Peter Scholl-Latour

Der Fluch des neuen Jahrtausends


Eine Bilanz

Copyright

Redaktion: Cornelia Laqua

PeP eBooks erscheinen in der Verlagsgruppe Random House

Copyright © 2002
by C. Bertelsmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Dieter Bauer

ISBN 3-89480-747-4

www.pep-ebooks.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Erfahrungen im Krieg
Bosnien: Die Schaffung von »Absurdistan«
Kosovo: Die Nato in der Balkan-Falle
Ein neuer Tyrann für Zaire
Iranischer Frühling
Massenmörder
Keine Hoffnung im Orient
Gespensterwahl
Waffenstillstand, aber kein Friede
Signale aus dem »Reich des Bösen«
Die Türkei in der EU
Operation »Wüstensturm«
Schwerkranker Zar
Die Zukunft Indonesiens
Amerika und China
Schamlose Heuchelei
Erschütterte amerikanische Allmacht
Die Gier nach Erdöl
Droht nach einem Hauch von Frühling eine neue Eiszeit im Iran?
Amerika bläst zum Halali
Wer spricht offen mit den Türken?
Im Land der Skipetaren
Intrigen am Hof des kranken Königs
Scharnier zwischen Israel und Irak
»Heilige Kuh« Indien
Eindrücke aus Kurdistan
Was wollte Khatami wirklich vom Papst?
Wie sieht Europa am Tag danach aus?
Der Kosovo-Krieg kann zum Flächenbrand werden
Was bleibt von der Nato nach dem Krieg?
Ein moderner Indianerkrieg
Die Russen sind wieder im Spiel
Jelzin kämpft wie Boris Godunow
Das türkische Volk will den Tod Öcalans
Mit List und Härte für mehr Frieden
Hat die Nato den Kriegwirklich gewonnen?
Werden aus Befreiern bald Besatzer?
Irans Regime läßt sich nicht so leicht aus den Angeln heben
Charismatischer Despot und politischer Jongleur
Der chinesische Drache zeigt Taiwan seine Krallen
Ehud Barak, der Wunderknabe
Reise durch das Kosovo (I)
Reise durch das Kosovo (II)
Wird Dagestan zum neuen Afghanistan?
Der dreckige Diamanten-Krieg
Gaddhafis Show im Wüstensand
Unabhängigkeit Ost-Timors wird legitimiert
Zerbricht Indonesien nach der Abspaltung Ost-Timors?
Was im Kaukasus für Jelzin auf dem Spiel steht
Pakistan jubelt, die Welt bangt
Kann ein Blinder Indonesien führen?
Ist die Türkei nicht reif für einen Panzer?
Der Kreml zeigt dem Westen, wie mächtig Rußland noch ist
Pekings Drohung aus dem All
Malaysias zäher Patriarch
Israel und Syrien wollen sich die Hand reichen
Feindbild Islam
Schafft Assad Frieden mit Israel?
Putin wie einst Peter der Große
Reise nach Absurdistan
Alte Blutfehden
Der neue Streit mit Taiwan ist keine Peking-Oper
Israels »Vietnam«
Die Stunde der Partisanen
Die USA nähern sich dem Iran an
Am Pulverfaß Kosovo glimmt die Lunte
Globalisierung – ohne Afrika
Rückblick: Die letzten Tage von Saigon
Piratenstück und Heiliger Krieg
Die Tragödie des Schwarzen Kontinents
Strohfeuer oder neue Intifada?
Wofür werden deutsche Soldaten in Zukunft gebraucht?
In Simbabwe haben Europäer keine Zukunft
Stets Neues aus Afrika
Koreas feindliche Brüder suchen den Weg zum Frieden
Clintons »Maginot-Linie«
Die diplomatische »Leichtigkeit des Seins«
Worum es beim Gipfel in Camp David wirklich geht
Wladimir Putins Parallelen zu Peter dem Großen
Der verlorene Sieg
Putin kann die Fessel Tschetschenien nicht abstreifen
Merkwürdige Zufälle in Putins Rußland
Putin lebt im kalten Krieg
Ein Rücktritt aus Furcht vor dem Zerfall Frankreichs
Eine Riesen-Zirkusnummer namens Millenniums-Gipfel
Die totale Abhängigkeit des Homo sapiens
Arafat in Nahost isoliert
»Jerusalem will ich zum Laststein machen für alle Völker«
Der Königsmacher von Belgrad
An der Grenze zum Heiligen Krieg
Eine amerikanische Posse
Hoher Blutzoll am Horn von Afrika
Clintons Nahost-Plan hat kaum Chancen
Das Ende der Ära Clinton
Kongos Ausverkauf nach Kabilas Tod
Mit Sharon ist nicht gut Kirschen essen
Die Gefahren für die deutsche Kosovo-Truppe
Der Schwarze Kontinent brennt
Bushs weltpolitischer Lernprozeß
Ratlosigkeit im Heiligen Land
In Mazedonien haben Nato und EU versagt
Aids in Afrika: Massensterben ohne Grenzen
Der Zweifel des Westens an sich selbst
Über Krieg und Frieden richten in Mazedonien UCK-Kämpfer
»Ein einziger Krieger zu Fuß...«
Ungewisser »Kreuzzug«gegen das »Böse«
Mit der »Nordallianz«über die Taliban siegen
Frankreichs diskreter Beitrag zum Kampf
Die Rache der Hydra
Die Demokratie schlägt in Afghanistan keine Wurzeln
Nach Afghanistan nimmt Bush den Irak und Somalia ins Visier
»Ein krasser Niedergang«. Ein epd-Interview mit Peter Scholl-Latour
Über das Buch
Über den Autor
Copyright

Vorwort

»Wir haben das dritte Jahrtausend durch ein Feuertor betreten«; der Satz stammt von Kofi Annan, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen anläßlich der Verleihung des Friedens-Nobelpreises. Es hätte dieses Bezugs auf die New Yorker Tragödie vom 11. September gar nicht bedurft, um die psychische Wandlung anzudeuten, die sich unserer Gesellschaft zu bemächtigen scheint. Vergänglichkeit der meisten politischen Projekte und so vieler wirtschaftlicher Heilserwartungen – das ist der Eindruck, der sich dem Autor aufdrängt, wenn er auf die Sammlung seiner Tagesnotizen seit 1997 zurückblickt. Welche Hoffnungen sind doch zerbrochen, seit die Menschheit sich festlich gestimmt versammelte, um den Beginn des neuen Jahrtausends zu begehen! Es läßt sich sogar der Vergleich anstellen zwischen der prallen Zuversicht des 1. Januar 2000 und der Euphorie des 1. Januar 1900. »Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen«, hatte es vor hundert Jahren im Wilhelminischen Reich geheißen. An das bevorstehende Massensterben in den Schützengräben von Flandern oder vor Verdun hätte damals niemand gedacht.

