Die Autorin

Lilly  Bernstein – Foto © Susanne Esch

LILLY BERNSTEIN ist das Pseudonym der Kölner Journalistin und Autorin Lioba Werrelmann, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Sie stammt aus einer Bäckersfamilie und wuchs zwischen Laden und Backstube auf. Ihre Mutter ist ebenfalls Bäckerskind und hat die Nachkriegszeit noch in lebendiger Erinnerung. Trümmermädchen – Annas Traum vom Glück ist Lioba Werrelmanns persönlichster Roman. Mit seiner Veröffentlichung geht für die Autorin ein Herzenswunsch in Erfüllung.

Lilly Bernstein

Trümmermädchen – Annas Traum vom Glück

Roman

Ullstein

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www.ullstein.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage November 2020
© 2020 by Lilly Bernstein
© dieser Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin (2020)
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © Mark Owen / arcangel images (Mädchen); akg-images / Elsengold Verlag / Sammlung Wolfgang Holtz (Köln Skyline Hintergrund); © Mark Owen / Trevillion Images (Hintergrund)
Autorenfoto: © Susanne Esch
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2425-8

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Widmung

Für Papa

TEIL I


Juli 1941 – Mai 1942

Kapitel 1


Es war der Duft, der sie geweckt hatte. Keine heulende Sirene. Keine Hände, die nach ihr griffen. Kein hastiges Zerren die Treppe hinab. An diesem frühen, stillen Morgen war es einfach nur der Duft, der Anna geweckt hatte. So vertraut, so köstlich.

Es war der schwere, ein wenig saure Geruch von frisch gebackenem Schwarzbrot. Anna liebte Schwarzbrot. Allein bei dem Gedanken an die großen Laibe, die in der Hitze des Ofens vor sich hin waberten, seufzte sie wohlig. Schwarzbrot! Das backte Onkel Matthias nur einmal in der Woche. Heute musste ihr Glückstag sein! Kein Alarm, und dann auch noch Schwarzbrot. Es brauchte fast zwei Stunden, bis es fertig ausgebacken war. Anna war erst elf, aber es gab vieles, was sie schon wusste. Zwei Stunden volle Hitze! Wie viele Briketts dafür wohl nötig waren? Sie würde später Onkel Matthias fragen.

Anna rutschte ein bisschen tiefer ins Bett, so tief, dass ihre nackten Füße die Wand erreichten. Hmmm. »Niemals mehr kalte Füße«, hatte Tante Marie gelacht, als sie in dieses Zimmer gezogen waren, damals, nachdem sie nicht mehr oben bei den Kohns hatten wohnen dürfen. In der engen Kammer unter dem Dach hatten sie im Winter gefroren wie die Schneider. Hier aber, direkt über der Backstube, war es immer herrlich warm. Dafür sorgte der Kamin, der mitten durch den schmalen Raum hindurchging. Anna presste ihre Fußsohlen gegen die Wand. Himmlisch fühlte sich das an. Auch jetzt, im Sommer, konnte sie nie genug davon bekommen. Und Tante Marie hatte natürlich recht behalten. Anna hatte niemals mehr kalte Füße, denn der Ofen bullerte Tag und Nacht.

Sie konnte das Bullern spüren. Es fühlte sich an, als würde ein Riese das ganze Zimmer vorsichtig in seiner Hand hin und her wiegen, mit allem, was darin war, mit dem Bett und der kleinen Kommode und natürlich mit Anna. Dieses Wiegen, dieses sanfte Vibrieren – das war das Feuer, das direkt unter dem Zimmer im Ofen loderte und das Onkel Matthias niemals ausgehen ließ.

Zum Duft des Schwarzbrots gesellte sich nun ein weiterer Geruch. Anna kniff die Augen fest zusammen, sie schnupperte. Dieser Duft war nicht ganz so schwer, und er war nicht ganz so sauer. Er war ein wenig sanfter, doch zugleich durchdringend und schlängelte sich zu ihr hinauf ins Zimmer, strömte durch jede Ritze. Graubrot. So roch Graubrot. Anna lächelte. Und über allem drüber schwebte, ganz leicht und doch unverkennbar, der Duft von frisch gebackenen Brötchen. Kross war dieser Duft und so luftig, dass er gleich weiterschwebte, hinaus in den Hof und durch die enge Gasse.

Anna schnupperte und lächelte weiter still in sich hinein. Sie zog das Daunenbett, dessen Bezug über und über bedruckt war mit gelben Rosen, bis an ihr Kinn. Sie streckte und räkelte sich. Wie ungewohnt es immer noch war, das Bett ganz für sich allein zu haben! So lange sie denken konnte, hatte sie dieses Bett mit Tante Marie geteilt. Und weil Tante Marie das war, was Onkel Matthias mit einem Leuchten in den Augen »wohlgeformt« nannte, war für Anna nur ein klitzekleines bisschen Platz geblieben. In den ersten Wochen ohne Tante Marie hatte sie weiterhin dicht an der Bettkante geschlafen, auf der linken Seite. Weil sie es nicht anders gekannt hatte.

