dank Einstein wissen! Dieses Phänomen nennt man „Massendefekt“. Je mehr Kernteilchen man aneinander binden will, desto größer ist die dafür nötige Energie und desto größer ist auch der Anteil der Masse, der dafür verwendet werden muss. Wenn man nun ein Atom eines Elements mit wenigen Kernbausteinen nimmt und daraus ein anderes Element mit mehr Kernbausteinen zusammenbaut, dann hat das neue Element einen größeren Massendefekt als das Ausgangselement. Es bleibt ein bisschen Energie übrig und diese überschüssige Energie kann abgegeben werden. Durch die Fusion von Atomkernen, also die Umwandlung von leichten Atomen in schwerere Atome lässt sich also Energie erzeugen!
Diese Erkenntnis war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Lösung des Rätsels. Die Sonne besteht hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium. Es lag also nahe zu vermuten, dass dort Wasserstoff zu Helium umgewandelt wurde: Ein Wasserstoffkern besteht aus einem einzelnen Proton. Helium hat zwei Protonen im Kern. Zwei Wasserstoffkerne können verschmelzen, um so Helium zu erzeugen[5]. Dieses Helium ist dann wegen des größeren Massendefekts leichter als die Summe der Masse der Wasserstoffatome, und diese restliche Masse wird in Form von Energie abgegeben (Einstein hat ja gezeigt, dass Masse und Energie äquivalent sind). In der Sonne wird also Wasserstoff zu Helium fusioniert und die dabei entstehende Energie lässt sie strahlen!
Klingt nach einer hervorragenden Theorie, und das war sie auch. Allerdings gab es da immer noch ein winziges Problem: Wie genau wird denn nun der Wasserstoff in Helium umgewandelt? Denn normalerweise bleiben Atomkerne nicht einfach so aneinander kleben und lassen neue Elemente entstehen. Ein Atomkern ist elektrisch positiv geladen und wenn er auf einen anderen positiv geladenen Atomkern trifft, passiert genau das, was auch passiert, wenn man versucht, zwei Magneten auf die falsche Art zusammenzupressen: Sie stoßen sich ab. Damit das in der Sonne nicht passiert und aus den einzelnen Wasserstoffatomkernen tatsächlich ein Heliumkern entstehen kann, müssen sie es irgendwie schaffen, diese elektromagnetische Abstoßungskraft zu überwinden. Das geht nur, wenn sie so richtig fest miteinander zusammenstoßen. Sie müssen schnell genug sein, damit sie genug Kraft haben, um trotz der Abstoßung kollidieren zu können. Es muss also ordentlich rumsen in der Sonne! Aber so wie es aussah, konnte das nicht geschehen …
Die Temperatur eines Körpers ist eigentlich nichts anderes als ein Maß für die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Teilchen, aus denen er besteht, sich bewegen. Je heißer es ist, desto schneller flitzen die Teilchen durch die Gegend. (Darum schmelzen und verdampfen auch alle Stoffe, wenn man sie nur lange genug erhitzt. Durch die schnelle Bewegung der Teilchen ist es nicht mehr möglich, die feste Struktur aufrechtzuerhalten.) Natürlich nicht alle, es gibt immer ein paar, die schneller sind, und ein paar, die sich trotz aller Hitze langsam bewegen. Man wusste Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings schon, wie man solche statistischen Probleme lösen und herausfinden kann, wie viele Atomkerne eine bestimmte Geschwindigkeit haben[6]. Und die Sonne war schlicht und einfach zu kalt! Ja, ein paar Atomkerne wären schnell genug gewesen, um die elektrostatische Abstoßungskraft zu überwinden. Wenn sie sich bei der Kollision nun wirklich nahekommen, dann beginnt die sogenannte „starke Kernkraft“ zu wirken. Sie gehört, wie Gravitation und Elektromagnetismus, ebenfalls zu den Grundkräften der Natur und sorgt dafür, dass die Teilchen innerhalb der Atomkerne zusammenhalten. Ihre Reichweite ist freilich gering und die beiden Partner müssen einander schon wirklich nahe sein, sodass sie bei einer Kollision auch tatsächlich aneinander „kleben“ bleiben und die Fusion geschehen kann.
