1 Zu Geschichte und Aktualität der Heilpädagogik

1.1 Ein kurzer Blick in die Vergangenheit

Im Folgenden möchte ich mich der Liaison zweier Disziplinen zuwenden, die beide ein ähnliches Schicksal mangelnder Reputation von Seiten ihrer übergeordneten erziehungs- bzw. humanwissenschaftlichen Scientific Community erleiden: der Heilpädagogik und der Psychoanalyse. Eine Verknüpfung beider gibt es seit Alfred Aichhorns bahnbrechendem Werk „Verwahrloste Jugend“ aus dem Jahre 1925. Im Geleitwort dazu verlangt Sigmund Freud zum einen nach einer psychoanalytischen Schulung des Erziehers, „weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung, das Kind, ein unzulängliches Rätsel bleibt“ (vgl. Freud 1977, 8). Zum andern betont er die Eigenständigkeit der Erziehungsarbeit, die nicht mit einer psychoanalytischen Beeinflussung verwechselt werden dürfe. An anderer Stelle macht er das Interesse der Pädagogik für Psychoanalyse darüber kenntlich, dass ein Erzieher „nur sein kann, wer sich in das kindliche Seelenleben einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht, weil wir unsere eigene Kindheit nicht mehr verstehen“ (vgl. Freud 1970 a, 128).

Die Heilpädagogik hat im Laufe ihrer Geschichte eine tiefgreifende Wandlung erfahren, ob der Begriff des Paradigmenwechsels tatsächlich zutrifft, bleibt umstritten (vgl. Bürli 2005, Cloerkes 2001, Hillenbrandt 1999, Mand 2003). So lassen sich ideengeschichtlich die folgenden Modelle voneinander abheben:

Einig ist man sich darin, dass die Veränderungen und Diskussionen zu mehr oder weniger großen Verunsicherungen geführt haben. Dennoch hat der emphatische Anspruch von Paul Moor, einem der großen Heilpädagogen seiner Zeit, bis heute für uns alle nichts von seiner Gültigkeit verloren: „Heilpädagogik ist diejenige Pädagogik, welche vor die Gesamtzahl der über das Durchschnittsmaß hinausgehenden Erziehungsschwierigkeiten gestellt ist.“ Seiner Frage: „Was heißt Erziehung angesichts der eingeschränkten Lebensmöglichkeiten eines entwicklungsgehemmten Kindes?“ wird unter Einbeziehung aktueller Tendenzen nachzugehen sein (vgl. Moor 1969, 260ff).

Eingeführt wurde der Begriff in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch bereits 1861, doch erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind Bemühungen zu ihrer Begründung als eigenständiger Wissenschaft zu beobachten. Und nicht vor den siebziger Jahren kam man überhaupt auf die Idee, die gesellschaftliche Einbettung des Phänomens einer Behinderung in den Blick zu nehmen (vgl. Gerspach 2008a). Inzwischen liegen in Abkehr von einer rein defizitorientierten Sicht eine Vielzahl neuerer Erkenntnisse vor, die die Selbstentwicklung unterstützende Perspektiven eröffnen. Der Begriff der Menschenwürde ist primär dadurch bestimmt, dass er den Menschen vor Diskriminierung schützt. Würde „als jene des nichtknechtischen Subjekts“ setzt an der Überwindung des Defizitdenkens an, indem jene „soziale Problemlagen“ in den Mittelpunkt gestellt werden, die defizitär sind. „Der Begriff des Defizits wird also in die soziale Situation verlagert, die Naturalisierung am Individuum als Defizit wird aufgebrochen (...) Behinderung ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Das heißt keineswegs, dass es nicht gewisse Besonderheiten der Natur gäbe (...)“ (vgl. Jantzen 2008, 230ff). Mit Speck und Bürli könnte man festhalten, dass die Heilpädagogik gekennzeichnet ist durch eine „anthropologisch ganzheitliche Orientierung, die einer drohenden personalen und sozialen Desintegration begegnet und Lebenssinn erschließt“ (vgl. Bürli 2005, 68; Speck 2003, 32 f).

Vor allem angestoßen durch Aloys Leber wurde seit den siebziger Jahren eine Reihe von theoretischen und praktischen Konzepten einer Psychoanalytischen Heilpädagogik vorgelegt, allerdings bis auf wenige Ausnahmen (vgl. etwa Fröhlich 1994) kaum in eine umfassende, konsistente Form gebracht. Leber kann als Begründer der Psychoanalytischen Heilpädagogik gelten. In Weiterführung wie Zusammenführung dieser Arbeiten und angeregt durch interessante Entwicklungen in Heilpädagogik und Psychoanalyse in jüngster Zeit soll nun diese Verbindung auf eine solide und konsistente Basis gestellt werden.

Zudem sei sogleich darauf hingewiesen, dass die Psychoanalytische Heilpädagogik seit ihren Anfängen auf einen großen Widerstand trifft. Von konservativer Seite wurde ihr gesellschaftskritischer Ansatz scharf attackiert, die Richtung der materialistischen Behindertenpädagogik warf ihr wiederum vor, die klassenspezifische Sozialisation zu vernachlässigen, so dass sie nur eine Spielart bürgerlicher Wissenschaft sei (vgl. Gerspach 1987, 135). Aktuell beharrt etwa Jantzen, dem ansonsten große Verdienste um eine kritische Aufarbeitung der Heilpädagogik zukommen, noch immer darauf, dass nur dreimal in der Geschichte der Behindertenpädagogik – nämlich durch Séguin, Vygotskij und ihn selbst – herausgearbeitet worden sei, dass nicht der so genannte Defekt der körperlichen Schädigung die Behinderung hervorbringt, sondern die dadurch hervorgebrachte soziale Isolation und unterschlägt damit u.a. die bahnbrechenden Leistungen von Aloys Leber oder Helmut Reiser (vgl. Jantzen 2008, 232). Auch die umfangreiche Prospektivstudie von Bürli verweist ein einziges Mal auf den tiefenpsychologischen Ansatz, nennt aber keine Vertreter/innen dieser Richtung (vgl. Bürli 2005, 53).