Wenn Anna ganz ehrlich war – aber niemals hätte sie das irgendjemandem verraten, nicht einmal Ruth –, dann vermisste sie Tante Marie nachts. Manchmal. An Tante Marie war alles weich und duftig. Mit ihr im Bett zu schlafen, war, als hätte man ein zusätzliches Daunenkissen gehabt, ein extragroßes, an das man sich ankuscheln konnte, das einem abends ein Lied sang und morgens einen Kuss auf die Stirn drückte.

Nun aber war Anna bald ein großes Mädchen und konnte allein schlafen.

Tante Marie hatte Onkel Matthias geheiratet und schlief mit ihm unten, in dem Zimmer direkt neben der Backstube. Onkel Matthias roch nach Schwarzbrot und nach Sauerteig und manchmal sogar nach Schokolade. Sein Haar leuchtete wie der Kupferkessel, in dem er mit einem Rührbesen, der so lang wie sein Arm war, Eiweiß für Baiser anschlug. Und er hatte ein Lachen, das auf seine rechte Wange ein Grübchen zauberte. Weil er viel lachte, ging das Grübchen meist gar nicht mehr weg. Anna liebte Onkel Matthias sehr. Sie fand allerdings, dass er viel zu viel küsste.

Denn seit sie verheiratet waren, und eigentlich auch schon davor, küssten Onkel Matthias und Tante Marie sich unentwegt. Sie küssten sich, wenn sie früh in der Nacht aus dem Zimmer neben der Backstube kamen. Sie küssten sich beim Frühstück und beim Mittagessen. Sie küssten sich, während Matthias seine großen Hände tief im Bottich voller Teig versenkte, sie küssten sich sogar, wenn Marie im Laden hinter der Theke stand und gerade keiner guckte. Sie küssten sich beim Abendessen, und sie hörten nicht damit auf, bis sie in ihrem Zimmer verschwanden, wo das große Bett mit dem hohen Kopfteil auf sie wartete.

»Die küssen sich wahrscheinlich auch die ganze Nacht«, hatte Ruth Anna erklärt, »sei bloß froh, dass du dein eigenes Zimmer hast und nicht wie andere Kinder bei deinen Eltern schlafen musst!«

»Onkel Matthias und Tante Marie sind doch gar nicht meine Eltern!«, hatte Anna geantwortet.

»Stimmt.« Ruth hatte ein wenig nachgedacht, um dann hinzuzufügen: »Aber da du niemand anderen hast, sind sie es irgendwie doch, zumindest ein bisschen.«

Ruth war Annas beste Freundin. Sie war etwas älter, schon fast zwölf, und kannte die lustigsten Spiele und die besten Verstecke. Sie war ungeheuer lieb. Und sehr klug. Anna hatte lange über Ruths Worte nachgedacht. Wie ging das, ein bisschen Eltern sein? Wie hatte Ruth das gemeint? So gerne hätte sie sie das gefragt. Aber das konnte sie nicht. Denn Ruth war verschwunden.

Anna lauschte. Von unten waren Stimmen zu hören. Onkel Matthias, wie er lachte, und Tante Marie, wie sie in sein Lachen einfiel.

Über ihr war es mucksmäuschenstill.

Über ihr lebten die Kohns. Mutter Kohn, Vater Kohn, Ruth und ihr kleiner Bruder Gerald. Gerald war ein bisschen komisch im Kopf. »Mama hatte eine schwere Geburt«, hatte Ruth ihr erklärt, »da hat er zu wenig Sauerstoff bekommen.« Gerald war ein Junge von acht Jahren, doch er war so klein, er hätte auch erst vier oder fünf Jahre alt sein können. Er hatte ein liebes Gesicht, und er lächelte fast immer, aber er sprach nicht.

Gerald war ein stilles Kind. Von ihm hatte Anna in ihrem schmalen Zimmer über der Backstube nie irgendetwas gehört. Doch sie hatte Ruth gehört, ihre kleinen schnellen Schritte, wie sie über den Flur gelaufen war, in die Küche, in den Salon, ins Kinderzimmer, ins Bad. Die Wohnung der Kohns war hochherrschaftlich, sie hatten sogar einen extra Ofen nur für warmes Wasser, sie nannten ihn den Badeofen.

»Dass du uns hören kannst!«, hatte Ruth gestaunt. »Dabei hat Papa doch extra Betonböden einziehen lassen, wegen der Wanzen!«

Anna hatte in ihrem Zimmer auch Herrn Kohn gehört. Dessen tiefe Stimme hatte fast wie das Tuten der Dampfer geklungen, die nur wenige Hundert Meter entfernt den Rhein hinauf- und hinabfuhren. Und sie hatte Frau Kohn gehört. Frau Kohn war unüberhörbar gewesen. Sie hatte an einem Stück geredet. Und wenn sie nicht geredet hatte, dann hatte sie von früh bis spät gesungen. Und wenn ihr weder nach Reden noch nach Singen zumute gewesen war, dann hatte sie Schallplatten aufgelegt. Hans Albers, Zarah Leander, Heinz Rühmann – sie alle hatten stundenlang gesungen in der Wohnung im zweiten Stock.

Anna wusste nicht, wann es angefangen hatte, doch die Kohns waren leiser und leiser geworden. Frau Kohn hatte nicht mehr gesungen, sie hatte keine Platten mehr aufgelegt, sie hatte nur noch wenig gesprochen und ganz so, als fürchtete sie, unterbrochen zu werden. Die Stimme von Vater Kohn war brüchig geworden. Und selbst Ruth war nicht mehr so viel hin und her gerannt, sie hatte sich auf Zehenspitzen bewegt, und wenn Anna sie gesehen hatte, hatte ihre Freundin von Woche zu Woche blasser gewirkt. Allein der kleine Gerald hatte seine hölzerne Eisenbahn unbeirrt und wie eh und je durch die Zimmer geschoben.

