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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Wir begrüßen Sie …
... in diesem Buch als möglichen Patienten. Denn jeden Tag könnte es passieren, dass Sie von einer Krankheit aus der Bahn geworfen werden. Dann wird die Ärztin oder der Arzt zu Ihrem wichtigen Partner: Jemand, der über Ihre Gesundheit wacht, Ihre Krankheit managt, Sie informiert, begleitet, Trost spendet.
 
Während der Recherchen zu diesem Buch haben wir Ärzte und Patienten eingeladen, in Workshops und Interviews ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. Was Sie im Nachfolgenden lesen, stammt aus dem Erfahrungsschatz von kompetenten Patienten und engagierten Ärzten. Sie lehrten uns, dass es für eine gute Arzt-Patienten-Beziehung viel mehr braucht als sauber umgesetzte Kommunikationsregeln. Es braucht unseren Verstand. Und unser Herz.
Vor allem aber machten uns Patienten immer wieder klar: »Die Beziehung zu meinem Arzt besitzt Heilkraft.«
Wie Sie diese Heilkraft als Arzt und als Patient optimal für sich nutzen können, davon handelt dieses Buch. Und wie Sie mithelfen können, die Welt, in der Arzt und Patient sich gemeinsam bewegen, noch menschlicher zu machen.
Hinweis Um die Lesbarkeit möglichst angenehm zu gestalten, verwenden wir die männliche Bezeichnung für Personen. Selbstverständlich sind auch weibliche Personen darin eingeschlossen.
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Mein Arzt und icheine heilsame Beziehung?
RITA, eine 43-jährige Krebspatientin:
»Es sind nicht nur die Medikamente und Therapien, die mich heilen. Ohne meine Selbstheilungskräfte geht gar nichts. Meine Ärztin weiß das. Wir haben eine sehr gute Beziehung. Ohne diese Beziehung würde es mir heute sicher sehr viel schlechter gehen. Nicht nur die Chemotherapie, die die Krebszellen vernichtet, hat Heilkraft, sondern auch die Beziehung zu meiner Ärztin.«
 
Als Rita dies während einer unserer Patientenrunden erzählte, gab es allgemeines Murmeln und Nicken. Die Teilnehmer einigten sich darauf, dass diese Heilkraft 10 bis 50 % der ganzen Therapie ausmache. In anderen Patienteninterviews stießen wir immer wieder auf diese Zahlen. Dies entspricht natürlich keiner wissenschaftlichen Studie. Doch mit ganz wenigen Ausnahmen stimmten die Aussagen der von uns befragten Patienten überein:
 
Wenn die Beziehung zu meinem Arzt gut ist, besitzt sie Heilkraft.
WEITERE AUSSAGEN von Patienten:
 
»Wenn ich vom Arzt weggehe, geht es mir oft besser. Dann habe ich zwar noch Schmerzen, aber es geht mir anders gut. Ich bin sicher, dass eine gute Beziehung sogar organischen Einfluss hat. Liebe, Zeit und all das, was der Mensch braucht, das macht gesund, das gibt Kraft, das gibt Energie. Da hat man ein Potenzial, und daraus kann man schöpfen und schöpfen, und es gibt immer mehr und mehr davon!«
 
»Wenn die menschliche Chemie nicht stimmt, sollte man den Arzt wechseln.«
 
»Während eines Reha-Aufenthaltes ging es mir gar nicht gut. Weshalb, hat man aber nicht feststellen können. Da hatte ich ein längeres Gespräch mit einer Ärztin und wollte behandelt werden. Ich kam gefestigt aus diesem Gespräch heraus. Ich konnte mich nun auf vieles andere konzentrieren, das Laufen ging besser und die Konzentrationsfähigkeit war wieder da. Ich glaube, da war der Heilfaktor Arzt ungefähr zur Hälfte dran beteiligt.«
 
»Die Heilkraft ist in jedem von uns selber. Die Beziehung, die gute Resonanz in mir drin und auch zwischen meiner Ärztin und mir aktiviert diese innere Heilkraft.«

Ein Erklärungsversuch

In der Wirklichkeit von Patienten existiert demnach eine Heilkraft, die einer guten, vertrauensvollen Beziehung zum Arzt entspringt. Existiert sie auch in der Wirklichkeit der Wissenschaft? Der Psychologieprofessor Klaus Grawe veröffentlichte Anfang der 1990er-Jahre die Ergebnisse einer umfangreichen Studie, unter welchen Umständen Psychotherapie wirkt. Seine Resultate wurden von den von uns befragten Patienten bestätigt und ergänzt:
 
