Der hier schreibt ist ein freier Mann, er ist es immer schon gewesen. Die Freiheit hat er sich erobert, er hat sie sich erquält und sie wurde ihm geschenkt. Zu lesen sind hier tausend und zwei Geschichten in Einem. Tausend, die das Leben schrieb, bunt, aufregend, bedrohlich, lustig. Eine schrieb, bitter und tief, die Liebe – und plötzlich schien das Leben leer. Doch aus der Leere voller Fragen und Zerwürfnis wuchs Vernunft – die dritte Geschichte, die Geburt einer Vernunft.
Mit dem Helden des Buches geht der Leser den Weg durch die ersten 30 Jahre eines Lebens. Dabei sind es die Erlebnisse eines Einzelnen, die exemplarisch das typisch Menschliche spiegeln. Von der unbekümmerten Glückseligkeit der Kindheit über das aufbegehrend rücksichtslose der Jugend bis zu mörderischen Selbstzweifeln und Verzweiflungen am Dasein und der Welt wird man in eine Geschichte hineingezogen, die in ihrer Intensität einzigartig ist. Der unbedingte Wille, sich selbst nicht zu belügen, und der Schmerz unerfüllten Verlangens, das seine Ursachen und Ziele sucht, bringen den Helden zuletzt zu sich selbst und einigen Einsichten über die Welt und das Leben in ihr. Die Geburt ist lange nicht abgeschlossen, wenn der Mensch den Mutterleib verlässt. Mit 30 ist man ein ganzes Stück weiter.
DER VERHINDERTE TÄNZER
TAUSEND GESCHICHTEN, TAUSEND FRAGEN
UND EIN PAAR ANTWORTEN
VON
JAHR
2003/ 115 N.Z.
Kynast
Pierre Kynast
Egologien I
Der verhinderte Tänzer
Tausend Geschichten, tausend Fragen und ein paar Antworten
Impressum
© Pierre Kynast, Merseburg an der Saale, 2003
Internet: http://www.pierrekynast.de
Umschlag- und Titelgestaltung: Pierre Kynast
Titelbild: William Adolphe Bouguereau. Die Entführung der Psyche
Zweite, durchgesehene Ausgabe [Erste Ausgabe, erschienen im Projekte-Verlag 188, Halle (Saale), 2006]
© pkp Verlag, Pierre Kynast, Leuna, Februar 2013
Internet: http://www.pkp-verlag.de
Herstellung und Vertrieb: Books on Demand GmbH, Norderstedt
E-Book: ISBN 978-3-943519-09-9
Jemandem vorzuwerfen, dass er ist, wie er ist, bedeutet eben auch, ein Stück weit sich selbst zu verleugnen.
1 BIS 10
Es ist, ist aller Anfang und die erste Verspätung war die Geburt. Am 8. August hätte es geschehen sollen und obwohl später gemunkelt wurde, dass der Arzt sich wohl verrechnet haben könnte, waren und sind sich die Eltern doch einig darüber, dass die Schwangerschaft eben einen Monat länger gedauert hatte als gewöhnlich. Es geschah dann am 9. September und der erste Satz oder zumindest einer der ersten Kommentare des Vaters über den Sohn: „Der hat aber ‘nen großen Kopf!“, stürzte die Mutter in Zweifel und Tränen, obwohl er nicht mehr als das unbefangene Staunen eines 21-Jährigen über das einfach Begegnende zum Ausdruck brachte. Die Ursache für vielerlei Anlass zu derartigem Zweifel verschob sich über die Zeit jedoch mehr und mehr von Äußerungen des Vaters über die Erscheinung des Sohns auf dessen Handeln und Verhalten. Nichtsdestoweniger aber blieb er Sohn seiner Eltern und wurde – wie sollte es anders sein – ein Held, wie sie.
Die erste, oder besser die letzte Erinnerung besagt kurz: „Ich habe eingekackt.“ Wahrscheinlich erschloss sich dies – und das ist das Einzige, was wirklich zu irgendeinem späteren Zeitpunkt noch schemenhaft als Erinnerung im Kopf war – aus der Reaktion der Kinderkrippenerzieherin. Irgendwie rannte sie wild herum. Was auch immer sich wirklich zugetragen hat, es ist nun mal so, dass aus Begebenheiten Erinnerungen an Begebenheiten werden, die sich dann zu Erinnerungen an Gefühle und Bilder entwickeln und denen nun langsam die Gefühle entweichen. Als Nächstes formen sich die Bilder zum Satz und als Letztes bleibt die Erinnerung des Satzes, was nun schwerlich noch wirklich Erinnerung zu nennen ist. Am Ende kann man dann kaum noch trennen zwischen dem, was aus eigener Erfahrung zum Satz wurde, und dem, was einem vielleicht irgendwann irgendwer erzählt hat. Von Bedeutung für die Geschichte ist es wohl kaum und fäkale Angelegenheiten, wie die genannte, häufen sich wohl im frühen Kindesalter, so dass es nicht verwundert, dass da noch ein weiteres Ereignis präsent ist. Es war eher beschämend, in der Abstellkammer auf der halben Treppe des Wohnhauses vor Vati stehend, gestehen zu müssen, dass es passiert war. Im Alter von drei Jahren muss so was nun wirklich nicht mehr sein, auch wenn man gelegentlich hört, dass derlei Unfälle in nahezu allen Altersklassen hier und da vorkommen sollen. Danach kommt lange nichts, außer ein paar Fotos und einer Menge Dias, die von Zeit zu Zeit immer wieder mit all den dazugehörigen Geschichten an die Wand und in den Raum geworfen wurden, und deren Sammlung sich ständig erweiterte. Aus dem Kindergarten blieb das ein oder andere hängen – wie gesagt, sicherlich mehr oder weniger verwischt und durch Dritte ergänzt. Die Anlage des Kindergartens war schön. Das Haus hatte zwei Etagen, einen großen Garten oder Spielplatz und es steht noch immer im Sophienweg, derselben Straße, in der fast zwei Jahrzehnte später eine nicht unwesentliche Person dieses Lebens ihre erste eigene Wohnung nehmen sollte. In der oberen Etage gibt es in der Erinnerung nur zwei Zimmer, links außen und rechts außen. Im linken war Fasching, und die Kostümwahl stellte den werdenden Jüngling und sicher auch seine Eltern vor die ersten wirklichen Probleme von Individualität und Masse. Musketier zu sein und ein blaues selbst genähtes Mäntelchen mit weißen aufgenähten Kreuzen zu