Nun war es dort oben vollkommen still. Egal, wie sehr Anna die Ohren spitzte, sie hörte nichts, keinen einzigen Laut. Und so ging das schon seit drei Tagen und drei Nächten.

»Die Kohns sind nur kurz weg«, hatte Tante Marie erklärt.

Anna war das komisch vorgekommen.

»Wohin denn?«, hatte sie gefragt, aber keine Antwort erhalten.

Eins ist doch klar, überlegte Anna nun, die Decke mit den gelben Rosen bis ans Kinn gezogen und die Füße an die warme Kaminwand geschmiegt, wenn die Kohns in Urlaub gefahren wären, dann hätte Ruth ihr das doch gesagt! Stundenlang wären sie mit dem Finger über den Globus gefahren, der bei den Kohns auf dem Vertiko stand und bei dem man innen ein Lämpchen anmachen konnte, sodass er leuchtete. Vor drei Sommern waren die Kohns in die Schweiz gefahren, und Anna konnte seither nahezu blind auf das winzig kleine Land tippen, so oft hatten die beiden Mädchen es auf dem Leuchtglobus gesucht. Die Schweiz war seitdem durchsichtig, man konnte das kleine Lämpchen brennen sehen. Und überhaupt, wohin sollten die Kohns denn in Urlaub fahren, jetzt, wo doch gar keine Ferien waren? Und wo Krieg war?

Anna schüttelte den Kopf. Und lauschte. Der Ofen unter ihr bullerte. Onkel Matthias lachte schon wieder, Tante Marie rief etwas, es klang, als hätte sie sich erschrocken. Aus der Wohnung oben drang kein einziges Geräusch.

Durch die Pappe, die vor ihrem Fenster steckte, schien es erst hellgrau herein. Früh genug, dachte Anna. Es war noch Zeit.

Im Nu war sie aus dem Bett. Sie streifte das leinene Nachthemd ab, das einmal Tante Marie getragen hatte und das für sie an den Ärmeln und unten umgenäht worden war. Es war ihr so weit, dass Anna fünf oder sechs Mal hineingepasst hätte, mindestens. Sie zog ihre Socken an und ihren blau gestreiften Rock. Dann die helle Bluse. Wie sie diese Bluse hasste! Sie hatte vorn einen hohen Kragen, sodass Anna meinte kaum Luft darin zu bekommen. Und hinten hatte sie sechzehn winzig kleine Knöpfe und siebzehn Ösen, die alle einzeln verschlossen werden mussten.

Anna keuchte, während sie sich abmühte. Als sie glaubte, endlich alle Ösen und Knöpfe geschlossen zu haben, sah sie vorn an sich hinunter. Die Bluse saß ganz schief. Anna stöhnte. Wer dachte sich nur solche Blusen aus!

Vor dem Fenster wich das Grau langsam einem zarten Blau. Anna spürte, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Wo waren die Schuhe? Sie sah sich um. Da – Tante Marie hatte sie am Abend ordentlich vors Bett gestellt. Die Absätze waren schon ganz abgelaufen, und die Nägel, die sie hielten, machten ein klackerndes Geräusch auf dem Dielenboden, wie Anna nun einfiel. Das wäre nicht gut. Also besser keine Schuhe. Auf Zehenspitzen schlich sie in den Flur.

Links und rechts huschte sie an vier Türen vorbei. Keines der Zimmer dahinter war noch bewohnt, die Kostgänger waren alle an der Front. Am Ende des Flurs nahm sie die zweite Stufe der gewundenen Treppe, nicht die erste, denn Anna wusste genau, welche Stufe knarzte und welche nicht. Beinahe geräuschlos huschte sie hinauf.

Durch das bunte Glas in der Mitte der Wohnungstür fiel kein Licht, kein Schemen war dahinter. Wie oft war Anna hier hinaufgestürmt, um Ruth zu besuchen. Sie hatte allenfalls kurz geklopft und nie gewartet, bis ihr geöffnet worden war. Sie war immer gleich hinein, es war eh niemals abgeschlossen gewesen. So lange sie denken konnte, war das Zuhause der Kohns auch Annas Zuhause gewesen.

Heute ging ihr Atem ein bisschen schneller, als sie die Türklinke herunterdrückte. Es war offen, wie immer.

Und die Wohnung sah aus wie immer. Annas Blick streifte das kleine Tischchen aus rotem Holz neben der Eingangstür, das gehäkelte Deckchen darauf und das schwarzlederne Telefonbuch. Dabei war das Telefon, das an der Wand darüber gehangen hatte, schon so lange weg. Wie oft hatte Anna staunend davorgestanden, wenn die beiden Glocken im Innern erklungen waren und der blecherne Apparat ein Geräusch von sich gegeben hatte, als klingele ein Wecker, nur viel melodiöser. Eines Tages war das Telefon verschwunden gewesen. »Frag nicht«, hatte Ruth gesagt.

Nie wieder hatte es bei den Kohns melodiös geklingelt.