Wie gesagt, ein paar Atomkerne in der Sonne waren schnell genug dafür. Aber sie reichen nicht; damit würde sich der beobachtete Energieausstoß nicht erklären lassen. Damit die Kernfusion ausreichend Energie erzeugen kann, müsste die Sonne viel heißer sein, als sie es tatsächlich ist. Erst dann würden die Atome in ihrem Inneren schnell genug herumflitzen. Musste man diese elegante und schöne Theorie nun also aufgeben? Nein, noch hatten die Physiker ihr Arsenal an Ideen nicht aufgebraucht. Die Lösung des Rätsels um die Sonnenenergie begann mit der Relativitätstheorie. Nun wird es langsam Zeit, auch noch die zweite große wissenschaftliche Revolution des 20. Jahrhunderts zu berücksichtigen: die Quantenmechanik!
Auch wenn das alles sehr fantastisch und kaum nach echter Wissenschaft klingt, ist die Quantenmechanik doch eine der experimentell am besten überprüften Theorien, die es gibt. Sie erlaubt es, ganz genau auszurechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein Elektron an verschiedenen Orten befindet. Führt man dann konkrete Messungen durch, sieht man zwar, dass das Elektron mal hier ist und mal dort, am Ende aber hat man es immer genau mit der vorher berechneten Wahrscheinlichkeit am gesuchten Ort gefunden. Keine Theorie liefert genauere Vorhersagen als die Quantenmechanik und ohne sie wären unzählige Geräte unseres Alltags – zum Beispiel der Computer – nie entwickelt worden. Damals allerdings war die Theorie für die Physiker noch neu und es muss eine spannende Zeit gewesen sein. Ständig wurden neue Eigenschaften der Mikrowelt entdeckt, eine seltsamer als die andere und meistens komplett im Widerspruch zu dem, was wir aus unserer Alltagswelt kennen. Dazu gehört auch der sogenannte „Tunneleffekt“. Er ist eine direkte Folge aus der Tatsache, dass ein Teilchen in der Quantenmechanik keinen klar lokalisierten Ort mehr hat.
Wenn ich zum Beispiel einen Ball nehme und ihn gegen eine Wand werfe, prallt er ab und kommt wieder zurück. Würde ich dieses Spiel allerdings in der Mikrowelt der Quantenmechanik machen, wäre dieses Ergebnis nicht so sicher. Dann wäre der Ball eben nicht nur ein Ball, sondern auch eine Welle. Die Ball-Welle hätte keinen klar definierten Ort mehr und weil eine Welle im Prinzip unendlich ausgedehnt ist, kann sie sich quasi überall befinden. Das kann auch hinter der Mauer sein. Es besteht also eine gewisse, wenn auch sehr kleine Wahrscheinlichkeit, dass ein Experiment den Quantenball hinter der Mauer entdeckt anstatt davor. Die Quantenmechanik behauptet also – simpel gesagt –, dass ich den Ball nur oft genug an die Mauer zu werfen brauche. Irgendwann wird er dann nicht mehr zurückprallen, sondern glatt durchgehen und auf der anderen Seite erscheinen[7]. Dieser Tunneleffekt klingt zwar etwas fantastisch, ist aber höchst real. Er ist der Grund, warum die Sonne scheint!
Als der russische Physiker George Gamow 1928 den Tunneleffekt entdeckte, dauerte es nicht lange, bis den Wissenschaftlern auffiel, dass sie damit vielleicht das Problem der zu kalten Sonne lösen konnten. Wenn die Atomkerne nicht schnell genug sind, um die elektrostatische Abstoßungskraft zu überwinden, können sie sich vielleicht einfach durchschummeln? So wie man den Ball nur oft genug gegen die Mauer werfen muss, damit er irgendwann am Ende durchgeht, müssen die Atomkerne nur oft genug miteinander zusammenstoßen: Irgendwann wird der Tunneleffekt dafür sorgen, dass der elektrostatische Airbag wirkungslos ist; die Barriere der Abstoßung wird durchtunnelt und die Kerne können fusionieren. Wie schon gesagt, die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, ist gering. Aber wenn man sehr viele Teilchen hat, reicht auch eine geringe Wahrscheinlichkeit. Könnte man jeden Sonntag ein paar Milliarden Lottoscheine abgeben, würde man jedes Mal mit Sicherheit einen Haupttreffer landen. Genauso braucht es nur eine ausreichend große Anzahl an Kollisionen, um sicherzustellen, dass bei ein paar davon der Tunneleffekt auftritt. Und die Sonne ist ja nun wirklich groß, an Atomkernen und Kollisionen herrscht dort kein Mangel! 1929 berechneten die Physiker Fritz Houtermans und Robert Atkinson, dass bei Berücksichtigung des Tunneleffekts die Temperatur der Sonne gerade ausreicht, um die Energieabstrahlung zu erklären! Jetzt war das Rätsel also endlich gelöst!
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