tragen, gefiel ihm damals, denn so gerne er auch auf seinem Schaukelpferd mit den Cowboys und Indianern im Fernsehen ritt, wollte er zum Fasching auf keinen Fall sein, was andere schon waren, und mit diesem Kostüm gelang das. Das rechte Zimmer im Kindergarten war bedeutender und konfrontierte unter anderem mit dem Strumpfhosenproblem. Es herrschte Missmut gegenüber der Erzieherin, denn sie beharrte darauf, dass die Straßenhosen zum Spielen ausgezogen werden mussten und die klassische Wollstrumpfhose das Beinkleid der werdenden Jugend sein sollte. Mit ausreichend Beobachtungsgabe und der Hilfe verständnisvoller Eltern konnte dem aber entgangen werden, denn zumindest im Winter wurde eine lange Männerunterhose von Frau Jahnke als nicht angemessene Beinbekleidung betrachtet und man durfte, wenn man so eine Unterhose anstelle der Strumpfhose anhatte, seine Straßenhose anbehalten. Diesen Trick hatte Thomas Euler vorgeführt und so geholfen, zumindest ab und zu, der mit dem Alter zunehmenden Peinlichkeit der Wollstrumpfhose zu entgehen. Am rechten Zimmer hängen auch die ersten Erfolge und Niederlagen und der Hinweis darauf, dass beides meist eng miteinander verbunden ist, wenn nicht gar zusammengehört. Das überrascht nichts sagende Gesicht von Anja Netzig nach dem Kuss auf den Mund, der zumindest für sie aus dem Nichts kam, gehört zu diesen Erfahrungen. Ein zweites Ereignis war ähnlich tiefgreifend. Die Aufgabe bestand im Nachbau des örtlichen Krankenhauses aus Holzbauklötzen. Die Heranwachsenden wurden in Arbeitsgruppen eingeteilt und wie in fast allen Gruppen gab es auch in der Gruppe, in der der Held den Bestimmer zu geben hatte, ziemlich homogene Vorstellungen über den Bau – vier Wände und ein Dach. Soweit ging es auch recht schnell vorwärts und mit Blick auf die anderen lag die Gruppe unter Führung des Helden gut im Rennen. Am Portal des Baus schieden sich dann aber die Geister, oder besser der des Bestimmers von dem der Gruppe. Es ging um die Säulen, die, das wusste er sicher, ganz bestimmt da waren. Unübersehbar groß bildeten sie das Portal des Krankenhauses. Aber darüber war sich eben nur der Held sicher. Nach heftigen Diskussionen wurde das Krankenhaus dann letzten Endes ohne Säulen gebaut und die Bewertung der Nachbauten war grausam für den Helden, der sich der Menge gebeugt hatte und nun Recht bekam, als alles zu spät war. So was war ungleich schlimmer als die Verunstaltungen seines Namens, die einige Kinder so zustande brachten und über deren Ursprung von mütterlicher Seite Aufklärung folgte: „Sie können es eben nicht besser.“ Die Härtefälle aus dem Kindergarten waren jedoch harmlos gegenüber dem, was die Verwalterin einer Ferienanlage in Lind am See einige Jahre später heraus brachte. Nichts hätte weiter entfernt sein können von allen Annahmen über sprachliche Unfähigkeit, als ihre indirekte Begrüßung: „Und das ist also der Nikolaus.“ Die Welt war erschüttert. Wirklich schlimme Erinnerungen gibt es aus dieser Zeit kaum und wenn da was war, so scheint es heute höchstens spektakulär. Aber das muss nicht verwundern – man redet sich seine Welt nun mal in einem nicht unerheblichen Maße schön. Wie sonst sollte man auch so lange darin leben können? Unabhängig davon: Die Kindheit war schön. Es gibt keine Erinnerung irgendeines Mangels, von Schmerzen ebenso wenig. Und Strafe war, bis auf einen oder zwei Hausarreste, im Wesentlichen unbekannt. Eine Flucht vor Vati ist noch abrufbar, aber die endete in Sicherheit unter dem Bettkasten, vor dem er dann kapitulierte, und mehr war nicht passiert. Viel schrecklicher dagegen muss die Entscheidung gegen Flüssigmedizin beim Kinderarzt gewesen sein. Mutti hatte die Wahl freigestellt und der Arzt ebenso. Tropfen und Säfte waren bekannt und schmeckten schlicht unerträglich, also entschied sich der Held spontan für die mehr oder weniger unbekannte Spritze. Als dann jedoch der Apparat erstmals aus betroffener Nähe zu betrachten war, war es zu spät, und – so wird erzählt – das Geschrei groß. Von den spektakulären Geschichten blieb außerdem noch die von der Kunst, oder besser die von der nachahmenden Kunst hängen. Im Zirkus hatte Vati dem Clown mehr oder weniger freiwillig seine erste Digitaluhr, ein Geschenk der Verwandtschaft aus Westberlin, anvertraut. Der ließ sie dann in einem kleinen Säckchen verschwinden und drosch nun recht heftig und geräuschvoll mit einem Hammer darauf ein. Danach holte er die Uhr, besonders zum Erstaunen der Jüngeren, unbeschadet wieder hervor. Nach dem Zirkusbesuch redete man zwar davon, dass die Uhr nicht mehr so richtig funktionierte – aber na ja. Ebenfalls im Zirkus, vielleicht aber auch irgendwo anders bekam der Held dann zu sehen, dass irgendwer sich mit dem Kinn auf ein recht locker gespanntes Seil hängte und dann, so hängend, ein paar Kunststückchen vorführte. So was schien leichter nachzuahmen als das mit der Uhr und nicht weniger gut geeignet, die übrigen Kinder im Kindergarten zu beeindrucken. Wahrscheinlich ging es besonders um Katarina Ebert. Wie auch immer, der Versuch endete damit, dass das Seil vom Kinn an den Hals rutschte, der Held den Boden unter den Füßen verlor und ihm gleichzeitig die Luft wegblieb. Abgehängt hat den Helden irgendwer, aber die zur Dramatik neigende Erinnerung sagt: Es war Vati, der glücklicherweise in letzter Minute kam, um ihn, wie üblich, abzuholen, und ihn so rettete. Trotz solcher Eskapaden durfte der Held den knappen Kilometer von der elterlichen