Und nun hat sich die ganze Wohnung in Schweigen gehüllt, ging es Anna durch den Kopf. Sie schlich in die Küche.

An den Haken über dem eisernen Herd glänzten die Töpfe und Pfannen, als hätte man sie extra für dieses große Schweigen poliert. Ein Schulheft lag auf dem geschwungenen Esstisch, das Anna sofort erkannte – es war ihres. Seit Ruth nicht mehr zur Schule gehen durfte, brachte Anna ihr ihre vollgeschriebenen Hefte vorbei. Ruth lernte sie auswendig, Wort für Wort. Alles andere brachte ihr Vater ihr bei.

Neben dem Heft stand eine benutzte Kaffeetasse. Frau Kohn trank ständig und überall Kaffee, auch wenn sie ihn »Muckefuck« nannte und darauf schimpfte.

Nichts schien sich hier verändert zu haben. Nur die ohrenbetäubende Stille, die war neu.

Anna schlich zurück in die Diele und dann ins Kinderzimmer. Es war ihr alles so vertraut: Ruths Bett hinter dem braunen Vorhang, den ihr Vater zu ihrem letzten Geburtstag angebracht hatte, und gegenüber das Bett von Gerald. Es war das Bett eines Kleinkindes mit einem Gitter davor, damit er nicht herausfiel. Der niedrige Tisch am Fenster war übersät mit alten Zeitungen, deren Ränder von Gerald bunt bemalt worden waren.

Neben dem Tisch saß Elsbeth in ihrem kleinen geflochtenen Stuhl und schaute Anna entgegen.

Das war der Moment, in dem Anna mit Sicherheit wusste, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Niemals wäre Ruth verreist, ohne Elsbeth mitzunehmen! Elsbeth mit dem seidigen blonden Haar und den Augen, die auf- und zuklappten. Eigentlich war Ruth schon ein bisschen zu alt, um noch mit einer Puppe zu spielen. »Im Grunde ist Elsbeth keine richtige Puppe«, hatte sie Anna erklärt, »sie ist meine zweitbeste Freundin, gleich nach dir.«

Nun aber war Ruth verschwunden, sie hatte Anna nichts gesagt, und sie hatte Elsbeth zurückgelassen.

Anna wusste nicht, wieso sie noch in den Salon ging. Etwas zog sie dorthin.

Im Salon standen die wuchtigen Sessel mit den hölzernen Armlehnen im exakten rechten Winkel zueinander, eins der Spitzendeckchen auf den Kopfteilen war ein bisschen verrutscht. In einer der Sesselritzen steckten Ruths »Geschichten aus der Murkelei«. Sie hatte sie ihrem kleinen Bruder vorgelesen, so oft, dass das Buch schon ganz zerfleddert war. Im wuchtigen gläsernen Aschenbecher lag ein kleiner Ascherest. Früher hatte Tante Marie ihn noch so oft auswischen können, er war gleich wieder übergequollen, so viel hatte Ruths Vater geraucht. Seit einiger Zeit rauchte er nur noch ganz selten.

»Schmeckt es ihm nicht mehr?«, hatte Anna gefragt, und Ruth hatte geantwortet: »Frag nicht.«

Als Nächstes erblickte Anna die hölzerne Eisenbahn des kleinen Gerald, die in Reih und Glied unter dem Vertiko stand, und schließlich, auf dem Vertiko, neben dem neunarmigen Kerzenhalter, den leuchtenden Globus.

Ungläubig kniff sie die Augen zusammen. In dieser verlassenen Wohnung hatte doch tatsächlich jemand vergessen, das Licht im Globus auszuknipsen, und das trotz der Verdunkelung! Wo doch sogar Fahrradlampen abgeschirmt werden mussten!

Anna bekam einen Schreck. Sie trat näher und griff nach dem Schalter. Aber vorher gab sie dem Globus noch einen kleinen Schubs. Und da entdeckte sie es. Eine zarte, helle Linie, durch die das Lämpchen schien.

Anna betrachtete sie genauer.

Die Linie führte von Europa einmal quer über den Atlantik bis nach New York.

Kapitel 2


»Nicht doch«, lachte Marie unten in der Backstube, »ich muss gleich aufschließen!«

Aber sie konnte einfach nicht aufhören, Matthias’ Küsse zu erwidern. Seine Lippen schmeckten süßer als jeder Zuckerguss, waren weicher als jedes Biskuit. Und wie immer, wenn sie ihn in ihren Armen hielt, schlug ihr das Herz fast zum Hals heraus und drehte sich in ihrem Bauch einmal alles um sich selbst. Fast ein Jahr war es nun schon her, dass er sie geheiratet hatte, und doch erschien ihr immer noch jeder Tag mit ihm wie ein Geschenk des Himmels.

Sie hatten sich für einen kurzen Moment auf die Ofenbank gesetzt, unter der das Feuerholz lagerte, und Matthias hatte sie auf seinen Schoß gezogen. Nun spürte sie seine Hände auf ihrem Kleid, ihrem Hals, auf ihren nackten Armen. Gleich, schoss es ihr durch den Kopf, werde ich überall weiße Abdrücke vom Mehl haben. Doch im nächsten Augenblick schon verschwendete sie daran keinen Gedanken mehr, denn Matthias hatte begonnen, den kunstvoll aufgesteckten Knoten an ihrem Hinterkopf zu lösen und ihren Hals zu küssen.