Lassen wir uns vielleicht durch die Aktualität in die Irre führen? Wie oft ist beteuert worden, die Vernichtung des World Trade Center stelle einen historischen Wendepunkt dar. In Wirklichkeit ist dort lediglich der westlichen, vor allem der amerikanischen Öffentlichkeit auf spektakuläre Weise vor Augen geführt worden, daß dem Wunschdenken Grenzen gesetzt sind, daß die Welt nicht gut und die Menschheit nicht lieb ist. Ob die Zahl der Opfer fünftausend oder dreitausend beträgt, soll gar nicht diskutiert werden. Das Ereignis war grauenhaft genug. Aber das Massenmorden hat ja viel früher begonnen. In den vergangenen Jahren sind in Zentral-Afrika mindestens zwei Millionen Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben. Doch niemand hat diesen Völkermord zur Kenntnis genommen. In dieser Hinsicht hat sich die Botschaft der Globalisierung mitsamt ihrer aufklärerischen Behauptung, alle Menschen seien gleich, als faustdicke Lüge erwiesen. Es ist eben nicht das Gleiche – auch für jeden einzelnen von uns –, ob die Opfer eines Massakers US-Amerikaner oder Kongolesen sind.

Die wütende Entrüstung des Präsidenten George W. Bush und seine Forderungen nach Vergeltung sind nur allzu verständlich. Aber man erzähle uns nicht, der weltweite Terrorismus habe erst mit den arabischen Selbstmord-Attentätern von New York und Washington seine Fratze enthüllt. Der Terrorismus existiert seit Kain und Abel und hat seitdem nicht aufgehört, in dieser oder jener Form – religiös, ideologisch, nationalistisch oder ganz einfach verbrecherisch motiviert – seine blutige Beute anzufordern. Der Blick richtet sich dabei auf Nord-Irland, das Basken-Land, Algerien, Schwarz-Afrika, Kaschmir, die Philippinen etc., etc. und heftet sich schließlich auf das »Heilige Land«. Selbst die USA wurden ja vor ein paar Jahren durch die mörderische Explosion von Oklahoma erschüttert. Nur war dieser Terrorismus – wie auch die Ermordnung diverser Präsidenten –»home made«, wie man auf Neu-Deutsch zu sagen pflegt.

In diesem Buch handelt es sich um ein Kaleidoskop von Kommentaren, Fernseh-Dokumentations-Texten, Reportagen und Interviews. Sie sind in chronologischer Reihenfolge und ohne jede nachträgliche Berichtigung abgedruckt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist die hedonistische Grundstimmung, in der sich die westliche Industriegesellschaft sonnte, düsteren Vorahnungen eines langsamen, aber unaufhaltsamen Verfalls gewichen. Unter dem Schlagwort »Globalisierung« triumphierte bisland die Überzeugung, dass die Prädominanz von Wirtschaft und High-Technology den Primat der Politik abgelöst habe. Das Denken in strategischen Kategorien – so hörte man – sei vollends zum Anachronismus geworden. Waren wir nicht am »Ende der Geschichte« angelangt, wie Francis Fukuyama seinen Jüngern verkündete?

Es ist ja gar nicht so lange her, da wurde die Profit-Explosion der »new economy« als Verheißung unermesslichen Wohlstandes gefeiert. Die überlieferten Normen des ständigen Pendelns zwischen Aufstieg und Abstieg schienen außer Kraft, der Kurve der Börsengewinne keine Grenze nach oben gesetzt. Die Finanz-Spekulation wurde zum Lebenselement einer ganzen Generation. Der Begriff des »share holders« drohte die staatsbürgerliche Idee des »Citoyen« zu verdrängen, auf die wir uns seit der Französischen Revolution so viel eingebildet hatten. Allen Ernstes wurde in Deutschland die Vorstellung erwogen, man könne den Rentnern und Pensionären von morgen, deren Bezüge durch die schrumpfende Demographie nicht mehr zu decken wären, über die Not des Alters hinweghelfen, indem man sie rechtzeitig zum Kauf von Aktien anhielt. An ein Schrumpfen der Dividende wollte doch niemand mehr glauben. Das Wort Rezession war aus dem ökonomischen Vokabular verbannt.

»Regieren macht Spaß«, hatte es beim Amtsantritt der Koalition Schröder–Fischer geheißen, und somit erhielt die »Spaßgesellschaft« ihre regierungsamtliche Konsekration. Jedermann sprach von jener Globalisierung, die ja auf dem Feld der rasanten Kommunikations- und Informationstechnik tatsächlich alle Erwartungen übertraf. Wer nahm zur Kenntnis, daß im »Herzen der Finsternis«, in den verwüsteten Städten Afrikas, zwar gewaltiger Werbe-Aufwand für Mobil-Telefon, E-Mail und Internet betrieben wurde, daß sich jedoch zwanzig Kilometer davon entfernt im Dschungel der Rückfall in die Steinzeit und ihre düsteren Zauber-Riten vollzog. Nie wirkte Europa provinzieller als in dieser euphorischen Zwischenphase des Tanzes um das Goldene Kalb. Der kommerzialisierte Exhibitionismus der »Love Parade« zum Beispiel sollte Fröhlichkeit vortäuschen, und wer ahnte schon am Rande des Berliner Tiergartens, daß die permissive Überflussgesellschaft, die dort zelebriert wurde, sich auf einer schrumpfenden Insel materiell Begünstigter austobte, daß die weitaus größte Fläche des Globus weiterhin von Elend und Gewalt beherrscht blieb.

Schon die Balkan-Konflikte passten nicht mehr in dieses Bild krampfhafter Harmlosigkeit. Vor allem die Deutschen wurden im Kosovo daran erinnert, dass man nicht »in Unschuld regieren kann«, wie die Franzosen sagen, dass man der Tragik der »conditio humana« nicht entrinnt. Gleichzeitig gab sich die neue Plutokratie in den Ländern der sogenannten »Dritten Welt«– stimuliert durch die Profitneurose der großen multinationalen Konzerne – als »RaubtierKapitalismus«, zu erkennen, wie Helmut Schmidt feststellte. Die Amüsier-Industrie, die durch die Omnipräsenz des Fernsehens einen so ungeheuerlichen Auftrieb erhielt, gefiel sich immer mehr in »Hanswurstiaden«. Wer es nicht verstand, »happy and beautiful« zu erscheinen, war auf der falschen Seite gelandet, galt als »Loser«. Nur noch finstere Kulturpessimisten mochten an Nietzsche und sein Zarathustra-Wort erinnern: »Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln.« Selbst die Jugend Israels stand ja im Begriff, das mythische Staatskonzept der zionistischen Gründerväter in eine Art befestigten Club Méditerrannée umzufunktionieren. Erst durch die Selbstmordattentäter der El-Aqsa-Intifada wurden sie sich wieder bewußt, daß der Judenstaat dazu verurteilt ist, wie Daniel in der Löwengrube zu leben.