Der Psychoanalyse – jetzt mit Blick auf ihre Rolle als übergeordnete Referenztheorie wie -praxis einer Psychoanalytischen Heilpädagogik – erleidet seit alters her ein ähnliches Schicksal. War ihr zunächst bereits die bis dato strikt tabuierte Thematisierung der (infantilen) Sexualität beinahe zum Verhängnis geworden, so liegt ihr aktuelles Gefährdungspotential darin, sich einer technokratischen Verwaltung des modernen Subjekts erfolgreich zu verweigern. Freuds schlichte Erkenntnis, dass Phantasien psychische Realität im Gegensatz zur materiellen besitzen und dass die psychische Realität die maßgebliche ist (vgl. Freud 1916 – 17, 383), schließt eine bewusst geplante und operationalisiert umgesetzte Einflussnahme auf die Einpassung des Individuums in bestehende Strukturen aus. Die Psychoanalyse nimmt das Primat im Seelenleben für die Affektvorgänge in Anspruch und führt „den Nachweis eines ungeahnten Ausmaßes von affektiver Störung und Verblendung des Intellekts bei den normalen nicht anders als bei den kranken Menschen“ (vgl. Freud 1970a, 123). Dies desavouiert herrschende kognitivistische Ideologien ebenso wie es zudem zu einer tiefen narzisstischen Kränkung auf der Subjektseite führt.

Es ist also nicht eine „intellektuelle Schwierigkeit“, die die Psychoanalyse für manche unzugänglich macht, sondern eine „affektive Schwierigkeit: etwas, wodurch sich die Psychoanalyse die Gefühle des Empfängers entfremdet. So dass er weniger geneigt wird, ihr Interesse oder Glauben zu schenken (...) Wer für eine Sache nicht genug Sympathie aufbringen kann, wird sie auch nicht so leicht verstehen“ (vgl. Freud 1970b, 130). Zudem öffnet Freud ein weites Tor für die Nutzbarkeit der Psychoanalyse jenseits der Medizin: „Dann lassen Sie sich mahnen, dass es noch ein anderes Anwendungsgebiet der Psychoanalyse gibt, das dem Bereich der Kurpfuscher entzogen ist und auf das die Ärzte keinen Anspruch erheben werden. Ich meine ihre Verwendung in der Pädagogik“ (vgl. Freud 1926 e, 284f). Etwas skeptischer klingt allerdings jene spätere Formulierung: „Es hat doch beinahe den Anschein, als wäre das Analysieren der Dritte jener ‚unmöglichen‘ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren“ (vgl. Freud 1937c, 95).

Inzwischen haben sich die wissenschaftstheoretischen Fronten in den Humanwissenschaften in aller Breite weiter verhärtet. Heute lautet der Vorwurf beinahe unisono, Psychoanalyse sei veraltet, was ich so zu lesen verstehe, dass ein sperriges Denken, welches

als zu mühsam erachtet wird. Die globalisierte Wirtschaft verlangt unmittelbare Leistung und kurzfristige, auf die Bilanz durchschlagende Resultate und schafft damit Entgrenzung als massen- und individualpsychologische Dimension. Abwarten-Können und Triebaufschub-Leisten sind nicht mehr marktgängig. Es verwundert nicht, dass auch die Wissenschaft in diesen Sog geraten ist. Die Zeit verlangt nach schlichten Konzepten.

Häufig ist auch zu hören, dass sich kaum mehr eine Einrichtung an der Psychoanalyse als ernstzunehmendem Wissensfundus orientiere. Hier wäre sogleich einzuwenden, dass es nicht um eine bestimmte psychoanalytische Technik geht, die vor Ort ein zu eins umzusetzen wäre, sondern um eine innere Haltung, wie und wo ich den Anderen stehen sehe und vor allem zuzulassen und zu reflektieren, wie und wo er mich stehen sieht. Es geht um die Wahrnehmung der auch unbewussten Dimensionen wechselseitiger professioneller Beziehungsausgestaltung, mit der allein Entwicklungsblockaden und -irrungen zu erkennen und sinnhaft einzuordnen sind, was erst zu tiefgehenden und anhaltenden Veränderungen beizutragen vermag. Körner begegnet dem Vorwurf der Antiquiertheit der Psychoanalyse damit, dass sie

A la longue wird die theoretische Selbstamputierung, mit der man glaubt, auf Psychoanalyse verzichten zu können, fatale Konsequenzen für die Praxis nach sich ziehen. Noch verheerender wirkt sich eine populärwissenschaftliche Rezeption der Psychoanalyse aus. So werden dann lebensgeschichtliche Daten empathielos aneinandergereiht, die monokausal als Erklärung für deviantes Verhalten herhalten müssen. Einfühlbare Motive, die im Erleben einer signifikanten frühen Lebenssituation wurzeln und den Charakter von Einmaligkeit aufweisen, werden in einem hypothetischen Beweisverfahren durch Ursachen ersetzt, denen eine instrumentelle Wirkung unterstellt wird. Damit erachtet man Theorie und Praxis fälschlicherweise als abschließbar. Dagegen wendet Lorenzer ein: „Allgemeine Gesetzesaussagen lassen sich hier nicht als Ergebnis eines abgeschlossenen Erklärungsvorgangs gewinnen“ (vgl. Lorenzer 1974, 44). Die bloße Behauptung eines beschädigenden Zusammenhangs zwischen der individuellen Persönlichkeitsstruktur und gesellschaftlich bestimmten Sozialisationsprozessen muss durch den genauen Begriff ersetzt werden, „wie dieser Zusammenhang hergestellt wird und wie er sich in der individuellen Struktur äußert“ (vgl. Lorenzer 1977, 11). Nur über diesen präzisen Bezug zur Psychoanalyse lässt sich Heilpädagogik als sinnverstehende Wissenschaft begründen (vgl. Gerspach 1981, 19).

Solange etwa Beobachten zur Grundlage von objektiven Aussagen über einen Menschen mit Behinderung gemacht wird, geht vergessen, dass dies immer eine subjektive Auswahl und Deutung beinhaltet. Der Beobachter bringt selber seine eigene Subjektivität ein, daher sind unbewusste Identifikationen niemals auszuschließen (vgl. Kron 1988, 61f). Einer hermeneutischen Betrachtung indes erschließt sich Erkenntnis in einem anderen als einem derartigen Bezugssystem technischer Verfügung, wie Habermas zeigt: „Sinnverstehen bahnt anstelle der Beobachtung den Zugang zu den Tatsachen“ (vgl. Habermas 1973, 157).

Damit zurück zum Thema. Wenngleich der Begriff Heilpädagogik eine enge Verwandtschaft zur Medizin und zu medizinischen Heilungsansprüchen vermuten lässt, hat es im strengen Sinne nie eine medizinische Fassung der Heilpädagogik gegeben (vgl. Bleidick 1971, 56). Bereits Moor betonte, dass es um Pädagogik und nicht um Medizin gehe und wandte sich damit gegen jede biologische Verkürzung (vgl. Moor 1969, 260ff).