Wohnung bis in den Sophienweg recht bald allein zurücklegen. Und auch wenn er die Uhr und ihre Funktion kannte, führte das oft zu Wartezeiten im Elternhaus, und nicht selten dazu, dass die Eltern ihn am anderen Ende der Stadt überraschten, wohin er Katarina Ebert auf ihrem Nachhauseweg begleitet hatte. Aber das war halt wichtiger als die Uhr, genauso wie Stöcke aus Büschen zu brechen oder zwischen den Bäumen Laub zu fegen. Das mit dem Laub fegen war übrigens eine tolle Idee. An dem kleinen künstlich angelegten Flüsschen, das als Abfluss des Heinrichsteiches dient und an dem man, im Gras liegend, prima die Veränderung der Gestalt der Wolken verfolgen kann, gibt es einen kleinen bewaldeten Damm. Auf dessen anderer Seite ist eine Straßenbahnhaltestelle und auf dem Damm ein Spazierweg. Was liegt für zwei Erstklässler näher, als darauf zu kommen, dem Gemeinwesen einen Dienst zu erweisen und den Damm, zumindest teilweise, vom Laub zu befreien? Steven Urloff war wahrscheinlich nicht in gleichem Maße von der Idee begeistert wie der Held, aber Überzeugungsarbeit stellte diesmal weniger das Problem dar, als damals beim Nachbau des Krankenhauses. Am Ende glaubte auch Steven, doch zumindest einen Orden für die Tat zu bekommen, und beide malten sich das prunkvoll aus. Aber der Orden blieb aus und zu Hause wartete man mal wieder. Neben derlei Zeitvertreib, bissen sich noch zwei, drei Sachen aus diesem ersten Schuljahr im Gedächtnis fest. Und wie sollte es anders sein, Mädchen und Prügeleien sind zwei davon. Die dritte war die beeindruckende Fähigkeit der Klassenlehrerin, ihren kleinen Finger beim Trinken aus ihrer Milchflasche etwas abzuspreizen. Heutzutage wird das nicht mehr so ästhetisch wie damals empfunden und junge Männer, die so trinken, werden gelegentlich darauf hingewiesen, dass es tuntig aussähe. Von den Mädchen war eine wirklich ganz besonders hübsch. Das zumindest so lange, bis eines Tages ein Popel in ihrer Nase leuchtete und alle Bemühungen um sie eingestellt wurden. Henrike Glimm, nicht die mit dem Popel, muss auch ziemlich okay gewesen sein. Beim Mittagsschlaf stand ihre Liege ganz nah bei der des Helden und die verschiedenen Geschlechtsmerkmale wurden – nach genauer und ausführlicher Diskussion des Ablaufs – gegenseitig der visuellen und sensuellen Begutachtung zugänglich gemacht, was beide offensichtlich nicht unaufregend fanden. Auch Ingo Pinkwart war aufregend. Warum auch immer, vielleicht hatte er dem Helden den Füller geklaut, auf jeden Fall musste er sich eines Tages vom Helden durch den Gang zwischen den Bänken ringen lassen und fiel nach einem letzten Stoß rücklings krachend in das Regal mit den Schlafmatten. Sieg! Auf dem Schulhof oder sonst wo außerhalb des Klassenzimmers verboten sich derartige Frechheiten und zwar spätestens seitdem man gehört hatte, dass die Großen die kleinen Frechen zuweilen in die Mülleimer stopfen würden. Die letzte Begegnung mit Ingo Pinkwart fand irgendwann zwanzig Jahre später statt. An irgendeiner Tankstelle stellte er nach kurzem Blabla lächelnd die Frage, ob sie das mit dem Mattenregal noch einmal versuchen wollten. Die dankende Ablehnung des Helden war nicht lapidar, denn wenn Ingo mittlerweile auch beinahe einen Kopf kleiner war als der Held, so war er doch fast doppelt so breit und dabei keineswegs fett. Ansonsten konnten Prügeleien spätestens seit den entscheidenden Niederlagen in der dritten oder vierten Klasse nicht mehr vorkommen. Das wurde so entschieden. Steven Urloff hatte die Schwächen im Raufen, unter Anfeuerung der Meute, zum Vorschein treten lassen. Mehrere Tage war der Hals vom Würgen rot und die Grasflecken waren aus dem khakifarbenen Hemd, das per Paket aus Berlin gekommen war, nicht mehr rauszubekommen. Woher die Feindschaft kam, die ja spätestens mit der Verfolgung durch nahezu alle Jungs der Klasse offensichtliche wurde, liegt irgendwo begraben. Nach dieser Schlüsselszene – zumindest gibt sie sich heute als solche – blieben in puncto Raufereien nur noch zwei Sachen, die nicht zu verhindern waren: Vor dem Jugendclub im Stadtzentrum kam irgendwann irgendein Typ auf die Idee, dem Helden ins Gesicht treten zu müssen – weil er Stimmen gehört hatte oder so. Er traf aber nur seinen im Reflex gehobenen Arm. Und in der Stammdisko in Sternheidnitz flogen dem Helden gerade Gedanken über das Lächeln einer hübschen kurz gelockten Fremden im Kopf herum, die eben zu ihm rübergekommen war und gefragt hatte: „Bist du nächste Woche wieder hier?“, als plötzlich Fäuste auf ihn niederprasselten und sich sein entspanntes Rumsitzen unerwartet in ein eher unglückliches Rumliegen verwandelte. Von hinten nach oben gedrückt blieb noch, den Gegner am Hals gepackt und ihn auf die Tanzfläche drängend, zu schreien: „Was willst du Clown!?“, da waren auch schon Yves Wehler und all die anderen Leute da und es wurde Palaver. Am Hemd war etwas Blut und irgendwann kam der Typ wieder und wollte wissen, was seine Freundin gesagte hatte. Einer seiner Freunde faselte was von Mafia und meinte: „Er weiß nicht, wer er ist!“ Wie wichtig! Aber ihm sagen, was seine Freundin gesagt hatte, das ging nicht. Dann kam von ihm die Einladung zum Bier. Das ging auch nicht. Was für ein Blödsinn auch, erst männlich schlagen, dann männlich trinken und dann prima Kumpels werden. Na ja, später meinte er noch: „Ich bring dich um!“, und ging. Kaum auszumachen warum, aber Sternheidnitz war in der darauffolgenden Woche nicht angesagt.
