Seit mehreren Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, ein Buch über grundlegende Erkenntnisse und Fragen der Heilpädagogik zu schreiben. Anfängliche Zweifel, ob eine solche Publikation im Hinblick auf die Komplexität und Multidimensionalität der Problematik und die vielen Unsicherheiten im gegenwärtigen sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld realisierbar sei, wichen der Überzeugung, dass es wichtig ist, dieses Buch meinem Verständnis und meiner Überzeugung entsprechend in wissenschaftlicher Form zu verfassen. Dieses Buch hat sich auch die Aufgabe gestellt, Desiderata anzusprechen und sie nicht nur in theoretisch-abstrakter Form durch „wissenschaftliche Terminologie“ zu neutralisieren und zu nivellieren. Wissenschaftlich bedeutet hier auch das Bemühen um Weiterentwicklung von Problemen und Fragen, um Öffnung im Sinne der Verbesserung der Situation und Lebensqualität von Menschen mit individuellen Unterstützungsbedürfnissen, um Veränderung festgefahrener Strukturen und Neuorientierung.
Zu Beginn des dritten Jahrtausends werden Fragen nach der Zukunft von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung immer dringlicher. Gerade heute, in Zeiten wirtschafts-, finanz- und arbeitspolitischer Unsicherheiten, vielschichtiger sozialer Umbrüche und komplexer globaler Entwicklungen, in denen der Einzelne mit seinen Problemen und Fragen kaum mehr Beachtung findet, wird es immer drängender, Phänomenen wie Wissensexplosion und Informationsflut sowie herausfordernden ethischen Unsicherheiten mit wissenschaftlich reflektiertem und verantwortungsbewusstem Handeln zu begegnen. Gemeinsam mit Nachbardisziplinen kann die Sonder- und Heilpädagogik einen wertvollen Beitrag dazu leisten, die Beziehung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und wertorientiertem sowie ethisch begründetem Handeln aufzuzeigen und zu beleuchten.
Wo ergeben sich Perspektiven für das Kind, das Eltern für das Leben erziehen möchten? Wenn Erziehungs- und Bildungsfragen eng mit der Weitergabe des Lebens von einer Generation zur anderen verbunden sind, bedürfen sie im Zusammenhang mit mehrfach veränderten Situationen – Kind mit einer Behinderung, allgemein mit einem individuellen Erziehungs- und Förderbedarf, zukünftiges Leben in einer sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Situation – der permanenten kritischen Reflexion. Erziehung, Integration und Inklusion verlangen den Erfahrungsraum menschlicher Zuwendung, Teilhabe und Teilnahme an allen Vorgängen in unserer Gesellschaft und Kultur und nicht Ausgrenzung. Bildung des Menschen als Person und Mitglied der Gesellschaft fordert ganzheitliche Bildung, in der sich nicht nur die intellektuellen, sondern auch die sozialen und emotionalen Möglichkeiten entwickeln können.
Menschen mit Behinderungen „leisten“ in unserer Gesellschaft Bedeutsames. Sie tragen zur Weckung und Freilegung tiefer menschlicher Kräfte und damit zur Sinnerfahrung bei. Menschen mit Behinderung sorgen dafür, dass sich nicht alles Streben in Richtung Leistung, Effektivität und Perfektion verdichtet. Sie provozieren vielmehr die Frage nach dem Wesen des Menschen in seiner Lebenswirklichkeit auch unter dem Aspekt des Bedroht-Seins von Behinderung und damit seiner permanenten Vulnerabilität in physischer, sozial-emotionaler und geistiger Sicht immer wieder neu.
Die zahlreichen Impulse und Fragen der Studierenden der Ludwig-Maximilians-Universität München waren für mich stets anregend. Studierende der Sonder- und Heilpädagogik in ganz Europa stehen vor zahlreichen Problemen im Zusammenhang mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge sowie Fragen der Modularisierung. Gerade für diese Studierenden soll das vorliegende Buch in informativer und kritisch-konstruktiver Weise wichtige Kenntnisse des Faches sowohl aus den Bereichen Geschichte der Heilpädagogik – kritische Phasen einbezogen – als auch bedeutsame Fragen, Informationen und Herausforderungen der Gegenwart vermitteln. Dabei besteht das Grundprinzip darin, so umfassend wie möglich in enger Vernetzung von Theorie und Praxis sachlich ausgewogen und kritisch-konstruktiv zu informieren.
Der wissenschaftliche Fokus liegt überwiegend gewissermaßen am Puls einer veränderten und sich rasch weiter entwickelnden Wirklichkeit, die auch Bisheriges in Frage stellt und zu neuen Denk- und Handlungsprozessen anregt. Der Inhalt dieses Buches konzentriert sich auf wichtige Themen der Sonder- und Heilpädagogik im Hinblick auf eine veränderte Kindheit und mögliche Auswirkungen auf die Entwicklung.
Meinem Assistenten, Herrn Schulpsychologen und Sonderpädagogen Sebastian Reiter, M. A., und meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, Herrn Johann Klehmet und Herrn Stephan Reichardt, danke ich sehr für ihre Unterstützung, für sachdienliche Hinweise und Anregungen.
München, im Mai 2010 |
Konrad Bundschuh |
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Sonder- und Heilpädagogik erheblich verändert. Sie steht vor einer Vielzahl an Herausforderungen, Neuorientierungen und Perspektiven in Theorie, Forschung und Praxis. Veränderungen und Umbrüche in vielen Lebensbereichen in rascher Folge kennzeichnen auch die heutige gesellschaftliche Situation, die von dem Soziologen Ulrich Beck treffend als „Risikogesellschaft“ bezeichnet wird. Sowohl die aktuelle Sonder- und Heilpädagogik als auch deren Nachbardisziplinen müssen sich diesen vielfältigen Entwicklungen und Widersprüchen der Postmoderne stellen und gewinnen dadurch auch neue Handlungsfähigkeit.
Es gibt eine deutliche Verunsicherung gegenüber Erziehungsfragen in Theorie und Praxis. Vielleicht ist diese Unsicherheit auch ein wichtiger Grund für die Entstehung vehementer Verhaltensprobleme wie Aggressivität, Gewalt bis Brutalität, Essprobleme, selbstverletzendes Verhalten, mangelndes soziales Einfühlungsvermögen sowie Egoismus vieler Kinder und Jugendlicher. Sie provozieren staatliche Autorität, indem sie mehr oder weniger bewusst Grenzen menschlichen Zusammenlebens überschreiten.