Eine gute Patienten-Therapeuten-Beziehung:
✓ verbessert das Selbstwertgefühl des Patienten: Er erinnert sich an seine Stärken, dass er schon andere Krisen gemeistert hat und dass er es auch diesmal schaffen kann;
✓ erhöht seine Bereitschaft, sich Schwierigkeiten zu stellen: Das bewahrt ihn davor, den Kopf in den Sand zu stecken und wichtige Schritte zu verpassen;
✓ macht ihn aufnahmebereit für therapeutische Einflüsse: Der Patient vertraut darauf, dass die medizinischen Maßnahmen richtig sind und zum richtigen Zeitpunkt kommen.
In der erwähnten Studie ging es um psychotherapeutische Maßnahmen, die Ergebnisse gelten aber laut den Erfahrungen unserer Patienten sicher auch für Medikamente, eine Chemotherapie, eine Operation oder eine Bestrahlung. Eine entspannte, auf die Zukunft gerichtete positive Haltung ermöglicht unserem Organismus, sich gut auf die Therapie einzustellen.
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Patientenkompetenz Prof. Dr. med. Gerd Nagel
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Die Entdeckung des Patienten im 21. Jahrhundert

Dieses Kapitel handelt von der Heilkraft, die von der Beziehung zwischen Arzt und Patient ausgehen kann. Der Aufbau solch einer Beziehung setzt sowohl beim Patienten als auch beim Arzt Wahrnehmungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Respekt voraus.
 
Warum stelle ich diese Sätze hier an den Anfang meines Kommentars? Weil eine kultivierte Beziehung zwischen Arzt und Patient nicht selbstverständlich ist. Weil sie sich nicht von selbst einstellt, sondern von beiden Seiten gelernt werden muss. Weil kaum ein Arzt im Medizinstudium ärztliche Beziehungskultur gelernt hat. Weil kaum ein unerfahrener Patient ahnt, wie wichtig sein Beitrag zum Aufbau der heilsamen Arzt-Patienten-Beziehung ist. Weil sich die Medizin im 21. Jahrhundert dramatisch wandelt. Der Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges formulierte es so: »Bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts war die westliche Medizin vor allem eine Art Naturwissenschaft. Heute genügt das nicht mehr. Die Medizin im 21. Jahrhundert muss sich wieder zur Kulturwissenschaft wandeln.«

Warum muss und wird sich die Medizin wandeln?

Als ich im Jahr 1963 mit meiner Assistentenausbildung begann, war es uns nicht erlaubt, einem Patienten die Diagnose einer schweren, gar lebensbedrohlichen Krankheit mitzuteilen. Es gab auch noch keinen »Informed Consent«, also die Einverständniserklärung des Patienten zu dem, was der Arzt mit ihm vorhatte. Es war noch die Zeit der patriarchalischen Medizin. Im Studium lernten wir alles über die Krankheiten des Menschen, aber nichts über den Menschen in seinem Kranksein. Das hatte nichts mit ärztlicher Überheblichkeit zu tun. Das entsprach dem damaligen Wesen des gesamten Gesundheitssystems, in dem der Patient lediglich die Rolle des passiven, unmündigen Teilnehmers spielte. Das entsprach aber auch dem damaligen Selbstverständnis von Patienten, die ihre Identität an der Tür des Krankenhauses oder der Arztpraxis abgaben, um sich mehr oder weniger kritiklos der medizinischen Fachkompetenz zu überantworten.
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Derartige Selbstverständnisse wirken noch heute nach. Aber sie gehören der Vergangenheit an. Denn in den letzten 40 Jahren gab es enorme gesellschaftliche Veränderungen – vor allem im Selbstverständnis der Menschen unserer Gesellschaft, und damit auch der Patienten. Davon zeugen die nacheinander auftauchenden Begriffe vom informierten, mündigen, autonomen und neuerdings vom kompetenten Patienten. Patientenkompetenz – das ist heute kein Schlagwort mehr.
 