Wird die Verwüstung von »Ground Zero« sich dauerhaft in das kollektive Gedächtnis eingraben? Mit dem Abstand von wenigen Monaten können wir folgende grundlegende Veränderungen festhalten, die durch den Schock des World Trade Center bewirkt wurden. Amerika legt in der Abwehr des Terrorismus eine grimmige, quasi religiöse Form der patriotischen Entschlossenheit an den Tag. Die USA scheinen gewillt, ihre Rolle als imperiale Hegemonie voll auszuspielen. Das frühere Prinzip amerikanischer Kriegführung unter Bill Clinton: »no dead – keine eigenen Toten« gilt heute nicht mehr. Präsident George W. Bush fühlt sich offenbar in der Rolle des Welt-Sheriffs und hat einen gnadenlosen Kampf gegen das »Böse« angesagt, der sich eventuell über Jahre und weite Regionen des Erdballs erstrecken soll. Nach der Katastrophe von New York sei sein Land – in einer Reaktion der Selbsterhaltung –»less innocent – weniger unschuldig« geworden, verkündete er.

Alle Spekulationen, die verschwörerischen Kräfte des militanten Islamismus zwischen Nord-Afrika und Indonesien könnten der geballten Macht der US-Streitkräfte die Stirn bieten, haben sich zunächst als Anmaßung und Illusion erwiesen. Es gibt keine islamische Großmacht, sondern nur Gruppierungen religiöser Extremisten, die zwar zum Äußersten, zur Selbstaufopferung bereit sind, aber in offener Feldschlacht keine Chance haben, wie das Beispiel Afghanistan lehrt. In Washington weiß man, daß diese Konfrontation längst nicht gewonnen ist. Auch die Vernichtung Osama bin Ladens und seiner Organisation El Qaida böte keine Gewähr dafür, daß aus der Masse von 1,3 Milliarden Muslimen nicht immer neue Scharen von Gewalttätern und »Märtyrern« hervorgehen werden. Schon kommt Furcht auf, künftige Anschläge gegen die verhaßten Industrie-Nationen des Westens könnten auf Massenvernichtungswaffen zurückgreifen.

Am Rande des schicksalhaften Konfliktes zwischen dem globalen Zivilisationsanspruch Amerikas und dem konspirativen Aufbäumen einer unberechenbaren islamischen Revolution kündigen sich seit dem 11. September schicksalhafte Kräfteverschiebungen an. Bei aller Rivalität zwischen Moskau und Washington in Zentral-Asien zeichnet sich dennoch das Zusammenrücken dieser ehemaligen Gegner des Kalten Krieges ab, ja eine überraschende Interessengemeinschaft gegenüber dem subversiven Islamismus. In der Volksrepublik China ist unterdessen alles im Fluß. Peking könnte sich am Ende als wahrer Nutznießer eines unabsehbaren militärischen Engagements, einer Kräfteverzettelung der USA im Kampf gegen den Halbmond herausstellen. Schon entdecken die beiden »weißen« Mächte – Russland und Amerika – eine heimliche Solidarität angesichts der neuen »gelben Gefahr«, angesichts des unaufhaltsamen Aufschwungs im Reich der Mitte. Was nun die Europäer betrifft, so bieten ihre kleinlichen Rivalitäten, ihre widersprüchlichen Solidaritätsbeteuerungen gegenüber Washington ein klägliches Bild der Schwäche und Abhängigkeit. Die NATO ist ihrer ursprünglichen Sinngebung beraubt und sucht verzweifelt nach neuen Perspektiven. Auf die Europäische Union wirft der 11. September 2001 düstere Schatten der Dekadenz. Die Europäer, so scheint es, begnügen sich bereits mit der Rolle der »Graeculi« der Antike in ihrer Beziehung zum transatlantischen Rom unserer Tage.

Paris, im Dezember 2001

Peter Scholl-Latour

Erfahrungen im Krieg

27. Juni 1999

Der französische Indochina-Krieg, der bei den Linksparteien im Mutterland als »sale guerre«– als schmutziger Krieg – verschrien war, steckte für das Häuflein Korrespondenten, die damals von Hanoi ausschwärmten, voller Tücken. Aber irgendwie nahmen wir diese Gefahren nicht so recht wahr. Viele französische Reporter hatten vorher selbst in der Fernost-Armee gedient und setzten sich den gleichen Risiken aus wie die kämpfende Truppe. Man fuhr im Jeep über unsägliche Schlammpisten in die Gefechtszone bei Vinh Yen und schob sich zum Schutz gegen Minenexplosionen einen Sandsack unter den Hintern. Im Fall von Verwundungen im Dschungel stand damals kein einziger Hubschrauber zum Abtransport zur Verfügung. Ich war nicht einmal in irgendeiner Form versichert.

Ab 1951 kamen auch amerikanische Kollegen hinzu, und wir wußten ohnehin, daß der Krieg, der sich noch bis 1954 hinschleppen sollte, verloren war. Die Volksbefreiungs-Armee Mao Tse-tungs hatte nämlich die Nordgrenze von Französisch-Indochina erreicht. Mir war es damals vergönnt, den äußersten verbliebenen Außenposten unter der Trikolore am Rande von Yünan an Bord einer Ju 52 zu erreichen und von dort aus in Begleitung eines französischen Oberst und eines Trupps Thai-Partisanen nach Norden zu reiten. »Wenn Sie wollen, können Sie ein Stück nach China vordringen«, hatte der Colonel gesagt; »dort drüben gibt es noch ein paar Kuomintang-Partisanen, die wir unterstützen.« In Wirklichkeit waren sie mehr Banditen als Freiheitskämpfer, und ich war froh, als ich mit meinem Thai-Dolmetscher im Galopp wieder den Grenzfluß Nam Kum erreichte. Das war das einzige journalistische Unternehmen, bei dem ich eine Waffe getragen habe.