Nicht nur im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik, sondern auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen sowie in der Politik fordert man Präventionsarbeit. Krankenkassen geben sich den Beinamen „Präventionskasse“, da ihnen die Gesundheitsvorsorge ihrer Klienten besonders am Herzen liegt.
Der Einbezug unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche in die vorliegende Heilpädagogik erweist sich als unabdingbar. Interdisziplinarität ist auch notwendig, um Wissenschaftler mit geistes- und naturwissenschaftlicher Orientierung gleichermaßen zu sensibilisieren, verstärkt die Situation und die Bedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und mit speziellen Erziehungs- und Lernbedürfnissen mit dem Ziel der Förderung ihrer Persönlichkeitsentfaltung und Verbesserung der Alltagswirklichkeit zu erforschen. Handeln im Zusammenhang mit Kindern wird als pädagogische Aufgabe, als Auftrag, Aufforderung und Postulat, Anruf oder als Herausforderung an unsere Humanitas angesichts vorliegender Problemsituationen in der Erziehungswirklichkeit betrachtet.
Ziel der Sonder- und Heilpädagogik ist es, jedem Menschen Kompetenzen zu vermitteln, die er benötigt, um zunehmenden Einfluss auf seine Lebensgestaltung, auf seine soziale und dingliche Umwelt zu nehmen. Forschen, Wissen und Handeln bilden hierbei unter dem Aspekt eines wertorientierten Menschenbildes die Grundlage für eine positive Entwicklung. Ähnliche Ziele setzt sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Rahmen des Konzepts der Gesundheitsförderung, welches intendiert, dass allen Menschen die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln sind, um ihre persönliche Gesundheit zu verbessern – als Voraussetzung für eine optimale Lebensqualität (vgl. Hurrelmann, Settertobulte 2001, 133).
Seit einigen Jahren steht man vor allem im Erziehungsfeld vor neuen Herausforderungen. Eine vormals oft einheitlich erlebte Welt scheint sich immer mehr in Vielfalt aufzulösen. Es handelt sich hier um den Verlust von so genannten „Normalbiographien“ hin zur „Wahlbiographie“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994), die neue Kompetenzen erfordert. Es ist nicht nur die Geschwindigkeit der Transformationsprozesse, die viele von uns überfordert, sondern auch die mit diesen Entwicklungen einhergehende Verunsicherung und der Verlust Halt gebender Einbindungen und Traditionen tragen zur Genese weiterer Probleme bei. Die häufig als (Post-)Moderne – oder auch als „flüssige Moderne“ (Baumann 1995) – bezeichnete Gegenwart, in der größere Handlungsspielräume und erweiterte Möglichkeiten von Menschen gewünscht werden, birgt auch zahlreiche Risiken und damit ein erhöhtes Maß an Vulnerabilität in sich.
Reichtum und gleichzeitig alarmierende Zahlen über die Zunahme realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, allein erziehenden Müttern und Migrantenfamilien, gesellschaftliche Ausgrenzungen sowie der Kampf um elementare Menschenrechte und Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen – diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen bilden einen möglichen Ausgangspunkt des Nachdenkens über die physischen und psychischen Lebens- und Gesundheitsbedingungen von Menschen mit oder ohne Behinderungen und die Herausforderungen sowie Grundlagen zukünftiger heilpädagogischer Theorie- und Praxisentwicklungen.
Traditionelle Sonderpädagogik hat vor dem Hintergrund medizinisch-psychiatrischer Betrachtungsweisen den Menschen mit einer Behinderung in erster Linie als defizitär, mit Mängeln behaftet betrachtet. Einstellungen und Wahrnehmung haben sich in den letzten Jahren verändert. Neuwahrnehmung heißt hier Möglichkeiten, Fähigkeiten, Eigenaktivitäten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher Beeinträchtigung und behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung einer Person zu stellen (vgl. Bundschuh 2000, 11–17; 2003 197–211; 2008, 233f.) und den individuellen Förderbedarf unter Einbezug der Umfeldbedingungen multidisziplinär zu erkennen.
Können Erkenntnisse aus Bio- und Neurowissenschaften, der Hirnforschung oder gar der Rechtswissenschaften relevante Aussagen zu Fragen der Erziehung überhaupt ermöglichen? Welche neue Bedeutung und Aufgabe hat Erziehung angesichts zunehmender Störungen psychischer, psychosomatischer, kognitiver, affektiv-emotionaler und motivationaler Art bei Kindern und Jugendlichen, von denen über 20 % der schulpflichtigen Kinder betroffen sind. Ist unter diesem Aspekt betrachtet Erziehung sinnlos oder vielmehr dringend notwendig? Müssen wir die Frage nach der Erziehung in der modernen Leistungsgesellschaft neu stellen und Erziehung mit dem Blick auf zukünftige Herausforderungen und Bewältigungsaufgaben in einem neuen Licht betrachten? Viele Interventions- und Präventionsansätze stellen sich diesen wichtigen Fragen, indem sie sich um eine multiperspektivische Herangehensweise bemühen, mit deren Hilfe man Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen und -situationen begegnet.
Dies zeigt sich insbesondere an den neueren Erkenntnissen der Emotions- und Lernpsychologie sowie der Neuropsychologie und -biologie. Man geht heute davon aus, dass menschliches Verhalten wesentlich durch emotionale Prozesse, d.h. durch Erleben allgemein, bestimmt wird. Zahlreiche Einflüsse und Erfahrungen vor allem in der frühen Kindheit können sich positiv, aber in hohem Maße auch negativ auf die Lern- und Sozialentwicklung sowie allgemein auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen auswirken. Insofern wird die Frage nach den Konsequenzen für die Frühpädagogik gestellt.
Gerade aus konstruktivistischer Sicht ist zu betonen, dass emotional-kognitive innere Prozesse und damit Eigenaktivität bei Kindern als autopoietische Systeme aus der Quelle psychischer Prozesse, also der Emotionalität gespeist werden. Neben den systemisch-konstruktivistischen Ansätzen spielt vor allem der Aspekt der Ko-Konstruktion als wichtige Ergänzung und Erweiterung eine bedeutende Rolle für ein tieferes Verständnis von Verhalten und Lernen im sozialen Kontext. Handlungsfähigkeit, Lernen und auch die Frage nach Lebensqualität, Glück und Wohlbefinden werden im Zusammenhang mit dem Konstruktivismus und der Zukunft eines Menschen in einem neuen Licht gesehen (vgl. Bundschuh 2003, 153–157).
