AN EINEM SPÄTSOMMERTAG auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway.
Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert?
Richard Russo erzählt von drei Menschen, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit ›Jenseits der Erwartungen‹ zeigt Russo seine ganze Könnerschaft – als großer Erzähler und als Menschenkenner.
© Elena Seibert
RICHARD RUSSO, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017) sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018).
MONIKA KÖPFER war viele Jahre als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu ihren Autoren zählen u. a. J. L. Carr, Mohsin Hamid, Milena Agus, Fabio Stassi, Richard C. Morais, Theresa Révay und Naomi J. Williams.
Jenseits der Erwartungen
Aus dem Englischen
von Monika Köpfer
Von Richard Russo sind bei DuMont außerdem erschienen:
Diese alte Sehnsucht
Diese gottverdammten Träume
Ein Mann der Tat
Ein grundzufriedener Mann
Immergleiche Wege
›Einen Vers drauf‹ von Philip Larkin [1] wurde zitiert nach: Larkin, Philip: ›Nachwelt. Die besten Gedichte‹. Ausgewählt und übertragen und mit einem Kommentar versehen von Ulrich Horstmann. Die Graue Edition, Zug/Schweiz 2018.
eBook 2019
Die englische Originalausgabe erschien 2019
unter dem Titel ›Chances are …‹ bei Alfred A. Knopf, New York.
Copyright © 2019 by Richard Russo
Der Abdruck des Auszugs aus ›Chances Are …‹ [2] erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Faber Music Ltd und Hal Leonard Europe Limited.
›Chances Are …‹, Words by Al Stillman, Music by Robert Allen
© Copyright 1957 Charlie Deitcher Productions Inc/Music Sales Corporation. Shapiro Bernstein & Co. Limited/Chester Music Limited trading as Campbell Connelly & Co.
International Copyright Secured. All Rights Reserved.
Used by permission of Faber Music Ltd and Hal Leonard Europe Limited.
© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Monika Köpfer
Umschlaggestaltung nach einer Vorlage von Kelly Blair: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © Luis Padron
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN eBook 978-3-8321-8494-0
www.dumont-buchverlag.de
Für jene, deren Namen an der Mauer stehen.
»For a second there we won.
Yeah, we were innocent and young.«
The Killers, »Miss Atomic Bomb«
Prolog
Die drei alten Freunde kamen in umgekehrter Reihenfolge auf der Insel an – der, der am weitesten weg wohnte, zuerst, der am nächsten Wohnende zuletzt: Lincoln, ein Immobilienmakler, aus Las Vegas, war also praktisch einmal quer durchs ganze Land gereist; Teddy, ein Kleinverleger, aus Syracuse; Mickey, ein Musiker und Toningenieur, aus dem nahe gelegenen Cape Cod. Alle waren sechsundsechzig und hatten gleichzeitig ein humanistisch ausgerichtetes College in Connecticut besucht, wo sie im Haus der Studentinnenverbindung Theta in der Küche oder im Service gearbeitet hatten. Die anderen Aushilfen, die meisten von ihnen Mitglieder anderer Verbindungen, behaupteten, diesen Job aus freien Stücken auszuüben, weil es nirgendwo sonst so viele heiße Mädchen gebe wie im Theta House. Lincoln, Teddy und Mickey indes schlugen sich mit einem Stipendium durch und mussten aus mehr oder weniger drängenden finanziellen Gründen nebenbei arbeiten. Lincoln, genauso gut aussehend wie die Verbindungsjungs, wurde sofort als »Frontmann« eingesetzt, was hieß, dass er in einer weißen hüftlangen Kellnerjacke die Verbindungsstudentinnen im großen Speisesaal des Theta House bedienen durfte. Teddy, der bereits während seiner letzten Highschool-Jahre in einem Restaurant gejobbt hatte, wurde Kochgehilfe und durfte Salate vorbereiten, Soßen anrühren und die Vorspeisen und Desserts auf Tellern anrichten. Und Mickey? Die, die ihn einstellten, taxierten ihn nur kurz und beförderten ihn dann zur Spüle hinüber, wo sich ein riesiger Berg schmutziger Töpfe neben einem Karton Scheuerspiralen stapelte. So viel zu ihrem ersten Studienjahr. In ihrem vierten Jahr war Lincoln zum Chefkellner avanciert und konnte seinen beiden Freunden einen Job im Speisesaal anbieten. Teddy, der die Nase von der Küche voll hatte, nahm ohne zu zögern an, während Mickey bezweifelte, dass es eine Kellnerjacke gab, in die er hineingepasst hätte. Er wollte lieber Küchensklave bleiben, als draußen im Frontbereich den hübschen Mädchen schöne Augen zu machen, weil er in der »Kombüse«, wie er es nannte, schalten und walten konnte, wie er wollte.
Mittlerweile waren vierzig Jahre vergangen, und alle drei wussten, was sie dem Minerva College zu verdanken hatten: Die Kurse waren klein gewesen, ihre Professoren kompetent und den Studenten zugeneigt. Auf den ersten Blick mochte es wie ein x-beliebiges College der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre wirken. Die Jungs trugen lange Haare, ausgeblichene Jeans und T-Shirts mit psychedelischen Aufdrucken. In den Zimmern rauchte man Gras und überdeckte den Qualm mit Räucherstäbchen, während man den Doors und Buffalo Springfield lauschte. Doch das waren bloß äußerliche Statements. Für die meisten Studenten war der Krieg weit weg, etwas, was in Südostasien geschah und in Berkeley und im Fernsehen diskutiert wurde, aber nichts mit ihrem Leben an der Küste Connecticuts zu tun hatte. Die Verfasser der Leitartikel des Minerva Echo beklagten in schöner Regelmäßigkeit das Fehlen eines wirklichen politischen Engagements. »›Nothin’s happenin’ here‹ –, schrieb einer und nahm damit Buffalo Springfields berühmten Song auf die Schippe. ›Why that is ain’t exactly clear‹.«
An keinem anderen Ort auf dem Campus waren die Studenten weniger aufrührerisch als im Theta House. Ein paar Mädchen rauchten Gras und trugen keinen BH, aber abgesehen davon lebten sie wie auf einer abgeschiedenen Insel. Und doch offenbarte sich den Studenten die Realität hier weitaus mehr als in ihren Kursen. Die Unterschiede zu ihrer eigenen Welt mussten selbst Neunzehnjährigen wie Lincoln und Teddy und Mickey ins Auge fallen. Die Autos auf dem Parkplatz hinter dem Theta House waren nicht nur nobler als die auf dem regulären Studentenparkplatz, sondern auch als jene in dem Bereich, wo die Dozenten parkten. Noch merkwürdiger war, jedenfalls für die jungen Männer, die nicht aus wohlhabenden Familien kamen, dass sich die Besitzerinnen der Wagen auf dem Theta-Parkplatz nicht besonders glücklich zu schätzen schienen, am Minerva zu studieren, ja nicht einmal, dass sie Eltern hatten, die sich die atemberaubenden Studiengebühren an diesem College leisten konnten. Dort, wo sie herkamen, war das Minerva zumindest die logische Folge der ersten achtzehn Jahre ihres Lebens. Für viele war es sogar eher eine Art Notnagel, und sie brachten ihr erstes Studienjahr damit zu, ihre Enttäuschung darüber zu verarbeiten, es nicht auf die Wesleyan University, aufs Williams College oder eine der Ivy-League-Universitäten geschafft zu haben. Zwar wussten sie, dass man einen extrem guten Notendurchschnitt vorweisen und auch bei dem standardisierten Hochschulzulassungstest hervorragend abschneiden musste, um an einer dieser elitären Institutionen zugelassen zu werden, und doch waren sie es gewohnt, dass bei so etwas auch andere Faktoren entscheidend sein konnten, Dinge, über die man weder reden noch sie quantifizieren konnte, die einem aber dennoch auf magische Weise die Türen öffneten. Wie auch immer, das Minerva war auch nicht schlecht. Wenigstens hatten sie es in die Theta-Verbindung geschafft, das war in ihren Augen das Wichtigste. Andernfalls hätten sie ebenso gut auf die staatliche University of Connecticut gehen können.