Die Nacht des französischen Waffenstillstandes habe ich im Reisfeld etwa 100 Kilometer südlich von Hanoi verbracht. Die Soldaten des dortigen Regiments der Kolonial-Infanterie hatten zu meinem Schutz eine rechteckige Grube ausgehoben, wo ich auf einem Feldbett wie in einem Grab schlief, soweit das die Artillerie des Vietminh erlaubte. Die Partisanen Ho Tschi Minhs schossen aus allen Richtungen, feierten ihren Sieg in Erwartung der nahen Feuereinstellung. Am nächsten Morgen verabschiedete mich der französische Kommandant mit den Worten: »In Nord-Afrika sehen wir uns demnächst wieder.« Auf der Rückfahrt nach Hanoi passierten wir mehrere brennende Lastwagen, die auf Minen gefahren waren.

Der Algerien-Feldzug der Franzosen war ein wenig rühmliches Kapitel der auslaufenden Kolonial-Epoche. Das Land war weitgehend »pazifiziert«, und man konnte sich über weite Strecken ohne Geleitschutz bewegen. Der Terror beschränkte sich im wesentlichen auf Bombenanschläge in den Städten oder auf blutige Gemetzel in der Kabylei und im Aures-Gebirge, wo die Algerier der Befreiungsfront und die auf französischer Seite kämpfenden »Harki« sich wie beim Schlachten von Hammeln die Gurgeln aufschnitten zum sogenannten »sourire berbère«, zum »Lächeln der Berber«, wie man damals etwas zynisch sagte. Mit zwei Zügen Fallschirmjägern und Fremdenlegionären habe ich im Akfadu-Wald, im Herzen der Kabylei, aus dem Hubschrauber springend, die Vernichtung einer algerischen »Katiba« aus unmittelbarer Nähe miterlebt, und ich entzifferte auf der grünen Uniformjacke des getöteten Unterführers der »Befreiungsfront« jenen Koran-Spruch, der für mich fortan zum Leitmotiv wurde: »Allah ist mit den Standhaften.« Der wirkliche Totentanz für die Europäer von Algier begann erst, als die Generäle gegen de Gaulle putschten und die Terror-Organisation OAS neben dem wahllosen Mord vermutlicher Gegner auch zur Geiselnahme von Journalisten überging.

Dem außer Rand und Band geratenen Kongo der frühen 60er Jahre blieb es vorbehalten, den Romantitel Joseph Conrads, »Das Herz der Finsternis«, mit aktuellem Inhalt auszufüllen. Den Stammeskriegen Afrikas war die multinationale »Ordnungsmacht« der Blauhelme Dag Hammarskjölds in keiner Weise gewachsen. Italienische Piloten der Uno, die für verhaßte belgische Kolonialisten gehalten wurden, fielen in Kindu, der Heimat der »Leopardenmenschen«, dem Kannibalismus zum Opfer. Persönlich habe ich am Ufer des Tanganjika-Sees – bei einem Abstecher zu den »Simbas«, den Löwen, wie sie sich selbst nannten – das größte Entsetzen meiner Karriere empfunden. Ich sah mich plötzlich wie auf der »Zeitmaschine« H. G. Wells' in eine andere Phase der Menschheit, in den Horror der Steinzeit zurückversetzt, und mitsamt dem Kamera-Team waren wir einer Horde von Speerträgern ausgeliefert, die Tierfelle trugen und sich durch den Wassersegen ihrer Zauberer gegen Kugeln gefeit wähnten.

Der amerikanische Vietnam-Feldzug zwischen 1965 und 1975 mit seinem enormen Material-Aufwand hatte mit dem französischen Indochina-Krieg sehr wenig gemeinsam. Die akkreditierten Journalisten genossen während dieser Kampagne alle nur denkbaren Privilegien. Es genügte, einen Flecken auf der Landkarte anzugeben – auch wenn es sich um den bedrängtesten Stützpunkt der U.S. Army handelte –, und man wurde per Hubschrauber dorthin transportiert. Bedenklich waren vor allem die Explosiv-Fallen und die »Booby-Traps« des Vietcong. Zahlreiche Verluste entstanden auch durch sogenanntes »friendly fire«. Zu Füßen der Höhe 875, die später in einem Film als »Hamburger Hill« glorifiziert wurde, war ich im laotischen Grenzgebiet bei Dak-To Augenzeuge, wie die Bomben der U.S. Air Force in den eigenen Stellungen einschlugen und schwere Verluste verursachten. Zur Entschuldigung der Piloten muß gesagt werden, daß die Nord-Vietnamesen ihre Sappen und Tunnel so nahe an die Amerikaner herangetrieben hatten, daß eine Unterscheidung kaum noch möglich war. In Erinnerung bleibt mir auch die kuriose Praxis des »Body-Counts«, der »Leichen-Zählung« beim Presse-Briefing in Saigon. Jeden Tag wurden horrende Zahlen von getöteten Vietcong gemeldet, denen zufolge längst kein Partisane Ho Tschi Minhs mehr hätte leben dürfen. Wie diese Ziffern zustande kamen, habe ich bei einer Patrouille in Zentral-Annam entdecken können. Ich hatte mich einer Kompanie der First Cav, einer Traditions-Division der Indianer-Kriege, angeschlossen. Von Zeit zu Zeit ließ der Captain Granatwerferfeuer auf die umliegenden Dschungelhöhen eröffnen und meldete per Sprechfunk jedesmal eine willkürliche Zahl getöteter Vietcong. Die Angaben waren frei erfunden, aber der Offizier hielt eine plausible Erwiderung parat. »Wenn ich keine Erfolge melde, stehe ich gegenüber den anderen Einheiten, die ähnlich wie ich operieren, ja dann steht die First Cav gegenüber der Nachbar-Division, die vor keiner Übertreibung zurückschreckt, ziemlich dumm da, und wir werden von unseren Vorgesetzten gerügt.« Meine Gefangennahme durch den Vietcong, die 1973 nur 60 Kilometer nördlich von Saigon erfolgte, hat mich in meiner Erfahrung bestätigt, daß die Vietnamesen sehr disziplinierte und ideologisch motivierte Gegner waren, durchaus keine Wilden. Wäre ich den »Roten Khmer« in Kambodscha hingegen in die Hände gefallen, wäre ich auf der Stelle gefoltert und zu Tode geprügelt worden.

