BLUTNACHT
DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN –
DAS BUCH ZUR ROCKOPER
Roman
TITEL
ZU DIESEM BUCH
WIDMUNG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
ZUR ROCKOPER
DIE AUTOREN
IMPRESSUM
BLUTNACHT
DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN –
DAS BUCH ZUR ROCKOPER
Roman
Mit Dank an Andy Kuntz, ohne den die Rockoper Blutnacht
niemals entstanden wäre
KAPITEL 1
Der Himmel war zerbrochen. Wolken türmten sich zu schwarzen Gebirgen auf und schleuderten Lawinen aus Dunkelheit auf die Erde. Der Lärm war unbeschreiblich. Zornig wirbelte Staub auf, brannte in Andrejs Augen und hinterließ einen beißenden Geschmack in seiner Kehle. Blitze zuckten und zerschnitten den Tag in stroboskopisch flackernde Scherben. Es war kalt. Jeder Atemzug brannte wie gefrorenes Feuer.
Ein eisiger Windstoß traf Andrej. Er blieb stehen und blinzelte heftig, darum bemüht, dem Toben der entfesselten Naturgewalten so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Trotzdem hatte er das Gefühl, der Sturm würde ihn gierig umschlingen, um ihn zu Boden zu ringen.
So wie er Abu Dun vor vier Tagen zu Boden gerissen hatte, und das ausgerechnet an den Stromschnellen unterhalb der gedrungenen Burg von Čachtice mit ihren düsteren Zinnen und ineinander verschachtelten Mauern. Bei der Erinnerung daran, wie der ehemalige Piratenkapitän zum Jablonka hinabgeschlichen war, um die günstigste Stelle zum Übersetzen über den Fluss zu erkunden, pochte ein dumpfer Schmerz hinter seiner Stirn. Zum wiederholten Male tauchte er in die Szene ein, die nun schon Tage zurücklag. Er glaubte zu spüren, wie seine Stiefel auf dem glitschigen Untergrund des Flussufers ins Rutschen kamen, und er erinnerte sich an seinen Schrecken, als der Nubier von einer heftigen Sturmbö erfasst wurde und von einem Moment auf den anderen hinter einer gezackten Felsformation verschwand, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Andrej lief sofort los, drohte auszurutschen, fing sich wieder und jagte an einem gezackten Vorsprung vorbei, der wie das riesige Gebiss eines vorzeitlichen Ungeheuers aus wild wucherndem Dornengebüsch aufragte. Mit einem letzten gewagten Satz kam er in einer überspülten Ufermulde auf. Wasser gischte auf und nahm ihm die Sicht.
Als er wieder sehen konnte, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der Nubier lag wie ein gefällter Baum im wild wirbelnden, schäumenden Wasser. Sein Gesicht war in den von Wellen gepeitschten Uferschlamm gedrückt, sein Turban verrutscht, und an seinem Hinterkopf klaffte eine üble Wunde. Andrej ließ sich in die Hocke nieder, packte den schwarzen Riesen bei den Schultern und wollte ihn gerade herumdrehen, als er einen fernen Ruf vernahm. Alarmiert blickte er hoch, zur Burg hin, von der aus die Blutgräfin mit harter Hand über das Land regierte.
Er glaubte, eine Gestalt in wehendem Mantel zu sehen, die sich über die Zinnen beugte und zu ihnen hinabblickte, nun aber zurückzuckte, als habe sie seinen suchenden Blick bemerkt und wollte unerkannt bleiben. Vielleicht hatten ihn aber auch seine Sinne genarrt, denn obwohl er sich bemühte, irgendwo menschliche Bewegung auf der schwarzgrauen Burg auszumachen, entdeckte er nichts mehr, was auf einen geheimen Beobachter hinwies. Und als er sich wieder Abu Dun zuwandte, begriff er, dass er den Nubier nicht nur unbedachterweise losgelassen hatte …
… sondern dass Abu Dun in der kurzen Zeitspanne, die er sich hatte ablenken lassen, so spurlos verschwunden war, als hätte ihn ein Seeungeheuer verschluckt …
Andrej ballte die Fäuste und atmete tief aus. Es wurde Zeit, dass er die quälende Erinnerung verscheuchte und sich ganz und gar auf sein Ziel konzentrierte. Er musste das Tal erreichen, in dem er vor unendlichen Zeiten geboren und aufgewachsen war, und seinen Frieden mit den schrecklichen Vorfällen machen, die sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatten.
Aber nicht ohne Abu Dun. Zum wiederholten Male versuchte er sich einzureden, dass er den Nubier nur deshalb nicht an den Stromfällen wiedergefunden hatte, weil er von den tosenden Wassermassen mitgerissen worden war. Doch so ganz glaubte er selbst nicht daran. Zu seiner Überraschung hatte Abu Dun in letzter Zeit begonnen, mit leuchtenden Augen von seinem alten, einfachen Piratenleben zu schwärmen. Was nun, wenn er sich ohne große Worte hatte absetzen wollen, um sich am Schwarzen Meer ein Schiff und eine Mannschaft zu suchen, mit der er sein altes Jagdgebiet unsicher machen konnte?
Der Gedanke war fast schlimmer, als wenn dem Piraten tatsächlich etwas Ernsthaftes passiert wäre. Viel wahrscheinlicher war es, dass Abu Dun irgendwo weit entfernt an Land gekrochen war. Und natürlich hatte er nicht gezögert, das einzig Richtige zu tun und sich auf den Weg nach Borsã zu machen. Wo sonst in diesem verfluchten Land hätten sie sich auch treffen sollen, vor allem, nachdem sie ihre Pferde, ihren Proviant und dann auch noch ihre Reisekasse eingebüßt hatten, ohne auch nur einen Moment ernsthaft an Umkehr zu denken?
Andrej drängte die nagenden Zweifel zurück, die sich irgendwo tief in seiner Seele festgesetzt hatten. Er versuchte, schnell und entschlossen auszuschreiten, doch seine Bewegungen waren unsicher und eckig, und sein Atem ging rasselnd. Lange würde er so nicht mehr durchhalten. Er brauchte dringend eine Unterkunft für die Nacht, etwas Warmes zu essen und ein paar Stunden Schlaf, ohne von heftigen Regengüssen bis auf die Haut durchnässt zu werden.