»Liebster, was tust du?«, stammelte sie.

Sie fühlte seine Lippen, fühlte, wie er jede einzelne Strähne ihres blonden Haars durch seine Finger gleiten ließ. Er küsste sie immer weiter, ihren Mund, ihren Nacken.

»Die Kunden«, versuchte es Marie noch einmal, »es ist gleich sechs.«

»Ja«, flüsterte Matthias, »gleich.«

Und Marie, die sich so viele Jahre nach diesem Mann und seinen Küssen gesehnt hatte, entschied, dass noch genügend Zeit war.

Lächelnd nahm sie ihren Liebsten bei der Hand und führte ihn in das Zimmer neben der Backstube.

»Komm, aber nur für einen Moment.«

Eine halbe Stunde später schloss Marie den Laden auf. Es war erst kurz vor sechs und fast noch dunkel. Ihre Haare hatte sie wieder aufgesteckt, sie waren ein bisschen weiß vom Mehl, und Marie hoffte, dass das niemandem auffallen würde. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten, und wenn sie nur daran dachte, was sie und Matthias gerade im Zimmer neben der Backstube getan hatten, bebte sie immer noch. Hastig hatte sie sich eine frisch gebügelte Schürze über das Kleid gezogen, jetzt strich sie ein wenig zerstreut eine nicht vorhandene Falte glatt. Schnellen Schrittes eilte sie durch den kleinen Verkaufsraum. An ihrer linken Hand glänzte der schmale Ehering, in der rechten hielt sie den Schlüssel für die schwere Holztür mit den Fenstern aus feinstem Bleiglas.

In diesem Moment fühlte sie sich so glücklich wie nie zuvor. Hätte jemand Musik gespielt, sie hätte unaufhörlich getanzt.


Niemals würde sie den Tag vergessen, an dem sie zum ersten Mal vor dieser Tür gestanden hatte, hungrig, krank und zu Tode erschöpft.

Zwei Tage und zwei Nächte war sie gelaufen. Nachts verbarg sie sich in Scheunen und Heuschobern, in den Armen das winzige Bündel. Das Kind gab keinen Ton von sich, zwei Tage lang nicht. Sie gab ihm von der Milch, die sie gestohlen hatte und die sie unter ihrer Achsel wärmte. Während das Kind trank, hielt es die Augen geschlossen und ruderte nur ein wenig mit den Ärmchen. Nachdem die Milch verbraucht war, wurde es ganz still.

Als Marie endlich den Rhein erreichte, als sie im Morgengrauen das glitzernde Band des mächtigen Stroms erblickte, da glaubte sie schon, das Kind sei tot. Mit letzter Kraft schleppte sie sich über die Brücke mit den himmelhohen eisernen Rundbögen. Ihre Füße waren wund und blutig, ihr Körper ein einziger Schmerz. Ihr war so übel vor Hunger, dass sie mehr wankte als ging. Sie wurde angerempelt, Menschen auf Fahrrädern schrien, sie solle Platz machen, Lastwagen, Autos und Motorräder hupten. Direkt daneben fuhren die Eisenbahnen und machten einen gewaltigen Lärm.

Marie kannte damals die Stille des Bergischen Landes. Sie kannte harte Arbeit und Einsamkeit. Was sie nicht kannte, war das lärmende Chaos einer Stadt wie Köln.

Am Ende der Brücke erhob sich der Dom, schwarz und bedrohlich ragte er vor ihr auf. Einen Moment lang war es Marie, als schaute er voller Verachtung auf sie herab, auf sie und das Bündel in ihren Armen. Sie senkte den Blick, spürte die Scham und zugleich den Trotz, der sie bis hierher geführt hatte. »Der«, raunte sie dem Kind zu, von dem sie nicht wusste, ob es noch lebte, »hat uns gar nichts mehr zu sagen.«

Das Viertel am Fuße der Brücke war voller Menschen. Frauen, Männer, Alte, Kinder, die meisten noch ärmlicher gekleidet als Marie.

Die Gassen waren eng und übersät mit Unrat. Als Marie über eine offene Kloake steigen musste, hielt sie sich entsetzt die Nase zu. Hier sollte sie Arbeit finden und ein Obdach? Unmöglich!

Voller Verwunderung las sie die Straßennamen, die an den windschiefen, halb verfallenen Häusern standen. »Salzgasse«. »Seidmachergässchen«. »Fischmarkt«. Es musste also einmal Handel gegeben haben in dieser Gegend, Wohlstand womöglich. Und tatsächlich: Je weiter sie in das Viertel gelangte, desto häufiger erblickte sie Häuser, an denen gearbeitet wurde. Als mühte dieses Viertel sich, die Armut und die Hoffnungslosigkeit, die den Menschen in die Gesichter geschrieben standen, von sich abzustreifen.

Und dann entdeckte Marie den breiten Boulevard, der direkt am Rhein entlangführte. Eine Straßenbahn bimmelte, am Ufer schaukelten Frachtschiffe und Ausflugsdampfer. Ein sanfter Wind kam vom Wasser, und für einen Augenblick verschwanden all die unangenehmen Gerüche des Viertels.