Nach der ersten Klasse ging es von der Goetheschule auf die Neuenburger Oberschule, die direkt neben dem Schlosspark lag und mittlerweile zum Hotel umgestaltet wurde. Benedict sagte, nachdem er dort zu seinem Klassentreffen war, dass sie nicht allzu viel umgebaut hätten und im Wesentlichen die Klassenzimmer jetzt eben Hotelzimmer sind. Auf dem Schulhof stand und steht ein Baum, im Park auf der anderen Straßenseite standen und stehen ein paar mehr. Die Umschulung verlief ziemlich unproblematisch, was nicht immer so sein muss, wie später deutlich wurde, und einige aus der alten Klasse kamen mit. Sven Blauner gehörte dazu, das ist ziemlich sicher. Sein permanenter, abstoßender Eigengeruch hat ihn eingeprägt. Steven Urloff zog auch mit um. Katarina Ebert aus dem Kindergarten war schon seit der ersten Klasse hier, genau wie Sören Gradweg und Mark Löbsch. Über die ersten Jahre ist wenig zu sagen geblieben. Die Einführung in die neue Klasse wurde dadurch gekrönt, dass sich der Held selbst als Vorsitzender des Gruppenrates vorschlug, was nicht für alle nachvollziehbar war und seine allgemeine Beliebtheit nicht wirklich steigerte. Aber wer kann schon über seinen eigenen Schatten springen? Es gab den Stellvertreterposten. Mark Löbsch war der Größte, oder besser der Längste in der Klasse und das so ziemlich von Anfang bis Ende der Schulzeit. Er hat dem Helden mal unerwartet ins Gesicht gepupst. Ob das was mit dem Wahlvorschlag zu tun hatte, ist schwer zu sagen. Was die Körpergröße anging, die beim Antreten immer von einer Reihenin eine Rangfolge umschlug, so ging es für den Helden über die Jahre von irgendwo ziemlich weit vorne bis ans letzte Ende der Reihe. Mutti war in der neunten Klasse mit 1,54m immer noch nicht eingeholt.
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Natürlich hatte es schon früher die eine oder andere Dummheit gegeben. So waren zum Beispiel in der ersten Klasse Mutti und Vati zum Gespräch in die Schule geladen worden, weil unter der Bank des Helden so was wie ein Hakenkreuz gemalt war. Aber Geschichte wurde noch nicht gelehrt und so war das kein wirkliches Thema, obwohl es hängen geblieben ist. Der wahre Aufstand wurde dann zum ersten Mal in der fünften Klasse geprobt, in der die Schüler von der Klassenlehrerin der Unterstufe, die bis dahin so ziemlich alle Fächer gegeben hatte, ans Lehrerkollektiv der Oberstufe übergeben wurden. Der Kontakt zu ihr blieb trotzdem noch lange erhalten und so ist es Annemarie Rosenhain zu verdanken, oder besser ihrem Sohn, dass in der sechsten oder siebenten Klasse die Möglichkeit bestand, die erste Depeche Mode Schallplatte auf Kassette zu überspielen. Es geschah in halb konspirativer Atmosphäre bei ihr zu Hause und es ist durchaus möglich, dass die Platte nicht von der Volkseigenen Schallplattenfirma war. Den Vornamen von Frau Rosenhain hatte Sören herausbekommen und nicht minder konspirativ wurde dieses Insiderwissen genutzt, um sich der Anerkennung der Nichtwissenden zu versichern, indem man, wenn man unter sich war, sie nur beim Vornamen nannte. Wissen ist Macht. Es gab nun auch diese Tagebücher für den Stundenplan, die Hausaufgaben und diverse Mitteilungen der Lehrer an die Eltern. Eine absolut kritische Institution, die nicht nur den Informationsfluss zwischen Schule und Elternhaus, sondern auch die Geschicklichkeit im Nachahmen von Schriftzügen unter den Schülern beförderte. Eine junge Russischlehrerin hatte es besonders schwer und sie trug die Verantwortung dafür, dass die Schriftfarbe Rot in den meisten dieser Bücher immer mehr Platz griff. Einmal musste die Klasse die ganze Stunde stehend zubringen, nur weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, dass man sich nach der Begrüßung nicht setzen könne, bevor absolute Ruhe sei, was natürlich umso unmöglicher wurde, je intensiver sie es forderte. In der Sechsten gab es dann eine andere Lehrerin für Russisch, Frau Sass. Mit ihr ging es, bis auf einige Ausfälle, ganz gut. Das wirkliche Chaos brach dann irgendwann während der siebenten oder achten Klasse aus und der Fakt, dass eine Unmenge Blödsinnigkeiten im Kopf geblieben sind, weist darauf hin, wie sich die Prioritäten im werdenden Sein langsam zu verschieben begannen. Die Wirkung wurde bis zum Exzess geprobt und das war zuweilen wirklich kein Spaß mehr. Insbesondere für Alexander Knopf nicht, dem die Meisten wohl ausgedehnte Grübeleien über Gut und Böse, Richtig und Falsch, Erniedrigung und Würde zu verdanken haben.
Insgesamt war die Schule keineswegs unangenehm. Von der Wohnung im Ratsweg lief der Held meist zusammen mit Benedict Lindlaub und Danilo Urban, die im gleichen Haus wohnten wie er, den knappen Kilometer durch die Neuenburger Straße, in der eine ganze Menge Leute aus der Klasse in einem Plattenbau wohnten, bis hoch zum Schloss, wo direkt neben dem „Haus der Kultur“ die Schule stand. „War das nicht Kurt?“ Gemeint war Frank Zander und er muss es wohl wirklich gewesen sein, der da im Foyer des Kulturhauses vorbeilief, als dort, beziehungsweise auf der Treppe vorm Eingang, wieder mal eine Freistunde totgeschlagen wurde. Auf dieser Treppe heckte man manchmal interessante Ideen aus und übte spucken. Hier traf sich der harte Kern, in Spitzenzeiten weit über die Hälfte der Klasse. Auch diesmal war es so. Nur die wenigsten waren gegangen, nachdem die fünfte und sechste Stunde ausgefallen waren und keiner so richtig wusste, was er tun sollte. Katarina Ebert war auf keinen Fall dabei, sie war nie bei irgendetwas dabei. Herr Allgeier, der Zeichenlehrer, der nicht nur Fähigkeiten, sondern auch soziale Herkunft zu unterscheiden wusste, nannte sie immer „Eberten“. Natürlich mit dem Hinweis, dass das nicht so gemeint wäre, sondern eher im Gegenteil. Ihm war das auch beim zwanzigsten Mal nicht peinlich, ihr aber wahrscheinlich schon beim ersten Mal. Allgeier konnte aber nicht nur necken, sondern auch schlagen. Sven Blauner, der immer so roch und wahrscheinlich das ärmste Schwein in der Klasse war – zur Jugendweihe musste er den alten Anzug seines Vaters tragen –, drosch er irgendwann mit dem Meterlineal auf die Hand und hatte dabei einen ziemlich angespannten Gesichtsausdruck. Er war ein cholerisches Arschloch und Steven Urloff hatte wohl Glück, als er ihm einmal, durch das Schulhaus rennend, entkommen war. Auf dem Weg, der hinter der Schule lang führte, gab Allgeier dann auf, schrie aber in den letzten Zügen noch: „Urban, ich krieg’ dich!“ Das löste Verwirrung aus, denn Urban war nicht Urloff und Urban, Danilo Urban, dessen Vater Allgeier in mancherlei Hinsicht ähnlich war, wurde panisch in der Annahme, dass Allgeier vielleicht gar nicht wusste, wem er da hinterher gerannt war und eventuell falsche Beschuldigungen vorbringen könnte. Glücklicherweise vergessen Choleriker schnell oder müssen schnell vergessen, um überhaupt mit der Welt klarzukommen, und es passierte nichts. Danilo hatte öfter Pech. So beschossen zum Beispiel alle eine vorbeifahrende Straßenbahn mit Erbsen aus selbst gebauten Schleudern und ausgerechnet Danilos Schuss ließ eine Scheibe zu Bruch gehen. Schneebälle flogen von einer Straßenseite auf die andere und zurück. Danilos Schneeball traf ein vorbeifahrendes Auto und der Fahrer wollte nun unbedingt wissen, wo Danilo wohnte. Obwohl nichts passiert war, fuhr er dann dort vorbei, und man sah Danilo einige Wochen lang nachmittags nicht mehr. Zusammen mit Benedict Lindlaub kehrte er den Hof des gemeinsamen Wohnhauses im Ratsweg. Danilos jüngere Schwester wollte unbedingt mitmachen und kam ihrem Bruder zuvor, der ihr einen Besen aus dem Keller holen wollte. Mit ihren Rollschuhen stürzte sie dabei die Kellertreppe hinunter und noch bevor die drei Jungs sie erreichten, kam Danilos Vater raus und verdrosch ihn ohne ein Wort mit dem Besen, während seine Schwester im Keller heulte. Es war schockierend. Danilo ist Rettungssanitäter geworden und war zuletzt irgendwo im Süden der Republik. Sein Vater war früher Chef der Kommunalen Wohnungsverwaltung, machte später weiter in Immobilien und trinkt wahrscheinlich immer noch. Neulich lief er geraden Blickes am Helden vorbei. Das war auf dem Sozialamt.