Am 1. Dezember 1969, dem Abend, als die erste von zwei Vietnam-Einberufungslotterien abgehalten wurde, überredete Lincoln die Restaurantleiterin des Verbindungshauses, dass die Kellner an diesem Abend das Essen eine halbe Stunde früher als sonst servieren durften, damit sie sich danach alle pünktlich vor dem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher in dem hinteren Zimmer versammeln konnten, wo sie ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Obgleich hier per Los über ihr Schicksal entschieden wurde, war die Stimmung merkwürdig heiter, jedenfalls zu Beginn. Von den Geburtstagen der acht Aushilfen wurde der von Mickey zuerst gezogen, die neunte von 366 Möglichkeiten, sodass die anderen im Chor »O Canada« anstimmten, was vielleicht mehr Wirkung gezeigt hätte, wenn sie nicht nur die ersten beiden Worte der kanadischen Nationalhymne gekannt hätten. Von den Geburtstagen der drei Freunde kam Lincolns mit der Losnummer 189 als Nächstes dran; besser – weil die Wahrscheinlichkeit, dass man mit dieser hohen Nummer noch eingezogen wurde, eher gering war –, aber dennoch nicht sicher genug und unmöglich, damit zu planen.
Während die Lotterie weiterging, ein unaufhörlicher Trommelwirbel aus Geburtstagen – 1. April, 23. September, 21. September –, verdüsterte sich die Stimmung im Raum zusehends. Früher am Abend, als sie den Mädchen das Essen servierten, hatten alle noch im selben Boot gesessen, aber jetzt machten ihre Geburtstage sie zu Individuen, Menschen mit ganz eigenen Schicksalen, und nach und nach zerstreuten sie sich, gingen zurück in ihre Zimmer oder Wohnungen, wo sie ihre Eltern und Freundinnen anriefen, um mit ihnen die Tatsache zu erörtern, dass ihr Leben soeben eine andere Wendung genommen hatte, bei den einen zum Besseren, bei den anderen zum Schlechteren, wobei ihre Noten und Zulassungstestergebnisse und Beliebtheit mit einem Mal unwichtig geworden waren. Bis endlich Teddys Geburtstag drankam, waren er, Lincoln und Mickey die Einzigen, die noch im Aufenthaltsraum saßen. Ein vehementer Pazifist, hatte Teddy seinen Freunden ein paar Stunden zuvor eröffnet, er werde lieber nach Kanada oder ins Gefängnis gehen, als sich einziehen zu lassen, deshalb sei für ihn die Lotterie bedeutungslos. Wobei das natürlich nicht ganz stimmte. Im Grunde wollte er nicht nach Kanada und war sich nicht sicher, ob er, wenn es hart auf hart käme, tatsächlich den Mut aufbrächte, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Von derlei Erwägungen abgelenkt, war er, als nur noch circa zwanzig Geburtstage nicht gezogen worden waren, überzeugt, dass seiner schon vorgelesen worden war, ohne dass er es mitbekommen hatte, vielleicht als sie die Fernsehantenne justiert hatten. Doch dann kam er plötzlich, an 322. Stelle. Von 366. Er war noch einmal davongekommen. Als er die Hand ausstreckte, um den Fernseher auszumachen, bemerkte er, dass er zitterte.
Es gab ungefähr ein Dutzend Theta-Studentinnen, die sie als ihre Freunde betrachteten, aber nur Jacy Calloway, in die alle drei verliebt waren, wartete vor dem Hintereingang des Verbindungshauses, als sie endlich in die kalte Nacht hinaustraten. Sobald Mickey ihr gesagt hatte – mit seinem typischen breiten, treudoofen Grinsen im Gesicht –, es sehe wohl so aus, dass er bald nach Südostasien aufbrechen müsse, rutschte sie von der Motorhaube, auf der sie gesessen hatte, barg ihr Gesicht an seiner Brust, drückte ihn ganz fest und sagte in sein Hemd hinein: »Diese verdammten Arschlöcher.« Lincoln und Teddy, die mehr Glück gehabt hatten an diesem Abend, wären plötzlich gern an seiner Stelle gewesen und brachten es tatsächlich fertig, ausgesprochen eifersüchtig zu werden, als sie das Mädchen ihrer kollektiven Träume in Mickeys Armen sahen, die unangenehme Tatsache mal beiseitegelassen, dass Jacy ohnehin bereits mit einem anderen verlobt war. Als würde Mickeys Glück dieses flüchtigen Moments irgendwie mehr wiegen als der Umstand, dass er vor einer Stunde den Kürzeren gezogen hatte. Als sein Geburtstag verkündet worden war, war in Lincoln und Teddy das gleiche widerliche Gefühl aufgestiegen wie zwei Jahre zuvor, als die Verantwortlichen im Restaurant Mickey nur kurz angeschaut und ihm direkt den beschissensten Job im Theta House zugewiesen hatten. Wenn er sich bald zum Dienst melden würde, würden sie ihn ebenfalls rasch mustern und dann schnurstracks an die Front schicken, eine Zielscheibe, die kein Heckenschütze verfehlen könnte.
Doch in diesem Moment, als sich Jacy in seine Arme kuschelte, konnten sie nicht glauben, dass er so viel Glück hatte. Tja, das nannte man Jugend.