Marie atmete tief ein. Und rieb sich im nächsten Moment verwundert die Augen: Mitten zwischen den abgerissenen Gestalten, die Säcke mit Kohle schleppten, dürre Pferde vor Karren gespannt hatten oder einfach nur herumlungerten, spazierte eine Dame, die gar nicht hierher zu gehören schien.

Die Dame trug ein eng geschnürtes weißes Kleid mit roten Streublümchen, einen dazu passenden Hut mit roter Schleife und Absatzschuhe mit glänzenden Spangen. Sie schob einen niedrigen rosafarbenen Kinderwagen mit ganz kleinen Rädern, in dem ein Mädchen mit dunklem, zu dünnen Zöpfen geflochtenem Haar saß.

Marie konnte nachher niemals sagen, warum sie der Dame damals gefolgt war. Es war ein Impuls, der ihr Leben verändern sollte.

Sie folgte ihr durch die engen, holprigen Gassen bis zu einer schweren Holztür mit kunstvoll geschliffenem Glas. Die feine Dame mit dem Kinderwagen ging hinein, kam aber nicht wieder heraus.

Andere Menschen traten hinein und schließlich wieder heraus – Kunden, denn über der schweren Holztür entdeckte Marie das Schild mit der Aufschrift »Bäckerei«. In einem großen Fenster neben der Tür präsentierte eine niedrige Auslage Kuchen und Küchlein in allen Formen und Größen: runde Kuchen und eckige Kuchen, wagenradgroße Blechkuchen und winzige Sahnetörtchen, Kuchen, aus denen seitlich die Schokolade quoll, kunstvolles Gebäck, verziert mit Hagelzucker und gelber Marmelade.

Marie, die seit Tagen nichts gegessen hatte, knurrte der Magen beim Anblick dieser Leckereien. Die Tür öffnete sich erneut, ein Junge im Matrosenanzug trug ein in weißes Papier eingeschlagenes Paket hinaus. Mit dem Jungen drang ein Duft in die Gasse, so köstlich, dass Marie ganz schummerig wurde. Sie lehnte sich gegen die Hauswand, die neu verputzt worden und hellgrün gestrichen war. Das Bündel, das doch eigentlich so leicht war, wurde ihr mit einem Mal zu schwer, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Schon sank sie zu Boden, das Kind fest an ihr Herz gedrückt.

Das Nächste, woran Marie sich erinnerte, waren die starken Arme eines Mannes, der sie eine enge gewundene Treppe hinauftrug.

»Frau Kohn«, rief der Mann, »Frau Kohn! Bitte, helfen Sie mir!«

Wie ein Engel erschien die feine Dame in einer Wohnungstür. Den Hut hatte sie bereits abgelegt, Marie erkannte das weiße Kleid mit den Streublumen.

»Sie ist auf der Straße zusammengesunken!«, schrie der Mann. »Sie hat ein ganz kleines Kind bei sich!«

Die feine Dame zögerte keine Sekunde. Eilig winkte sie den Mann, der Marie und das Kind in seinen Armen hielt, in die Wohnung. Marie wurde auf ein großes sauberes Bett gelegt, die Dame fühlte ihre Stirn und ihren Puls.

»Holen Sie ihr Wasser, schnell«, rief sie, dann beugte sie sich über das Bündel.

»Es lebt. Es ist ganz ausgetrocknet. Holen Sie warme Milch! Hören Sie, holen Sie warme Milch!«

Der Mann brachte Wasser und warme Milch.

»Frau Kohn, ich muss wieder hinunter …«

»Natürlich, gehen Sie.«

Der Mann ging, die Frau blieb.

Eine Woche lang wurden Marie und das Kind in dem großen weichen Bett umsorgt. Nie zuvor hatte Marie etwas so Wundervolles erlebt. Sie bekamen zu essen und zu trinken, von allem das Beste. Das kleine Mädchen, das im Kinderwagen gesessen hatte, fast noch ein Säugling, hockte am Fußende des Bettes und betrachtete die Neuankömmlinge mit großen runden Augen. Ab und zu schaute ein Mann herein, auch er fein gekleidet, rauchend und immer etwas zerstreut.

»Beachten Sie ihn nicht«, lachte die Frau, »er ist Architekt, also fast ein Künstler, mit den lebenspraktischen Dingen kennt er sich nicht aus.«

Marie sprach wenig. Sie sagte »danke« und »bitte« und fürchtete in einem fort, dass dieser wundervolle Traum bald enden könnte.

Das Kind, das sie in ihren Armen gehalten hatte, wurde rosiger und rosiger. Am siebten Tag tat es seinen ersten Schrei, laut und vernehmlich, als hätte es immer schon geschrien und nicht seit seiner Geburt geschwiegen.

Die feine Dame nahm es auf den Arm. Sie sprach die Frage nicht aus, doch sie lag in ihrem Blick.

»Von meiner Schwester«, antwortete Marie mit fester Stimme. »Sie ist unter der Geburt gestorben.«

»Und der Vater?«

Marie schlug die Augen nieder. Ihre Stimme zitterte nun doch.

»Über alle Berge.«

Die feine Dame entgegnete nichts. Sie legte den Säugling zurück in das große Bett und ging aus dem Zimmer.

Marie zitterte am ganzen Körper, während das Kind schrie und gar nicht mehr damit aufhören wollte.