Außer Katarina Ebert fehlten am Kulturhaus noch ein paar Mädchen und der eine oder andere Junge. Vollständig kollektiv wurde wahrscheinlich sowieso nur an dem Tag gehandelt, an dem alle beschlossen, der „Produktiven Arbeit“ – ein Teil des Bildungsprogramms – in der Papiermühle der Heimatstadt fernzubleiben und es auch taten. Für gewöhnlich durften dort Lampen zusammengeschraubt werden und es wurde Technisches Zeichnen gelehrt. Nah dran an der Kollektivtat war die Klasse dann noch mal während der Zehnten, im Wendejahr. Die letzte Klassenarbeit in Staatsbürgerkunde wurde boykottiert und die ganze Stunde über herrschte Schweigen. Auch Berthold Ritter, der damalige Klassenlehrer mit den roten langen Haaren, sagte nichts. Zehn Minuten vor Schluss wurden aber doch noch zwei Mädchen panisch und fingen hektisch an zu schreiben – aber das spielte keine Rolle mehr. Die Versammlung auf der Treppe des Kulturhauses war mangels Ideen gerade in Auflösung begriffen, als sich irgendwer einer Russenmütze mit Ohrenklappen aus irgendwelchem synthetischen Pelz zuwendete. Sie wurde angezündet, entflammte aber nicht, sondern schwelte nur, rußte und stank fürchterlich. Unbändige Kreativität befahl, das qualmende, stinkende Etwas sofort rüber ins Schulhaus zu bringen. Dass die Sache nicht ungefährlich war und man erwischt werden konnte, war klar. Es wurde eine Gruppe aus Freiwilligen gebildet. Sören Gradweg, die Verantwortung, Nicole Kiesing, die Irre, Marko Zost, der Zahnlose, und noch irgendwer waren bereit und schritten zur Tat. Der Rest wartete geduldig auf die Rückkehr des Stoßtrupps, der nicht lange auf sich warten ließ. Auftrag ausgeführt! Nichts passierte und man wendete sich gerade wieder dem Spucken zu, als der Feueralarm losging. Von der Treppe des Kulturhauses blickten sie die knapp hundert Meter Fußweg zum Haupteingang der Schule hinüber und betrachteten die Evakuierung des Gebäudes und den Rauch, der aus der Tür quoll. Es kann von da an nicht mehr lange gedauert haben, bis jeder mit gemischten Gefühlen den Schauplatz in Richtung Heimat verließ. Der nächste Tag barg einige Überraschungen, deren Reihenfolge verloren ging. Auf jeden Fall war die Schule nicht abgebrannt. Dennoch, zuerst kam in der Deutschstunde einer von der Feuerwehr vorbei und erzählte ganz unverbindlich, was bei einer Brandstiftung so alles passieren kann. Dann kam jemand von der Kriminalpolizei und sprach zum gleichen Thema aus einem anderen Blickwinkel und mit ganz anderer Stimme. Danach und in den folgenden Tagen wurden hin und wieder einige zu Einzelgesprächen ins Büro der stellvertretenden Direktorin beordert und die Herzen schlugen schneller, wann immer es an der Klassentür klopfte. Danilo hat es natürlich auch erwischt. In diesen Tagen spekulierten die Verdächtigten wild, wie man wohl darauf gekommen sein könnte, dass gerade sie was damit zu tun hätten. Der Stoßtrupp war sich sicher, dass er nicht gesehen wurde, und außerdem hätte man ja ansonsten gleich die Richtigen rausgefischt. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass einfach nur aufgefallen war, dass die Klasse 9a zur fraglichen Zeit vorm Kulturhaus versammelt war und dass aus dieser Tatsache und einigen alten Geschichten auf die Täterschaft geschlossen wurde. Die Initiatorengruppe einigte sich auf Kollektivschuld und tat das durch mehrere Münder immer wieder engagiert und begründet kund: „Wir waren alle dabei, haben es alle gemeinsam ausgeheckt. Warum sollen jetzt ein paar wenige dafür bluten?“ Dennoch, man wollte immer wieder wissen, wer denn nun genau die Mütze in der Schule angezündet hatte, denn das „können ja nicht alle gewesen sein“. Die Geschichte hatte sich zur Kraftprobe zwischen der Klasse und der Schulleitung entwickelt und nach ein paar Tagen stellte sich Sören. Auch wenn es natürlich Blödsinn war – die Aktion selbst war zwar sicherlich scheiße, aber das mit der Kollektivverantwortung war richtig. Wahrscheinlich war es das Glück der drei anderen, dass Sören dabei war. Sein Vater war Polizist und außerdem schienen die Lehrer nicht ganz frei davon zu sein, gegenüber den besseren Schülern mildere Strafen zu verhängen. Letztendlich hatten die Eltern der überführten Täter je einige hundert Mark an die Feuerwehr zu bezahlen, wegen des Aufwands, den es dort gab, und die Geschichte ging als „Aktion Brandstiftung“ in die Annalen ein.