Der erste Golfkrieg, der zwischen Iran und Irak, zwischen dem Ayatollah Khomeini und dem Diktator Saddam Hussein acht Jahre lang andauerte und der etwa eine Million Tote gefordert hat, war viel dramatischer als die nachfolgende amerikanische Operation »Wüstensturm«, von der die Presse weitgehend ausgeschlossen blieb und die beim TV-Publikum als Computerspiel ankam. Meine persönliche Beziehung zu Khomeini öffnete mir hier viele Wege, und das Ufer des Schatt-el-Arab nach der Zurückeroberung des Hafen Khorramshahr durch die iranischen Revolutionswächter und das Halbwüchsigen-Aufgebot der »Bassidji«– mit Hunderten von in der Sonne verwesenden Leichen toter Iraker – bot ein Bild des Grauens. In jener Stunde wäre ein siegreicher Vorstoß der Iraner auf Basra möglich gewesen. Der scheiterte am Einspruch der Mullahs. Der grausigsten Gefahr, die den Kriegsschauplatz in den Sümpfen Mesopotamiens heimsuchte, dem systematischen Gas-Krieg gegen die todesmutigen, aber völlig ungeschützten Angriffswellen der Iraner, bin ich durch ein glückliches Geschick nicht ausgesetzt gewesen. Der völkerrechtswidrige Einsatz hochentwickelter toxischer Stoffe durch Saddam Hussein, das sollte dennoch festgehalten werden, ist von der westlichen Berichterstattung verschwiegen worden. Er war ja durch die USA, durch die Sowjetunion und mehrere europäische Staaten unter flagranter Verletzung aller Menschenrechtskonventionen abgesegnet und beliefert worden.

Der endlose Bürgerkrieg im Libanon ist mir als Vabanque-Spiel, als eine Art russisches Roulette in Erinnerung. Wenn wir als Reporter die feindlichen Linien am Museum von Beirut und an der Karantina passierten, dann hieß es, an den offenen Schneisen Vollgas zu geben, um den Scharfschützen beider Seiten zu entgehen. Im April 1986 fand meine Ankunft in Beirut in Begleitung eines Geo-Fotografen per purem Zufall präzis an einem Tag statt, als die U.S. Air Force versuchte, den libyschen Staatschef Gaddhafi mit ihren Bomben auszulöschen. Mit meinen Kollegen verbrachten wir als einzige Gäste eine beklemmende Nacht im Hotel »Commodore«, nachdem wir erfahren hatten, daß der britische Journalist MacCarthy bei seinem verzweifelten Fluchtversuch in Richtung Flugplatz als Geisel verhaftet wurde. Er sollte mehrere Jahre in qualvollen Kellerverliesen verbringen. Am nächsten Morgen erreichten wir auf Schleichwegen das sichere Drusen-Gebirge, wo unsere Gastgeber uns mit konsternierten Mienen die Leichen von drei eben ermordeten angelsächsischen Geiseln vorführten, die sie am Straßenrand entdeckt hatten. Im Hotel »Summerland«, von schwerbewaffneten Drusen geschützt, fühlten wir uns in Sicherheit und konnten nicht ahnen, daß genau an dieser Stelle wenige Wochen später zwei deutsche Ingenieure von Siemens von Terroristen verschleppt würden, die sich dem Hotel über das Meer genähert hatten. Ich bezweifle, ob mir bei einer Entführung durch die schiitische Hisbollah mein Vorzeige-Foto mit dem Ayatollah Khomeini viel genutzt hätte.

Hingegen kam mir bei meinem Ausflug ins afghanische Kampfgebiet der Umstand zugute, daß ich in angemessener Situation eine Reihe von Koran-Versen zitieren konnte. Bei den Mudschahedin der »Hezb-e-Islami«, die den Ruf von Fanatikern genossen, fühlte ich mich in voller Sicherheit, und mein mongolischer Leibwächter schützte mich, als ruhe der Segen des Propheten auf mir. Unsere gemeinsame Furcht galt den sowjetischen Kampfhubschraubern vom Typ MI-24, denen die Afghanen damals noch wehrlos ausgeliefert waren. Erst die Lieferung von Boden-Luft-Raketen vom Modell Stinger sollte den Mudschahedin Entlastung verschaffen und am Ende den Abzug der Sowjet-Armee erzwingen. Ich habe bei dieser Expedition nie gezögert, in den ständig wiederholten Kampfruf »Allahu akbar« einzustimmen, denn warum sollte ich nicht die Größe Gottes preisen?

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aber kommen wir zum Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, der mir – weil er sich auf altem europäischen Kulturboden abspielt – besonders skandalös und abscheulich erscheint. Ich habe dort sämtliche Bürgerkriegsparteien in ziemlich schlimmer Erinnerung: die »Tschetniks« des serbischen Verbrechers Arkan, die am Wochenende von Belgrad heranreisten, sich mit Slibowitz vollaufen ließen und von den Höhen südlich Sarajevos wahllos Passanten abknallten, wie auch jene kroatischen Milizionäre, die beim Passieren ihrer Kontrollposten in der Herzegowina unser mit »D« gekennzeichnetes Auto mit »Heil Hitler« begrüßten. Den muslimischen Partisanen, die im zerschossenen »Holiday Inn« in Begleitung von leichten Mädchen und riesigen Doggen ihre Gelage feierten, bevor sie mit unglaublicher Kühnheit ihre fast unhaltbaren Stellungen gegen die Serben bezogen, hätte man ebensowenig im Bösen begegnen mögen. Den Sadismus, die bestialische Grausamkeit, die sich auf dem Balkan auch heute noch austoben, habe ich weder am Libanon noch in Tschetschenien registriert. Sie bleiben eine Schande für unseren angeblich zivilisierten Kontinent.

Den Kosovo habe ich zur Zeit der serbischen Besetzung – zwischen Pec und Pristina, zwischen Prizren und Novipazar – gründlich inspiziert. Ich werde demnächst in diese Gegend zurückkehren – nicht um den Helden oder den Abenteurer zu spielen, was meinem Alter auch gar nicht mehr anstände, sondern weil mich eine lange Erfahrung gelehrt hat, daß die eigene Anschauung vor Ort durch nichts zu ersetzen ist. Bei ihrem Balkan-Engagement sollten sich die deutschen Politiker, denen die Fürsorgepflicht für die Bundeswehr-Soldaten am Amselfeld obliegt, folgendes einprägen: Das vielgerühmte G-8-Abkommen, das die fiktive Erhaltung einer jugoslawischen Föderation vorsah, ist heute nur noch ein Papierfetzen, und die Entwaffnung bzw. die »Demilitarisierung« der ominösen UCK – eine unerträgliche Wortklauberei – ist bestenfalls punktuell zu erreichen. Die Nato-Truppe droht dort in einen heimtückischen Partisanenkrieg mit wechselnden Fronten und Gegnern verstrickt zu werden. Die Guerilla und deren Bekämpfung gehen stets mit besonderer Brutalität einher. Die französischen Paras, die während der Schlacht von Algier den Bombenlegern der Algerischen Befreiungsfront nachstellten, sind bei den Verhören von Verdächtigen auch vor Folterungen nicht zurückgeschreckt, genausowenig wie die Amerikaner bei der Operation »Phoenix« in Vietnam. Nachträglich hat General Massu, ein durchaus ehrenwerter Offizier, der diese Aktion befehligte, seine bittere Erfahrung in drastischer Form resümiert: »In Algier sind wir hineingeschlittert in Blut und in Scheiße – dans le sang et dans la merde.«