Nach kurzer Zeit kam die Dame zurück, in der Hand eine Saugflasche mit warmer Milch und aufgelösten Haferflocken.

»So ein hübsches Mädchen«, sagte sie, während sie den Säugling fütterte. »Wenn Sie wollen, können Sie erst einmal bleiben. Wir haben unter dem Dach ein Dienstmädchenzimmer, das nicht benutzt wird. Und ich könnte Hilfe gebrauchen.«


Eine Ewigkeit war das nun schon her! Marie atmete einmal tief durch, steckte den Schlüssel in das Schloss der Ladentür und zog das Rollo hoch. Es war schwer und verkantete sich leicht. Die Schnur, an der es hing, war im Laufe der Zeit ganz dünn geworden. Die Erinnerung an den Moment, in dem Frau Kohn ihr angeboten hatte, zu bleiben, wärmte Maries Herz. Was für eine wunderbare, fürsorgliche Arbeitgeberin Frau Kohn gewesen war!

Über zehn Jahre hatte sie für die Kohns gearbeitet. Auch dann noch, als die Nazis ihnen verboten hatten, ein »arisches« Dienstmädchen zu beschäftigen. Matthias, den sie damals noch »Herr Bäckermeister« genannt hatte und der die Räume unten im Haus gepachtet hatte, hatte Marie als seine Angestellte ausgegeben.

Zum allerersten Mal in ihrem ganzen Leben hatte Marie erfahren, wie es war, wenn andere Menschen für sie sorgten. Immer war sie auf sich allein gestellt gewesen, selbst in größter Gefahr hatte es niemanden gegeben, auf den sie sich verlassen konnte. Die Begegnung mit Frau Kohn hatte alles verändert.

Der Gedanke an das Schicksal der Kohns versetzte Maries Herz einen Stich. Wo sie wohl sein mochten? Und wie es ihnen dort erging? Doch es gab niemanden, den sie fragen konnte. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass bald eine Nachricht eintreffen möge.

Die Sorge um die Kohns ließ eine weitere Angst in Marie aufsteigen, eine, die sie weit weg in die hintersten Winkel ihres Herzens verbannt hatte. Denn wann immer sie diese Angst zuließ, schnürte sie ihr die Luft ab, und sie fürchtete, an ihr zu ersticken.

Wenn bloß niemand Matthias auf die Schliche kam! Wenn bloß niemand herausfand, was er getan hatte für die Kohns! Beim Gedanken, Matthias könnte ihr und Anna genommen werden, spürte sie einen Schmerz, so gewaltig, dass ihr beinahe schwarz vor Augen wurde.

Beruhige dich, redete sie sich selbst gut zu, beruhige dich. Er wird dir nicht genommen werden, auf gar keinen Fall.

Marie atmete noch einmal tief durch und spürte, wie die Beklemmung von ihr wich. Sie würde der Angst nicht nachgeben, niemals.

Endlich, das Rollo war oben. Im gleichen Augenblick ging draußen vor der Tür die Sonne auf. Ihre Strahlen drangen in die Bäckerei, breiteten sich aus bis in den hintersten Winkel des kleinen Ladens. Die hölzernen Regale, ganz rund geschliffen von den unzähligen Broten, die sie im Laufe der Jahrzehnte feilgeboten hatten, leuchteten wie pures Gold. Im Glasaufsatz, den Matthias auf die uralte Theke hatte setzen lassen – nicht allzu hoch, damit Marie noch gut darübergucken konnte –, schimmerte das Licht in allen Farben des Regenbogens. Auf dem Mosaikfußboden malte es leuchtende Kleckse, auf der Bank vor der Theke brachte es das Karomuster des Kissens zum Tanzen. Und der ganze Raum war erfüllt vom Duft des frisch gebackenen Brotes, das Matthias gerade hereintrug.

Die Schönheit dieses Moments zauberte augenblicklich ein Lächeln auf Maries Gesicht. Matthias warf ihr einen Blick zu, er war schon wieder halb in der Backstube, doch in diesem kurzen Blick lagen so viel Liebe und Einverständnis, dass Marie all ihre Sorgen entschlossen aus ihrem Herzen verbannte. Mein Liebster! Wie wunderbar das Leben doch sein konnte!

Heute, an diesem frühen Morgen im Juli 1941, war sie es, die die Tür der kleinen Bäckerei im Buttermarkt weit öffnete und die wartenden Menschen hereinbat.

Die Schlange aus Frauen, Kindern und Alten zog sich so weit die Gasse hinab, dass Marie ihr Ende nur erahnen konnte. Viele Bäckereien waren bereits geschlossen, weil die Bäcker an der Front kämpften. Matthias zählte zu den wenigen, die »u.k.« gestellt waren, was »unabkömmlich« bedeutete. Welch ein Glück, dass das Schicksal ihren Liebsten verschont hatte!

Marie war jeden Tag aufs Neue berührt, wenn sie erfuhr, welch weite Wege ihre Kunden auf sich nahmen, um gutes, nahrhaftes Brot zu bekommen. Matthias versorgte so viele Menschen wie nie zuvor. Von überallher strömten sie in die kleine Bäckerei, sogar von der anderen Rheinseite, aus Deutz und aus Mülheim.

Marie begrüßte sie alle mit einem strahlenden Lächeln.

