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WAS JESUS ÜBER
GERECHTIGKEIT UND
GNADE SAGT

Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht?
Das sei ferne!

Römer 9,14

Haben Sie jemals über die krassen Unterschiede zwischen Judas Iskariot und dem Verbrecher am Kreuz nachgedacht? Der eine, ein Jünger Jesu Christi, hat drei Jahre seines Lebens geopfert, um den intensivsten Religionsunterricht zu genießen, den man überhaupt irgendwo bekommen konnte. Aber er hat seine Seele für immer verloren. Der andere war ein knallharter Verbrecher, der sich sogar dann noch über alles lustig machte, was anderen heilig war, als er ans Kreuz geschlagen wurde. Aber er kam direkt ins Paradies.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Männern könnte kaum größer sein – und das Ende ihrer jeweiligen Lebensgeschichten kaum überraschender. Judas gehörte zum engsten Jüngerkreis Jesu, er war einer der zwölf Apostel. Er predigte, diente, verbreitete die Gute Nachricht und hatte sogar die Macht bekommen, Krankheiten zu heilen (Lukas 9,1). Er schien ein echter Musterjünger zu sein. Als Jesus voraussagte, dass einer der Zwölf ihn verraten würde, hatte niemand Judas in Verdacht. Die anderen Jünger vertrauten ihm so sehr, dass sie ihn zu ihrem Schatzmeister gemacht hatten (Johannes 13,29). Offensichtlich hatten sie nicht den Eindruck, dass er charakterlich nicht in Ordnung war oder irgendwelche teuflischen Pläne schmiedete. Auch sein Verhalten gab offenbar keinen Anlass zu Misstrauen. Aber er verriet Jesus, setzte seinem erbärmlichen Leben durch Selbstmord ein Ende und ging mit schrecklicher Schuld beladen in die ewige Verdammnis ein. Was Jesus über diesen Verräter sagt, lässt uns erschauern: „Weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre“ (Markus 14,21).

Der Dieb am Kreuz dagegen war ein Berufsverbrecher – ein so schlimmer Übeltäter, dass er zur schlimmsten, schmerzhaftesten Hinrichtungsart verurteilt worden war, die es damals gab. In Matthäus 27,38 wird er als „Räuber“ bezeichnet, und das entsprechende griechische Wort bedeutet auch „Straßenräuber“ oder „Wegelagerer“. Er wurde zusammen mit einem Spießgesellen hingerichtet. Die beiden sollten ursprünglich gemeinsam mit Barabbas hingerichtet werden, einem Aufrührer und Mörder (Lukas 23,19). All dies deutet darauf hin, dass er zu einer Bande von Halsabschneidern gehörte, die andere überfielen und bestahlen und nur ihren eigenen Begierden folgten. Er war eindeutig ein bösartiger, niederträchtiger Mensch, denn während der ersten Stunden der Kreuzigung machte er sich gemeinsam mit seinem Spießgesellen und der spottenden Menge über Jesus lustig (Matthäus 27,44). Aber als dieser Räuber mit ansah, wie Jesus starb – „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“ (Jesaja 53,7) –, änderte sich die Haltung dieses hartgesottenen Verbrechers in letzter Minute. Buchstäblich während der letzten Augenblicke seines erbärmlichen irdischen Lebens bekannte er seine Schuld (Lukas 23,41), sprach ein einfaches Gebet: „Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ (Vers 42), und erhielt das Versprechen, dass er noch am selben Tag im Paradies sein würde (Vers 43) – gekleidet in vollkommene Gerechtigkeit, da Jesus all seine Schuld auf sich genommen und vollkommen dafür bezahlt hatte.

Für diejenigen, die der Auffassung sind, dass der Zutritt zu Gottes Reich eine Belohnung für gute Taten sei, ist das vermutlich ein Schlag ins Gesicht. Der Verbrecher hatte nicht das Geringste getan, um sich den Himmel zu verdienen. Wenn es möglich ist, einem solchen Menschen im letzten Augenblick eines Lebens, das von abscheulichen Taten durchzogen war, zu vergeben – wäre es dann nicht auch angebracht gewesen, diesen einzigen Verrat, den Judas beging, unter den Tisch fallen zu lassen oder ihm zumindest mildernde Umstände zu gewähren? Schließlich hatte er während der drei Jahre, in denen er Jesus nachgefolgt war, zweifellos auch viel Gutes getan. Das ist eine Frage, die viele interessiert. Das Internet ist übersät von Kommentaren und Artikeln, in denen die Meinung vertreten wird, dass Judas ungerecht behandelt oder zu hart verurteilt worden sei.