Bosnien: Die Schaffung von »Absurdistan«

ZDF-Film am 24. Mai 2000

Trügerischer Triumph. Berlin, 9. November 1999. Am Brandenburger Tor wurde der zehnte Jahrestag des Falls der Mauer gefeiert und weit mehr. Hier wurde das Signal zum Ende des kalten Krieges gegeben und zur Beseitigung der Teilung Europas. Drei Männer ließen sich hier zujubeln, aber auf jedem von ihnen lastete bereits die Tragödie des Niedergangs. Da stand Michail Gorbatschow, Liebling der Deutschen, denen er die nationale Einheit ermöglicht hatte. Aber in seiner eigenen Heimat ist Gorbatschow als Zerstörer des sowjetischen Imperiums und als gescheiterter Reformer verpönt, ja verhaßt. Während die Deutschen »Gorbi, Gorbi« riefen, brachen die ersten Kämpfe im Kaukasus aus. Wladimir Putin, damals noch Regierungschef, holte zum Gegenschlag aus. Er trat in Tschetschenien in die Fußstapfen der Zaren und der Sowjetmacht.

Als Ehrengast kam dem ehemaligen US-Präsidenten George Bush besondere Huldigung zu. Im Gegensatz zu den europäischen Verbündeten hatte Amerika die deutsche Wiedervereinigung rückhaltlos unterstützt. Bush hatte seine große Stunde im Golfkrieg genossen. Aber es war ein Pyrrhussieg geblieben. Der verhaßte Todfeind Saddam Hussein behauptet sich stärker denn je als neuer Herrscher von Babylon. Die Luftwaffe der Amerikaner und Engländer setzt dort einen unsinnigen Krieg an Euphrat und Tigris fort.

Die zentrale Figur dieses Abends war natürlich Helmut Kohl. Zwar war er ein Jahr zuvor abgewählt worden, aber zum Zeitpunkt der Mauerfeier lastete seine massive Figur noch wie der steinerne Gast auf der verunsicherten Regierungsmannschaft um Schröder und Fischer. Niemand ahnte an jenem Tag, daß dieser neue »eiserne Kanzler« demnächst im Strudel einer obskuren Spendenaffäre unwiederbringlichen Schaden nehmen würde. Am 9. November 1999 blickte Kohl wohl fasziniert auf die erste kriegerische Entfaltung der Bundeswehr am Balkan. Daß dieser Kampfeinsatz ausgerechnet von einer rot-grünen Koalition früherer Pazifisten durchgeführt wurde, mochte ihm als nachträgliche Bestätigung erscheinen.

Beim Triumphfest des Mauerfalls war für Europa Frieden und Freundschaft angesagt. Doch über dem Amselfeld, im deutschen Sektor von Prizren, loderten bereits die Flammen neuer Konflikte und kontinentaler Feindschaften hoch.

In der Geschichte des Balkans und auch heute noch besitzen die Brücken eine hohe symbolische Bedeutung. Wer hat nicht von der Brücke über die Drina gehört, die der Nobelpreisträger Ivo Andric besungen hat? Sie wurde in Bosnien als Symbol ethnischer und konfessioneller Versöhnung dargestellt. Aber die Drina wirkte stets wie eine düstere, gefährliche Trennungslinie. In ferner Vorzeit, vor 1500 Jahren, hatte sich hier die Spaltung des römischen Reiches in Ost und West vollzogen. Diese imperiale Aufteilung dauert bis in die Gegenwart an, verewigt sich im Gegensatz zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche. Die Ortschaft Visegrad ist im Bosnien-Krieg ethnisch gesäubert worden. Nur noch Serben leben hier. Die Muslime wurden vertrieben, ihre Moscheen gesprengt. Angst und Mißtrauen herrschen im Umkreis der Drina.

Blicken wir auf Mostar. Hier, am Fluß Neretva, zerbrach in wütenden Schlachten die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zwischen den »Muslimani« und den kroatischen Katholiken von Bosnien-Herzegowina. Die Sprengung der herrlichen Bogenbrücke aus der osmanischen Epoche wurde von den Kroaten als nachträglicher Akt der Befreiung vom früheren muslimischen Joch vollzogen. Wie soll in dieser Trümmerlandschaft wieder Normalität einkehren?

Eine dritte Brücke: In Sarajevo wiederum war es das Flüßchen Milijacka, das während der Einkreisung der bosnischen Hauptstadt zur Frontlinie geworden war. Heute sind die serbischen Scharfschützen, die aus den Hochhäusern südlich der Brücke ihre Ziele suchten, mitsamt der dortigen serbischen Bevölkerung vertrieben worden. Die Wunde bleibt offen.

Und dann die Brücke übe die Save, die Kroatisch-Slawonien mit dem Norden Bosniens verbindet. Südlich davon, in der Ortschaft Brcko, in dem engen Korridor zwischen den beiden Gebietsfetzen der »Republika Srpska«, verwirren sich alle Gegensätze der artifiziellen bosnischen Staatskonstruktion zu einem gordischen Knoten.

Kosovo-Krieg 1999: Den Nato-Strategen ist nichts Besseres eingefallen, als in Serbien und vor allem bei Novi Sad die Donaubrücken zu bombardieren. Seitdem ist dieser wichtige Wasserweg Europas für den balkanischen Handel und Güteraustausch gesperrt. Militärischer Nutzen war mit der willkürlichen Zerstörung nicht verbunden.

Im äußersten Norden des Kosovo wiederum ist die Brücke über den Ibar, im Herzen der Stadt Mitrovica, zum Schauplatz rabiater Auseinandersetzungen zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben geworden. Hier klafft eine unversöhnliche Feindschaft, die sich ständig neu anheizt. Noch verhindern die dort stationierten Franzosen der Kfor-Truppe und ihre Verbündeten einen neuen Bürgerkrieg.