Häufig geht es um Kinder mit einem erhöhten emotionalen und sozialen Förderbedarf (Verhaltensauffälligkeiten) im Kontext geistiger Entwicklung und Lernen. Diese Kinder erweisen sich im Zusammenhang mit Lernen und Versagensängsten als äußerst sensibel. Zweifellos gilt Emotionalität als pädagogische Herausforderung bei der kindlichen Entwicklung allgemein.
Vorläufig können wir sagen, dass Emotionen, freilich vor allem ausgeglichene, „stabile Emotionen“ als Voraussetzung, quasi als Ressourcen für optimales Lernen gelten. Das erzieherische Verhältnis und der pädagogische Bezug im Kontext Erziehung sollten wieder in den Mittelpunkt pädagogischer Fragen gerückt werden. Es ergibt sich die dringende Notwendigkeit für einen neuen Umgang mit Emotionen, denn positive Emotionen (vgl. Bundschuh 2007, 176–182) und auch die mit der Emotionalität verbundene Bewältigung von Entwicklungsaufgaben erweisen sich als sinnvolle, sich gegenseitig stärkende Prozesse im Rahmen der Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit.
Die traditionelle Orientierung an Abweichungen von der Norm und die Betonung von Defiziten im Sinne des medizinisch orientierten Modells müssen abgelöst werden durch Kompetenzorientierung. Darunter wird die Wahrnehmung und Fokussierung der Ressourcen, Fähigkeiten, Möglichkeiten und des Könnens einer Person verstanden. Möglichkeiten und Eigenaktivitäten sind zu beachten und im Sinne präventiven und förderlichen Bemühens freizulegen und zu aktualisieren.
Kommunikative, soziale, moralische, emotionale, kreative und kognitive Kompetenzen (vgl. Bundschuh 2003, 197 ff.) spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Orientierung am Kind und seinen Möglichkeiten im Kontext von Handlungs- und Lernprozessen stellt implizit eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben dar.
Behindernde Bedingungen sozialer und emotionaler Art sowie psychische Erkrankungen gehen fast immer mit Leistungsbeeinträchtigungen und Lernbehinderungen, ggf. auch mit einer gewissen Lernhemmung bis zur situativen Lernunfähigkeit einher. Neben dem jeweiligen Entwicklungsniveau sind es aktuelle Frustrationen, Überforderungen, Konflikte, Ängste, Krisen, Krankheiten und Traumata, die zu Einschränkungen im Fühlen, Denken und Handeln führen können. Handeln, Lern- und Denkfähigkeit sind immer auch ein Abbild der Persönlichkeitsentwicklung mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen. Gravierende Krisen und Traumata in der Kindheit und Adoleszenz haben im Hinblick auf die Entwicklung der Lern- und Denkfähigkeit sowie der Emotionalität längerfristig ungünstigere Folgen als im Erwachsenenalter, da sie die gesamte Persönlichkeit und deren weitere Entwicklung sehr früh tiefgehend und damit auch nachhaltig negativ beeinflussen können.
Kindheit bedeutet heute häufig, in einer ungesicherten sozialen Bindung aufzuwachsen und in einer nahezu gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft zu leben, in der vor allem die messbare Leistung zählt. Soziale Spannungsfelder nehmen im Alltag unserer Gesellschaft zu, die sich durch das Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich ebenso ausdrücken wie durch Entfremdung zwischen Menschen. Kinder sind – mehr oder weniger bewusst – Suchende nach Sinn und Perspektive und verarbeiten dabei auch problematische Umfeldbedingungen. Auch wenn gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingungen nicht radikal im Sinne von mehr Mitmenschlichkeit und Humanitas verändert werden können, sollte jedes Kind von Anfang an die Möglichkeit der Erfahrung positiver, von Liebe und Geborgenheit getragener Emotionen erhalten.
Wir erstreben für die uns anvertrauten Menschen mit und ohne Behinderung Teilhabe, Autonomie und Entfaltung der Persönlichkeit, aber nicht auf der Basis von Egoismus und Machtstreben, sondern auf der Grundlage von Begegnung und Dialog verbunden mit positiven sozial-emotionalen Prozessen. Es gilt gesellschaftliche Gegebenheiten und Verhältnisse sowie persönliche Situationen flexibel und aktiv aufzugreifen und ihnen präventiv zu begegnen.
Heilpädagogik steht in wissenschaftlicher Hinsicht auch gegenwärtig noch im Spannungsfeld traditionellen Denkens und aktueller fachlicher Neuorientierung. So hat man lange Zeit über Menschen mit Behinderungen gesprochen, ohne sie als Betroffene in den Dialog einzubeziehen und eine „gemeinsame“ Sprache herzustellen. Sprache ist an sich ein hervorragendes Mittel zur Gestaltung des (emotionalen) Beziehungsverhältnisses zwischen Menschen. Bereits durch die Auswahl von Worten und Begriffen, die stets auch einen emotional besetzten Anteil haben, werden Beziehungen hergestellt und Einstellungen generiert.
So basiert das „System Heilpädagogik“ auf dem systemisch-ökologischen Ansatz, der darauf ausgerichtet ist, „die nahezu unüberschaubar gewordene Wirklichkeit des Lebens und Lernens, der Entwicklung und der Erziehung im Falle einer besonderen Hilfebedürftigkeit zu sichten. Dabei wird es darum gehen, die einzelnen Wirkeinheiten (Personen, Professionen, Organisationen) in ihrer Funktion und Bedeutung als (relativ) autonome Systeme im Austausch mit ihrer Umwelt zu sehen. Erkenntnisleitend wird damit eine Ganzheitssicherung“ (Speck 2008, 17).
Der Begriff Heilpädagogik drückt einen positiven Auftrag aus, wie er dem Sinn von Erziehung entspricht, der den Menschen „ganz werden lassen“ soll, darüber hinaus verbindet er verschiedene Disziplinen und sonderpädagogische Handlungsfelder im Sinne der semantischen Bedeutung von heil (= ganz). Heilpädagogik soll in diesem Buch als Chance und Aufgabe verstanden werden, von Zerteilung und Isolation bedrohtes Leben durch eine entsprechende Erziehung in sinnvolle Zusammenhänge zu führen. Die grundlegende Bedeutung der Entscheidung für den Begriff „Heilpädagogik“ sollen insbesondere folgende Ausführungen in diesem Buch zum Ausdruck bringen:
Ergänzt und vernetzt werden diese genannten Bereiche u.a. mit wichtigen Aspekten
Häufig wurde und wird der Systembegriff auch im Zusammenhang mit Heilpädagogik verwendet. Dieser Begriff erweist sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht zuletzt im Kontext des Zusammenbruchs sozialer und finanzieller Systeme als für eine kritische Reflexion zur Heilpädagogik zwingend ergänzungsbedürftig, da einzelne Menschen mit speziellem Erziehungs-, Förder- und Hilfebedarf, mit Beeinträchtigungen und Behinderungen im Systembegriff nicht immer adäquat wahrgenommen und aufgehoben werden. Globale Systeme gehen häufig am Schicksal einzelner Menschen geradezu vorbei. Deshalb wird in diesem Buch eine kritisch-konstruktive Heilpädagogik fokussiert, die eher in der Lage ist, einzelne Menschen in ihrer subjektiven Betroffenheit bewusst wahrzunehmen, zu verstehen und entsprechend der Bedürfnislage individuell zu unterstützen und zu fördern.