Es kostete ihn einige Anstrengung, die Betäubung abzuschütteln, die ihn ergriffen hatte. Sein Blick wanderte über die karge, raue Hügellandschaft, die ihn zu ihrem Gefangenen gemacht hatte. Transsylvanien war alles andere als unbewohnt; in diesem düster und abweisend wirkenden Land gab es zahlreiche Dörfer, Ansiedlungen oder einsam gelegene Gehöfte, hinter deren Mauern jemand seiner Art für eine Nacht sein müdes Haupt betten konnte.
Doch nicht hier. Diese trostlose Einöde sah aus, als hätten sich ein paar übel gelaunte Götter so lange ausgetobt, bis sie in Ermangelung weiterer lohnenswerter Objekte die Lust an ihrem Zerstörungswerk verloren hatten. Bäume und Sträucher waren gerupft, umgeknickt, entwurzelt oder auch völlig zerschmettert, abgerissene Äste und Zweige lagen in weitem Umkreis verstreut, und die sicherlich sonst halbwegs passierbaren Wege waren matschigen Kuhlen und Pfützen gewichen, in denen er immer wieder so tief einsackte, dass er sich nur mit Mühe hatte befreien können und einmal sogar fast einen seiner Stiefel eingebüßt hätte. Darüber hinaus wirkte die Gegend völlig ausgestorben und bar jeden Lebens. Selbst Mücken und Fliegen hatte er bislang nicht zu Gesicht bekommen, ganz zu schweigen von Tieren, die er mit seinen bescheidenen Möglichkeiten hätte jagen können, um seinen bislang nur aus wenigen Beeren und Wurzeln bestehenden Speiseplan mit etwas aufzufrischen, in das er seine Zähne hätte schlagen können.
Zitternd wie ein von Nässe und Kälte zermürbter Straßenköter blieb Andrej stehen und drehte sich mehrfach um seine eigene Achse. Er versuchte, jeden Schatten zu durchdringen und jedes Geräusch zu erfassen. Sinnlos. In weiter Entfernung erkannte er Dinge, die nicht hierhin gehörten: Bretter, die vom Sturm aus Wänden herausgeprügelt und von den Urgewalten weit über das Land mit sich gerissen worden waren, zerschmettertes Mobiliar und zerborstene Fenster und sogar Teile eines Daches, das mit einem enthaupteten Hahn verziert war. Doch inmitten all des Chaos um ihn herum entdeckte er nichts, das ihm weiterhalf. Und schon gar keine Spur von einem riesigen Nubier, keinen im schwachen Gegenlicht aufblitzenden Krummsäbel, keine schwarze Gestalt bewusstlos oder tot am Boden.
Er hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem war er enttäuscht. Es lief alles aus dem Ruder, und das nicht erst seit den letzten Tagen. In all der langen Zeit, in den Jahrzehnten und Jahrhunderten, die sich zur Ewigkeit gedehnt hatten und doch wie im Flug vergangen waren, hatten er und Abu Dun sich immer wieder aus den Augen verloren. Doch diesmal war es anders. Ihr Leben hatte in den letzten Jahren keinen guten Verlauf genommen, und sich ausgerechnet in diesem Land zu verlieren, das mit seiner Düsterkeit schon seit jeher die Seelen schwer gemacht hatte, trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
Er ballte ärgerlich die Faust und stolperte in die Richtung der verblassenden, hinter der dunklen Wolkenschicht kaum erkennbaren Sonne weiter, die ihm mit schwachen blutroten Streifen den Weg nach Osten wies. Kalte Windstöße peitschten ihn fast schmerzhaft ins Gesicht, so als wollten sie ihn davon abbringen, seinen Weg fortzusetzen. Er bemerkte es kaum. Seine Erinnerung zwang ihn erneut zu den Stromschnellen des Jablonka zurück, doch diesmal zu dem Tag, nachdem der Strom Abu Dun mit sich fortgerissen hatte.
Nach einer fürchterlichen Nacht ohne jede Spur echten Schlafs war Andrej so weit wie möglich dem verwilderten Lauf des Jablonka gefolgt, um seinen alten Freund zu suchen. Das Wasser toste nicht mehr ganz so wild wie bei ihrer Ankunft. Aber das war nicht unbedingt ein Vorteil. Zu seinem Entsetzen sah Andrej einen menschlichen Arm, der an ihm vorbeiglitt, gefolgt von weiteren Leichteilen. Und schließlich grinste ihn ein übel zugerichteter Kopf an, der sich im Uferdickicht verfangen hatte. Er hatte nur noch ein Ohr, und die Augen waren ihm herausgefressen worden. Obwohl es einst ein gewaltiger Schädel gewesen war, war es doch nicht der Abu Duns, wie er im ersten Schrecken geglaubt hatte.
Durch das nun seichtere, aber mitunter wild aufschäumende Wasser wanden sich ungewöhnlich große Wasserschlangen und machten sich über die Kadaver im Wasser her. Der Jablonka war zu einem Leichenfluss geworden. Mitunter war sein Wasser mehr blutrot als lehmgrau. Andrej befürchtete, dass es an den grausigen Dingen lag, die laut dem Getuschel und Geraune der Leute oben in der Burg der Blutgräfin vorgingen.
Schon als sie bei dem Fluss angekommen waren, war eine nur allzu bekannte düstere Vorahnung in ihm hochgestiegen, die ihn bereits mehr als einmal zuverlässig gewarnt hatte, wenn er sich einer ganz besonderen Art von Gefahr genähert hatte, einer Dunkelheit, die nur er mit seinen scharfen Sinnen spüren konnte. Etwas Fremdes, Grausames hing drohend über der wilden Felsenlandschaft von Čachtice. Aber er hatte das ungute Gefühl ignoriert und versucht sich einzureden, dass sie diesen Ort passieren mussten, wenn sie Frederics Spur tiefer hinein nach Transsylvanien folgen wollten.
Frederic! Ja, natürlich war er ihm wichtig, schließlich war er der Einzige seiner Art, der einzige Überlebende seines Geschlechts und damit der Einzige, der von der Tragödie wusste, die sich vor Jahrhunderten in ihrer Heimat zugetragen hatte. Aber Abu Dun stand ihm um so vieles näher. Die Furcht, ihn vielleicht nie wiederzusehen, saß ihm im Nacken.
Das trieb ihn weiter an, und er stolperte los und fiel nach ein paar Schritten in die gleichförmige, abgehackte Gangart, die auch zu Tode erschöpften Soldaten zu eigen ist, die von ihren Feldherren erbarmungslos in den nächsten Kampf getrieben werden. Die Umgebung vor seinen Augen verschwamm, besaß kaum noch Konturen. Aber so unsicher er mittlerweile auch auf den Beinen war, hielt er doch unbeirrt den Kurs bei, den er einmal eingeschlagen hatte: nach Osten, immer weiter nach Osten, dort, wo sie Frederic zu finden gehofft hatten. Diese Hoffnung war noch immer nicht aus seinem Herzen gewichen, aber es war eine neue hinzugekommen: Abu Dun unterwegs wiederzutreffen, sodass sie den Weg nach Borsã gemeinsam fortsetzen konnten.