Schließlich ein Blick auf den Vardar, den breiten Strom Mazedoniens. Die Brücke über den Vardar teilt die Hauptstadt Skopje in zwei ethnisch und konfessionell unterschiedliche Sektoren. Zwar herrscht hier bislang kein Krieg zwischen den christlichen Südslawen auf dem linken und den muslimischen Albanern auf dem rechten Ufer. Aber wie schnell eine zerbrechliche Koexistenz auf dem Balkan in Blutvergießen und Vertreibung umschlägt, haben die grausamen Präzedenzfälle von Bosnien und Kosovo hinreichend bewiesen. Am Vardar, so behaupten nicht nur Pessimisten, zeichnet sich die nächste Balkankatastrophe ab.

Aus den Schlagzeilen ist Bosnien weitgehend verschwunden. Heute schlägt die Stunde der Globalisierung, man redet von Jolo auf den Philippinen, von Simbabwe, von Sierra Leone – aber Bosnien liegt in unserer Nachbarschaft, ist Teil unseres Schicksals. Ich will zunächst auf ein paar Landkarten verweisen, denn diese Landkarten sind oft wahrhaftiger als die Schönfärberei der Politiker. Da haben wir als erstes das Gebilde des ehemaligen Jugoslawien, und es wird sichtbar, daß es in eine Vielfalt von Ministaaten, von absurden Territorien zerfallen ist, die nur eines gemeinsam haben: Sie sind nicht lebensfähig.

Und etwas sehr viel Bedenklicheres kommt hinzu: Die USA, die Nato, die Europäer haben dort Protektorate geschaffen, Schutzgebiete, fast Kolonien, wie wir sie früher aus der Dritten Welt kannten. Das betrifft insbesondere Bosnien-Herzegowina, die Republik Bosnien. Das betrifft in noch stärkerem Maße das Kosovo, aber das gilt auch für Montenegro, das gilt ebenso für diese chaotische albanische Republik von Tirana und das gilt gleichfalls für die artifizielle Republik Mazedonien, die vielleicht den nächsten Krisenherd darstellen sollte. Aus alledem spricht eine große Ohnmacht der Gestaltung von seiten der Europäer, aber auch im Hinblick auf diese Quasi-Kolonien eine gewaltige Anmaßung.

Aber gehen wir zur nächsten Karte über. Sie stammt aus dem Beginn des Bürgerkrieges, als Milosevic noch glaubte, seinen großserbischen Traum verwirklichen zu können. Er hatte bereits weitgehende Territorien in Bosnien an sich gerissen, sogar das serbische Gebiet auf Kroatien ausgedehnt, auf die sogenannte »Serbische Republik Krajina«. Und mit dieser Krajina hat es eine besondere historische Bedeutung. Vor mehr als 300 Jahren waren zahlreiche Serben, vor allem aus dem Kosovo, unter Führung ihres Patriarchen nach Norden abgewandert, um dem osmanischen Joch zu entgehen. Sie hatten dort, mit Zustimmung der Österreicher, eine Art Militärgrenze, die »Krajina«, gebildet. Sie schützten dort Habsburgerreich, aber auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. 200 Jahre lang haben sie diese Position gehalten, heute sind sie von dort durch den Krieg vertrieben worden. Ihre Standhaftigkeit wurde schlecht gelohnt.

Schließlich zur dritten Karte, der Aufteilung Bosniens, die im Vertrag von Dayton, vor etwa fünf Jahren, vorgenommen wurde, und hier wird die wirkliche Natur von Absurdistan ersichtlich. Denn auf der einen Seite gibt es dort die »Republika Srpska«, die serbische Republik, zwei Fetzen, die voneinander getrennt sind. Sie waren einst vereint durch den schmalen Schlauch von Brcko, fünf Kilometer breit, aber der »High Representative« Petritsch hat dort eine multi-ethnische Zone gebildet. Jetzt hängt der serbische Teil von Banja Luka, militärisch gesehen wenigstens, völlig in der Luft.

Da ist auf der anderen Seite die Föderation von Muslimen und Kroaten, die untereinander noch verfeindet sind. Das sieht aus wie ein Leopardenfell, stellt keine Einheit dar. Und da ist beispielsweise die muslimische Stadt Gorazde – und auf der Karte tut man so, als sei Gorazde mit der Föderation verbunden. In Wirklichkeit existiert hier gar keine Straße, man mußüber serbisches Territorium gehen. Das Ganze wirkt sehr irreal, sehr verworren, unklar, unlogisch. Aber wer zu dieser Ansicht gelangt, hat wahrscheinlich die Realität des heutigen Balkans begriffen.

Für flüchtige Besucher – die europäischen Politiker gehören dazu – mag in Sarajevo friedliche Normalität eingekehrt sein. Längs der früheren Kampflinie am Milijacka-Fluß kann man wieder ohne Gefahr jenes Rathaus besichtigen, in dessen Nähe im Juni 1914 der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand den Kugeln eines serbischen Attentäters erlag. Kein Mahnmal erinnert mehr an diesen Auftakt zum Ersten Weltkrieg. Die weltfremde Vorstellung vom multi-ethnischen Staat ist allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz jedoch in der früheren Vielvölkerstadt Sarajevo zerstoben. Zu 90 Prozent ist die Hauptstadt jetzt von »Muslimani« oder, wie es offiziell und unpräzis heißt, von Bosniaken bewohnt. Zwar sind die Kirchen der beiden christlichen Konfessionen noch im österreichisch geprägten Stadtkern präsent. Doch das Herz Sarajevos, so scheint es, schlägt im Umkreis der Moscheen und des osmanischen Marktes, die längst aufgehört haben, eine folkloristische Attraktion zu sein.

Niemand hat in Sarajevo die Tage des Terrors und der Verzweiflung vergessen, als die Belagerung der Serben sich immer enger zusammenschnürte, als auf die muslimischen Zivilisten wie bei einer Treibjagd geknallt wurde. Die Organisation der Vereinten Nationen, deren weiß gestrichene Panzerspähwagen wie Ambulanzen wirkten, bot höchst unzureichenden Schutz vor der Willkür eines mörderischen Feindes. Die Uno, das muß heute festgehalten werden, hat in der ersten endlosen Phase des Bosnien-Krieges auf erbärmliche Weise versagt.

Der ganze Horror der damaligen Situation kulminierte in dem überwiegend muslimisch besiedelten Städtchen Srebrenica, unweit der Drina. Dort hatte der serbische General Mladic eine isolierte Enklave verhaßter Korangläubiger ein für allemal auslöschen wollen. Frauen und Kinder wurden in Busse verfrachtet und in die Wälder getrieben. Die holländischen Unprofor-Soldaten regten keine Hand, um diese hilflosen Zivilisten zu schützen, und waren am Ende froh, mit dem eigenen Leben davonzukommen. Viele wehrfähige muslimische Männer von Srebrenica wurden in Reichweite der Blauhelme erschossen.