Damit wird die Existenz und Wirksamkeit der Systeme keinesfalls negiert, vielmehr wird die Analyse der Situation Betroffener einbezogen und primär kritisch beleuchtet. Betrachtet man Systeme unter dem Aspekt des Desasters großer Systeme (Banken, Konzerne, zum Teil politische Systeme, ja sogar soziale Systeme/Hilfsorganisationen und Heime) und der Gefahr des Nichtbeachtens der Belange der einzelnen Menschen, sollte man den Systembegriff gerade im Hinblick auf Menschen mit Behinderung nicht zu sehr oder gar nicht mehr fokussieren, denn es besteht die Gefahr, dass Systeme den einzelnen Menschen nicht beachten bzw. einbeziehen.
Wir leben in einer Zeit, in der unsere technisierte Zivilisation ein Höchstmaß an Machbarkeit erreicht hat. Erzeugbare Kommunikations-, aber auch Vernichtungsmittel stehen in nie da gewesenem Ausmaß zur Verfügung. Unser Wissen über neurobiologische Prozesse der Entwicklung und des Verhaltens wächst ständig. Dennoch stehen Eltern und Lehrer oft verzweifelt und ohnmächtig vor den Abgründen menschlicher Konfliktbereitschaft, ungezügelter Aggressivität und unverständlicher Handlungen im Alltag. Kindern werden mit epidemiologischer Genauigkeit Verhaltens-, Lernstörungen und Behinderungen attestiert, Familien, Schulen und andere Institutionen sind an den Grenzen der Belastbarkeit angelangt. Pädagogische und sozialpsychologische Beeinflussungsmodelle und Erklärungskonstrukte stehen weitgehend ohnmächtig den Entwicklungen gegenüber, interdisziplinäre Expertengremien suchen nach Lösungen. Keine Frage, die Klagen über Aggression und Gewalt, allgemein Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu, ca. 20 % aller Kinder sind betroffen.
Die Debatten um die „Krise der Zivilisation“ reißen nicht ab. Insbesondere die zunehmende Kluft zwischen Armen und Reichen sowie Arbeitsuchenden und Arbeitenden, das (vorläufige) Scheitern der Klimakonferenz von Kyoto und der weltweite Terrorismus machen Angst. Genetik, Bio- und Medizintechnologien, Nanotechnologie und der rasante Ausbau der Informationssysteme führen jedem Menschen die Unvorhersagbarkeit der Zukunft vor Augen. Eine neue Nachdenklichkeit hat eingesetzt: Wie können wir leben? Dass diese Frage auch im individuellen Lebensbereich aktuell ist, zeigen die Debatten um Sinnkrise, Werteverlust, Stressgesellschaft usw. Menschen fühlen sich zunehmend weniger frei in Bezug auf die Gestaltung ihres eigenen Lebens, sondern eingeengt von „Sachzwängen“ und Reizüberflutungen, denen sie sich nicht entziehen zu können glauben. Individualisierung hat auch zu Vereinsamung geführt, und die Fülle von therapeutischen Angeboten angesichts dieser Entwicklungen ist kaum noch überschaubar. „Man“ sucht nach Orientierung, Heilung, Sinn. Die Ratgeberliteratur findet reißenden Absatz, und auch die Suche nach religiösen Alternativen und Spiritualität verstärkt sich.
Viele Menschen glauben heute, an einem Wendepunkt der Geschichte zu leben. Zwar ist jede Zeit geprägt von Kontinuität und Aufbruch, von Trägheit und Bewegung, doch das gegenwärtige Tempo der technologischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Wandlungsprozesse erzeugt Ohnmacht einerseits und Manipulationswahn andererseits, in beiden Fällen jedoch das Gefühl von Umbruch und Maßlosigkeit. Eine Welt ohne Maß? Globalisierung, gesellschaftliche Veränderungen, das faszinierende Projekt der europäischen Einigung nach Jahrhunderten kriegerischer Konflikte einerseits, eine drohende Konfrontation der Kulturen andererseits, die Dringlichkeit eines ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft, vor allem aber die rasante Entwicklung in den Wissenschaften und ihre Folgen für die Ethik sind Stichworte, die ein solches Lebensgefühl verdichten.
Wie können Kinder und speziell Kinder mit einer Behinderung leben? Es geht hier nicht um Imperative, wie wir leben müssen, sondern um das Ausloten von Möglichkeiten kreativer Lebensgestaltung, also darum, wie wir leben und Leben gestalten können, das häufig auch als ungenügend empfunden wird. Das vorliegende Buch sucht nach erkennbaren Alternativen, die plausibel sind und als realisierbar erscheinen – d. h., es fragt nach dem, was Zukunft, Alltagsbewältigung und Lebensqualität genannt werden kann. Es stellt sich dabei die Frage, was zu tun sei, damit Leben individuell wie kollektiv gelingen kann in einer Welt, die in vielerei Hinsicht die Maßlosigkeit zum Maß aller Dinge macht. Die Wahrnehmung von Problemen wird dadurch bestimmt, wie wir die Situation deuten und interpretieren, von unserem Bewusstsein also, das gesteuert wird durch Begriffe und Sprachbilder der Hoffnung oder der Angst, die sich unmittelbar und langfristig auswirken und bei der Gestaltung des Lebens hilfreich oder hinderlich sein können. Es geht also um ein Selbst-Erkennen des Bewusstseins und seiner Inhalte, das zu prüfen hat, was bei der Gestaltung unseres begrenzten Lebens möglich ist und was nicht. Die Begriffe und Bilder des Bewusstseins wiederum sind geprägt von Erfahrung vom alltäglichen Leben. Wie können wir leben? Die drei klassischen menschlichen Fragen nach den aktuellen Problemen, der Zukunft und dem Handeln werden aufgeworfen, heute allerdings auch im Bewusstsein der Globalität des Schicksals der Menschheit im Kontext Ratlosigkeit und Angst zu widerstehen, damit wir unsere Verantwortung durch wohlüberlegtes Handeln in einem bewusst gestalteten Leben wahrnehmen können.