Sein Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er zu seiner Rechten einen großen Schatten entdeckte, ziemlich weit entfernt und im Schatten einer Anhöhe verborgen, die einen natürlichen Schutz vor den Wetterkapriolen versprach. Ein Haus? Eine Scheune? Oder vielleicht sogar eine Burg mit hoch aufrechten Zinnen?
Er eilte mit weit ausgreifenden Schritten los und achtete nicht darauf, was sich direkt vor ihm befand. Und so bemerkte er den halb im Matsch verborgenen Gegenstand erst, als er mit dem rechten Fuß dagegenstieß. Er wollte zurückspringen, doch es war zu spät. Vielleicht war er auch nur zu ungeschickt. Sein rechter Fuß verfing sich, und er glaubte schon zu hören, wie die Mechanik einer schweren Bärenfalle zuschnappte, und zu spüren, wie scharfe Eisenzähne in sein Fleisch bissen. Verzweifelt sprang er hoch, versuchte aus seinem unkontrollierten Sturz eine Rolle vorwärts zu machen – etwas, das ihm unter normalen Umständen mit Leichtigkeit gelungen wäre.
Diesmal nicht. Sein Absprung wurde durch etwas behindert, das er unwillentlich hochgerissen hatte. Aus den Augenwinkeln heraus sah er noch, wie es auf ihn zusauste, dann prallte es auch schon mit solcher Gewalt gegen seine Schläfe, dass er endgültig die Kontrolle verlor und stürzte.
Als er auf dem Boden aufschlug, traf ein zweiter Gegenstand seinen Hinterkopf – ein Teil der vermeintlichen Bärenfalle oder ein großkalibriges Geschoss, das jemand auf ihn abgefeuert hatte. Während die Ohnmacht mit fordernden Fingern nach seinem Geist tastete, um ihn mit sich ins Vergessen zu nehmen, fühlte er die Schwäche, die er die ganze Zeit über versucht hatte zu ignorieren. Sein Atem ging keuchend, in seinen Eingeweiden wühlte der Hunger und seine Kehle war so ausgedörrt, dass er nur unter Schmerzen schlucken konnte.
All das waren Kleinigkeiten, die zu erdulden er gewohnt war und die nicht schwerer wogen als ein heißer Sommer, der die Felder verbrannte, ohne ihnen die Kraft zu nehmen, nach dem nächsten Regen wieder blühendes Leben hervorzubringen. Es waren ganz andere Dinge, die ihn zermürbt hatten. Er war schon viel zu lange unterwegs. Jahrzehnt um Jahrzehnt hatte sich zu einer unendlich hohen Mauer aus Zeit und Schmerz aufeinandergesetzt, die ihn von allem trennte, was normale Sterbliche ausmachte. Dabei war er doch nichts anders als sie, hatte die gleichen Bedürfnisse, wollte nichts weiter, als sein Leben zu leben, statt verdammt zu sein, ständig ums Überleben kämpfen zu müssen. Denn Unsterblichkeit war nichts wert, wenn man nicht bereit war, sie immer wieder aufs Neue mit dem Schwert zu verteidigen.
Die Schwärze senkte sich wie ein schweres Tuch über ihn. Er war am Ende. Und vielleicht war das auch gut so. Vielleicht sollte er es dabei belassen und einfach liegen bleiben, bis ihm endgültig die Sinne schwanden.
Aufgeben, hier in Transsylvanien, wo alles angefangen hatte. Ja. Der Kreis wäre geschlossen, und sein Leben vielleicht doch nicht ohne Sinn.
»Was soll das, Hexenmeister?« Andrej hatte fast das Gefühl, als würde eine kräftige Hand nach ihm greifen und ihn nach oben reißen. Abu Dun. Ja, das wäre ganz seine Art.
Aber es war niemand da außer ihm und Abu Duns Stimme, nichts weiter als ein Spuk in seinem Kopf, das Aufblitzen einer Erinnerung an ähnliche Vorkommnisse, die er vielleicht nicht unbeschadet überstanden hätte, wenn der Nubier nicht im richtigen Moment an seiner Seite gewesen wäre.
»Aufgeben gilt nicht«, hätte Abu Dun wohl noch hinzugefügt. »Also reiß dich zusammen. Und lass nicht zu, dass dieses verfluchte Land Macht über dich gewinnt!«
Mit beiden Händen krallte sich Andrej in den Boden und versuchte verzweifelt die Schwärze zurückzudrängen, die sich über seinen Verstand legen wollte. Abu Dun hätte das von ihm verlangt, und es wäre auch richtig gewesen. Aufgeben war nie der richtige Weg, solange noch Leben und Hoffnung in einem waren.
Als sich der Schleier vor seinen Augen lichtete und er sah, was da vor seiner Nase im Matsch lag und ihm fast zum Verhängnis geworden wäre, hätte er beinahe laut aufgelacht. Die vermeintliche Bärenfalle, deren Zuschnappen er schon zu hören geglaubt hatte, war nichts weiter als ein ramponierter Melkschemel, den der Sturm irgendwo aus einem Kuhstall gerissen und hier in den Matsch geworfen hatte.
Es wäre schon mehr als lächerlich gewesen, wenn ein Unsterblicher wie er an einem Melkschemel gescheitert wäre.
Er rappelte sich auf, klopfte sich, so gut es eben ging, den Schlamm aus den Kleidern und stapfte in Richtung Borsã weiter. Seine Gedanken waren dabei bei Abu Dun, und dem, was der Nubier wohl gerade erlebte …
*
Der Hafen summte vor Geschäftigkeit. Wie gestrandete Wale lagen mächtige Dreimaster an den tief ins Hafenbecken hinausreichenden Anlegestellen, dazwischen dicht gedrängt kleinere Schiffe, von denen nicht wenige aussahen, als könnte man mit dem Finger durch ihre verwitterte Bordwand bohren. In der Hafenanlage stapelten sich Waren aller Art in Kisten und Kästen verstaut, unterbrochen von Reihen unordentlich aufgestapelter Fässer. Ameisenkolonnen gleich schleppten Männer Fracht aus den Bäuchen der Schiffe oder brachten sie stapelweise dorthin. Andere waren mit Reparatur- oder Instandsetzungsarbeiten beschäftigt. Dabei hing über dem ganzen Hafen eine Wolke aus Schweiß, frischer Farbe, ranzigen Ölen, Salz des Meerwassers und den unterschiedlichsten Gerüchen, die den Frachträumen und Lagerplätzen entströmten.