Dennoch führte dieses Missverständnis zu einer Abkehr von der Bezeichnung Heilpädagogik. Hanselmann schlug vor, sie durch Sonderpädagogik zu ersetzen (vgl. Hanselmann 1941, 7). Dieser Begriff bürgerte sich vor allem auf dem schulischen Sektor ein – man denke nur an die Sonderschulen –, offenbarte aber eine eher noch größere Schwierigkeit: Aus der Zuständigkeit der Sonderpädagogik für Kinder mit Behinderungen ergab sich fast wie von selbst die Legitimation für ihre Überstellung an Sondereinrichtungen, kurz: ihre Aussonderung. Aus diesem Grund wurde im Zuge einer gesellschaftskritischen Aufarbeitung der Standortbestimmung der eigenen Profession von Kollegen wie Feuser oder Jantzen der Begriff Behindertenpädagogik ins Spiel gebracht, der aber auch nicht unumstritten blieb. Denn Behindertenpädagogik ist zu nahe mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierungspraxis assoziiert (vgl. Iben 1975, 68).

Zuletzt wird der Förderaspekt herausgestrichen – so in der neuen Begriffswahl Förder- anstelle von Sonderschulen. Allerdings erscheint auch dieser Wechsel nicht unproblematisch, suggeriert er doch einen erhöhten Förderbedarf behinderter Kinder, der dann schnell in instrumentelle Lernprogramme gegossen wird. Schließt man sich der Auffassung von Haupt an, dass es beim grundlegenden Lernen nicht darum gehen kann, einem Kind etwas beizubringen, sondern ihm behilflich zu sein, sich in emotionaler und sozialer Sicherheit mit der Lebenswelt vertraut zu machen, wäre dieser Befürchtung vorgebeugt (vgl. Haupt 2006, 133). Mit Bürli könnte man zusammenfassend sagen: „Förderung ist nicht infolge Defizite, sondern infolge Förderbedarf legitimiert“ (vgl. Bürli 2005, 54).

Die Namensänderung des Verbandes Deutscher Sonderschulen (VDS) in Verband Sonderpädagogik e.V. löste ebenfalls Kontroversen aus (vgl. Mattner 2000, 15). Anderseits trägt sein Verbandorgan noch immer den Titel „Zeitschrift für Heilpädagogik“, und auch die „Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete“ ist uns erhalten geblieben. Allerdings wurde im universitären Bereich die Kombination Heil- und Sonderpädagogik gänzlich aufgegeben und die Bezeichnung von Instituten auf Sonderpädagogik reduziert. Zuweilen ist, zum Beispiel bei Studiengängen, auch der vor allem in der DDR gebräuchliche Begriff der Rehabilitationspädagogik zu finden, der insofern nicht unproblematisch erscheint, als er sehr deutlich den physischen Aspekt nahe legt. Dies alles ist in erster Linie dem Vorbehalt gegenüber dem Vorsatz Heil geschuldet, der Assoziationen an (nicht einlösbare) medizinische Ansprüche weckt.

Ich plädiere dennoch für eine Beibehaltung der Bezeichnung Heilpädagogik, auch wenn sie in der fachinternen Diskussion unpopulär geworden ist. Mir will die Bevorzugung von Sonderpädagogik bzw. Behindertenpädagogik nicht recht einleuchten. Heilpädagogik legitimiert keine gesellschaftliche Aussonderung, während Sonderpädagogik dahingehend stets gerne falsche Assoziationen geweckt hat. Auch Behindertenpädagogik kann sich dem Moment von Diskriminierung nicht entziehen.

Wird aber der Blick vom Gebrechen, welches dem Individuum als scheinbar naturalistisches anhaftet, auf problematische Sozialisations- und Interaktionsprozesse verlagert und auf diese Weise die negative gesellschaftliche Wertung offenkundig, erscheint Heilpädagogik noch am ehesten brauchbar, wie es schon Leber und Speck formuliert haben (vgl. Leber 1984, 478; Speck 1988, 12). Kobi nahm einmal heil im Sinne von ganz auf, womit er einen ganzheitlichen Ansatz vertrat, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat (vgl. Kobi 1988, 32ff; Bürli 2005, 60). In ähnlicher Absicht umschrieb Möckel Behinderung als Stocken des geistigen Stromes zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und Schülern und folgerte: „Neue Perspektiven für Erzieher in einer als aussichtslos empfundenen Erziehungssituation – das ist Heilpädagogik“ (vgl. Möckel 1988, 245). Gröschke kürzte seinerzeit die Diskussion ab mit den Worten: „Heilpädagogik ist und bleibt Pädagogik“, und er begründete dies wie folgt: „Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderen muss zukünftig innerhalb einer Pädagogik für alle ausgehalten werden, ohne Abspaltung einer ‚Sonderpädagogik‘, aber auch ohne gleichmacherische Einebnung und Standardisierung der gesellschaftlich gängigen Erziehungs- und Bildungsformen“ (vgl. Gröschke 1992, 20).

Falls wir der falschen Verknüpfung zum medizinischen Heilen nicht aufsitzen – die es nach Häußler nie gegeben hat (vgl. Häußler 2000, 34) –, erscheint mir hernach die Beibehaltung des ursprünglichen Begriffs der Heilpädagogik durchaus am plausibelsten, denn: „Es ist die Frage, ob es für eine Wissenschaft, die sich mit der Überwindung von gestörten und beeinträchtigten Bildungs- und Erziehungsverhältnissen befasst, ein besseres Wort als Heilpädagogik gibt“ (vgl. Leber 1984, 478).

Dennoch muss die Heilpädagogik (oder welches Synonym ich auch immer verwende) bei genauerem Hinsehen bis heute als Stiefkind der Allgemeinen Pädagogik betrachtet werden. In den einschlägigen Publikationen sind Hinweise darauf kaum zu finden. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Quantifizierung und Standardisierung von schulischen Bildungserfolgen über Systeme wie Pisa, Iglu oder Timms wird vor allem den gymnasialen Werdegängen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zuteil. Die Entwicklungs- und Lernverläufe von behinderten und benachteiligten Kindern und Jugendlichen sind da marginal, ganz zu schweigen vom Tabuthema einer geistigen Behinderung.

Der erziehungswissenschaftliche Mainstream fokussiert eine Zielgruppe, die ihre Bildungschancen zu nutzen weiß – oder in diesem Streben zumindest die nötige Unterstützung erhalten soll –, womit auch der Konsens unter den Wissenschaftler/innen offensichtlich wird, welches Feld der empirischen Bildungs- und Erziehungsforschung zu bestellen sei.