Man kann auch die Geschichte der Heilpädagogik als kritisch-konstruktiv bezeichnen. Der Ausdruck „kritisch-konstruktiv“ bezieht sich vor allem auf die Geschichte der Heilpädagogik von Georgens und Deinhardt bis in die heutige Zeit. Gemeint ist damit vorläufig, dass sich Heilpädagogik auf der Basis der Überlegungen von Georgens und Deinhardt und ihrer Heilpädagogik (1860/61) über die berühmten Schweizer Heilpädagogen Heinrich Hanselmann und Paul Moor bis in die heutige Zeit – mit wenigen Ausnahmen – konstruktiv weiterentwickelt hat. Die prozesshafte Neukonstruktion der Heilpädagogik geht hervor einmal aus der Erkenntnis der Notwendigkeit heilpädagogischer Theoriebildung und heilpädagogischen Handelns, aus der Kritik an gesellschaftlichen Situationen und Verhältnissen und nicht zuletzt aus der Problem- und Notsituation betroffener Menschen mit Behinderung, teilweise verbunden auch mit sozialer Vernachlässigung und Diskriminierung sowie kultureller Benachteiligung. Der Terminus „kritisch-konstruktiv“ hat nichts zu tun mit Klafkis Theorien- und Modellbildung zum didaktischen Handeln.
Bei Klafki geht es um die Einbringung kritisch-konstruktiver Theorieelemente in das Didaktikmodell. Dabei werden die „Grundlinien kritisch-konstruktiver Didaktik“ (Klafki 1991, 141ff.) durch die Begriffe kritisch und konstruktiv charakterisiert. Klafki versteht unter kritisch in Anlehnung an seine bildungstheoretischen Überlegungen eine Position, in der das didaktische Interesse an der Beförderung der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit aller Heranwachsenden versammelt ist.
Kritisch-konstruktiv meint hier also die prozesshafte Weiterentwicklung der Heilpädagogik auf der Basis auch der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen im Kontext der betroffenen Personen mit Beeinträchtigungen und Behinderung. Kritisch-konstruktiv meint aber auch die implizite Weiterentwicklung der Heilpädagogik aufgrund neuer Erkenntnisse, Reflexionen und Kritik aus den eigenen Reihen sowie an eigenen Ansätzen, wie sie zum Beispiel zu Ende der 1980er bis Ende der 1990er Jahre gehäuft von Vertretern der Sonder- und Heilpädagogik geäußert wurden (Jantzen, Eberwein, Feuser, Kobi, Speck, Möckel, um nur einige Vertreter der Sonder- und Heilpädagogik zu nennen).
Diese Entwicklungen sollen vor allem im Rahmen der Darstellung der Geschichte der Sonder- und Heilpädagogik, aber auch im Kontext der Vorstellung bedeutsamer Begrifflichkeiten wie Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Behinderung, Rehabilitation, Förderbedarf, aufgezeigt werden. Heilpädagogik stellt eine prozesshafte Entwicklung bis in die Gegenwart hinein dar und wird sich in Zukunft auch weiterhin prozesshaft weiterentwickeln.
Es geht also im vorliegenden Buch um differenzierte und überzeugende Anschlussstellen bzw. Schnittstellen zwischen der geschichtlichen Weiterentwicklung der Heilpädagogik im Kontext von Neuwahrnehmung, Neuverständnis und Neukonstruktion. Eine kritisch-konstruktivistische Sichtweise impliziert die Frage nach den Perspektiven einer Heilpädagogik. Hierzu gehört allerdings auch eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage auf der Basis geschichtlicher Entwicklungen, denn nur aus dieser Grundlage – Geschichte und Gegenwart – können neue Perspektiven im Sinne der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotzki) angedacht und weiterentwickelt werden. Perspektiven schließen auch immer die Verbesserung von Alltagswirklichkeiten und Lebensqualität der von Störungen und Behinderung betroffenen Menschen ein. Gegenwärtig vorliegende Systematiken der Heilpädagogik, wie zum Beispiel Specks „System Heilpädagogik“ (2008), Haeberlins „Heilpädagogik als wertgeleitete Wissenschaft“ (1996), Kobis „Grundfragen der Heilpädagogik“ (2004) und auch Publikationen über die Geschichte der Heilpädagogik wie Möckels „Geschichte der Heilpädagogik“ (1988, 2007) und Ellger-Rüttgardts „Geschichte der Sonderpädagogik“ (2008) leisten vieles. Es fehlt allerdings eine Darstellung, die vor allem das Prozesshafte im Rahmen der Weiterentwicklungen in systematischer Form thematisiert. Hierin sieht der Verfasser dieses Buches eine Notwendigkeit der Neuwahrnehmung von Sonder- und Heilpädagogik auf der Basis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Geschichte der Heilpädagogik kann man als Geschichte der immer expliziteren und differenzierten Wahrnehmung von Problem- bzw. Notsituationen im pädagogischen Arbeitsfeld begreifen.
Die geschichtliche Entwicklung des Erziehungs- und Bildungswesens für Menschen mit Behinderung steht in enger Verbindung mit deren Stellung in Gesellschaft, Religion und Kultur und mit den Sichtweisen in den verschiedenen Epochen. Ähnlich wie heute lassen sich bei der Betrachtung historischer Ereignisse verschiedene Sichtweisen (Medizin, Psychologie, Anthropologie, Pädagogik, Didaktik) beobachten. In den historischen Darstellungen wird immer wieder von Menschen gesprochen, die aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Abweichung und Beschränktheit bzw. Beeinträchtigung eine spezielle Rolle – eine Sonderrolle – spielten (vgl. Speck 1979, 57). Menschen mit geistiger Behinderung wurden bspw. als Narr zum Spielzeug und Gespött gesehen, dann wieder als Dämon gefürchtet, aber auch – vereinzelt – als „Wesen unter dem besonderen Schutze Gottes“ (Disselhoff 1857, 5). Meyer (1973, 20) spricht gar von religiöser Verehrung des „Schwachsinnigen“1 in der Schweiz.