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Wenn’s gut läuft, merkt man sich nur selten, was läuft. Alles ist im Fluss und es gibt nirgendwo eine Ecke, an der sich das Gedächtnis aufhängen könnte. Von der so genannten „Kindheit“, die, wie wahrscheinlich alles im Leben, nach gewisser Zeit nur noch vom Hörensagen bekannt ist, blieb vielleicht deshalb nur weniges und manches aus oben genannten Gründen sicher in halbglorifizierter Form. Erinnerungen werden mit aktuellen Schlüssen und Erfahrungen vermischt und so kommt Sinn in das Geschehene. Das Sein wird zur Geschichte, denn nie ist es schon eine, wenn es passiert. Immer aber ist es aus und in einer.
Bianca und Karl hatten sich auf einer Ostseeinsel kennen gelernt. Er war auf der Insel mit ein paar Kumpels zum Zelten, sie kellnerte dort und kam eigentlich aus Erzbergen, einem Dorf direkt an der tschechischen Grenze, welches sie in dem Moment verlassen hatte, als es ihr möglich war. Ihr Vater – der ab und zu zuschlug, auf seine Kinder aber nichts kommen ließ – hatte sich irgendwann selbst erhängt und ihre Mutter war mit Recht stolz auf die neun Kinder, die sie zur Welt brachte. Einige von ihnen verließen noch vor der Wende das Land – mehr oder weniger unproblematisch. Annika heiratete einen Libyer und kam so über Umwege nach Westberlin. Gernot – ein sehr gerader Mann – musste, bevor man ihn gehen ließ, über ein Jahr im Gefängnis sitzen, und das im Prinzip für den Satz: „Für diesen Staat arbeite ich nicht mehr!“ Na ja, bevor er das sagte, muss er sich wohl noch mit dem Abschnittsbevollmächtigten geprügelt haben. Auf jeden Fall hatte Karl Bianca in dem Restaurant, in dem sie kellnerte, angesprochen und gefragt, ob sie ihm nicht die Stadt zeigen könnte. Später musste sie ihm dann etwas Geld leihen, damit er länger bleiben konnte, und danach zogen sie gemeinsam in die Mansarde unterm Dach des Hauses ein, in dem seine Eltern wohnten. Als Kind hatte Karl Pilot werden wollen und ist dann Maler geworden. Als sie heirateten, war sie schwanger und zwanzig, er einundzwanzig. Als angehende Familie stand ihnen nun eine Wohnung zu und nachdem sie sich mehrere Löcher angesehen und abgelehnt hatten, bekamen sie durch Beziehungen seiner Mutter, die ihn auch vorm Militärdienst bewahrt hatten, in dem dreigeschossigen, über hundert Jahre alten Haus im Ratsweg die Wohnung im zweiten Obergeschoss links. Zwei Zimmer, knapp 80 Quadratmeter, Ofenheizung, die Wände mehr oder weniger bloßes Mauerwerk, Toilette auf der halben Treppe. Im Wohnzimmer spielten sie am Anfang Federball, was bei über drei Metern Raumhöhe und mehr als acht Metern Länge kein Problem war. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass die beiden die Wohnung selbst (aus-)gebaut haben und das ganze Haus, gemeinsam mit den anderen Mietern, in den folgenden Jahren eigentlich erst zu einem machten. Reinhardt und Moni Lindlaub müssen ungefähr zur gleichen Zeit eingezogen sein. Ihr Sohn Benedict wurde ein paar Monate vor dem Helden geboren und es gibt ein lustiges Foto von zwei kleinen Jungs in einer Plastikbadewanne auf dem Hinterhof des Hauses, einer mit vollem blondem Haupthaar – Benedict, der andere mit Spiegelglatze, die ihm bis weit ins dritte Lebensjahr erhalten blieb – die zweite Verspätung. Ein paar Jahre danach zogen dann auch Volkmar und Ingrid Urban mit Sohn und Tochter im Parterre rechts ein. Darüber, neben Lindlaubs, wohnte Rudolf Denuns mit Frau und mehreren schon etwas älteren Söhnen. Rudolf arbeitete im Haus schräg gegenüber als so etwas wie ein Pförtner. Er musste aber Uniform tragen und hat Benedict, Danilo und den Helden ein, zwei Mal wegen irgendwas mächtig zusammengeschissen und ein Mal sogar mit den Köpfen zusammengestoßen. Er war im Allgemeinen also etwas streng, muss ansonsten aber ganz okay gewesen sein. Dennoch, so richtig sicher war sich bei ihm keiner. Über Denuns’ lebte Frau Spatz, eine Russin, die auf dem Militärflughafen der Stadt Dolmetscherin war, gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Mutter. Die Mutter starb irgendwann als über 80-Jährige, der Mann schon mit Mitte fünfzig. Ihre Wohnung war anders, voller alter schwerer Möbel und Unmengen von Teppichen, großer Holzschnitzereien und Säbel – überall stand, lag oder hing irgendwas rum, das alt aussah. „Willst du Borschtsch?“ „Nein, danke!“ „Aber musst du unbedingt probieren!“ „Was ist das denn?“ „Warte, ich mache fertig. Wird dir schmecken.