Nur auf den Friedhöfen, beim koranischen Ritual der Totenbestattung, sei der Islam der Bosniaken noch zu erkennen, so meinten die Skeptiker. Für die Ideologen der Aufklärung, die in der Uno, in den Nato-Stäben, in den Kommissionen der EU den Ton angeben, läßt sich diese muslimisch religiös determinierte Nationalität in keine ihrer Schablonen pressen. Zwar füllen sich heute wieder allmählich die Moscheen in den überwiegend von Muslimen bevölkerten Regionen der kroatisch-bosnischen Föderation. Aber den meisten Korangläubigen ist jede präzise Kenntnis der Botschaft des Propheten Mohammed abhanden gekommen.

Die »Muslimani« Bosniens sind entgegen der geläufigen Berichterstattung keine gesonderte Völkerschaft, keine Ethnie, sondern reine Süd-Slawen. Im Mittelalter waren sie als bogumilische Ketzer von den christlichen Kirchen verfolgt worden. Bei Ankunft der erobernden Türken bekehrten sie sich massiv zum Islam. Ihre Marmorgräber mit den kunstvollen Turbanen bekunden, daß sie unter dem Sultan und Kalifen herrschende Positionen bekleideten, daß sie den christlichen Serben oder Kroaten, der sogenannten »Herde des Sultans«, oft als Feudalherren vorstanden.

Im Straßenbild von Sarajevo, von Tuzla, von Zenica, sind wenig verschleierte Frauen zu entdecken. Und dennoch: Wenn der muslimische Präsident Alja Izetbegovic seine anfangs noch bunt gescheckte Truppe besuchte, behauptete sich trotz der weitgehenden Entfremdung gegenüber jeder religiösen Praxis das profunde Identitätsbewußtsein dieser slawischen Muslime. Izetbegovic war als eifernder Muslim von Tito verfolgt worden. Dennoch verdankten seine Glaubensbrüder es dem verstorbenen Marschall, dem Kommunisten und Atheisten Tito, daß ihrer muslimischen Konfessionsgruppe der Status einer gesonderten Nationalität innerhalb der jugoslawischen Föderation eingeräumt wurde. Während des Bürgerkrieges hatten die Serben und Kroaten daraus die grausame Konsequenz gezogen. Um als Mohammedaner identifiziert und eventuell ermordet zu werden, war es nicht notwendig, daß der Betreffende jemals eine Moschee betreten hatte. Sein Name allein wies den Muslim als Erben jener bevorzugten Oberschicht der endlosen osmanischen Herrschaft aus.

Im katholischen, im kroatischen Stadtteil von Mostar, westlich der Neretva, zelebrieren die Franziskaner ein feierliches Hochamt in ihrer Kathedrale, die einer Trutzburg ähnelt. Auch hier vermengen sich Religion und Geschichte. Bis zum Bürgerkrieg sprach man in Bosnien nie von »kroatischen«, sondern stets von »katholischen« Dörfern. Der Franziskaner-Orden blickt am Balkan auf ein altes Privileg zurück. Der türkische Eroberer von Konstantinopel, Mehmet II. Fatih, der auch Bosnien dem Halbmond unterwarf, übertrug dem Franziskaner-Provinzial die Betreuung der katholischen Christen seines Reiches, während für die Orthodoxen, gemäß dem osmanischen Millet-System, der Patriarch von Konstantinopel zuständig war. Der heilige Franz von Assisi, der Prediger der Liebe unter den Menschen, der sogar die Tiere in seinen Lobgesang der Schöpfung einschloß, hatte wohl nicht geahnt, daß seine barfüßigen Jünger eine sehr militante Vorhut der römischen Kirche und des Papstes auf dem Balkan stellen würden. Im Jahr 1993 bewiesen die Kroaten der Herzegowina, unterstützt durch die Republik von Zagreb, daß sie in der Lage waren, den Serben und »Muslimani« standzuhalten und mit ihnen in Greueltaten und Verwüstungen zu wetteifern.

Als Verkörperung allen Übels in der ehemals jugoslawischen Föderation wurde vom westlichen Ausland jedoch der serbische Präsident Slobodan Milosevic wahrgenommen. Er strahlte damals noch Siegesgewißheit aus. Dieser skrupellose Drahtzieher einer unerbittlichen serbischen Machterweiterung wollte auf den Trümmern Bosniens ein großserbisches Reich errichten. Mit den Eliteverbänden der jugoslawischen Armee schien er auch über das Instrument dieser ehrgeizigen Politik zu verfügen. In Bosnien stützte er sich auf den lokalen Serbenführer Radovan Karadzic, der sich als Kriegsverbrecher einen fürchterlichen Namen gemacht hatte. Beklemmend war in diesem Zusammenspiel, daß auch die serbisch-orthodoxe Kirche mit ihrem Patriarchen Pavle an der Spitze die Schachzüge des Präsidenten Milosevic absegnete. Schon seit der osmanischen Zeit bestand für die Serben eine profunde Identität zwischen ihrer prawo-slawischen Kirche und ihrer stets existenzbedrohten Nation.

Im Westen wuchs die Ungeduld über die Unfähigkeit der Uno, dem Morden ein Ende zu setzen. Der Zorn Washingtons richtete sich gegen den ägyptischen UN-Generalsekretär Boutros-Ghali, der sich zwar in kriegerischer Verkleidung zeigte, aber mit seiner bunt zusammengewürfelten Unprofor-Truppe aus allen Teilen der Welt, die über keinen Schießbefehl verfügte, zur Ohnmacht verurteilt war.

Was wiederum Europa und seine politisch zerstrittene Union betraf, so erbrachte es die Demonstration seiner selbstverschuldeten Lähmung. Die Reise des französischen Staatschef François Mitterrand nach Sarajevo im Sommer 1992 und seine theatralische Geste zugunsten der Opfer entbehrte jeder politischen Substanz. Dieser Besuch wurde an Ort und Stelle sogar als Effekthascherei verurteilt. Ungleich tragischer endete der Versuch des französischen Generals Philippe Morillon, der im März 1993 als Oberbefehlshaber der Unprofor mit einer kleinen Eskorte zu der damals noch muslimisch bevölkerten Enklave von Srebrenica durchbrach. Er wurde dort als Retter begrüßt. Seine leichtfertigen Sicherheitszusagen konnte er jedoch nicht einhalten. Am Ende stand die Katastrophe, das Massaker von Srebrenica, nur zwei Jahre später.