Da tritt der entscheidende Unterschied zur Heilpädagogik zutage, die es mit Menschen zu tun hat, die ihr in erster Linie als Bildungsversager überstellt werden und damit aus dem Blick einer noch stets – wenn auch womöglich nicht einmal mehr expressis verbis formuliert – an traditionellen humanistischen Perspektiven orientierten Erziehungswissenschaft verschwinden. Die Heilpädagog/innen beklagen seit längerem diese Geringschätzung (vgl. Speck 1990, Gröschke 1992) oder weisen darauf hin, dass auch und vor allem der Rückzug vom Terrain sozialpolitischer Überlegungen auf eine reine „Schulpädagogik“ diese Ausgrenzung noch zementiert hat (vgl. Ellger-Rüttgardt 1990, 11).

Darüber hinaus ist man sich nicht einig, wie das (Nicht)Verhältnis zur Allgemeinen Pädagogik zu definieren sei. Die einen, die Exponenten der Sonderpädagogik bestehen auf der Eigenständigkeit einer eigenen Wissenschaftsdisziplin, die anderen plädieren für ihre Auflösung als prinzipiell falschem oder gar inhumanem Ansatz (vgl. Bürli 2005, 56; Eberwein 1994 b).

Sollte man nun aber meinen, dass diese Erfahrung von Ausgrenzung eine denkbar ungünstige Voraussetzung für eine eigenständige und ernstzunehmende wissenschaftliche Entwicklung der Heilpädagogik abgäbe, würde man sich gründlich täuschen. Schon Baier hat auf den beinahe paradoxen und dennoch gedeihlichen Umstand hingewiesen, dass die Heilpädagogik auf Grund ihrer geringen Bedeutung als (sonder-)schulform-bezogener Disziplin weitgehend unberücksichtigt blieb und deshalb ihre pädagogischen Freiräume zu nutzen wusste (vgl. Baier 1990, 255). In dem Maße, wie sich die Heilpädagogik nicht länger mit ihrer Entlastungsfunktion für die Regel(schul)pädagogik zufrieden gab, sondern über das von ihr vorgetragene Paradigma der Schaffung gemeinsamer Lern- und Lebensumfelder Ansprüche anmeldete und damit ein autonomes Selbstverständnis zu formulieren begann, welches nicht in der Separierung von jeglicher anderer Pädagogik liegt, erfolgte ihre wissenschaftstheoretische Aufwertung.

Meines Erachtens sind es drei Tendenzen der letzten Jahre, die der Heilpädagogik durchaus gut getan haben und die ich jetzt kurz in den Blick nehmen möchte.

1. Da der dynamische Kontext von Behinderung, Störung oder Benachteiligung mittlerweile im Schnittpunkt objektiver gesellschaftlicher wie subjektiver somatopsychischer Strukturen hinreichend präzise zu lesen ist – und zwar relativ unabhängig vom jeweils verwendeten Entwicklungskonzept –, hält die Erkenntnisgewinnung in der Heilpädagogik inzwischen auch anspruchsvollen metatheoretischen Betrachtungen stand. Vor allem der gesellschaftspolitisch eingefärbte Zugang zur sozialen Genese wie Bedeutung von Beeinträchtigungen des Subjekts, wie er in der Tradition der Kritischen Theorie gelegt wurde, hat eine wissenschaftstheoretische Neubewertung möglich gemacht. Im Zuge dieses Diskurses wurde jedes heilpädagogische Bemühen um gestörte und behinderte Adressat/innen vor dem Hintergrund bildungsökonomischer Interessen und sozial ausgrenzender Tendenzen problematisiert.

Damit sind nun alle personalen Abweichungen in einen strukturell begriffenen Zusammenhang gestellt, in welchem gesellschaftlich vorgeformten Interaktionsmerkmalen der Charakter eines sie determinierenden Moments zugesprochen wird. Jetzt wird vorab das in einer basalen Beeinträchtigung des Subjekts gesellschaftlich Geronnene thematisiert, ohne den Betroffenen isoliert auf sich selbst zurückzuwerfen. Allerdings bleibt noch zu klären, wie diese Erkenntnis, etwa in Bezug auf die notwendige Förderung beschädigter Identität, heilpädagogisch umzumünzen sei.

2. Um eben diese Lücke zu schließen, musste der Anschluss an Überlegungen aus der Richtung von Psychoanalyse und Psychoanalytischer Pädagogik erfolgen. Damit sollte es gelingen, eine Störung oder Behinderung im Kontext einer problematischen, indes individuell zu identifizierenden Lebensgeschichte aufzufassen und sinnverstehend intervenieren zu können. Welchen unbewussten Sinn verfolgt also die irritierende Auffälligkeit?

Das Konzept einer Psychoanalytischen Heilpädagogik geht auf Aloys Leber zurück, der uns praktisch wie in seinen Schriften einen gangbaren Weg aufgezeigt hat, die Bedeutung einer Behinderung theoretisch zu erfassen und so darauf einen fördernden Dialog aufzubauen, dass eine ins Stocken geratene individuelle Entwicklung aus ihrer Erstarrung gelöst werden kann (vgl. Leber 1977, 1979, 1988, 1989a, 1989 b). Dies meint etwas völlig anderes als ein technizistisch gewirktes Förderverständnis. Der fördernde Dialog sucht nach Antworten auf die Frage, was für den Betroffenen „das Symptom, die Behinderung für ihn und seine Bezugsgruppe (Familie) darstellt“. Es geht nicht um die Mobilisation von ‚Restfunktionen‘ oder die Kompensation für nicht zu gewinnende Fähigkeiten auf dem Wege mechanistischen Antrainierens. Es geht darum, ob sich der Betroffene aus jenen „widersprüchlichen, zuerst äußeren und dann auch inneren Verstrickungen befreit, relative Unabhängigkeit und Selbständigkeit als erstrebenswertes Ziel anvisieren kann“ (vgl. Leber 1984, 482).

Lebers Verdienst ist es, eine psychodynamische Betrachtungsweise nicht nur auf nicht-organische Beeinträchtigungen des Subjekts zu beschränken, wie sie sich vor allem in Lernblockaden und Verhaltensauffälligkeiten dartun, sondern auf den heilpädagogischen Gegenstandsbereich insgesamt auszuweiten, der auch Körper-, Sinnes- und geistige Behinderungen einschließt.

3. Schließlich sei auf die durch Heilpädagog/innen initiierte Reformbewegung verwiesen, sich nicht länger mit einer inhaltlich ebenso fadenscheinigen wie falschen Begründung auf eine aussondernde Praxis ‚ihrer‘ Kinder zufrieden geben zu wollen, sondern mit der integrativen bzw. inklusiven Pädagogik eine Öffnung der Allgemeinen (Schul-)Pädagogik einzufordern. Diese theoretische Wendung hat eine fundamentale Reflexion des der pädagogischen Praxis vorgeordneten impliziten Menschenbildes nötig gemacht und den Begriff der Behinderung seines ontologischen Scheins beraubt (vgl. Eberwein 1994 b, Jantzen 2008, Klein u.a. 1987, Muth 1986).