“ Die Skepsis wich schnell der Furcht, als sie mit einem Teller ankam, auf dem so was wie Krautsuppe zu sehen war. Der Hals wurde enger und während des Versuchs, zwischen gebotener Höflichkeit und Ekel abzuwägen, vermengte sie das Servierte auch noch mit Ketchup. Zwei Löffel, dann ging nichts mehr. Beim Vokabeln lernen hat sie sich dann am Helden gerächt und bestand penibelst auf einer wirklich russischen Aussprache. „Ja, tui, on, ona, ono, mui, wui, oni …“ Es war unmöglich, das so nachzusprechen, wie sie es hören wollte. Keine Ahnung, ob das wirklich so wichtig war, aber das „ui“ sollte irgendwie wie ein kurzes „eh“ oder wie eine Mischung aus „ui“ und „eh“ klingen – unaussprechlich und sie ließ nicht locker. Es dauerte ewig, war schweißtreibend und die letzte Nachhilfestunde bei ihr. Unten links wohnten noch Lehmanns, die später zwei Söhne bekamen und die Hausgemeinschaft vervollständigten. Es war wirklich eine. Man machte eine Menge Ausflüge, verbrachte gemeinsame Wochenenden in einer Bungalowsiedlung mitten im Wald, ganz nah bei einem weit angelegten Tierpark, und es fanden unendlich viele Hausfeste mit grillen und so statt. Auf dem Hof des Hauses ritzte die werdende Jugend Löcher in die Mauern zu den Nachbargrundstücken, um zu sehen, was dahinter war, und auch im Sand-, oder besser Erdkasten grub man Löcher. Später wurde daraus sogar eine Höhle, deren Decke aus Zaungeländern bestand, die mit Ästen, Gras und Sand überdeckt waren. In einer anderen Ecke des Hofs wurden kleine Beete angelegt, auf denen Bohnen, Blumen und dergleichen wuchsen, und nicht selten schrie der Held penetrant ausgedehnt und ausdauernd nach Mutti, wenn’s irgendwo fehlte – sie war immer da. Es wird auch berichtet, dass er sich lange schweigend selbst beschäftigen konnte, einen Metallbaukasten hatte und vieles andere. Auf dem Kindersitz des Mopeds schlief er öfter ein, wenn die kleine Familie zum Kanal baden fuhr, und in dem weißen russischen Auto mit den braunen Seitenstreifen musste er sich einmal, wie er es gelernt hatte, zwischen Fahrersitz und Rücksitzbank zwängen, weil ihnen ein anderes Auto auf ihrer Spur entgegenkam. Das war auf dem Weg nach Erzbergen, wo er Ski fahren lernte, Iglus und Hütten im Wald gebaut hatte und sein Cousin Ron sich mal in einer Felsspalte eingeklemmt hatte. Jeder Winter gehörte Erzbergen, zumindest so lange Oma dort wohnte. Ihr Haus war einfach, oder besser gesagt eine Hütte, es gab einen Ofen in der Stube und einen in der Küche, an dem Schorsch immer saß – er hat ständig rumgealbert und war Omas Lebensgefährte. Keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Die Betten hatten im Winter Schneetemperatur, im Waschhaus saß eine riesige Kröte und Mausefallen waren unverzichtbar. Eigentlich ist es unvorstellbar, dass in diesem Haus mal elf Leute zugleich gewohnt haben, und freiwillig würde dort heute niemand mehr schlafen wollen; aber es war das Paradies. Direkt hinterm Haus war Brennholz aufgestapelt, ein Hackklotz stand auf einer kleinen Wiese, dann fing der Wald an, der kein Ende hatte und der beste Spielplatz war. Es gab keinen Zwang und es war immer was los. Olaf, einer der unzähligen anderen Cousins, der schon etwas älter war, legte Dean-Read-Platten auf und Ron brachte aus Westberlin Comics und phantastische Osterteller mit. Die Sonne schien, alles war herrlich. Anne, die Tochter der jüngsten Schwester von Mutti wurde tagelang in einem größeren Karton durch die Wohnung geschoben und hatte, wie alle, viel Spaß dabei. Das Zimmer von Hans-Jürgen und Udo, der eigentlich Meck hieß, war mit Sarotti Schokoladenpapier geschmückt und in Gernots hing eine schwarz-rot-goldene Fahne ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Es standen Bücher von Tolstoi und Schallplatten von John Lennon rum. Er nahm den Helden mal mit zum Eisfasching ins Nachbardorf, musste sich auf dem Rückweg aber unbedingt mit dem Abschnittsbevollmächtigen prügeln, so dass der Held bockig allein nach Hause lief. Irgendwann hat einer Ihrer Brüder Mutti mal mit dem Messer bedroht und gemeint: „Ich stech’ dich ab!“, was natürlich nicht geschah. Offensichtlich war doch nicht alle Tage eitel Sonnenschein. Auch das Mitleid ist untrennbar mit Erzbergen verknüpft, oder besser mit dem Tag, an dem der Volkslieder und Schnulzen singende Herbert Roth starb. Oma stand in der Küche der „Moorklause“, einer Gaststätte direkt am begehbaren Hochmoor von Erzbergen. Sie machte gerade den Abwasch, als die Nachricht im Radio kam. In der Gaststube, die immer verraucht war und im Winter nach Schnee und feuchtem Holz roch, war daraufhin der Akkordeonspieler zusammengebrochen, er weinte, schluchzte und zitterte fürchterlich. Man versuchte, ihn zu trösten. Es war unglaublich.
Der Stichling im Glas, während des Urlaubs mit der anderen Oma. Der erste selbst geangelte Fisch. Krebse fangen, kochen, ausstopfen und lackieren. Ferienlager, der tschechische Junge mit den zwei goldenen Schneidezähnen und die Zwillinge, die einfach nicht wahrhaben wollten, dass man sie doch unterscheiden konnte. Rad fahren lernen. Zelten mit Mutti und Benedict. Vati, der im Schwimmbad Silvesterkarpfen mit der Hand fing, und der geheulte Bannfluch auf Mutti bei der Schlachtung des Karpfens, dem drei Tage lang die Badewanne gehörte. FKK baden, aufs Plumpsklo gehen, im Kanu auf dem See rumschippern, Kirchenglocken läuten und meterhoch vom Seil in die Luft gezogen werden, Stöcke schnitzen und Uller sammeln. Schlösser, Burgen, Museen, Höhlen … unzählige goldene Tage.