»Willkommen! Treten Sie ein!«

Ganz vorn stand heute Agnes Schmitz. Gestern war sie nicht da gewesen und vorgestern auch nicht, Marie hatte sich schon gesorgt. Die Frau stützte sich schwer auf ihren Ältesten, einen hoch aufgeschossenen Jungen von zwölf oder dreizehn Jahren.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Marie rannte um die niedrige Theke herum, löste die Hand der Frau von der Schulter des Jungen und fasste sie sanft am Arm. Oje, sie konnte durch den dünnen Mantelstoff die Knochen fühlen. Fünf Kinder hatte Agnes Schmitz zu versorgen. Den Mann hatten sie gleich ’39 eingezogen, Marie war ihm nie begegnet. Ob Agnes Schmitz immer schon so verhärmt gewesen war, oder ob auch sie Liebe und Fröhlichkeit gekannt hatte?

»Möchten Sie sich kurz setzen? Kommen Sie, meine Liebe, ruhen Sie sich ein bisschen aus.«

Matthias hatte geschmunzelt, als Marie die niedrige Bank vor die Theke gestellt hatte. Als wenn es nicht schon eng genug gewesen wäre in ihrer kleinen Bäckerei! Doch Marie hatte gewusst, dass er ihr keinen Wunsch abschlagen konnte.

»Liebster, die Frauen stehen Stunde um Stunde draußen an! Viele haben kleine Kinder dabei!«

Und Matthias, der ihr einst gestanden hatte, er werde niemals im Leben vergessen, wie Marie vor der Auslage seines Schaufensters zusammengebrochen war und wie sein Herz beinahe ausgesetzt hatte, als er ihr zum ersten Mal in die Augen sah, damals, auf der engen Treppe, hatte lächelnd ein Kissen für die kleine Bank geholt.

Mit einem Seufzer ließ Agnes Schmitz sich nieder.

»Haben Sie Ihre Marken dabei? Was kann ich Ihnen bringen?«

Marie streichelte den knochigen Arm, und zu ihrer Freude erhellte sich das Gesicht der Frau für einen Moment. Ein Lächeln bezwang die Härte, wie Marie sie in so vielen Gesichtern der Frauen wahrnahm, die zu ihr in die kleine Bäckerei kamen. Eine Härte, die, da war sie sich sicher, der Krieg gebracht hatte. Seit zwei Jahren ging das nun schon, und ihr schien es, als glaubte kaum noch jemand an einen schnellen Sieg. In den Gesichtern der Frauen las Marie die Erschöpfung und die Einsamkeit, aber auch den Verdruss.

»Heil Hitler!«

Ein Zucken ging durch die Wartenden, und eine korpulente Frau kämpfte sich nach vorn, die Haare hoch aufgetürmt, um die Schultern einen Fuchs, und das mitten im Sommer. Gebieterisch streckte sie ihre Hand mit den Brotmarken über die Ladentheke.

»Geht das hier mal voran?«

Agnes Schmitz mühte sich sofort von der Bank hoch.

»Ich bin zuerst dran!«, kreischte sie. »Ich warte seit vier Uhr in der Früh!«

Ihr Ältester schaute beschämt zu Boden.

»Meine liebe Frau Schmitz, beruhigen Sie sich, bitte«, rief Marie und strich dem Jungen über das Haar, das sich ganz hart anfühlte. So viele Häuser im Martinsviertel waren renoviert worden in den vergangenen Jahren, Herr Kohn hatte als Architekt wahre Wunder vollbracht und war deshalb lange von den Nazis verschont worden, doch längst nicht jedes Haus hatte fließend Wasser oder gar ein eigenes Bad.

Marie eilte zurück hinter die Theke und reichte Agnes Schmitz’ Ältestem das Brot. Dann streckte sie den Rücken durch, um sich ein bisschen größer zu machen, als sie eigentlich war. Denn sie hatte mit einem Blick das Parteiabzeichen entdeckt, das die korpulente Frau am Revers trug. Jetzt bloß keinen Ärger provozieren.

»Heil Hitler!«, rief Marie etwas zu laut. »Was darf ich Ihnen geben?«

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Agnes Schmitz mit kleinen schnellen Schritten aus der Bäckerei eilte. Ihr Ältester folgte ihr. Er umklammerte das Brot, als rechnete er fest damit, es verteidigen zu müssen. Ganz klein waren seine Augen, zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Doch jetzt, er war schon fast an der Tür, wandte er sich noch einmal um, er riss die Augen auf, fixierte etwas hinter ihr. Marie schaute sich um. War das Anna, die da gerade blitzschnell in der Backstube verschwunden war? War sie etwa schon auf? Um diese Zeit? Nein, beschloss Marie, das konnte nicht sein. Anna schlief ganz bestimmt noch.

»Nun aber dalli, Frau Bäckerin, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Die korpulente Frau fuchtelte mit den Brotmarken und pochte zugleich mit der rechten Hand auf die Theke, der goldfarbene Ehering machte ein hässliches Geräusch auf dem blank polierten Glas.

»Natürlich, bitte verzeihen Sie.«

Marie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie das Brot über die Theke reichte. Wortlos nahm die Kundin es an und rauschte davon.

»Auf Wiedersehen!«, rief Marie ihr hinter her.

Diese entsetzlichen Nazis, dachte sie. Wenn das doch bloß bald vorbei wäre.