Da es hierbei sowohl um Kinder mit als auch ohne Behinderungen geht, kann diese Paradigmendiskussion nicht auf die Heilpädagogik begrenzt bleiben. Sie lehrt uns vermittels des Aufeinandertreffens unterschiedlicher kindlicher Charaktere, dass jedes Kind zunächst und vor allem Subjekt ist, worauf jedes individualisierte Förderkonzept Rücksicht zu nehmen hat. Es verlangt, aus der Beziehung zum Kind heraus jene Schritte zu konzipieren und ihm anzubieten, die seiner weiteren Entwicklung am besten entsprechen.

Im Gegensatz dazu hat Feuser jene statischen pädagogischen Modelle kritisiert, die von einem fertigen Produkt ausgehen, weil sie die interaktiv hergestellten Selbstorganisationsprozesse des Individuums unterschlagen (vgl. Feuser 1991, 429). Allerdings wäre zu prüfen, wie das Verhältnis von Allgemeiner und Heilpädagogik vor dem Hintergrund unterschiedlicher Entwicklungsbedingungen dialektisch so zu gestalten wäre, dass die bislang geübte Ausgrenzung nicht unter der Hand beibehalten wird. Der gesellschaftspolitische Anspruch auf Integration bzw. Inklusion kassiert ja weder die besonderen didaktischen und methodischen Kenntnisse der Heilpädagogik, noch kann er der Verleugnung des Unterschieds das Wort reden.

Thimm hat vor längerer Zeit die Richtung der weiteren Diskussion abgesteckt. Er sprach davon, dass die Konstitutionsprobleme der Heilpädagogik angegangen wurden, was zu einem Paradigmenwechsel geführt hat, der durch die Notwendigkeit metatheoretischer Anstrengungen um den Begriff der Behinderung gekennzeichnet war. Darüber hinaus verwies er auf den zweiten zentralen Diskussionsbereich um die Integration behinderter Kinder. Vor allem durch die dadurch aufgeworfene Frage der ethischen Verantwortung im Schnittpunkt von Euthanasie und Lebensrecht sah er eine historische Chance, eine medizinische Domäne zu pädagogisieren, denn die Heilpädagogik liefere mit ihrer „ethisch unproblematischen Lösung“, für das geschädigte Leben einzutreten, eine überzeugende Legitimation (vgl. Thimm 1990, 272 ff).

Wir wissen inzwischen allerdings, dass diese Hoffnung durch die faktische Macht der Pränataldiagnostik stark eingetrübt wurde. Zum einen wurde dadurch in den Industrienationen das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung erneut aufgeweicht. Kinder mit geistiger Behinderung wie dem Down-Syndrom oder Mehrfachschädigungen werden durch Spätabtreibung oder Liegenlassen nach der Geburt getötet, oder man praktiziert bereits an „Menschen mit geistiger oder schwerer Behinderung aktive Sterbehilfe (...) Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet über eine neue Al-Qaida-Taktik im Irak, die zwei Frauen mit Down-Syndrom als Selbstmordattentäterinnen eingesetzt und damit eine Vielzahl von Menschen getötet und verletzt hat“ (vgl. Fornefeld 2009, 10).

Zum andern hat uns die Pränataldiagnostik einen Machbarkeitsglauben beschert, „der zu der Annahme verleitet, durch genügende Vorsorge die Garantie für ein gesundes Kind zu haben. Eltern, die mit einer schweren Behinderung ihres Kindes konfrontiert werden, sind daher in ihrem Selbstvertrauen und ihrer Kontrollüberzeugung erschüttert“ (vgl. Hackenberg 2008, 46).

Gleichwohl kann nach übereinstimmender Meinung der Fachvertreter/innen das herausragende ethische Moment von Pädagogik, welches sich um den dialogischen Aspekt eines humanen Miteinanders zentriert, durch solche skandalöse biomedizinische Tendenzen nicht kontaminiert werden. Noch immer gilt die Auffassung Thimms, dass nicht eine vom betroffenen Individuum losgelöste Betrachtung, die sich auf die Vorhersage bestimmter Schäden verlässt, Richtschnur für praktische Interventionen sein kann, da sie soweit vom Subjekt abstrahiert, bis es gänzlich unkenntlich geworden ist (vgl. Thimm 1990, 281).

1.2 Zur Bedeutung des Dialogs für die Menschwerdung

Fortfahren möchte ich mit einem Goethe-Zitat: „Überhaupt lernt man nur von dem, den man liebt“ (vgl. Eckermann, Gespräche mit Goethe 1981). Freud wiederum spricht davon, dass sich der Erzieher bei seinem schwierigen Unterfangen, das Lustprinzip durch das Realitätsprinzip zu ersetzen, „Liebesprämien bediene“ (vgl. Freud 1911b, 236).

Hier wird jeweils in ebenso eingängigen wie schlichten Worten die anthropologische Grundwahrheit, nämlich die Beziehungsgerichtetheit des Menschen, zum Ausdruck gebracht. Ein anderes Wort wäre vielleicht: die Dialogbedürftigkeit des Menschen. Martin Buber hat darauf aufmerksam gemacht, dass erst der Mensch mit dem Menschen menschliche Existenz begründet und daher Subjektivität stets als Intersubjektivität aufscheint (vgl. Mattner, Gerspach 1997, 122). Der Einzelne ist niemals als Ganzheit vorstellbar. Ganzheit stellt sich zwischen Menschen her, sie ist auf Interdependenz, auf gegenseitige Abhängigkeit angewiesen.