Judas selbst scheint ein Mensch gewesen zu sein, der über solche Dinge sehr genau Buch geführt hat. Er protestierte zum Beispiel, als Maria die Füße von Jesus mit einem teuren Parfüm salbte. Er wusste genau, wie viel dieses Salböl wert war (sein Wert entsprach dem Jahresverdienst eines Arbeiters), und er beschwerte sich: „Warum ist dieses Öl nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft worden und den Armen gegeben?“ (Johannes 12,5). Er wäre zweifellos auch der Meinung gewesen, dass die Gnade, die Jesus dem Verbrecher erwies, reichlich übertrieben war.

Menschen, die ihr Leben der Religion geweiht haben, scheinen manchmal tatsächlich ungehalten zu sein, wenn Gott in seiner Gnade die Hand ausstreckt und jemanden rettet, der das ihrer Ansicht nach nicht verdient hat.

Wir dürfen eines nicht vergessen: Alle Menschen sind vollkommen unwürdig. Niemand hat seine Gunst verdient. Wir sind alle schuldbeladene Sünder, die nur eines verdient haben: die ewige Verdammnis. Niemand, der gesündigt hat, hat einen rechtmäßigen Anspruch auf Gottes Zuwendung.

Gott hingegen hat jedes Recht, jedem, den er erwählt, Gnade und Barmherzigkeit zu erweisen (2. Mose 33,19). Außerdem ist er immer über alle Maßen gnädig. Wie er schon zu Mose sagte: Er ist „der barmherzige und gnädige Gott. Meine Geduld ist groß, meine Liebe und Treue kennen kein Ende! Ich lasse Menschen meine Liebe erfahren über Tausende von Generationen. Ich vergebe die Schuld und die Bosheit derer, die sich gegen mich aufgelehnt haben“ (2. Mose 34,6–7; Hoffnung für alle).

Menschen, die einwenden, dass Gott unfair oder ungerecht sei, wenn er auch den schlimmsten Sündern gnädig ist, haben schlicht und ergreifend das Prinzip der Gnade nicht verstanden. Würde Gott uns wirklich so behandeln, wie wir es verdient haben, würde das den sofortigen Tod jedes Menschen bedeuten, denn „der Lohn der Sünde ist der Tod; aber die Gnadengabe Gottes ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Römer 6,23; Schlachter). Die Wahrheit ist doch, dass wir gar nicht wirklich das, was „fair“ ist, wollen. Dagegen brauchen wir alle dringend Gnade und Barmherzigkeit.

Auf der anderen Seite ist Gnade auch nicht ungerecht. Das, was Jesus am Kreuz getan hat, hat die Sünden derjenigen, die ihr Vertrauen auf ihn setzen, vollkommen vergeben und sie so in den Augen Gottes gerecht gemacht. „Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Johannes 1,9; Hervorhebung des Autors). Weil Jesus die Strafe für die Sünde auf sich genommen hat, kann Gott Menschen, die ihre Schuld bekennen und sich davon abwenden, gnädig sein (sogar notorischen Sündern wie dem Verbrecher am Kreuz), ohne seine eigene Gerechtigkeit zu untergraben. „Wenn er Nachsicht übte, geschah das im Hinblick auf das Sühneopfer Jesu. Durch dieses hat er jetzt, in unserer Zeit, seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt; er hat gezeigt, dass er gerecht ist, wenn er den für gerecht erklärt, der sein ganzes Vertrauen auf Jesus setzt“ (Römer 3,26; Neue Genfer Übersetzung).

Was heißt es also, wenn Gott einem durch und durch verdorbenen Verbrecher, der in den letzten Zügen liegt, gnädig ist, aber jemanden mit einer frommen Erfolgsgeschichte wie Judas verdammt? „Bedeutet das etwa, dass Gott ungerecht ist? Auf keinen Fall!“ (Römer 9,14; Hoffnung für alle). „Gott schenkt also seine Barmherzigkeit, wem er will“ (Vers 18).