Patientenkompetenz ist heute nicht mehr nur eine Angelegenheit weniger, emanzipierter Patienten, sondern ein bedeutender Symbolbegriff einer immer stärker werdenden gesellschaftlichen Bewegung.
Den Begriff Patientenkompetenz umschreiben Patienten so: Ich bin ein kompetenter Patient, wenn ich mit und trotz meiner Erkrankung, meinem Handicap oder Trauma wieder normal leben kann. Und was normal ist, das bestimme ich für mich selbst. Sich selbst und die eigene Verantwortung in der Krankheitssituation wahrnehmen, den eigenen Beitrag zur Krankheitsbewältigung leisten, sich mitgestaltend in den medizinischen Behandlungsplan einbringen und eine heilsame Beziehung zum Arzt aufbauen zu können, sind die Fähigkeiten kompetenter Patienten.
Die neue Generation kompetenter Patienten stellt für uns Ärzte eine Herausforderung dar. Viele von uns haben auch heute noch nicht gelernt oder gar begriffen, dass die Zeiten definitiv vorbei sind, wo wir sagen konnten: »Das verstehen Sie sowieso nicht, gute Frau, ich weiß schon, was für Sie gut ist, lassen Sie mich mal machen.« Wir müssen uns der Herausforderung stellen, nicht mehr nur alles über die Krankheiten wissen zu wollen, sondern nach uraltem medizinischem Vorbild auch den Patienten und seine intrinsischen (ihm innewohnenden) Heilkräfte wiederzuentdecken.
Wir müssen die Kultur echter Kommunikation mit Menschen in Krisensituationen wieder lernen. Wir müssen respektieren, dass der Kranke in seiner Betroffenheit etwas anderes empfindet, denkt und zur Genesung beitragen möchte als wir als handelnde Therapeuten. Wir müssen uns in einer gewissen Demut wieder bewusst werden, dass die Medizin keine herrschende, sondern eine dienende Disziplin ist.
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Die Rollen des Arztes
Ein Arzt heilt nicht nur mit den Medikamenten und Therapien, die er verschreibt, oder den Operationen, die er am Patienten vornimmt, sondern auch durch seine Persönlichkeit und seine Beziehung zum Patienten. Als wir dieses Verhältnis näher untersuchten, stellte sich heraus, dass es sich zusammensetzt aus recht verschiedenen Aspekten. Ein Arzt ist nicht einfach nur ein Arzt, sondern er wird in unterschiedlichen Rollen wahrgenommen. Es ist selten der Arzt, der während seiner Arbeit beschließt: »Nun schlüpfe ich in die Rolle des Heilers.« Es ist eher der Patient, der sich unbewusst einer bestimmten Rolle des Arztes zuwendet. Wir möchten Ihnen die wichtigsten dieser Rollen vorstellen.

Der Arzt als Mentor

MINOU, 68:
»Der Mentor in Märchen und Sagen macht dem Helden Mut. Er sagt: ›Du kannst es schaffen.‹ Er gibt Hinweise, wie Hindernisse zu überwinden sind. Er darf den Helden nicht kleinmachen oder ihm das Gefühl geben: ›Du bist mir im Weg‹ oder: ›Du überforderst mich.‹ Der Mentor ist neutral. Er muss dem Helden Hilfsmittel für die schwere Zeit geben: ein Schwert, ein Pferd. Bei mir war das der Tipp meines Arztes: ›Hör wieder Musik oder tanze!‹ Er hat mich erinnert an Dinge, die mir schon in früheren Krisen geholfen haben.«
Minou ist dankbar dafür, dass ihr Arzt sie an ihre eigenen Fähigkeiten und Ressourcen erinnert hat. Ihr Arzt zwingt ihr als Mentor nicht seine Meinung auf, sondern unterstützt sie dabei, ihren persönlichen Weg durch die Krankheit zu finden. Er gibt Hinweise, doch den Weg muss und darf sie selbst gehen – begleitet von jemandem, der sowohl ihre Krankheit als auch ihre gesunden Anteile kennt.
JÜRGEN, 62:
»Beim Aufwachen denke ich manchmal, jetzt bin ich tot. Alles tut weh. Alles hat keinen Sinn mehr. Ich werde nie mehr normal. Dann gehe ich zu meinem Arzt, der setzt sich neben mich, und dann führen wir ›unser Gespräch‹. Es ist kurz, und es läuft immer mehr oder weniger gleich ab. Er schaut mich an, so richtig tief in die Augen, und sagt: ›Wissen Sie was...?‹ Und ich sage: ›Ja, Herr Doktor, ich weiß...‹ Er: ›Haben Sie noch Fragen?‹ Ich: ›Nein, Herr Doktor.‹ Er: ›Also, dann tun Sie es.‹ Dann schüttelt er mir fest und wortlos die Hand und entlässt mich. Und ich gehe. Das tut gut, hält mich am Leben. Der traut mir noch was zu! Als Einziger!«
Auch Jürgens Arzt ist ein guter Mentor. Ohne viel zu sagen, macht er ihn darauf aufmerksam, dass er es selbst in der Hand hat. Er zeigt sein Vertrauen in Jürgens starke Anteile. Was es ist, wissen nur die beiden. Der Arzt gibt ihn nicht auf. Er vertraut darauf, dass Jürgen seinen Weg im Leben findet. Er weiß, dass er ihn zu diesem Weg nicht zwingen kann, sondern nur dorthin begleiten. Die Lösung kommt immer vom Patienten selbst.
Tipp Nehmen Sie als Patient ein Notizbuch in die Praxis mit, in dem Sie während des Gesprächs die Empfehlungen Ihres Arztes schriftlich festhalten. Damit machen Sie klar, dass Sie die Aussagen Ihres Arztes ernst nehmen, und er wird (bewusst oder unbewusst) aufmerksamer formulieren. Schauen Sie aber nicht nur auf Ihre Notizen, sondern sehen Sie dem Arzt immer wieder in die Augen. Damit signalisieren Sie ihm: »Was Sie mir sagen, ist mir sehr wichtig.«
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Der Arzt als Seelsorger