Nach Bubers Verständnis begründet und vervollständigt sich allein in der Gegenseitigkeit mit anderen menschliche Existenz. Er umschreibt die notwendige Bezogenheit auf ein Gegenüber an einem uns allen geläufigen Beispiel: Vergleichbar mit der Betrachtung des Einzelnen sei die des Mondes. Man entdeckt dort nur die beleuchtete Oberfläche. Erst der Mensch mit dem Menschen ergibt das runde Bild (vgl. Buber 1947, 485). Mit Bezug auf Martin Bubers prägnante Erkenntnis, dass das Ich am Du werde (vgl. Buber 1923), lässt sich konkretisieren: „In der unmittelbaren Erfahrung des Sich-Gegenüber-Seins, ohne sich einander Objekt zu sein, sehe ich die Chance der Befreiung der Subjekte aus der Entfremdung durch innere und äußere Herrschaft“ (vgl. Reiser 1988, 25). Die Bedeutung des Angewiesensein auf den Andern, die erst Selbständigkeit möglich macht, wird uns am Axiom von Autonomie und Interdependenz besonders gegenwärtig, wie das Reiser für den Kontext der Themenzentrierten Interaktion formuliert hat (vgl. Reiser 1993, 259). Auch für die Psychoanalyse als einer Objektbeziehungspsychologie ist der Dialog ein wesentliches strukturbildendes Element der Persönlichkeit. Leber weist darauf hin, dass der frühe Dialog, in dem Ich und Nicht-Ich vom ganz jungen Kind noch nicht als geschieden erfahren werden, die basale Voraussetzung für ein erfülltes menschliches Miteinander abgibt (vgl. Leber 1981, 37).

Jene Hervorhebung der Einmaligkeit subjektiver Figuren anstelle objektivistisch begriffener Interventionstechniken verspielt eben nicht, wie oft provokant unterstellt, Wissen, sondern wertet es im Gegenteil auf, weil sie nicht der Versuchung nachgibt, vom Einzelnen ohne Not abstrahieren zu wollen. Der dialogische Beziehungsaspekt generiert Wissen auf seine eigene, subjektorientierte methodische Weise, gleichwohl in deutlicher Abgrenzung zu schematischem Antrainieren und verzichtet beileibe nicht auf die Berücksichtigung der Einbindung des Einzelschicksals in die tendenziell beschädigende Totalität des gesellschaftlichen Kontextes.

Einzig in der Verbundenheit ist der Mensch, und also auch der behinderte, lebensfähig. Aus dieser Erkenntnis, aufeinander bezogen zu sein, lebt jede Pädagogik. Es wäre fatal, wollte man hier Allgemeine und Heilpädagogik systematisch auseinanderdividieren. Die dialogische Bedeutsamkeit des professionellen Arrangements ist generell als ausschlaggebend für jede pädagogische Bemühung anzusehen. Noch jedes Therapieangebot, etwa bei der Krankengymnastik, kann seine Erfolge oder Misserfolge nur im Zusammenspiel der jeweiligen Technik mit der Interaktion von Therapeut und Kind verifizieren (vgl. Höhne 1985, 211).

Nach Devereux liegt die Hauptaufgabe der Humanwissenschaft darin, dass sie die Analyse der Auffassung des Menschen von sich selbst sei (vgl. Devereux 1967, 25). Leber hat diesen Anspruch für die Heilpädagogik dahingehend präzisiert, dass der Forscher damit selbst Gegenstand der Forschung ist und er mithin der Wahrnehmung der eigenen Gefühlsreaktionen Beachtung zu schenken hat – „Selbstwahrnehmung ist so Medium des Fremdverständnisses“ (vgl. Leber 1985, 154). Er wird vom Andern nur soviel verstehen, wie er von sich selbst versteht. Die Zweiererfahrung gibt mir eine Vorstellung vom Ich. Alle sagen „ich“, aber den, der es sagt, gibt es nur einmal. Alle sagen „ich“ und meinen damit sowohl etwas exklusiv Individuelles wie schlechterdings Allgemeines. Nur wer „ich“ ist, kann mit dem „du“ in Beziehung treten. Dazu noch einmal Martin Buber. Er begründet Verantwortung primär auf „Antwort“ im Dialogischen: „Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt. Antworten worauf? Auf das, was einem widerfährt, was man zu sehen, zu hören, zu spüren bekommt“ (Buber 1984, 161).

In der Konfrontation mit dem Anderen als dem Bedürftigen fallen Sein und Sollen als Hilfe zum weiteren Werden zusammen. Der Anspruch auf Hilfe ist damit evident, d.h. im bloßen Dasein ontisch begründet, wie es Mattner formuliert hat (vgl. Mattner 1997, 100ff). Es geht also um die Annäherung an das Unnahbare im Anderen. Gerade in der Arbeit mit geistig Behinderten müssen Verstehen und Verstehbarkeit über gängige Vorstellungen hinaus ausgeweitet werden (vgl. Kleinbach 1994, 13). So wäre etwa das Sprechen über das geistig behinderte Kind als „Wut des Verstehens“ zu kritisieren. Einer rational-wissenschaftlichen Betrachtung erscheint das Andere einer als geistig behinderten Welterfassung per se als das Un-Sinnige. Dagegen muss geistige Behinderung als soziale Kategorie begriffen werden (vgl. Mattner 1997, 13ff; 2008; Kleinbach 1990). Die Verwirrung, die durch den Anderen geschieht, ist aber nicht in Kategorien zu fassen. „Es bleibt ein Abgrund der Trennung“ (Rösner 1997, 50). Oder mit den Worten Kobis: Unser heilpädagogischer Anspruch muss ansetzen an der „schlechthinigen Personalität, die ‚vor und hinter‘ dem empirisch Zugänglichen liegt“ (vgl. Kobi 1985, 277).

Das Miteinander der Menschen ist nur denen möglich, die die Würde der Person im Anderen anzuerkennen vermögen. Dieser Personstatus wird nicht erworben, sondern ist ein unverbrüchliches Wesenselement aller Menschen, ganz gleich, wie sie beschaffen sind. Der Mensch als Person ist Selbststand und Beziehungsstand in einem. Die Individualität der Person als Freiheitswesen zeigt sich radikal im Streben des „Über-sich-Hinaus“, nur der Einzelne allein kann seine Selbstverwirklichung bewerkstelligen. In diesem Tun aber liegt sogleich ein „Vonsich-Weg“, was nichts anderes meint als „Zum-andern-Hin“ (vgl. Badry 1994, 130f).

Mit Bezug auf Lévinas wird deshalb explizit nach einer pädagogischen Argumentation verlangt, die die Bedeutung des Dialogischen für das Werden des Menschen unterstreicht. Lévinas spricht vom „Antlitz des Anderen“. Er meint damit eine prälogische Bedeutungssphäre des Menschen, die dem rationalen Erkenntnisakt vorgegeben ist und in der das jeweilige Antlitz unmittelbar sinnstiftend erscheint. Die Gegenwart des Anderen ist Aufforderung zur Antwort. Von daher bedeutet Ichsein, sich der Verantwortung nicht entziehen zu können (vgl. Lévinas 1983, 198ff; Kleinbach 1994; Rösner 1996, 1997). Aus der Ethik von Lévinas ist nach Gröschke eine ontologische Begründung für heilpädagogisches Handeln ableitbar, „das dieses normativ vorschreibt, ohne sich egoistischer Motive (...) verdächtig zu machen, die den Behinderten dann doch für meine eigenen Zwecke instrumentalisieren würden“ (vgl. Gröschke 1989, 46; vgl. 1993, 29ff). In ähnlicher Absicht entwirft Kleinbach einen interaktiven Erziehungsbegriff, der intentionale Ausdrücke wie Bewirken und Absicht hinter sich lässt und an ihrer Stelle kommunikatives Handeln und Intersubjektivität in den Blick nimmt (vgl. 1993, 25).