Lincoln kam aus Arizona, wo sein Vater Minderheitsgesellschafter einer kleinen, größtenteils ausgebeuteten Kupfermine war. Seine Mutter stammte aus dem nahe Boston gelegenen Wellesley und war das einzige Kind einer wohlhabenden Familie. Doch als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, während sie gerade ihr letztes Studienjahr am Minerva College absolvierte, stellte sich heraus – etwas, worauf sie nicht im Geringsten vorbereitet war –, dass von dem einstigen Reichtum kaum mehr etwas übrig war. Eine andere junge Frau an ihrer Stelle hätte sich wohl gegrämt darüber, dass nach der Tilgung der Schulden das Vermögen auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft war, aber Trudy war so von ihrer Trauer überwältigt, dass sie keine Energie hatte, sich Gedanken um andere Dinge zu machen. Eine stille Einzelgängerin, die nicht schnell Freundschaften schloss, sah sie sich plötzlich ganz allein auf der Welt, bar jeder Liebe und Hoffnung und voller Angst, dass sie ebenso plötzlich von einem Unglück heimgesucht werden könnte wie ihre Eltern. Wie sonst ließe sich erklären, dass sie gewillt war, Wolfgang Amadeus (W. A.) Moser zu ehelichen, einen kleinen dominanten Mann, der abgesehen von seiner unerschütterlichen Überzeugung, stets recht zu haben, nichts Bemerkenswertes an sich hatte?
Nicht dass sie die Einzige gewesen wäre, der er Sand in die Augen zu streuen vermochte. Bis zu seinem sechzehnten Geburtstag hatte Lincoln geglaubt, sein Vater, dessen übergroßes Ego im Gegensatz zu seiner kleinen Statur stand, hätte seiner Mutter einen Gefallen getan, indem er sie heiratete. Weder attraktiv noch unattraktiv, hatte sie die Eigenschaft, in einer Gruppe so vollständig zu verschwinden, dass man sich hinterher nicht erinnern konnte, ob sie anwesend gewesen war oder nicht. Egal, was ihr Mann sagte oder tat, nur selten erhob sie auch nur einen zaghaften Einwand, nicht einmal, als sie aus den Flitterwochen zurückkehrten und er sie darüber in Kenntnis setzte, dass sie natürlich ihrem katholischen Glauben abschwören und der fundamentalistischen christlichen Sekte beitreten würde, der er angehörte. Als sie seinen Heiratsantrag annahm, war ihr zwar bewusst gewesen, dass sie in der kleinen Wüstenstadt Dunbar wohnen würden, wo sich die Mine der Mosers befand; aber ebenso ging sie davon aus, dass sie gelegentlich in den Urlaub fahren würden, wenn nicht nach Neuengland, das ihr Mann nach eigenem Bekunden verabscheute, so vielleicht nach Kalifornien, doch wie sich herausstellte, konnte er auch mit der Küste dort nichts anfangen. Er war fest davon überzeugt – wie er ihr darlegte –, dass man lernen müsse zu lieben, was man habe, womit er Dunbar und sich selbst zu meinen schien.
Für Trudy fühlte sich alles, was Dunbar und den Mann anging, den sie geheiratet hatte, fremd an, jedenfalls zu Beginn. In der Kleinstadt selbst, die heiß und flach und staubig war, praktizierte man eine unumwundene Rassentrennung, auf der einen Seite der Bahngleise lebten die Weißen und auf der anderen die »Mexikaner«, wie sie genannt wurden, selbst jene, die seit über einem Jahrhundert legal dort wohnten. Obwohl Dunbar Trudys Dafürhalten nach eine nichtssagende Kleinstadt war, schien sie alles zu haben, was W. A. Moser (Dub-Yay, wie ihn seine Freunde nannten) benötigte: das Haus, in dem sie wohnten, die Kirche, die sie besuchten, der kleine schäbige Country Club, wo er Golf spielte. Zu Hause hatte er das Sagen, war sein Wort Gesetz. Ihre Eltern hatten immer munter diskutiert, deswegen erstaunte sie der Umstand, dass ihre eigene Ehe einem ganz anderen Modell entsprach. Sie waren schon ein paar Jahre verheiratet, als sich Lincoln ankündigte, und er wusste natürlich nicht, ob sie vor seiner Geburt gelegentlich gestritten hatten – ob sein Vater Trudy erst nach und nach gefügig gemacht hatte –, doch Lincoln hatte eher den Eindruck, dass seine Mutter zwar überrascht war von ihrem neuen Leben, es aber von dem Moment an, in dem sie den Fuß nach Dunbar setzte, akzeptiert hatte. Das erste Mal, dass sie sich – soweit er sich erinnerte – auf die Hinterbeine stellte, war, als es für ihn an der Zeit war, sich für einen Studienplatz zu bewerben. Dub-Yay wollte, dass er die University of Arizona besuchte, seine eigene Alma Mater, aber Trudy, die nach dem Tod ihrer Eltern mit einer unverheirateten Tante ebenfalls nach Tucson gezogen war, um dort ihr Studium zu beenden, hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Sohn sein Studium im Osten, wo sie herkam, absolvieren würde. Und zwar nicht an einer großen staatlichen Universität, sondern einem kleinen feinen humanistischen College wie dem Minerva, der Hochschule, die sie ein Semester vor ihrem Examen hatte verlassen müssen.
Der Streit begann beim Abendessen, als sein Vater mit seiner Fistelstimme verkündete: »Du weißt doch, meine Liebe, das lasse ich nicht zu, nur über meine Leiche.« Eine Aussage, die ganz klar die Diskussion im Keim ersticken sollte, umso überraschter war Lincoln, als er den fremden Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter sah, der besagte, dass sie den möglichen Tod seines Vaters mit Gleichmut in Erwägung gezogen hatte und dennoch unbeirrt an ihrem Vorhaben festhielt. »Nun, wir werden sehen«, erwiderte sie, und damit endete die Diskussion, jedenfalls vorerst. Um später, im Schlafzimmer seiner Eltern, wieder aufgenommen zu werden. Obgleich sie ihre Stimmen dämpften, hörte Lincoln durch die dünne Wand, die es von seinem eigenen Zimmer trennte, wie sie den Streit fortsetzten, und zwar bis weit über die Uhrzeit hinaus, zu der sein Vater, der zu früher Stunde in die Mine zu fahren pflegte, normalerweise einschlief. Sie dauerte noch immer an, als Lincoln selbst schließlich vom Schlaf übermannt wurde.