Selbst wenn Abu Dun nicht in Eile gewesen wäre, hätte er wohl kaum ein System in dem immerwährenden Be- und Entladespiel entdeckt. Aber so raffte er nur seinen schwarzen Umhang zusammen und schritt so schnell aus, dass es gerade noch als Gehen und nicht als Laufen durchgehen konnte. Er spürte eine merkwürdige Erregung in sich aufsteigen und längst vergessene Erinnerungsfetzen. Auch nach seiner Zeit als Pirat hatte sich ihm immer wieder die Gelegenheit geboten, an Bord eines Schiffes zu gehen. Doch dieses pulsierende Treiben ähnelte dem, das er vor einer Ewigkeit in Constãntã kennengelernt hatte, nur dass im Laufe der Jahrhunderte die Schiffe im Mittel ein Stück größer und moderner geworden waren und sich die Menschen noch weniger Zeit für ihre Verrichtungen nahmen.
Abu Dun hatte es auf einen Dreimaster abgesehen, der mit zu den ältesten und erbärmlichsten Schiffen im Hafen gehörte und den Namen Gierzwaluw trug. Abu Dun wusste, dass das holländische Wort Gierzwaluw für Mauersegler stand, und er fragte sich, auch wenn es mehr als unwahrscheinlich war, ob es vielleicht derselbe Mauersegler war, den er vor einer Ewigkeit geentert, aber nicht versenkt hatte.
Das allerdings hätte bedeutet, dass das Schiff genauso unsterblich wie er selbst war. Bei diesem Gedanken schoss ihm die Legende vom Fliegenden Holländer durch den Kopf, der schon seit Ewigkeiten auf allen sieben Weltmeeren kreuzen sollte.
Auch eine Art von Unsterblichkeit.
Er überholte schwitzende Männer mit schweren Kisten auf dem Rücken, die ihm misstrauische Blicke hinterherwarfen, und erreichte schon kurz darauf den Steg, der direkt zum Mauersegler führte. Aus der Nähe betrachtet sah das Schiff noch erbärmlicher aus als aus der Ferne, und auf der Backbordseite hing es ein Stück ab, als sei eine schwere Fracht leichtsinnigerweise ungleichmäßig verteilt worden. Möglicherweise war aber auch Wasser in die Frachträume gelaufen und der ganze Kahn war kurz vor dem Absaufen. Seiner Meinung nach wurde er sowieso nur noch durch die undefinierbare, schmutzige grauschwarze Farbe zusammengehalten. Aber auch die war an so vielen Stellen abgeblättert und schadhaft, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis das ganze Schiff auseinanderfiel.
Wäre Abu Dun noch Pirat, er hätte sicher nie befohlen, dieses Schiff zu entern. Der Kahn hätte das Ende des Kampfes niemals erlebt.
Und doch … Abu Dun war sich jetzt mittlerweile fast sicher, dass er die Gierzwaluw nicht zum ersten Mal sah. Nur, dass sie bei ihrem ersten Zusammentreffen in einem deutlich besseren Zustand gewesen war.
Er bemerkte einen uniformierten Mann auf dem Achterdeck, der anscheinend gerade zwei Hafenarbeiter zusammenstauchte, die seiner Meinung nach beim Löschen der Ladung getrödelt hatten. Möglicherweise ging es aber auch um etwas ganz anderes, denn der Mann hatte einen fürchterlichen Akzent und baute allerlei Schmähungen und Schimpfworte wie »Verdomme!« oder »Idioot!« mit in seine Tirade ein.
»He!«, rief ihm Abu Dun zu. »Habt ihr einen Frederic an Bord?«
»Frederic?« Der Seemann trug eine schäbige Fantasieuniform, und die nur noch von einem schäbigen Messingknopf zusammengehaltene Jacke spannte sich über seinem Bauch, als er sich ärgerlich zu Abu Dun umwandte. Wenn er der Kapitän dieses schwimmenden Wracks war, dann konnte die nächste Reise nur in einer Katastrophe enden. »Willst du dich an einem Christenmenschen vergreifen, Muselmane?«
Abu Dun spürte, wie eine Ader an seinem Hals zu pochen begann. Die Ader. Immer wenn sie anfing zu pochen, stand Ärger bevor.
»Nee, Kapitein«, sagte Abu Dun, und wechselte dann wieder in die Landessprache. »Ich will mich an niemandem vergreifen. Ich suche nur einen Jungen namens Frederic. Wie ich gehört habe, wollte er bei euch anheuern!«
»Eine junge Mann namens Frederic?« Der speckbäuchige Mann kratzte sich am Hals, eine Geste, die ihn nicht unbedingt sympathischer wirken ließ. »Nee, nicht wirklich. Aber warum sollt ich dir auch sagen, wer mit unsere schöne Bootje fährt, Muselmane, he?«
Abu Dun atmete tief auf. Er hasste es, Muselmane genannt zu werden, vor allem, wenn das auf eine so offensichtlich abwertende Art geschah, wie es sich dieser lächerliche Kapitän erdreistete.
»Gestattet, dass ich mich selbst davon überzeuge«, sagte er und lief auch schon die wackelnde Gangway hoch. Das war wohl zu viel für das geschundene Ding, denn es knirschte unter seinen Füßen, und kaum hatte er den letzten Schritt gemacht und das Deck betreten, brach etwas mit lautem Knall weg, und die Gangway neigte sich zur Seite, als sei sie die grobe Behandlung der letzten Jahre leid. Damit passte sie eigentlich ganz gut zur Gierzwaluw, fand Abu Dun. Besser, sie ging hier an Ort und Stelle unter, statt damit zu warten, bis ein paar hundert Meter Wasser unter ihrem Kiel war.
Der Holländer schien das ganz anders zu sehen. »Du ruinierst meine Schiff, du Aap. Runter von meine Bootje, ganz schnell, oder wir werden dich kielholen …«
Abu Dun machte sich nicht die Mühe, auf den Wortschwall einzugehen. Ganz langsam hielt er auf den Kapitän zu und konnte nicht verhindern, dass er breit zu grinsen anfing.