14 BIS 16 | 1
Das Haus, in dem Steven Urloff mit seinen Eltern wohnte, gehörte seiner Oma. Die Jugendzahnklinik, der der Held unvergessliche Erlebnisse verdankt, war auch in diesem Haus, und unter dem Dach, direkt über den Zahnärzten, wohnte Steven. Er hatte unendlich viel Lego-Spielzeug, bestimmt hundert dieser kleinen Schlümpfe aus der Kinderüberraschung, eine kleine Schwester, die fürs Kacken auf dem Töpfchen immer gelobt werden sollte, und einen dicht bewachsenen Garten mit Goldfischteich, einem Schuppen und einem kleineren Haus, das als Garage genutzt wurde und unterkellert war. Seine Eltern waren recht nett und Westfernsehen gab es hier ohne den Hinweis, dass man es in der Schule nicht erzählen sollte. Obwohl die Jungs mal unglücklich eine Schubkarre im Goldfischteich versenkten und danach der Springbrunnen eine Weile nicht funktionierte, schlug Stevens Vater irgendwann vor, dass sie sich doch den Keller unter der Garage zurechtmachen und als Domizil nutzen könnten. Der Club war gegründet. Zu den Aktivisten der ersten Stunde zählten, neben dem Helden und Steven, auch Mark Löbsch, Sören Gradweg, der Brandstifter, und Marko Reinhardt. Der Keller war nicht sonderlich hoch und es dauerte einige Wochen, bis er endlich vom Gerümpel befreit war und sie den vorderen der beiden Räume so weit ausgeschachtet hatten, dass man aufrecht darin stehen konnte. Das Mauerwerk wurde seiner Spinnweben beraubt, abgebürstet, abgewaschen und mit Postern zugehängt. Auf den zwei riesigen alten Sesseln und dem noch größeren Sofa probierten sie die ersten Mentholzigaretten und grabschten an Mädchen rum, die später auch ab und zu dort waren. Es gab unzählige Partys mit den Ärzten und der Neuen Deutschen Welle. Den krönenden Abschluss fanden die Club-Zeiten in der neunten oder zehnten Klasse zu Silvester – es war wohl die letzte Feier im Club. Eine ganze Menge Leute waren da und auch Alexander Knopf wurde eingeladen. Es ist denkbar, dass er von Anfang an als Joker für den Fall eingeplant war, dass es an Action fehlen könnte. Alle tanzten und tranken ausgelassen und als der erste Blitzknaller im Kartoffelsalat explodierte, gab es keinen Halt mehr. Was vom Salat übrig blieb, wurde an der Fassade des Hauses von Stevens Oma verteilt, und auch Alexander Knopf war so weit. Vielleicht hat er zwischendurch tatsächlich geglaubt, dass andauernd auf die Freundschaft getrunken werden sollte, am Ende rutschte er dann in sich zusammen und wurde auf die Wiese im Garten geschleift. Die Schaulustigen staunten, die Freundschaftstrinker wurden wieder nüchterner und niemand wusste etwas mit dem Körper anzufangen, aus dessen Mund Schleim lief. Es war ein wenig wie damals mit der Taube, die aufgeregt durch den Garten hüpfte, weil sie nicht mehr fliegen konnte. Sie wurde gefangen und irgendwer hatte die Idee, sie anzuzünden. Man steckte sie euphorisch in einen metallenen Kohleneimer und bespritzte sie mit Spiritus, während sie versuchte, rauszuspringen. Derjenige, der das Streichholz angezündet und in den Eimer geworfen hatte, wusste nichts von den Beklemmungen des Helden, die mit den Flammen in wilde Versuche mündeten, das Geschehene abzuwenden, und dem Begriff „Schuld“ die Bedeutung „Leid“ hinzufügten. So brutal, wie das Gefühl bei der Taube war, war es hier nicht. Immerhin hatte Alexander Knopf ja selbst getrunken und er atmete noch. Die Entscheidung, dass er weg musste, war schnell getroffen, und so wurde er in eine Schubkarre verfrachtet, in die dann, wie zwangsläufig, von irgendwoher noch ein Blitzknaller geworfen werden musste. Man fuhr ihn hoch an die Neuenburger Schule. In der Berufsschule gleich dahinter war Alexanders Vater Hausmeister und sie wohnten dort. Es muss gerade Hofpause gewesen sein, als ein paar Mädchen der Berufsschule, Medizinbälle tragend, am Schulhof vorbei liefen und der Held, wie einige andere Jungs, sich genötigt fühlte, einem von ihnen den Ball aus der Hand zu schlagen. Hin, draufhauen, ab… Aber sie war schneller und trat ihm in den Arsch. Die Schuhe, die sie trug, können keine Sportschuhe gewesen sein, sie waren spitz und trafen voll ins Schwarze. Aber das war schon Jahre her, jetzt diskutierte man über die letzten Meter. Die Meute wartete in sicherer Entfernung und die mutigsten fuhren Alexander bis zum Eingang. Abladen, hinstellen, klingeln, wegrennen. Das war’s. Vielleicht wurde weiter gefeiert, vielleicht auch nicht. Alexander Knopf verbrachte auf jeden Fall die übrige Nacht mit schwerer Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Genug, sollte man meinen.
Christian Schradler, der später als Erster aus der Klasse Vater wurde, kam in der siebenten Klasse dazu und vereinigte einige Eigenschaften auf sich, die eher anziehend wirkten. Er sah gut aus, was ihm die Zuneigung der vom Helden bis dahin erfolglos umbuhlten Conny Mangler sicherte, und er war stark, was bei den Jungs ankam. Alexander Knopf, dem nichts von dem eignete, kam frei von Allüren und in einfachster Kleidung, was ihn zwar ebenso auffällig, aber umso angreifbarer machte. Das war zu Beginn der neunten Klasse und alles begann mit der Reichstagsbrandprovokation: Berthold Ritter, der als Klassenlehrer auch Geschichte und Staatsbürgerkunde unterrichtete, hatte die Eigenart, sich beim Vortrag mit verschränkten Armen wie eine Banane nach hinten zu krümmen und so, mit leicht gespreizten Beinen und zwecks Handzeichen ab und zu einen Unterarm aus der Verschränkung lösend, zu dozieren. Dabei bog sich der Rücken umso mehr nach hinten durch, je konzentrierter er war. Wegen dieser Eigenart kam es zwischen Berthold, wie Herr Ritter von allen in Abwesenheit genannt wurde, und Danilo Urban mal zu einem Duell im Mit-verschränkten-Armen-nach-hinten-beugen. Im Frage-und-Antwort-Spiel schaukelten sich beide gegenseitig hoch oder besser nach hinten, wobei Danilo, weil er saß, einen Vorteil hatte. Er lag eindeutig vorne, musste sich aber nach einem cool aus dem Unterarm geschüttelten Platzverweis geschlagen geben. Berthold war nicht unsympathisch und eher der Typ „ewiger Student“ mit grüner Kutte und Moped, und er hatte w as mit der Chemielehrerin Frau Knaut. Alexander hatte sich in einer seiner ersten Stunden in der neuen Klasse auf die Frage nach dem Reichstagsbrand hin gemeldet und fing nun an, mit etwas quäkiger Stimme von einem Typen zu erzählen, den die Nazis mit einem „Päckchen Kohlenanzünder“ dort reingeschickt hätten. Obwohl eigentlich nicht weit weg von der Sache, reichte das, um zwei Jahre Verachtung und Demütigung folgen zu lassen. Sören Gradweg hatte ihn trotzdem zum Baden eingeladen und, wie einige andere auch, guten Willen gezeigt. Dennoch, es gab kaum jemanden, der sich immer zurück und raushalten konnte, und keinen, der wirklich Partei für ihn ergriff, bis auf die Küchenfrauen, die ihn in den schlimmsten Zeiten die knapp zweihundert Meter bis nach Hause brachten. Was immer es war, Alexander war schuld. Es fing damit an, dass sein Rücken als Zielscheibe für im Mund angefeuchtete Papierkügelchen diente, die man sich später sparte, um ihm direkt auf den Pullover zu spucken. Dass er am nächsten Tag immer noch den Pullover mit der getrockneten Aule vom Vortag anhatte, forderte eher heraus, als zu bremsen. Und wie sollte es anders sein, als Markus Strobel eines Tages am Kulturhaus bei einer üblichen Zusammenkunft eine Scheibe einwarf,