Am nächsten Morgen, nachdem sein Vater mit vor Schlafmangel und häuslichem Unfrieden müden Augen zur Arbeit gefahren war, lag Lincoln noch grübelnd im Bett. Was war bloß mit seiner Mutter los? Warum hatte sie ausgerechnet diesen Kampf aufgenommen? Was ihn betraf, so wäre die University of Arizona absolut okay gewesen. Sein Vater hatte dort studiert, und einige seiner Klassenkameraden wollten das auch, also würde er bereits ein paar Leute kennen. Nachdem er seine Kindheit und Jugend in dem winzigen Dunbar verbracht hatte, freute er sich darauf, in Tucson, einer Großstadt, zu leben. Und wenn er Heimweh bekäme, könnte er jederzeit übers Wochenende in das nicht weit entfernte Dunbar fahren. Andere seiner Klassenkameraden wollten auf eines der Colleges in Kalifornien gehen, aber niemand, den er kannte, würde in den Osten ziehen. Dachte seine Mutter wirklich, er wolle auf der anderen Seite des Kontinents leben, wo er keine Menschenseele kannte? Und wo er umringt wäre von lauter verwöhnten Kids, die sich auf schicken Privatschulen auf das teure College vorbereitet hatten? Nun, warum sollte er sich weiter den Kopf darüber zerbrechen? Garantiert war seine Mutter irgendwann, nachdem Lincoln eingeschlafen war, zur Besinnung gekommen, und ihr war klar geworden, dass es vergeblich war, in dieser oder irgendeiner anderen Sache von ähnlicher Tragweite seinem Vater die Stirn zu bieten. Bestimmt war die alte Ordnung inzwischen wiederhergestellt.
Er war abermals erstaunt, als er seine Mutter eine flotte Melodie summend und kein bisschen verlegen wegen der gestrigen Nacht in der Küche antraf. Sie war noch in Bademantel und Pantoffeln wie fast jeden Morgen, schien aber ungewöhnlich gute Laune zu haben, als stünde ein lang ersehnter Urlaub kurz bevor. Alles in allem höchst beunruhigend.
»Ich glaube, Dad hat recht«, sagte Lincoln, während er sich Getreideflocken in eine Schüssel schüttete.
Sie hörte zu summen auf und sah ihm in die Augen. »Sonst noch was?«
Das brachte ihn vollends aus dem Konzept. Schließlich war es nicht so, dass sie und sein Vater ständig Meinungsverschiedenheiten austrugen und er sich jedes Mal auf die Seite seines Vaters schlug. Im Gegenteil, die Diskussion am vorigen Abend war der erste große Streit, an den er sich erinnern konnte. Und jetzt suchte sie anscheinend schon wieder Streit, und zwar diesmal mit ihm. »Warum so viel Geld verschwenden?«, fuhr er fort, indem er sich bemühte, möglichst vernünftig und unvoreingenommen zu klingen, während er Milch auf seine Getreideflocken goss und einen Löffel aus der Besteckschublade fischte. Er hatte vor, wie üblich im Stehen und an die Küchentheke gelehnt zu essen.
»Setz dich«, sagte sie. »Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht verstehst, und es ist höchste Zeit, das zu ändern.«
Seine Mutter zog den Tritthocker zwischen Kühlschrank und Küchentheke hervor und stieg darauf. Was sie suchte, befand sich im obersten Regal des Küchenschranks, und zwar ganz hinten. Verwundert und, ja, auch ein wenig ängstlich beobachtete Lincoln sie. Hatte sie etwas dort oben versteckt, worauf sein Vater nicht stoßen sollte? Und was? Eine Art Kontobuch oder ein Fotoalbum, etwas Geheimes, das Aufschluss über die Sache geben würde, die er angeblich nicht verstand? Nein. Sie langte nach einer Flasche Whiskey. Da er sich noch immer nicht von der Küchentheke wegbewegt hatte, reichte sie sie ihm.
»Mom?«, fragte er, denn es war erst sieben Uhr morgens, und, hey, wer war diese merkwürdige Frau? Was hatte sie mit seiner Mutter gemacht?
»Setz dich«, sagte sie erneut, und diesmal gehorchte er gern, weil sich seine Knie wie aus Pudding anfühlten. Er sah zu, wie sie einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihren Kaffee goss. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz und stellte die Flasche auf den Tisch, wie um zu bedeuten, dass sie noch nicht fertig damit war. Fast rechnete er damit, dass sie ihm etwas davon anbot. Doch sie saß eine Weile nur da und sah ihn an, bis er sich aus einem unerfindlichen Grund schuldig fühlte und den Blick auf seine Getreideflocken senkte, die in der Flüssigkeit allmählich pampig wurden.
Kurz und gut, es gehe um Folgendes, begann sie: Zunächst gebe es da einige Fakten über ihr aller Leben, von denen er nichts wisse, angefangen bei der Mine. Sicher, er hatte gewusst, dass sie nicht mehr allzu viel abwarf und der Kupferpreis in den letzten Jahren eingebrochen war. Jedes Jahr gab es weitere Entlassungen, und die Arbeiter hatten immer wieder damit gedroht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, als würde so etwas in Arizona je geschehen. Irgendwann würde die Mine schließen, und das würde die Existenz dieser Männer bedrohen. Das waren alles keine Neuigkeiten für ihn. Nein, die Neuigkeit war, dass auch ihre Existenz bedroht sein könnte. Tatsächlich sei das bereits der Fall, wie seine Mutter ihm eröffnete. Viele der Extras, die sie sich im Gegensatz zu ihren Nachbarn gönnten – der Pool, der Gärtner, die Mitgliedschaft im Country Club, jedes Jahr einen neuen Wagen –, könnten sie sich nur ihretwegen leisten, wegen des Geldes, das sie in die Ehe eingebracht habe.
»Aber ich dachte …«, begann er.
»Ja, ich weiß. Ab jetzt wirst du eben lernen müssen, anders zu denken. Am besten du fängst gleich damit an.«
Vergangene Nacht habe sein Vater versucht, ein Machtwort zu sprechen, so wie immer. Er habe seine Weigerung kundgetan, dafür zu bezahlen, dass sein Sohn in einem Teil des Landes seine Ausbildung erhielt, den er wegen des dort herrschenden Snobismus und Elitarismus verabscheue; sein Sohn würde als verdammter Demokrat oder, schlimmer noch, als einer dieser langhaarigen Vietnamkriegsprotestler zurückkommen, die man jeden Abend im Fernsehen zu sehen kriege. Ein Studium an einem privaten humanistischen College im Osten würde sie fünfmal so viel kosten wie eine »grundsolide« Ausbildung hier in Arizona. Worauf seine Mutter geantwortet habe, nein, da irre er sich – allein die Vorstellung, dass sie etwas Derartiges zu ihm gesagt hatte! –, denn es würde in der Tat zehnmal so viel kosten. Sie habe beim Zulassungsbüro des Minerva College angerufen und wisse, wovon sie spreche. Wobei er sich wegen der Kosten nicht den Kopf zerbrechen müsse, weil sie für alles aufzukommen gedenke. Dann sei sie fortgefahren – man stelle sich vor: fortgefahren –, sie hoffe sehr, ihr Sohn würde gegen einen Krieg protestieren, der dumm und unmoralisch sei, und, zu guter Letzt, dass, wenn Lincoln die Demokraten wähle, er damit nicht der Einzige in ihrer kleinen Familie wäre. Ja, genau.