Damit auch wird die Vorstellung überwunden, als ob der eine etwas zielgerichtet mit dem anderen mache. An die Stelle absichtsvoller Erziehungshandlungen tritt eine asymmetrische Form der Beziehung, an der beide auf unterschiedlicher Ebene teilhaben und sich selbst wie ihre Zielstellungen verändern. Mit welchem heilpädagogischen Konzept ich auch operiere, immer tritt mir menschlicher Entwicklung als ein Beziehungsgewebe gegenüber. Darum ist die Kritik an der Illusion individueller Autonomie frühzeitig anzusetzen. Wir sollten uns vor der Illusion hüten, als gehe der Andere in unserem Erkenntnisprozess gleichsam ohne Rest auf. In Anlehnung an Bollnow muss sich die (Selbst-)Kritik gegen ein geschlossenes Bild vom Menschen richten, welches kategorisch eine allgemeingültige Erziehungsnorm unterstellt (vgl. Mattner 1997, 46; Bollnow 1975). Vorschnell werden Begrifflichkeiten über Wirklichkeit konstruiert. Das Verstehen ist daher selbst zu verstehen (vgl. von Foerster 1994, 135). Es gilt, das Dafürhalten einer objektiven Realität zu hinterfragen und auf ihre intersubjektive Gestalt zu schauen.

Nehmen wir die Situation, dass sich ein Jugendlicher mit autistischen Zügen beständig den Kopf anschlägt, bis er blutet. Wir unterbinden dieses Tun, weil wir es für stereotype Selbstschädigung erklären. Warum sind Stereotypien schlecht für einen Autisten? Vielleicht erleichtert ihm die immerfort wiederholte Handlung eine Orientierung in Zeit und Raum. Trifft der Begriff Selbstschädigung den wahren Sachverhalt? Vielleicht kann er sich erst spüren, wenn es weh tut. Was wissen wir überhaupt vom Erleben eines Autisten? Vielleicht wird es uns nie gelingen, uns in seine Welt einzufühlen. Wir sollten vorsichtig sein mit allzu schnellen Urteilen über andere.

Hier scheinen wir also in einen unauslöschlichen Widerspruch hineinzugeraten. Wie kann ein Plädoyer, sich dem Fremdverstehen sensibel zu öffnen, überzeugen, wenn der Andere im letzten unergründlich ist? Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen, aber doch aushalten. Zum einen begründet erst der Vorbehalt, den Anderen nicht vollends verstehen zu können, den Respekt vor ihm. Zum zweiten haben wir die Grenzen des Fremd- wie Selbstverstehens zu erkennen und damit die Grenzen unserer pädagogischen Bemühungen. Zum dritten beinhaltet Verstehen, sich anzunähern und dabei das Trennende erfahren wie akzeptieren zu lernen. Das Fremdverstehen muss bereits auf einer präreflexiven Ebene angesiedelt werden, d.h. schon den leiblichen Äußerungen ist eine Mitteilungsbedeutung zuzubilligen (vgl. Mattner 1997). Neben dem gesprochenen Wort vervollständigt die tonische Basis von Körpersprache, Gestik, Mimik oder Tonfall den artikulierten Gesamtsinn von Gesprochenem und leiblich Vermitteltem. Obgleich der Andere unergründlich bleibt, geht von der Begegnung mit ihm ein unaufhebbarer ethischer Anspruch aus (vgl. Lévinas 1983, 209ff). Der subjektive Sinngehalt, wie er uns im Dialog erfahrbar wird, ist in jenem vorwissenschaftlichen Erlebensbereich angesiedelt, wo der Mensch sich selbst und seiner Welt präreflexiv bewusst wird. Es genügt nicht einfach, sich anrühren zu lassen.

1.3 Anmerkungen zum Begriff der Behinderung

Wie man sieht, ist es beileibe nicht die Psychoanalytische Heilpädagogik allein, die den Versuch einer Konzeptionalisierung jederzeit operationalisierbarer Fördermaßnahmen problematisiert. Es erscheint mir eher vonnöten, all jene Richtungen zu vereinen, um sich gemeinsam gegen diese krakenhaft umgreifende Unsitte zur Wehr zu setzen.

Bereits die Formulierung „individuelle Förderplanung“ offenbart eine Bürokratisierung der Sprache, die jener der Praxis vorauseilt (vgl. Jakobs 2004, 30). Allerdings unterstreicht sie in besonderer Weise die Bedeutung der Interaktion für die Entstehung von Subjektstrukturen und definiert damit die pädagogische Aufgabe als eine wechselseitig begründete. Mit der psychoanalytisch unterfütterten Betonung der jeweils einmaligen und nicht beliebig wiederholbaren Beziehungserfahrungen erscheint der dialogische Anspruch als das unabdingbare Medium professioneller Kompetenz.

Gerade das Beziehungsgeflecht der heterogenen heilpädagogischen Praxisfelder ist durch intensive und zugleich schwierige Interaktionsstrukturen wie -muster gekennzeichnet, was dem einzelnen Pädagogen ein hohes Maß an Kompetenz abverlangt. Er muss erstens emotional mehr aushalten, zweitens mehr wahrnehmen an bedeutenden Interaktionszeichen, um drittens in der Lage zu sein, für seine Beziehungspartner verstehbar und förderlich zu reagieren. Die Sinnhaftigkeit unserer heilpädagogischen Bemühungen ist dabei zur Disposition gestellt, weil all unsere Interventionsangebote einer eigenen Bildhaftigkeit entspringen, wie wir uns einen behinderten Menschen vorstellen und in welchem Ausmaß wir seine Einschränkung phantasieren.

Folglich muss geklärt werden, was wir unter jenen Einschränkungen verstehen, die einen Menschen zum Adressaten der Heilpädagogik machen. Für Bleidick war diese Aufgabenstellung noch überschaubar: „Als behindert gelten Personen, welche infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert wird“ (vgl. Bleidick 1977, 9).