»Ich an deiner Stelle würde mir dreimal überlegen, einen Gast wie mich zu beschimpfen«, sagte er ruhig. »Sonst trete ich einmal kräftig auf, und dein ganzer Kahn säuft ab.«
Der Kapitän schnappte nach Luft. Abu Dun packte den Mann so fest am Arm, dass seine Knochen knirschten. »Ich habe dich etwas gefragt«, zischte er. »Und ich würde auch gerne eine vernünftige Antwort darauf haben!«
Der Kapitän verschluckte sich fast und öffnete dann den Mund, wie um nach Hilfe zu rufen. Doch Abu Dun schüttelte den Kopf und sagte: »Denk noch nicht mal daran. Jedenfalls nicht, wenn du Wert auf eine einsatzbereite Mannschaft legst.«
Abu Dun sah dem Mann an, dass er nicht im Geringsten verstand. Also packte er seine linke Wange mit zwei Fingern und zog so lange daran, bis der Holländer aufquietschte. Der Kapitän versuchte nach ihm zu schlagen, aber da hatte ihn Abu Dun schon mit der anderen Hand am Kragen gepackt und hielt ihn wie ein Kind hoch. Hilflos strampelnd versuchte sich der Kapitän des Mauerseglers zu befreien.
»Ich suche einen Frederic«, sagte er. »Einen ganz bestimmten Frederic. Er stammt aus Transsylvanien. Und man hat mir gesagt, du wüsstest etwas über seinen Verbleib.«
Abu Dun glaubte in den weit aufgerissen Augen des Mannes zu erkennen, dass er tatsächlich mehr wusste. Aber es dauerte einen Moment, bis Abu Dun begriff, dass er nicht mehr als ein jämmerliches Krächzen hervorbringen konnte, solange er ihn im festen Griff gepackt hielt.
»Also gut«, sagte er. »Ich setze dich jetzt wieder ab. Aber ein falsches Wort, und du zappelst wieder.«
*
Dass Abu Dun den kleinen Ausrutscher am Fluss benutzt haben könnte, um sich von ihm zu trennen und sein altes Piratenleben wieder aufzunehmen, war der erste verrückte Gedanke, den Andrej gehabt hatte. Es folgten Dutzend weitere, und manche waren so lächerlich, dass sie ihm in einer anderen Situation allenfalls ein müdes Lächeln entlockt hätten. Doch in dem Zustand, in dem er sich befand, kam ihm nichts lächerlich und beinahe alles bedrohlich vor.
Und das aus gutem Grund: Transsylvanien veränderte ihn. Früher hatte er den seltsamen Einfluss, den das Land auf ihn ausübte, nicht bemerkt: Schließlich war er hier aufgewachsen und hatte deswegen alle Absonderlichkeiten als vollkommen normal betrachtet. Jetzt war das anders. Er spürte die fremde, bösartige Energie, die wie ein Fluch über der Hügellandschaft lag.
Jedoch wuchs gleichzeitig sein Bedürfnis, immer tiefer ins Herz des Landes vorzustoßen, nach Borsã, zu dem Ort, mit dem ihn die unschuldigsten, aber auch schlimmsten Erinnerungen verbanden. Er wollte – nein, er musste – dorthin zurück, wo alles begonnen hatte. Alles andere rückte dabei in den Hintergrund. Selbst die fürchterlichen Bilder verblassten, die ihm vorgaukeln wollten, dass Abu Dun zerschmettert auf dem Grund des Flusses lag.
Was machte es schon, wenn Abu Dun wirklich gestorben sein sollte? Es wäre nicht das erste Mal, und es würde wohl auch nicht das letzte Mal sein. Sie waren Unsterbliche, und auch wenn sie damit nicht gegen jede Gewalttat gefeit waren, gehörte schon einiges dazu, um sie wirklich und endgültig zu töten.
Die Frage war eher, was Abu Dun machen würde, wenn er zu neuem Leben erwachte. Ihn suchen oder ihn meiden? Alles tun, um wegzukommen von ihm, damit er als Pirat wieder die Weltmeere unsicher machen konnte?
Die Suche nach Frederic hatte von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden, doch nun erschien sie ihm sogar vollkommen sinnlos. Nach all der Zeit konnte Frederic alles Mögliche sein, Monster oder Dämon, Vampyr oder Heiliger. Zwar hatte er schon in jungen Jahren seine Unsterblichkeit entdeckt, doch nach all der Zeit würde er wohl kaum noch der Junge sein, als den er ihn in Erinnerung hatte.
Mit jedem einzelnen Schritt, den Andrej tat, erlag er mehr den düsteren Einflüsterungen und Vorahnungen des Landes. Hier hatte alles begonnen, und hier würde alles enden. Es war nur noch wichtig, dass er endlich seinen Frieden fand. Endlich Frieden. Nach all den ruhelosen Jahren …
Aber noch war es nicht so weit. Dass er Frederic gesucht und dabei Abu Dun verloren hatte, war nur der Auftakt zu etwas viel Gewaltigerem. Die Heimat rief ihn. Denn tief in seinem Inneren sehnte sich Andrej vor allem nach einem: der Aussöhnung mit seinem Sohn. Vor seinem geistigen Auge sah er den Jungen vor sich, die Bissspuren, den Pflock, und spürte das Grauen, das sich so tief in seine Seele eingegraben hatte, wie es nur etwas konnte, das schlimmer als der eigene Tod war.
Er stolperte weiter und bekam kaum mehr mit als die Himmelsrichtung, in der er sich bewegte und das Wetter, das verrücktspielte. Mal spürte er einen unangenehm warmen Wind, der ihm aus Südosten entgegenblies, aus der Richtung, aus der die Osmanen bereits mehrfach wie eine Naturgewalt über das christliche Abendland hergefallen waren, mal eiskalte Strömungen, die aus Norden und Westen heranfegten und wie bösartige Windgeister auf ihn einschlugen. Am schlimmsten aber war der harte Regen, der ihm immer wieder ins Gesicht klatschte, seine Kleidung durchnässte und ihm wiederholt die Orientierung nahm.
Im Dämmerlicht der gewaltigen, wie Kleckse tiefschwarzer Tinte ineinanderlaufenden Wolken über ihm erblickte er seine Umgebung nur noch verschwommen und schemenhaft. Immerhin glaubte er einen schmalen Pfad zu erkennen, der hügelaufwärts führte, und als er ihm zu folgen begann, kam er sogar einigermaßen gut voran. Zu seiner Erleichterung ließ der unangenehme Wind nach, dann war plötzlich nichts mehr zu hören bis auf das leise Prasseln eines beginnenden Nieselregens und das Glucksen des Wassers, das nach dem letzten heftigen Regenguss über diesem Landstrich seinen Weg in Erdspalten und Hohlräume suchte. Und trotzdem … da war noch etwas anderes.