Zwar liebte Lincoln seine Mutter, aber es widerstrebte ihm, diese Behauptungen bezüglich ihrer finanziellen Verhältnisse als Tatsache zu akzeptieren, vor allem, weil sie seinen Vater in einem solch unvorteilhaften Licht erscheinen ließen. Wenn sie, und nicht er, die Urheberin der »kleinen Extras« war, in deren Genuss sie so lange gekommen waren, warum hatte sein Vater ihn dann in dem Glauben gelassen, dass allein W. A. Moser die Quelle ihres relativen Wohlstands sei? Auch stimmte diese neue mütterliche Deutungsweise überhaupt nicht mit dem überein, was man ihm seit seiner Kindheit weisgemacht hatte – dass die Familie seiner Mutter irgendwann einmal reich gewesen sei, der Tod ihrer Eltern jedoch deren finanzielle Misswirtschaft offenbart habe: schlechte, mit Krediten getätigte Investitionen, schwindende Vermögenswerte, die wieder und wieder belastet worden waren. Dass sie auch dann noch, als fast kein Geld mehr da war, ihr luxuriöses Leben fortgeführt hätten, Sommerurlaube auf dem Cape, kostspielige Winterurlaube in der Karibik, dazwischen Kurztrips nach Europa. Notorische Partygeher und Trinker, hatten sie vermutlich auch am Abend ihres Unfalls getrunken. Sie seien … ja, da gab es nichts zu beschönigen … wie die Kennedys gewesen. Nach dem Denkschema seines Vaters war die Geschichte seiner Großeltern ein moralisches Lehrstück par excellence über ein törichtes, dekadentes Paar in einer snobistischen Gegend des Landes, Menschen, die die Bedeutung harter Arbeit nicht kannten und schlussendlich die Quittung dafür bekommen hatten. Fehlte nur noch, dass er behauptete, er habe Lincolns Mutter vor einem ähnlichen Lotterleben bewahrt, aber auch wenn er es nicht aussprach, lag diese Schlussfolgerung in der Luft. Wollte ihm seine Mutter jetzt einreden, diese ihm so vertraute, lange unangefochtene Geschichte sei nichts als eine Lüge?
Nein, das nicht, räumte sie ein, aber sie sei auch nicht die ganze Wahrheit. Ja, ihre Eltern seien unbedacht gewesen, und als schließlich alle Karten auf dem Tisch lagen, habe sich das Familienvermögen mehr oder weniger in Luft aufgelöst, aber ein kleines Haus in Chilmark auf der Insel Martha’s Vineyard habe irgendwie vor den Gläubigern gerettet werden können und sei in einen Treuhandfonds übergegangen, den man für sie angelegt habe, damit sie mit einundzwanzig, wenn sie volljährig würde, darauf zugreifen konnte. Warum hatte Lincoln noch nie von diesem Ort gehört? Weil sein Vater, als er kurz nach ihrer Hochzeit von dessen Existenz erfahren habe, das Haus umgehend habe verkaufen wollen – und zwar aus reiner Gehässigkeit, wie seine Mutter behauptete, um das Band zu ihrer Vergangenheit vollkommen zu durchtrennen und sie so gänzlich an sich zu binden. Zum ersten Mal habe sie sich geweigert, sich seinem Willen zu beugen, und ihre Unnachgiebigkeit in dieser Angelegenheit habe W. A. Moser so sehr überrascht und verstört, dass er sich all die Jahre über geweigert habe, abermals aus Gehässigkeit, diesen »verdammten Ort« je zu besuchen. Darum hatten sie das Haus Sommer für Sommer vermietet, wobei die Mieten Jahr für Jahr stiegen, weil die Insel immer mondäner wurde, und dieses Geld sei auf ein Sparkonto geflossen, auf das sie hin und wieder zugegriffen hätten, um sich besagte Extras leisten zu können. Und das, was übrig geblieben sei, wolle sie nun für Lincolns Studium verwenden.
Ah, das Haus in Chilmark. Als Kind, so erzählte sie ihm mit feuchten Augen, habe sie keinen Ort auf der Welt mehr geliebt. Jedes Jahr seien sie am Memorial Day Ende Mai auf der Insel angekommen, um sie erst wieder am Labor Day Anfang September zu verlassen; sie und ihre Mutter seien ununterbrochen dort geblieben, während ihr Vater an den Wochenenden zu ihnen stieß, und dann hätten sie immer Partys abgehalten – ja, Lincoln, da wurde getrunken und gelacht, und alle hatten Spaß –, und auf der kleinen Veranda, die über einem Hügel thronte und von der man auf den Atlantik in der Ferne blickte, hätten sich die Partygäste gedrängt. Die Freunde ihrer Eltern seien immer ganz entzückt von ihr gewesen, und da sich ihre Mutter für drei volle Monate ganz ihr widmete, habe es ihr nichts ausgemacht, dass nur wenige andere Kinder dort waren. Den ganzen Sommer lang sei sie barfuß gegangen und habe alles tief in sich aufgesogen – die Salzluft und den Duft der frisch gewaschenen Laken und den Anblick der Seemöwen, die über ihnen kreisten. Die Holzböden im Haus seien sandig geworden, und niemanden habe es gestört. Nicht ein einziges Mal während dieser Sommer seien sie zur Kirche gegangen, und niemand habe behauptet, das sei eine Sünde, weil es auch keine sei. Es sei eben Sommer gewesen, ganz einfach.
Sie hoffe, Lincoln würde dieses Haus in Chilmark eines Tages ebenso ins Herz schließen wie sie, und deshalb habe sie bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen, dass, wenn es so weit sei, er, und nicht sein Vater, es erbe. Er müsse ihr einfach nur versprechen, dass er, sollte er es einmal doch verkaufen müssen, den Erlös nicht mit seinem Vater teilen werde, denn der würde das Geld garantiert der Kirche geben. Es sei eine Sache, fuhr sie fort, dass sie ihren Glauben für ihn aufgegeben hatte, aber sie habe nicht die Absicht, Dub-Yay zu erlauben, ihr Geld einer Bande evangelikaler Schlangenbändiger in den Hintern zu schieben.