Die Einstellungen waren gegensätzlich. Dies zeigt sich auch daran, dass z.B. im alten Sparta missgebildete und schwer schwachsinnige Kinder aus der Gesellschaft entfernt und in Schluchten geworfen wurden, während Seneca im alten Rom empfahl, den Schwachsinnigen ins Haus aufnehmen und ihm eine menschenwürdige Behandlung angedeihen zu lassen (Kirmsse 1969, 452–453).
Eines der ersten Beispiele für die institutionalisierte Betreuung von Menschen mit Behinderung ist die Schule für Gehörlose, die 1770 von Abbé de l’Epée in Paris gegründet wurde. Acht Jahre später schuf Samuel Heinicke in Leipzig die erste deutsche Gehörlosenschule mit dem Namen „Chursächsisches Institut für Stumme und mit anderen Sprachgebrechen behaftete Personen“.
Nach mehreren privat finanzierten Versuchen, Lernfortschritte bei blinden Kindern und Jugendlichen zu erzielen, wurde es Valentin Haüy 1785 vom französischen Staat gestattet, eine Schule für blinde Kinder zu eröffnen. Durch ihn wurde Blindenunterricht europaweit bekannt, was wiederum zu zahlreichen Neugründungen führte.
Ende des 18. Jahrhunderts hat Pestalozzi in Zusammenhang mit seinen Erziehungsversuchen auf dem Neuhof (1777 u. 1778) unter anderem auch zwei Kinder mit geistiger Behinderung in seine Obhut genommen, denen er offensichtlich helfen konnte, ein relativ freies Leben zu führen. Durch die Aufnahme verwahrloster Kinder wollte er deren Aussicht auf berufliche Zukunft und auf Ehestand verbessern.
Insbesondere durch die für das Zeitalter der Aufklärung typische rationale Grundhaltung wurde der Mensch als Verstandes- und Gefühlswesen betrachtet und ihm dadurch ein Entwicklungspotential zugeschrieben, das es zu fördern galt. Dieses Menschenbild entsprach auch dem Pestalozzis, der dieses durch seine Tätigkeit auf dem Neuhof in die Tat umzusetzen versuchte. So sollte seiner Ansicht nach jedem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich gemäß seinen Kräften, Anlagen und Bedürfnissen frei zu entfalten (vgl. Kapitel 9).
Sehr genaue Angaben über einen ersten gezielten Versuch, einen „schwachsinnigen“ Jungen zu erziehen, stammen von Jean Itard (1774–1838), einem Taubstummenlehrer und Arzt an einem Taubstummeninstitut in Paris. „Victor, das Wildkind vom Aveyron“ (Itard 1965), ein im Walde aufgewachsener völlig verwilderter Junge, der psychiatrisch als „unheilbarer Idiot“ galt, wurde von Itard ab 1800 mit pädagogischen Mitteln betreut. Die Besonderheit Itards, der in der Tradition des Sensualismus2 stand, lag in der für die damalige Zeit erstaunlichen Annahme, dass die Ursache für das verwilderte Verhalten des Jungen in sozialer und pädagogischer Vernachlässigung zu suchen und dass deshalb durch gezielte Übungen, Zuwendung, sinnliche Erziehung und soziale Eingliederung auch eine Förderung der Intelligenz zu erreichen sei. Seine – wenn auch begrenzten Erfolge – gaben Itard prinzipiell Recht.
Durch seine Erkenntnisse wurden spätere Ansätze beeinflusst, wie beispielsweise die seines Mitarbeiters Edouard Seguin (1812–1880), einem Taubstummenlehrer und Arzt, der 1839 Leiter einer „Idiotenschule“ in Paris war und 1846 ein erstes Lehrbuch über die Behandlung der Idiotie schrieb.
Zur Schulung der „schwachen Sinne“ entwickelte Seguin Spiel- und Lernmaterialien, die später in modifizierter Form Eingang in Maria Montessoris Material zur Wahrnehmungsförderung fanden.
Nachdem die Erforschung des „Cretinismus“ – eine Unterfunktion der Schilddrüse, die als Folge von Jodmangel entsteht und zu einer geistigen Behinderung führen kann – gegen Ende des 18. Jahrhunderts intensiviert wurde, begann auch die Suche nach medizinisch und pädagogisch relevanten Möglichkeiten zu dessen Heilung.
So entstand 1816 in Hallein bei Salzburg die von dem Privatlehrer Gotthard Guggenmoos (1782–1838) gegründete „Kretinenschule“, die neben Taubstummen auch „schwachsinnige“ Kinder aufnahm. Da sich der Unterricht jedoch insbesondere bei den Taubstummen im Vergleich zu den „reinen“ Taubstummenanstalten als weniger erfolgreich erwies, verloren die Geldgeber und Unterstützer recht bald das Interesse am Konzept von Guggenmoos, weshalb dieser die Anstalt 1836 wegen mangelnder Unterstützung wieder schließen musste.
Zu nennen ist auch der Lehrer Traugott Weise (1793–1859), der 1820 eine „Betrachtung über geistesschwache Kinder in Hinsicht der Verschiedenheit, Grundursachen, Kennzeichen und Mittel auf leichte Art durch den Unterricht beizukommen. Mit besonderer Rücksicht auf die Pestalozzi’sche Rechenmethode“ schrieb. Weise betont darin die Heterogenität der Kinder – wozu auch die Erkenntnis gehört, dass es „geistesschwache“ Kinder gibt. Zudem ist Weise der Auffassung, dass ein Mensch zu seiner Menschwerdung der Bildung bedarf und niemand die Entwicklung eines Kindes vorhersehen kann (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008, 153). Weise setzte sich 1820 für eigene Lehranstalten für Geistesschwache ein, „deren Menschheit oft mit Füßen getreten wird“, und die in den üblichen Schulen, „wie in einer Folterkammer“ (§ 4) leiden.
Mit der Errichtung von Anstalten kann man von einer ersten relativ geschlossenen Epoche in der Fürsorge für Geistesschwache sprechen, wobei fundamentale christliche Impulse ebenso wie medizinisch und pädagogisch wissenschaftliche und humanitäre Ansätze und Einrichtungen eine wesentliche Rolle spielten.
Da hier nicht auf sämtliche Einzelheiten eingegangen werden kann, soll beispielhaft die Pionierarbeit des Schweizer Arztes Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) genannt werden, der 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken eine „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“, Europas „erste Kolonie für Heilung des Kretinismus“, errichtete, die zum „Wallfahrtsort für Menschenfreunde“ wurde und recht bald weltweite Beachtung fand.