Beunruhigt blieb er stehen. Irgendetwas ließ ihn aufmerken. Er hätte nicht einmal zu sagen vermocht, was es hätte sein können. Es war wie die Berührung einer unsichtbaren Hand, ein Zupfen an seiner Seele, ein ferner Ruf …
So wie das tastende Gefühl, das ihm die Anwesenheit eines anderen Unsterblichen verriet. Und doch war es ganz anders. Fast wie ein Wispern von Dutzenden, wenn nicht von Hunderten von Stimmen, die irgendwo ganz nah und doch fern waren. Eiseskälte stieg in ihm hoch, gepaart mit einer tief sitzenden Angst, der er sich nicht stellen wollte, weil fürchterliche Erinnerungen mit diesem Wispern verknüpft waren. Ein Gefühl, als würde man aus einem schlimmen Albtraum hochschrecken und im allerersten Moment nicht begreifen, wo man ist – und was mit einem geschieht.
Rechts von ihm, irgendwo in der Ferne, blitzte etwas im schwachen Gegenlicht der untergehenden Sonne auf. Er blieb wie angewurzelt stehen, torkelnd wie ein Betrunkener beim Heimgang nach einer durchzechten Nacht. Seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Atem beschleunigte sich. Da, wieder ein Aufblitzen … Doch als er in die Richtung blickte, sah er nichts mehr … oder doch … Unwillkürlich zuckte er zusammen, als ein schmaler Streifen am Himmel aufriss und rötliches Licht auf die Erde flutete. Es wanderte über den Boden, über die dunklen Schatten verkrüppelter Bäume und über etwas anderes unter ihm, in dem Tal, auf das er sich zubewegt hatte …
Für einen flüchtigen Moment erkannte er eine hochgewachsene Gestalt in einer goldenen Rüstung, die von der Abendsonne in blutrotes Licht getaucht wurde. Und während sich eine neue Wolkenbank über die gerade erst geschaffene Lücke am Himmel schob, glaubte er im verblassenden Licht noch weitere Gestalten in goldenen Rüstungen zu erkennen, die zu der ersten aufschlossen.
Goldene Rüstungen? Ausgerechnet hier, wo alles begonnen hatte? Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten?
Ein so übermächtiges Gefühl der Bedrohung stieg in ihm empor, dass sich seine Finger ganz instinktiv um den Griff seiner Waffe schlossen. Er lauschte tief in sich hinein, dorthin, wo das Raubtier in ihm an der Kette lag und mit ihm all die Erinnerungen an ein viel zu langes Leben, an die Männer und Frauen, die er gekannt hatte und deren Gebeine längst vermodert waren, während er verdammt war, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weiterzuleben und einen Kampf zu führen, den er nie gewinnen konnte.
Es war ewig her, dass er Männer in goldenen Rüstungen gesehen hatte. Drei Männer. Malthus, Kerber und Biehler.
Die Namen waren plötzlich wieder da und mit ihnen die Erinnerung an den Schmerz und den Hass, den er empfunden hatte, als er seine Familie von Vater Domenicus’ Schergen niedergemetzelt vorgefunden hatte. Die Erinnerungen daran waren allgegenwärtig, das wusste er nur zu gut, und auch, dass sie nur darauf gelauert hatten, um wie eine Schar gieriger Aasgeier über ihn herzufallen.
Tod. Blut, überall, an den Wänden, auf dem Boden. Gefolterte, Männer und Frauen, Kinder. Die meisten schienen regelrecht hingerichtet worden zu sein. Man hatte ihnen die Kehlen durchschnitten. Zwei junge Männer waren enthauptet worden.
Die Männer in den goldenen Rüstungen waren mehr als nur an dem Blutbad beteiligt gewesen, sie waren diejenigen gewesen, die am schlimmsten gewütet hatten. Dafür hatte er ihnen und allen anderen Goldenen Rache geschworen, vor unendlich langer Zeit, bis so vieles anderes geschehen war, das seine Sinne verwirrt und seine Seele in Versuchung geführt hatte. Doch während er mit seinem Waffenbruder Abu Dun durch die Welt gezogen war, um das Rätsel ihrer Unsterblichkeit zu lösen – und so etwas wie Erlösung zu finden –, hatte er begriffen, wie gefährlich Hass war. Und dass Rachsucht nie wirklich befriedigend war.
Aber all das war jetzt wie weggewischt. Vielleicht, weil nichts schwerer wog als die Verluste und Niederlagen der ersten Lebensjahre – und das erst recht, wenn sich statt einer normalen Lebensspanne die Unendlichkeit vor ihnen auftat.
Malthus, Kerber und Biehler. Wenn er an die goldenen Ritter dachte, fühlte er nichts als Hass. Und einen Schmerz, der ganz tief in ihm vergraben gewesen war …
Die drei waren tot. Er selbst hatte zwei von ihnen zur Strecke gebracht, Dracul den dritten, und ihr Tod hätte ihm Erlösung bringen sollen. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Tod folgt auf Tod, in einer unendlichen Kette, die kein Ende mehr fand.
Wie aber konnte es sein, dass er jetzt wieder Männer in goldenen Rüstungen sah? Hatte das etwas mit Domenicus zu tun, dem Inquisitor, seinem alten Erzfeind? Ein leises Stöhnen entrang sich seinen Lippen, als er an den hageren Mann mit dem fanatischen Blick dachte. Der Inquisitor war tot, da war er sich ganz sicher. Und doch war nach all der Zeit der Schmerz noch da und das Gefühl, versagt zu haben.
Er setzte sich wieder in Bewegung, folgte mit schweren Schritten dem Zickzackkurs des Pfades ins Tal hinab. Wirre Gedanken stiegen in ihm auf, ohne Ziel und ohne Verstand.
Damals hatte er nicht gewusst, dass es ausgerechnet der verlängerte Arm Vlad Tepeschs gewesen war, mit dem er sich durch ein paar kleinere Diebstähle angelegt hatte. Nichts hatte er gewusst, nichts von Vlad, den man aus gutem Grund den Pfähler nannte, und erst recht nichts von dem Inquisitor Domenicus, dem grausamen Jäger aller Andersartigen. Er hatte geglaubt, in einem ganz normalen Land bei ganz normalen Menschen aufzuwachsen.
Was für ein Irrtum.