Seine Mutter brauchte fast den ganzen Morgen und mehrere mit Whiskey versetzte Tassen Kaffee, um ihrem Sohn all diese neuen Informationen zu vermitteln. Lincoln wollte die Kinnlade gar nicht mehr zuklappen, und beim Zuhören wurde ihm das Herz immer schwerer, während all das, was er sein ganzes Leben lang für wahr gehalten hatte, in Schutt und Asche gelegt wurde. Als ihr Redefluss schließlich verebbt war, stand sie auf, schwankte, sagte: »Puh!«, und stützte sich kurz auf dem Tisch auf, ehe sie seine Müslischüssel und ihre Kaffeetasse zur Spüle hinüberschipperte und verkündete, sie glaube, sie müsse jetzt ein Nickerchen halten. Sie schlief noch immer, als ihr Vater am Abend von der Mine zurückkam, und als Dub-Yay sie weckte und sich erkundigte, was mit seinem Abendessen sei, sagte sie, er solle sich selbst was kochen. Lincoln hatte die Whiskeyflasche in das Versteck im Küchenschrank zurückgestellt, aber sein Vater schien zu erahnen, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Als er in die Küche zurückkehrte, sah er seinen Sohn an, seufzte tief und fragte: »Mexikanisch?« Es gab nur vier Restaurants in Dunbar, drei davon mexikanisch. Sie gingen zu ihrem Stammmexikaner, aßen Chiles Rellenos, und ihr Schweigen wurde nur einmal kurz gebrochen, als sein Vater sagte: »Deine Mutter ist eine großartige Frau«, als wollte er, dass das in das offizielle Protokoll aufgenommen wurde.
Nach und nach kehrte wieder Normalität ein beziehungsweise das, was für die Mosers normal war. Nachdem sie kurz die Stimme erhoben hatte, nahm Lincolns Mutter wieder ihr gewohntes stilles, unterwürfiges Wesen an, wofür Lincoln dankbar war: In den Familien einiger seiner Freunde hing dauerhaft der Haussegen schief. Nachdem sich der Sturm bei ihnen zu Hause verzogen hatte, war ihm, als hätte er allen Grund, sich glücklich zu schätzen. Zum einen, weil er wie durch Zauberhand zu Besitz gekommen war. Zum anderen, weil er, auch wenn es für seine Eltern eine finanzielle Belastung bedeutete, im nächsten Jahr sein Studium an einem renommierten humanistischen College an der Ostküste beginnen würde, etwas, was noch nie zuvor jemand aus Dunbar getan hatte. Und tatsächlich sollte er das in den folgenden Jahren als großes Abenteuer betrachten. Doch seiner Mutter zuzuhören, wie sie ihm die tatsächlichen Gegebenheiten ihrer familiären Existenz darlegte, das hatte ihm ganz schön zugesetzt. Der vermeintlich feste Boden unter seinen Füßen hatte sich unversehens in Sand verwandelt, und seine Eltern, die beiden Menschen, die er am besten zu kennen geglaubt hatte, waren zu Fremden geworden. Es sollte nicht lange dauern, bis er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, aber ganz trauen sollte er ihm nie wieder.
Teddy Novak, ebenfalls ein Einzelkind, wuchs im Mittleren Westen auf, als Sohn zweier gestresster Highschool-Lehrer. Er wusste, seine Eltern liebten ihn, weil sie es, wann immer er sie danach fragte, beteuerten, konnte sich jedoch bisweilen nicht des Eindrucks erwehren, dass ihr Bedarf an Kindern bereits mehr als gedeckt gewesen war, bevor er des Weges kam, und er mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit dann das Kind war, das ihnen vollends jeglichen pädagogischen Elan raubte. Unentwegt waren sie mit dem Korrigieren von Aufsätzen oder mit Unterrichtsvorbereitungen beschäftigt, und wenn er sie dabei unterbrach, konnte er auf ihren Gesichtern Fragen ablesen wie: Warum fragst du immer mich und nicht deinen Vater? Oder: Ist nicht deine Mutter dran? Ich habe doch schon die letzte Frage beantwortet.
Teddy war ein kleiner, unsportlicher Junge mit zartem Knochenbau. Ihm gefiel die Vorstellung von Sport, aber wann immer er sich in Baseball oder Football oder gar Dodgeball versuchte, hinkte er hinterher mit gestauchten Fingern und blauen Flecken übersät nach Hause. Er war nun mal so veranlagt. Sein Vater war zwar groß, aber knochig und schien nur aus Ellbogen, Knien und dünner Haut zu bestehen. Sein Adamsapfel sah aus, als hätte er ihn von einem anderen, sehr viel größeren Mann geborgt, und seine Kleidungsstücke passten ihm nie. Hatten seine Hemdsärmel die richtige Länge, bot der Halsausschnitt Platz für einen weiteren Hals; wenn der Kragen saß, hörten die Ärmel irgendwo auf halber Strecke zwischen Ellbogen und Handgelenk auf. Bei einem Bauchumfang von 70 Zentimetern hatte er eine Schrittlänge von 86 Zentimetern, sodass seine Hosen maßgefertigt werden mussten. Mitten auf seiner Stirn prangte ein stattliches Büschel stoppliger Haare, umgeben von einem Graben aus blasser, schrumpeliger Haut. Kein Wunder, dass die Schüler ihm den Spitznamen Ichabod verpasst hatten, wenngleich niemand genau sagen konnte, ob sich dieser seiner physischen Erscheinung oder seiner Begeisterung für »Die Sage von der schläfrigen Schlucht« verdankte, dem ersten Text, mit dem es die Schüler in The American Character zu tun bekamen, seinem Literaturkurs für die zwölfte Klasse. Diese Kurzgeschichte hatte es Teddys Vater besonders angetan, vor allem weil er darauf zählen konnte, dass seinen Schülern die Pointe entging, sodass er sie ihnen dann erklären konnte. Am besten gefiel ihnen das übernatürliche Element in Gestalt des kopflosen Reiters, und wenn sich dieser dann als kein bisschen übernatürlich entpuppte, waren sie enttäuscht. Wie auch immer, das Ende der Geschichte – der uramerikanische Brom Bones triumphiert, und der eingebildete Schullehrer Ichabod Crane wird zum Narren gehalten und aus der Stadt getrieben – war für sie dann wieder zutiefst befriedigend. Es kostete Teddys Vater einige Anstrengung, sie davon zu überzeugen, dass die Geschichte in Wahrheit eine Anklage des amerikanischen Antiintellektualismus war, den Washington Irving, ihr Autor, als Wesenselement des amerikanischen Charakters ausgemacht hatte. Indem seine Schüler die Grundidee der Geschichte so gehörig missinterpretierten, ja, sie genau in ihr Gegenteil verkehrten, machten sie sich unwissentlich zur Zielscheibe des ihr innewohnenden Spotts, jedenfalls behauptete das Teddys Vater. Besonders schwer waren die Sportskanonen unter den Studenten zu überzeugen, die sich naturgemäß mit Brom Bones identifizierten, der gut aussah, stark, großspurig, hinterlistig und zugleich begriffsstutzig war und der natürlich das hübscheste Mädchen der Stadt abbekam, genau wie sie selbst die hübschesten Cheerleaderinnen. Was sollte daran bitte schön eine Satire sein? In ihren Augen ging es in der Geschichte um natürliche Auslese. Selbst wenn sie tatsächlich als Satire gedacht war, so war Teddys Vater – diese lächerlich aussehende Gestalt – der falsche Überbringer der Botschaft. Nach Ansicht der Sportskanonen verdiente er ein ähnliches Schicksal wie Ichabod Crane.