Das Problem Guggenbühls bestand jedoch in seinen zu hohen Erwartungen: „Der Mensch ist geboren zur Herrschaft über die Natur, und auch der Cretin, der mit dem menschlichen Aussehen die lebendige Seele verloren, und von Jedermann verlassen in dumpfen Kerkern, auf Misthaufen und in Viehställen sein elendes Dasein hinschleppt, wird sich wieder erheben auf die menschliche Bahn“ (Guggenbühl 1997, 104).
Seine Vorstellung, den Kretinismus zu heilen und die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen wieder zu integrieren, scheiterte und brachte ihm Hohn und den Vorwurf der Scharlatanerie ein. „Für alle Zeit steht es jedenfalls fest, daß G. seine Versuche ehrlich meinte, daß er aber andererseits die Erfolge derselben überschätzte. Daß er absichtlich zu täuschen suchte, ist keineswegs bewiesen. Wohl aber ließ er es vielfach an der nötigen Sorgfalt fehlen“ (Kirmsse 1911, 692f.).
Carl-Wilhelm Saegert (1809–1879) errichtete 1845 als Direktor der Königlichen Taubstummenanstalt Berlin eine „Heil- und Bildungsanstalt für Blödsinnige“ und verfasste die Schrift „Die Heilung des Blödsinns auf intellectuellem Wege“. Saegert bezog sich in seiner Spracherziehung auf einen Stufengang, der ihm aus der Taubstummenpädagogik bereits bekannt war und betrachtete die physiologischen Aspekte in der Erziehung als ebenso zentral wie der bereits genannte Arzt und Taubstummenlehrer Edouard Seguin (vgl. Möckel 2007, 101).
Zahlreiche weitere Anstalten wurden in dieser Zeit gegründet, die teilweise bis heute bestehen; zu nennen wären beispielsweise die:
In seiner Schrift über „Die gegenwärtige Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern, ein Not- und Hilferuf für die Verlassensten unter den Elenden an die deutsche Nation“ beklagt Disselhoff, dass in Preußen verschiedene Statistiken angelegt würden, etwa für die Anzahl des Rindviehs, der Esel, Ziegen und Schweine, „nur nicht für jene Ärmsten seiner Untertanen, die auf Erlösung aus der Nacht des Blödsinns harren“ (1857).
Die Reaktion des preußischen Kultusministeriums auf diese Äußerung war alles andere als die erhoffte. So entzog sich der Staat der Verantwortung gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung, indem er diese Aufgabe an die private Wohltätigkeit delegierte: „Nach den bisherigen Erfahrungen empfiehlt es sich, die Gründung derartiger Anstalten vorzugsweise der Privattätigkeit zu überlassen und die Mitwirkung der Provinzialstände sowie wohltätiger Vereine zu diesem Zwecke als Beihilfe eventuell zur Begründung von Freistellen in Anspruch zu nehmen“ (zit. n. Lindmeier/Lindmeier 2002, 216). Der Staat übernahm zwar die Verantwortung für gehörlose und blinde Menschen, für Menschen mit geistiger Behinderung jedoch nicht.
In die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen auch in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten von Amerika die ersten Gründungen von Anstalten für „Schwachsinnige“ (Hilscher 1930, Kanner 1964). An der Erforschung des komplexen Phänomens Schwachsinn und am Aufbau der Hilfe für Schwachsinnige waren Mediziner, Pädagogen und Theologen beteiligt. Es stellte sich schon frühzeitig heraus, dass es sich um eine mehrdimensionale Aufgabe handelt und von verschiedenen Aspekten her angegangen werden muss. Karl Ferdinand Kern (1814–1868), selbst Pädagoge und Arzt, Leiter einer Privatanstalt für Schwachsinnige in Leipzig, setzte sich für eine „Vergesellung“ von ärztlicher Behandlung und pädagogischer Bemühung ein. Er widersprach der häufig propagierten Möglichkeit der „Heilung des Blödsinns“: „Weiterhin aber ist es nicht möglich wirklich constatirten, auf Degeneration des Gehirns und seiner Hüllen beruhenden Blödsinn zu heilen, sondern die Aufgabe kann nur dahin gehen, den Zustand zu bessern“ (Kern 1855, 569).
Während an der Erforschung des komplexen Phänomens „Schwachsinn“ und an der Hilfe für „Schwachsinnige“ im Bereich der Anstalten anfangs Mediziner, Pädagogen und Theologen beteiligt waren, setzten sich nach Meyer (1973) ab 1860 die Pädagogen stärker durch und die Ärzte zogen sich aus der Anstaltsarbeit weitgehend zurück. „Man hatte erkannt, daß die entscheidende Hilfe für den geistig Behinderten durch eine entsprechende Erziehung und Pflege zu erreichen war, weniger durch eine ärztliche Behandlung“ (ebd., 142). Die Mediziner verlagerten ihre Forschungsarbeit mehr in Kliniken und Laboratorien.
In die Zeit um 1860 fällt auch ein literarischer Meilenstein der Heilpädagogik. Denn in den Jahren 1861 und 1863 veröffentlichten Georgens und Deinhardt ihr zweibändiges Werk „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten“, in der die Heilpädagogik als pädagogische Teildisziplin angesehen wird und Verbindungen zur Medizin aufgezeigt wurden (vgl. Kapitel 2.3.2).
1863 sprach sich Kern in einem Vortrag in Leipzig für die Bildung von Sonderklassen an Volksschulen bzw. von Sonderschulen für Kinder aus, die im regulären Unterricht leistungsmäßig überfordert waren. Es ging um Kinder, die „in der Mitte zwischen normalgebildeten und blödsinnigen Kindern“ standen.