Aber bis zu dem Tag, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte, hatte es auch keinen großen Unterschied gemacht. Erst im Anschluss an das Grauen, das er im Borsã-Tal vorgefunden hatte, war ihm nach und nach klar geworden, dass er und seine Familie zwischen die Fronten geraten waren.
Dabei hatte alles so harmlos begonnen. Er war ein begeisterter Vater gewesen, hatte seinem Sohn Marius – seinem einzigen Kind! – angeln, fechten und reiten beigebracht, eben all das, was ein Vater seinen Sohn lehren konnte. Und wenn er nicht Ärger mit irgendwelchen Pfaffen bekommen hätte, aus deren Kirchen er die eine oder andere Kleinigkeit hatte mitgehen lassen, dann wäre er auch niemals auf die idiotische Idee gekommen, seinen Sohn in ›Sicherheit‹ zu bringen. Marius, dieser fröhliche Junge mit den spöttisch funkelnden Augen, war ganz nach seiner Mutter gekommen. Er konnte langmütig sein und aufbrausend, verspielt und ernsthaft, und er war damals der wichtigste Mensch für Andrej gewesen. Vielleicht war er das auch heute noch.
Aber der Idiot, der er damals gewesen war, hatte alles zerstört. Auf der Flucht vor der Obrigkeit hatte er geglaubt, seinen Sohn bei seinen Verwandten in Borsã unterbringen zu müssen, dem Ort, in dem er selbst aufgewachsen war. Und schon kurz darauf hatte er seinen eigenen Sohn zu Grabe getragen, das Schlimmste, was einem Vater passieren kann. Und als Unsterblicher war er dazu verdammt, seinen Schmerz bis in alle Ewigkeit zu ertragen …
Die Regentropfen prasselten auf ihn ein, doch er merkte es nicht. Sein Blick war auf die Stelle gerichtet, wo er die goldenen Ritter zu sehen geglaubt hatte. Wie von selbst beschleunigte er seine Schritte. Wenn sie wirklich da waren, und sie zu der gleichen geheimnisvollen Gruppe gehörten, die wie Schemen zwischen den Zeiten wandelten – dann Gnade ihnen Gott.
Während er mit langsamen, unsicheren Schritten über den unebenen Boden ging, und Kies und Dreck unter den Sohlen seiner Stiefel knirschten und aufspritzten, erinnerte er sich mit einem unguten Gefühl an die Vorahnung, die ihn seinerzeit ins Borsã-Tal getrieben hatte, um nach seinem Sohn zu sehen. Es war alles schon so unglaublich lange her. Und damals war er ein anderer gewesen.
Und doch: Diese verfluchte Fähigkeit, Dinge vorherzusehen, zu spüren, wenn sich das Schicksal entschied, ihn erneut einer harten Prüfung zu unterziehen, die hatte er schon in seinen ganz jungen Jahren gehabt. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte, damals nicht und heute nicht. Zu erahnen, dass etwas Schlimmes geschah, bedeutete noch lange nicht, es auch abwenden zu können.
Jetzt verspürte er wieder die gleiche Unruhe wie vor Jahrhunderten, als er in aller Hast sein Pferd gesattelt hatte, um in Richtung des Ortes zu reiten, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Er hatte gehofft, dass Marius dort ebenfalls wohlbehütet im Kreise seiner Verwandten aufwachsen könnte. Aber irgendetwas in ihm hatte sich auch davor gefürchtet, dass diese Hoffnung in jähes Entsetzen umschlagen könnte. Ja, er war fast sicher gewesen, dass er im Borsã-Tal auf eine grausige Wahrheit stoßen würde, die vielleicht besser unentdeckt blieb.
Doch wie schlimm es werden konnte, hatte er erst begriffen, als er in die Halle des Wehrturms eingetreten war und die Toten gefunden hatte.
Und in ihrer Mitte den Priester.
Die Augen des Priesters waren ausgestochen; sein Körper wies zahlreiche Schnittwunden auf, die nicht dem Zweck gedient hatten, zu töten, sondern um Schmerz zuzufügen, und selbst am Ende waren seine Peiniger nicht so barmherzig gewesen, ihn mit einem schnellen Schnitt von seiner Qual zu erlösen. Die klaffende Wunde in seiner Kehle hatte nicht geblutet. Er war schon tot gewesen, als man sie ihm zugefügt hatte. Stattdessen hatte man ihn mit Händen und Füßen an den Boden genagelt, sodass er langsam verblutet war.
Und das war noch nicht einmal das Schlimmste gewesen.
Wie Ungeziefer krochen längst vergessen geglaubte Erinnerungen hervor, um über ihn herzufallen, ihn zu peinigen und zu verwirren. Doch da grollte es in der Ferne, und im gleichen Moment zuckte bereits ein gezackter Blitz vom Himmel, riss die Wolken auseinander, gefolgt von einem so gewaltigen Knall, dass die Erde erbebte. Beinahe hätte Andrej aufgeschrien, als er in dem gleißenden, flüchtigen Licht des Blitzes erkannte, wo er war.
Im Borsã-Tal.
Dort, wo er Frieden finden würde. Oder auch das Gegenteil …
*
»Borsã …« Der dicke Wirt tat so, als müsse er angestrengt überlegen. Dann grinste er schmierig und zwinkerte der Fremden in dem schwarzen Überwurfmantel zu, die plötzlich in der verqualmten, nach verschüttetem Bier und ranzigem Fett stinkenden Gaststube aufgetaucht war. »Ja, kann sein, dass ich mal von einem Ort dieses Namens gehört habe. Aber da lebt schon ewig keiner mehr. Es heißt, ein Fluch läge über dem ganzen Tal – und die dort Gestorbenen seien nicht wirklich tot …«
Die Fremde antwortete nicht, und ein paar Herzschläge lang war nichts weiter zu hören als das Prasseln des Feuers, auf dem der Dicke seine fetttriefenden und übelriechenden Speisen zubereitete. Das alte Wirtshaus wurde wohl mehr von der Gewohnheit zusammengehalten als von den morschen Balken, auf denen das modrige Strohdach ruhte, doch es war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Augen der zumeist schäbig gekleideten Männer waren auf die Unbekannte gerichtet – oder vielmehr auf das, was man von ihr sehen konnte.
Und das war nicht viel. Die Frau hatte den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen und die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass in dem schummrigen Licht der Taverne kaum etwas von ihren Gesichtszügen zu erkennen war.