Auch Teddys Mutter war groß gewachsen, schlaksig und knochig, und wenn sie neben ihrem Mann stand, wurden sie häufig für Bruder und Schwester gehalten, nicht selten sogar für Zwillinge. Ihr auffälligstes Merkmal war ein hervorstehendes Brustbein, auf das sie unentwegt tippte, als wäre sie von chronischem Sodbrennen geplagt. Wenn die Menschen das sahen, wichen sie häufig vor ihr zurück, für den Fall, dass das, was sie da zu unterdrücken versuchte, plötzlich hervorbrechen sollte. Doch schlimmer als all das war es für Teddy, dass seine Eltern einander genau so zu sehen schienen, wie der Rest der Welt sie sah, obgleich die Tatsache, dass Teddy existierte, vermuten ließ, dass es mal eine Zeit gegeben haben musste, als dies anders war. Sich ihrer mangelnden physischen Attraktivität überaus bewusst, schienen sie dies mit ihrer ausgeprägten Sensibilität zu kompensieren, ihrer beider Fähigkeit, mit herrlicher Schärfe ihre diversen unerschütterlichen Ansichten kundzutun, leider genau die Gabe, die den armen Ichabod Crane in den Untergang getrieben hatte.
Von früh an spürte Teddy, wie verschieden er von anderen Kindern war, und fand sich klaglos mit seinem einsamen Schicksal ab. »Sie mögen dich nicht, weil du so intelligent bist«, erklärten seine Eltern ihm, obwohl er ihnen gar nicht erzählt hatte, dass er nicht gemocht wurde, nur dass er sich irgendwie anders fühlte, so als wäre an alle anderen Jungs eine Art Handbuch zur Kindheit verteilt worden, nur an ihn nicht. Weil seine Versuche, sich so zu geben wie sie, häufig mit irgendeiner Verletzung endeten, blieb er meistens zu Hause, wo er in Sicherheit war, und las Bücher, was seinen Eltern gefiel, denen nicht der Sinn danach stand, hinter ihm herzulaufen oder sich auch nur zu fragen, wo er gerade steckte. »Er liest so gern«, pflegten sie zu anderen Eltern zu sagen, die sich über Teddys gute Noten wunderten. Las er tatsächlich so gern? Teddy war sich da nicht so sicher. Seine Eltern waren stolz, keinen Fernseher zu besitzen, was also hätte er in Ermangelung an Spielkameraden sonst tun sollen? Sicher, er las lieber, als dass er sich einen Knöchel verstauchte oder einen Finger brach, aber das allein machte das Lesen nicht zu einer Leidenschaft. Seine Mutter und sein Vater freuten sich auf den Tag, an dem sie in den Ruhestand gehen würden und statt Aufsätze zu benoten, nichts anderes mehr tun würden, als zu lesen, während Teddy hoffte, es würde sich irgendeine andere Beschäftigung auftun, die Spaß machte, aber nicht in irgendeiner Art Verletzung mündete. Bis dahin würde er, na ja, lesen.
In der neunten Klasse der Highschool passierte etwas Seltsames: ein unerwarteter Wachstumsschub, bei dem er mehrere Zentimeter in die Höhe schoss und dreißig Pfund zunahm. Quasi über Nacht war er einen Kopf größer geworden und hatte plötzlich sogar sehr viel breitere Schultern als sein Vater. Aber noch erstaunlicher war, dass er sich mit einem Mal als begabter, eleganter Basketballspieler entpuppte. In der zehnten Klasse konnte er den Ball dunken – als einziger Junge des Teams –, und sein Sprungwurf war angesichts seiner Größe quasi nicht abzublocken. Er schaffte es in die offizielle Schulmannschaft und war der Topscorer, bis sich herumsprach, dass er nicht gern attackierte. Wenn er angerempelt wurde, zog sich Teddy zurück, und ein gut platzierter Ellbogenstoß in die Rippen hielt ihn davon ab, den Paint zu betreten, wo er als Power Forward hingehörte, wie man ihm gesagt hatte. All das brachte seinen Trainer so zur Weißglut, dass er selbst Teddys Sprungwurf als feiges Manöver verhöhnte, auch wenn die Mannschaft bei Rückständen zwischen zwölf und fünfzehn Punkten regelmäßig darauf angewiesen war, dass er ihn absolvierte. »Du musst dir den Ball erkämpfen!«, brüllte er Teddy an, wenn dieser am oberen Teil der Zone herumlungerte und geduldig auf seine Gelegenheit zum Wurf wartete. »Sei ein Mann, du verdammte Pussy!« Als Teddy dennoch weiterhin keine Neigung zum Körpereinsatz zeigte, wies der Coach einen von Teddys Mannschaftskameraden an, ihn im Training aggressiv anzugehen, in der Hoffnung, ihn auf diese Weise abzuhärten. Nelson war einen Kopf kleiner, aber kräftig gebaut, und es bereitete ihm eine enorme Genugtuung, Teddy aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn er bei einstudierten Spielzügen über die Lane schnitt. Wenn sich Teddy beschwerte, dass Nelson ihn gefoult habe, blaffte der Trainer ihn an: »Dann foul halt zurück!« Natürlich weigerte sich Teddy.
In der Tat genoss Nelson die ihm auferlegte Aufgabe, seinen Mannschaftskameraden abzuhärten, so sehr, dass er auch dazu überging, ihn in den Pausen auf den Fluren an die Garderobenspinde zu stoßen und seine Bücher zu verstreuen. »Brom Bones!«, sagte sein Vater, der die Parallele zwischen der Literatur und dem echten Leben erkannte, als Teddy ihm erzählte, was ihm widerfuhr. Das Einzige, was er in diesem Fall tun könne, so sein Vater, sei, die Mannschaft zu verlassen und auf diese Weise dem Stereotyp des amerikanischen Mannes als hirnlose Sportskanone eine Absage zu erteilen. Teddy sah das anders. Er liebte Basketball und wollte es ohne Körperkontakt spielen, genau wie dieser Sport den Regeln und seinem persönlichen Empfinden nach gespielt gehörte. Er wollte den Ball am oberen Ende der Zone in Empfang nehmen, sich mit einem Schulter-Fake mögliche Verteidiger vom Hals halten, herumwirbeln und seinen Sprungwurf ausführen. Das Geräusch, das der Ball machte, wenn er durch das Netz sauste, ohne den Rand zu berühren, war so ziemlich das Perfekteste, was er in seinem jungen Leben bislang erlebt hatte.