Ernst Heinrich Stötzner (1832–1910) griff die Anregung Kerns auf und verfasste eine Schrift über „Schulen für schwachbefähigte Kinder. Erster Entwurf zur Begründung derselben“. Hierbei wird von ihm der Versuch unternommen, einen Personenkreis, den er als „schwachbefähigt“ bezeichnet, von den am schwersten geschädigten, den „blödsinnigen“ Kindern (heute wohl Kinder mit einer geistigen Behinderung), abzuheben: „Das schwachsinnige Kind ist eben noch nicht blödsinnig. Es steht geistig auf einer höheren Stufe. Wohl ist sein Auffassungsvermögen gering, seine Sprache schwerfällig, sein Wollen und Empfinden schwach; aber es kann doch denken, wollen und empfinden; wenn alles auch viel langsamer vor sich geht, als bei normal gebildeten Kindern. Bei den eigentlich Blödsinnigen dagegen ist die Seele gänzlich gebunden. Mit sehendem Auge sieht er nicht, mit hörendem Ohre hört er nicht und deshalb gehen ihm auch alle Vorstellungen und Begriffe ab. Seine Sprache besteht in gedankenlosem Schwatzen oder er stößt nur unartikulierte Laute aus. Er scheut keine Gefahr und die ganze körperlich wie geistige Erscheinung zeigt, daß bei diesen Unglücklichen von Unterricht und Erziehung kaum geredet werden kann und nur ein Abrichten zu bestimmten Tätigkeiten möglich ist“ (Stötzner 1864, zit. n. Klink 1966, 54 f.). Zudem seien die „Blödsinnigen“, die als „(…) geistig tot zu nennen sind“, nur in „Pflege- und Versorgungsanstalten“ unterzubringen (vgl. Höck 1994, 56).
Die Anstöße der von Kern und Stötzner gegründeten „Gesellschaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigenbildung“ (1865) führten schließlich 1867 zur Errichtung der ersten „Klasse für Schwachbegabte Kinder“ an einer Dresdner Volksschule, der bald weitere Klassenbildungen folgten.
Stötzner nannte diese Klassen „Nachhilfeklassen“ und zwar „(…) um der Eltern und Schüler willen; denn obschon dieser Ausdruck nicht vollkommen bezeichnend ist, so klingt er doch weniger hart und abstoßend, weniger niederdrückend als der Name – Schule für Schwachsinnige“ (ebd., 45). Weitere Klassen dieser Art wurden in Gera (1876), Apolda (1877) und Elberfeld (1879) gegründet.
Stötzner hatte – bezogen auf sein Schulkonzept – ganz konkrete Vorstellungen von organisatorischen, curricularen und didaktisch-methodischen Aspekten. So setzte er sich für eine zusätzliche 4. Schulstufe in der Volksschule ein, die den bereits bestehenden Stufen vorangestellt wurde und mit einer heutigen vorschulischen Einrichtung zu vergleichen ist. In dieser Stufe sollten die „schwachsinnigen Kinder“ durch „Sinnesübungen“, Anschauungsunterricht, Turnübungen, Spielen und Singen zur Schulfähigkeit gebracht werden. In der 3. Schulstufe (Anm. d. V.: entspricht der heutigen 1. und 2. Klasse) sollten dann Lesen, Schreiben und Rechnen eingeführt werden (ebd., 46). Der Unterricht sollte dabei folgende Kriterien erfüllen:
Die so bedeutsamen Unterrichtsprinzipien wie Selbsttätigkeit, Anschaulichkeit, Motivation oder Lernen Schritt für Schritt werden bereits bei Stötzner als wichtige Kriterien genannt.
Neben den Nachhilfeklassen entstand nach und nach eine eigene Schulform – die Hilfsschule, die im Laufe der Zeit die Nachhilfeklassen verdrängte.
Ihre Entstehung hat nach Ellger-Rüttgardt einen zweifachen Ursprung. Zum einen entstand diese Schulform aus der sich immer weiter verbreitenden Heilpädagogik, indem sie die Schüler aufnahm, die in den „Idiotenanstalten“ untergebracht waren und zum anderen ist sie das Resultat eines Schulsystems, das sich aufgrund der sich durchsetzenden allgemeinen Schulpflicht und der damit einhergehenden Heterogenität der Schülerschaft gezwungen sah, sich immer weiter auszudifferenzieren (vgl. 2008, 152).
Die Intention der Hilfsschule war es, denjenigen Schülern Hilfe anzubieten, die den stetig steigenden Leistungsanforderungen der Volksschule nicht mehr nachkamen.
Man kann die Hilfsschulen auch als die ersten öffentlichen Schulen v.a. für Schüler mit Lernbehinderungen oder leichter geistiger Behinderung bezeichnen. Es muss jedoch betont werden, dass auch ein beachtlicher, aber nicht exakt belegbarer Anteil von Kindern in diesen Hilfsschulen unterrichtet wurde, bei denen man es mit weniger gravierenden „Schwachsinnsformen“ zu tun hatte. Es fanden sich dort also wohl selten Kinder, die man heute als „schwer geistig behindert“ bezeichnet.
Ursprünglich war angedacht, die Schüler in die Volksschulen zurückzuführen, was jedoch schon nach kurzer Zeit größtenteils aufgegeben wurde, da man davon überzeugt war, dass die Kinder auf Dauer einen besonderen Unterricht benötigen. Höck spricht von einer durchschnittlichen Quote rückgeschulter Kinder und Jugendlicher, die bei 2 % lag (vgl. 1994, 66). Erste Hilfsschulen entstanden zunächst in Elberfeld (1879), Braunschweig (1881) und Leipzig (1881).
Das Lern- und Leistungsprofil dieser Schulen entsprach – soweit dies aus überlieferten Lehrplänen und sonstigen Beschreibungen hervorgeht – weithin dem einer Schule für Kinder und Jugendliche mit einer Lernbehinderung bzw. einer leichteren Form der geistigen Behinderung. Sehr bald wurde jedoch, um das öffentliche Ansehen der Schulen zu wahren, damit begonnen Schüler mit geistiger Behinderung aus den Hilfsschulen zu verweisen, was durch eine Äußerung des ersten Braunschweiger Hilfsschullehrers Kielhorns deutlich wird: „Es ist nämlich unter manchen Lehrern und Nichtlehrern die Meinung verbreitet, als seien die Hilfsklassen eine Bewahranstalt für Blödsinnige.“ Er entließ drei Kinder aus der Hilfsklasse wegen „vollständiger Unterrichtsunfähigkeit“, „da die Hülfsklasse, um sich das Vertrauen der Eltern zu bewahren, derartige Kinder nicht behalten darf“ (Kielhorn zit. nach Möckel 1976, 43).
Schwerhörige Kinder besuchten im 19. Jahrhundert entweder Volksschulen oder Taubstummenschulen. Die Hilfsschule kam für sie nur dann in Frage, wenn ihr Hörschaden nicht entdeckt wurde und ihnen eine gewisse Unbegabung zugeschrieben wurde. Da die Untersuchungsinstrumentarien zur Feststellung von Schwerhörigkeit noch nicht so weit entwickelt waren, kam es vor, dass schwerhörige Kinder als schwachsinnig eingestuft und infolgedessen von Volksschulen in Schwachsinnigenklassen überwiesen wurden (vgl. Möckel 2007, 141).