Hier wird noch klar zwischen einer organischen Schädigung und deren Folgen unterschieden. Die gesellschaftliche Definitionsmacht von Normalität und Behinderung bleibt unberücksichtigt. Bei Haeberlin finden sich erste Hinweise auf diesen Hintergrund: „Behinderung kann als Beeinträchtigung des Funktionierens einer gesellschaftlichen Einrichtung durch ein Individuum verstanden werden. Beispielsweise beeinträchtigt der Rollstuhlfahrer das Funktionieren von öffentlichen Verkehrsbetrieben oder der Lernbehinderte stört den Betrieb der Normalklasse“ (vgl. Haeberlin 1985, 32).

Kobi präzisiert: „Behinderungszustände – verstanden als Verzerrungen und Erschütterungen intrapersonaler (sich selbst als behindert erleben) und interpersonaler (bei anderen als behindert gelten) Austausch- und Kommunikationsprozesse – werden nicht kausal-linear verursacht, sondern in kreisförmigen Definitions (= ‚Ausgrenzungs‘)-prozessen erzeugt“ (vgl. Kobi 1988, 63).

Lindmeier schließlich fasst die Vorbehalte dahingehend zusammen, „dass weniger die auf der Objektebene feststellbaren Auffälligkeiten für eine heilpädagogisch bedeutsame Behinderung ausschlaggebend sind, als die auf der Normebene vorgenommenen Definitionen und die auf der Subjektebene erlebte Abweichung“ (vgl. Lindmeier 1993, 231). Die sozialen Auswirkungen einer Funktionseinschränkung sind immer relativ und kontextabhängig: „Die Situation zeichnet Behinderung vor“ (S. 244).

Der klassische, an ein organmedizinisches Menschenmodell angelehnte Begriff von Behinderung wurde spätestens zu jenem Zeitpunkt unhaltbar, als Jantzen zu dem Schluss gelangte, dass Behinderungen als die extremsten Formen der Verhinderung von Sozialisation und Individuation im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Möglichkeiten zu gelten haben (vgl. Jantzen 1977, 191). Bezogen auf den Ausschluss aus dem kapitalistischen Produktionsprozess folgert er, dass „behindert vor allem der wird, der arm ist, und der, der behindert ist, wird arm“ (vgl. Jantzen 1974, 127).

Wenngleich diese Aussage – etwa vor dem Hintergrund der sozialen Zusammensetzung der Schülerpopulationen an Förderschulen – noch immer Gültigkeit beanspruchen darf, so wäre doch zu prüfen, inwieweit sich die ‚Pathologie‘ des Einzelfalls so ohne weiteres gesamtgesellschaftlich erschließen lassen will, letzten Endes finden viele Kinder aus gesellschaftlichen Risikoräumen nicht den direkten Weg dorthin.

Unter psychoanalytischen Gesichtspunkten wäre dagegen zu untersuchen, auf welche Weise das Subjekt mit seiner Behinderung unbewusst einen Teil seines frühen Lebensdramas realisiert. Damit sind wir gehalten, Behinderung als eine in Szene gesetzte Erlebensfigur und nicht allein als verdinglichte Zuweisung eines ausgegrenzten gesellschaftlichen Status zu fassen, die dem Subjekt fremd und äußerlich bleiben müsste.

Zudem muss die Frage gestellt werden, ob es methodisch überhaupt zulässig ist, ein umfassendes Konzept für alle Behinderungen entwerfen zu wollen (vgl. Aab u. a. 1974, 11). Stellen wir zum Beispiel die unterschiedlichen Entstehungs- und Entwicklungsgänge bei einer organischen Körperbehinderung und bei einer sozialen Verhaltensstörung in einen übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhang, so erscheinen die gängigen Klassifizierungsmodelle äußerst ungenügend. Schon bei Horkheimer und Adorno heißt es treffend: „Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf“ (Horkheimer, Adorno 1969, 231).

Es erscheint nicht angebracht, körperliche, geistige, seelische oder soziale Behinderungen gleichwertig nebeneinander zu stellen. Darüber hinaus kann nicht einmal von Gleichwertigkeit die Rede sein, denn die Orientierung an einem Behinderungsbegriff, der auf Körper-, Sinnes- und vor allem geistige Schädigungen zugeschnitten ist, hat entscheidend zur Ausblendung der gesellschaftlichen Zuschreibungen beigetragen und dem Vorurteil Vorschub geleistet, Behinderung ohne Not mit geistigem Defekt gleichzusetzen.

Behinderung ist hernach ein sowohl relativer wie relationaler Begriff. Was als Mangel, Beeinträchtigung oder Benachteiligung angesehen wird, ist relativ in Bezug auf

wobei es keine logische Objektivität gibt.

Das Bezogensein, die Relationalität von Behinderung macht deutlich, dass es sich nicht nur um eine Eigenschaft des Individuums, sondern einen sozialen Sachverhalt dreht. Behinderung ist ebenso vom zweckbestimmten Messsystem wie von den sozialen Erwartungen abhängig und nur in Situationen denkbar. Zum einen wird ein genereller Verzicht auf den Behinderungsbegriff bzw. eine vollständige Dekategorisierung gefordert, zum andern wird dies als Illusion bezeichnet.

Der Kompromiss liegt wohl eher darin, einen ressourcenorientierten Behinderungsbegriff zu verwenden, um „die speziellen, individuellen pädagogischen Lernhilfen zu bestimmen“. Eine aktuelle pädagogisch-positive Ausrichtung wird in der Anlehnung an den anglo-amerikanischen Begriff der special educational needs gesehen. Dieses SEN-Konzept ist absichtlich extensiv und umfassend gehalten und schließt eine große Bandbreite von Behinderungen und Lernschwierigkeiten ein, die auch auf sozio-kulturelle wie auf gesundheitliche Kriterien zurückgehen können. Danach findet ein Wechsel von der institutionellen zur personalen Orientierung statt, die zum Beispiel weder Förderort noch Schulart von vornherein festlegt. Der Besondere Bildungsbedarf wird nicht von einer abstrakten Behinderungskategorie, sondern vom spezifischen Kontext individueller Faktoren und der sozialen Lebenswelt her abgeleitet. Der Fokus liegt nicht auf einem Defekt, sondern auf dem persönlichen Bedürfnis und auf der Interaktion von Person und Umgebung. Kritik an diesem Konzept entzündet sich an der Frage vager und damit unpraktikabler Begrifflichkeiten ebenso wie an der Erweiterung des Personenkreises, was eine Abgrenzung der Heilpädagogik etwa von der Sozialpädagogik erschwere (vgl. Bürli 2005, 79 ff; Bleidick 2000, 129; Cloerkes 2001, 8; Speck 1997, 264).

Viele Modifikationen im Sprachgebrauch der Heilpädagogik sind der Political Correctness