Wie nicht anders zu erwarten, nahm seine Schulmannschaftskarriere ein abruptes Ende, und hätte Teddy es vorausgesehen, hätte er vermutlich den Rat seines Vaters befolgt und sie aus freien Stücken aufgegeben. Als er eines Nachmittags im Training zu einem Rebound hochschnellte, rempelte Nelson ihn von schräg unten her an, sodass Teddy umgerissen wurde und auf dem Steißbein landete. Mit dem Ergebnis, dass er sich einen Haarriss an einem Wirbel zuzog, wobei die Verletzung laut Arzt weitaus schlimmer hätte ausfallen können. Jedenfalls war Teddy für den Rest der Spielsaison außer Gefecht.
Zu den Dutzenden Büchern, die er während seiner Genesung in diesem Frühling und Sommer durchpflügte, zählte auch Thomas Mertons Der Berg der sieben Stufen, das ihm aus irgendeinem Grund das gleiche Gefühl bescherte wie sein Sprungwurf. Als er das Buch zu Ende gelesen hatte, fragte er seine Eltern – die beide nicht religiös waren –, ob er in die Kirche gehen könne. Ihre zu erwartende Antwort lautete, sie hätten nichts dagegen, solange er nicht erwarte, dass sie ihn begleiteten. Sonntagmorgens pflegten sie die New York Times zu lesen.
Weil Merton ein Trappistenmönch war, versuchte es Teddy zunächst in der katholischen Kirche, aber der Priester, der den Gottesdienst hielt, war jemand, den sein Vater auf Anhieb als Antiintellektuellen ausgemacht hätte, als Trottel. Darüber hinaus hätte er nicht weiter entfernt vom mönchischen Ideal sein können, also versuchte es Teddy als Nächstes bei der unitarischen Kirche eine Querstraße weiter. Dort hielt eine Princeton-Absolventin den Gottesdienst. In vielfacher Hinsicht erinnerte sie Teddy an seine Eltern, außer dass sie ihm aufrichtiges Interesse entgegenzubringen schien. Sie war hübsch und kein bisschen knochig, und natürlich verliebte er sich in sie. Da er noch immer unter Mertons Bann stand, versuchte er, diese Liebe zunächst rein zu halten, aber fast jeden Abend beim Einschlafen ertappte er sich bei der Vorstellung, wie sie wohl unter ihrem Talar aussah, etwas, was Merton wohl kaum getan hätte. Als sie in eine andere Gemeinde versetzt wurde, war er untröstlich und erleichtert zugleich.
In seinem letzten Highschool-Jahr bekam er grünes Licht, das Basketballtraining wiederaufzunehmen, tat dies aber nicht, was seinen Trainer dazu brachte, erneut Pussy vor sich hin zu murmeln, wann immer sie sich in der Aula über den Weg liefen. Oder aber Sissy, Teddy war sich nie ganz sicher, welches Wort er gerade verwendete. Er war selbst überrascht, als er merkte, dass es ihm ziemlich egal war, was der Trainer über ihn dachte, wobei es ihm schon ein kleines bisschen etwas ausgemacht haben musste: Denn in jenem Sommer, kurz bevor Teddy sein Studium am Minerva beginnen sollte, brachte es der Trainer fertig, beim Versuch, einen zwischen der Klinge und dem Rahmen seines Rasenmähers steckenden Stock freizubekommen, ohne zuvor den Motor auszuschalten, ausgerechnet die Kuppe seines Zeigefingers abzurasieren, den er immer als seinen »Pussyfinger« bezeichnet hatte. Und als Teddy das hörte, musste er unwillkürlich lächeln, auch wenn er prompt Schuldgefühle bekam. Er hatte seinen Zulassungsessay fürs College über Merton geschrieben und bezweifelte, dass sich der Mönch am Leiden eines anderen Menschen ergötzt oder sich, so wie Teddy kürzlich, nächtelang der Vorstellung hingegeben hätte, wie eine unitarische Pfarrerin wohl unter ihrer Amtstracht aussah. Andererseits war Merton der fraglichen Pfarrerin nie begegnet und war vor seiner Konversion allem Anschein nach ein ziemlicher Hallodri gewesen. Außerdem, sinnierte Teddy weiter, gab es keinen Grund anzunehmen, dass Gott keinen Sinn für Humor hatte. Zwar mischte er sich nicht in die Angelegenheiten der Menschen ein oder veranlasste sie auch nicht, auf bestimmte Weise zu handeln, hatte man Teddy erklärt, aber als der Trainer auf diese Weise die Kuppe seines »Pussyfingers« eingebüßt hatte, musste das auch ihm ein Lächeln abgerungen haben.
Mickey Giradi stammte aus einem rauen Arbeiterviertel in West Have, Connecticut, das für seine Bodybuilder, Harleys und bunten Straßenfeste bekannt war. Er hatte irisch-italienische Eltern, sein Vater, Michael sen., war Bauarbeiter und seine Mutter Sekretärin bei einer Versicherungsagentur, und beide waren mit dem festen Willen, sich zu assimilieren, ausgestattet. Sie waren stramme Patrioten, nicht nur am 4. Juli. Ein Zweiter-Weltkriegs-Veteran, hätte sein Vater vom GI-Wiedereingliederungsprogramm profitieren und studieren können, aber er kannte jemanden, der ihm zu einer Mitgliedschaft in der Rohrlegergewerkschaft verhelfen konnte, und das, dachte er, sei besser. Mickey war das jüngste von acht Kindern, die anderen sieben waren alles Mädchen, weswegen er in vielerlei Hinsicht heillos verwöhnt wurde – Anziehsachen wurden eigens für ihn gekauft, von Anfang an hatte er ein eigenes Zimmer. Es war zwar kaum größer als ein Wandschrank, aber immerhin. Das Haus war geräumig, und das musste es auch sein, aber bescheiden, es lag nur drei Querstraßen hinter dem Strand, was im Sommer großartig war, weil vom Meer her immer eine leichte Brise wehte. Aber wenn der Wind drehte, hatte man das Gefühl, direkt unter der Interstate zu wohnen, so ohrenbetäubend war der Verkehrslärm. Zu den sonntäglichen Abendessen hatte man zu Hause zu sein und wehe, wenn nicht. Es gab stets Spaghetti mit Würstchen, Hackfleischbällchen und in Tomatensoße geschmorte Schweineschulter. Alles nach dem Rezept von Mickeys Großmutter väterlicherseits, das sie nur widerwillig an die irische Schwiegertochter weitergereicht hatte, wobei sie zwei, drei Schlüsselzutaten ausgelassen hatte, damit man den Unterschied merkte. Zuerst die Familie, dann Amerika – oder vielleicht auch umgekehrt damals, man musste all den schmuddeligen Langhaarigen, die ständig ihr idiotisches Peace-Zeichen machten, doch etwas entgegensetzen –, dann kam lange nichts.
BH