»Mich interessiert kein Fluch«, sagte die Frau endlich. »Ich will nur wissen, wo dieses Tal liegt.«
»Dieses verfluchte Tal«, nuschelte der Wirt und spuckte auf den Boden aus, bevor er sich mit dem Handrücken über Mund und Nase fuhr. »Und das im wahrsten Sinne des Wortes.« Der Wirt starrte seine verschmierte Hand an und wischte sie dann an der fettigen Lederschürze ab, die sich über seinen mächtigen Bauch spannte. »Glaub mir, da willst du nicht wirklich hin.«
»Lass das mal meine Sorge sein«, sagte die Fremde in ihrem harten Akzent. »Sag mir einfach, wo dieses Borsã ist.«
»Na ja …« Der Blick des schmierigen Wirts wanderte abschätzend über die schlanke Figur der Kriegerin – und blieb dann an der Wölbung in ihrem Überwurf hängen, hinter der er wohl richtig den Griff einer Waffe vermutete. Es schien ihn nicht sehr zu beeindrucken. »Nee, ich glaube, daran kann ich mich jetzt nicht erinnern. Aber wer weiß … vielleicht fällt es mir ja wieder ein, wenn du ein bisschen nett zu mir und meinen Gästen bist.«
»Das wird wohl kaum nötig sein.« Die Fremde schlug mit einem Ruck die Kapuze zurück. Ein schwarzes, ebenmäßiges Gesicht kam zum Vorschein und zwei dunkle Augen, in denen Eiseskälte schimmerte.
Nach dem ersten Moment ungläubigen Schreckens hob ein erstauntes Murmeln und Raunen unter den Männern an. Zwei kräftige Kerle stießen sich von der Theke ab und machten einen Schritt in ihre Richtung, und ein paar andere schoben ihre Stühle zurück oder griffen nach den Knüppeln oder Messern, die sie wie selbstverständlich mit sich führten.
»Wer … wer bist du?«, stammelte der Wirt, der im Gegensatz zu den anderen wie erstarrt dastand.
Vielleicht lag das an dem tödlichen Versprechen, das er in den Augen der Frau las. Und daran, dass sie nun auch ihren Mantel zurückgeschlagen hatte und darunter eine Rüstung zum Vorschein kam. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Griff eines Schwerts.
»So eine wie dich brauchen wir hier nicht«, sagte einer der Männer, ein großer kräftiger Kerl mit Muskeln so dick wie eine zehnjährige Birke. Der ramponierte Knüppel, den er in der rechten Hand schwingen ließ, sah aus, als hätte er schon das eine oder andere Mal einen Schädel eingeschlagen.
Die Kriegerin drehte sich zu ihm um. »Ich will nur wissen, wo Borsã liegt. Vielleicht bist du ja so freundlich …«
Der Mann lachte nur dreckig, während sich die anderen in der rauchigen Gaststube verteilten. »Packen wir uns das vornehme Fräulein«, raunzte ein kleiner Mann mit tiefen Narben auf der Stirn. »Und bringen wir ihr etwas Manieren bei.«
»Ja, Manieren!«, nickte ein hagerer Kerl mit eingedrückter Nase und trat einem verlausten Hund, der bislang von Fliegen umschwärmt unter dem Tresen gedöst hatte, grob in die Seite. Der Köter jagte jaulend davon, und irgendwo kippte ein Becher um. Bier lief hinab auf den Boden und sammelte sich in einer Pfütze, in der es sich mit Essenresten zu einem stinkenden Brei mischte, der hoch aufspritzte und die Umstehenden besudelte, als Narben-Stirn nun mit viel Nachdruck hineintrat. »Manieren, Fräulein!« Er wischte sich einen Spitzer von der Wange und ließ ihn in Richtung der Unbekannten fliegen, die sich davon jedoch nicht beirren ließ und nur im letzten Moment fast unmerklich auswich, um nicht getroffen zu werden. »Damit die Gräfin auch ein gehorsames Mädchen bekommt!«
»Ja, genau«, sagte der Muskelprotz mit dem Knüppel und grinste schief. »Erst vergnügen wir uns mit dem vornehmen Ding und dann bekommt es die Gräfin zur Weiterverwertung.«
»Aber wir müssen ihr auch was übrig lassen«, wandte Narben-Stirn ein und trat auf die Frau zu, um sie zu mustern, als sei sie ein Stück Vieh. Ein dünner Speichelfaden rann sein Kinn hinab und tropfte vor ihm auf den Boden. »Sonst gibt es Ärger mit ihr – und den brauchen wir wirklich nicht.«
»Wenn ihr keinen Ärger wollt, wäre es besser, ihr würdet euch etwas zusammenreißen«, sagte eine weitere Stimme von der Tür her.
Wie auf ein geheimes Kommando fuhren die Männer herum.
An der Tür stand eine zweite Frau. Sie sah der ersten so ähnlich, dass der Anblick beinahe gespenstisch war. Nicht nur Kleidung, Rüstung und Waffen der beiden Frauen waren bis auf den letzten Kratzer und die kleinste Falte vollkommen identisch, auch ihre Gesichter – einschließlich des eisigen Blicks, mit dem sie die Männer bedachten.
Das Grinsen des Muskelprotzes gefror und Narben-Stirn wippte auf den Zehen, um an der zweiten Kriegerin vorbeizusehen. »Gibt es draußen noch mehr von deiner Sorte?«, fragte er fast schüchtern.
»Du kannst gerne nachsehen«, sagte die Frau am Tresen. »Aber wundere dich nicht, wenn du eine böse Überraschung erlebst. Wir beiden sind nämlich die Netten.«
»Ah …«, Narben-Stirns Mund klappte auf die Größe eines mittleren Scheunentores auf und wieder zu. Und dann war er plötzlich so schnell verschwunden wie zuvor der Hund.
»Und jetzt zu dir«, sagte die an der Tür stehende Kriegerin zum Wirt.
»Zu … mir?« Der Wirt sah sich Hilfe suchend um, aber der Kerl mit dem gefrorenen Grinsen starrte seinen Knüppel an, als sähe er ihn zum ersten Mal, und stellte ihn dann weg. Die anderen folgten seinem Beispiel, indem sie ihre Waffen verschwinden ließen, um sich dann scheinbar so selbstverständlich auf ihren vormaligen Plätzen niederzulassen, als hätten sie niemals etwas anderes vorgehabt.
»Jetzt sagt uns, wie man nach Borsã kommt«, verlangte die Kriegerin an der Tür.
»Und wagt es nicht, uns in die falsche Richtung zu schicken«, fuhr die andere fort. »Denn sonst werden wir wiederkommen. Und das wird bestimmt noch viel lustiger als ein Besuch eurer ominösen Gräfin!«