Ein Arzt wird zwangsläufig konfrontiert mit der Angst seiner Patienten vor Einsamkeit, Sterben und Tod. Das ist eine ungeheure Herausforderung. Der Psychotherapeut und Arzt Viktor Frankl setzte sich intensiv mit dieser Frage auseinander: Wird die Grenze zwischen Arzt und Patient gesprengt, wenn religiöse oder philosophische Aspekte in diese Beziehung hineingetragen werden? Er kommt zu dem Schluss, dass sich der Arzt diesen Aspekten gar nicht entziehen kann, denn: »Auf Schritt und Tritt wird der Arzt in seiner Sprechstunde mit weltanschaulichen Entscheidungen des Kranken konfrontiert. Wir können nicht diskret an ihnen vorbei handeln – wir sind immer wieder gezwungen, Stellung zu nehmen.«
Aber: Auch in den schwersten Stunden kann der Patient nicht dem Arzt die Verantwortung für konkrete Entscheidungen aufbürden. Frankl verlangt die »Führung des Kranken bis zum radikalen Erlebnis seiner Verantwortung«. Die Frage nach dem Sinn muss der Patient sich selbst beantworten. Hier braucht es ein Verstehen zwischen Arzt und Patient, das sehr tief reicht. Der Arzt darf als Begleiter dazu stehen, dass Schmerz, Trauer, Verlust, Sterben und Angst zu seinem Job gehören.
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MARTHA (37) und WERNER (39):
» Als wir unser Kind im letzten Schwangerschaftsmonat verloren, brachen für uns Welten zusammen. So viel war plötzlich auf einen Schlag zerstört. Wir sahen uns auf einmal mit einer brutalen Sinnlosigkeit konfrontiert. Beide sind wir gläubige Menschen, aber dieser Schock entriss uns plötzlich die Gewissheit, dass unser Kind in Gottes Armen ist. Marthas langjähriger Frauenarzt führte uns heraus aus dem Schock und tröstete uns mit unserem eigenen Glauben, den wir in all dem vergessen hatten. Er sagte: ›Sie beide haben mir gesagt, jedes Kind sei ein Geschenk von Gott. Dann ist auch dieses Kind ein Geschenk von Gott. Nehmen Sie das Geschenk an, auch wenn es jetzt noch ein Geheimnis ist. Stehen Sie gerade jetzt zu Ihrem Glauben!‹ Die Worte dieses übrigens überzeugten Atheisten erinnerten uns an das Sprichwort: Ein Freund ist jemand, der das Lied in deinem Herzen kennt und es dir vorsingen kann, wenn du vergessen hast, wie es klingt.«
Tipp Wenn Ihnen Ihre religiöse Überzeugung wichtig ist, wählen Sie möglichst einen Arzt, der von seiner Glaubensüberzeugung zu Ihnen passt. Ärzte (damit ist hier ja stets auch gemeint: Ärztinnen) geben mit Symbolen in ihrer Praxis häufig Hinweise darauf: ein Kruzifix, Buddha-Figur oder Bilder eines Heiligen. Haben Sie den Mut, Ihren Arzt zu fragen: »Nur mal interessehalber: Was ist eigentlich Ihre religiöse Einstellung?« Ist er religiös engagiert, wird er sich über Ihre Frage freuen und gern Auskunft geben. Hat er dazu keine Meinung, wird ihn Ihre Frage nicht stören oder verletzen.
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Der Arzt als Heiler

Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung beschrieb in seinem Werk so genannte Archetypen: Bilder von Urfiguren, die wir im tiefsten Grund unserer Seele mit uns herumtragen. Ein besonders wichtiger Archetyp ist der Heiler.