Gottes Gnade darf niemals als Belohnung für gute Taten verstanden werden. Man kann sich den Himmel nicht verdienen. Gott ist derjenige, „der die Gottlosen gerecht macht“ (Römer 4,5). Gnade ist ihrer Definition nach unverdient. Aber sie ist nicht ungerecht oder unfair. Versuchen Sie nicht, Gottes Gnade anhand menschlicher Vorstellungen von Fairness und Gleichbehandlung zu messen. Niemand hat einen berechtigten Anspruch auf Gottes Gnade. Er ist vollkommen frei, gnädig zu sein, wem immer er will. Wie er schon zu Mose gesagt hat: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (Römer 9,15).

Bei einer Gelegenheit erzählt Jesus ein Beispiel, das dieses Prinzip illustriert:

Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? Matthäus 20,1–15

Wie alle Gleichnisse zielt auch dieses darauf ab, eine tiefe geistliche Wahrheit zu erläutern. Jesus geht es nicht um faire Arbeitsgesetze, Mindestlohn, korrektes Verhalten in Geschäftsdingen oder irgendein anderes irdisches Prinzip. Er beschreibt, wie Gnade im Reich Gottes funktioniert.

Jesus hat dieses Gleichnis in den späteren Jahren seines Dienstes erzählt, als er in Peräa lehrte, östlich des Jordans, gegenüber von Jericho. Das war dieselbe Gegend, in der auch Johannes erfolgreich viele Jünger um sich geschart hatte. Jesus hatte sich dorthin zurückgezogen, nachdem einige führende Pharisäer versucht hatten, ihn gefangen zu nehmen (Johannes 10,39–40). Die Wochen, die er in Peräa verbrachte, gehörten zu den fruchtbarsten seines irdischen Dienstes. Das Gebiet war eine unfruchtbare Wildnis, aber aus ganz Galiläa und Judäa kamen Menschenmassen, um dem zuzuhören, was Jesus zu sagen hatte. „Und viele kamen zu ihm und sprachen: Johannes hat kein Zeichen getan; aber alles, was Johannes von diesem gesagt hat, das ist wahr. Und es glaubten dort viele an ihn“ (Johannes 10,41–42).

Das Gleichnis

Das Gleichnis vom Weinberg stellt uns einen Hausherrn vor. Das griechische Wort dafür ist oikodespotes und setzt sich aus den beiden Wörtern oikos (Haus) und despotes (Herrscher) zusammen. Als der Hausherr fragt: „Ist es nicht meine Sache, was ich mit meinem Eigentum mache?“ (Matthäus 20,15), weist er darauf hin, dass das Geld, das den Arbeitern gezahlt wird, ihm gehört. In Vers 8 wird er als der „Herr des Weinbergs“ bezeichnet – und es muss sich um ein ziemlich großes Grundstück gehandelt haben, wenn so viele Arbeiter erforderlich waren, um bei der Ernte zu helfen. Es handelte sich also allem Anschein nach um einen sehr einflussreichen und vermögenden Mann.

Die Scharen, die Jesus zuhörten, waren mit Weinbergen sehr vertraut. Große Teile von Israel waren von ordentlich aufgereihten Weinstöcken bedeckt, die auf terrassenförmig angelegten Weinbergen wuchsen. Das Land Israel verfügt über zwei Arten von landwirtschaftlicher Nutzfläche: Ebenen und Berghänge. Die Hochebenen und die flachen, ausgedehnten Gebiete wurden zum Getreideanbau oder als Viehweiden genutzt, und die steileren Berghänge dienten zum Weinanbau. Die hierfür erforderlichen Terrassen anzulegen war eine schwierige Arbeit, denn sie mussten mit Steinen gestützt werden, die hinaufgetragen und von Hand an Ort und Stelle platziert werden mussten. Auch die erforderliche Muttererde musste auf den Schultern von Menschen oder mithilfe von Lasttieren die steilen Hänge hinaufgeschafft werden.

Weinstöcke wurden im Frühjahr gepflanzt und im Laufe des Sommers beschnitten. Die Weinlese fand während einer sehr kurzen Zeitspanne gegen Ende September statt. Direkt danach begann die Regenzeit. Darum ging es in der Erntezeit sehr hektisch zu, denn die Trauben mussten geerntet werden, bevor der Regen kam. Der Weinbergbesitzer musste deshalb während der Lese zusätzliche Arbeiter beschäftigen. Darum ging er zum Marktplatz, um Tagelöhner einzustellen. An diesem öffentlichen Platz versammelten sich die Arbeiter, deren einzige Hoffnung auf Beschäftigung darin bestand, irgendeine zeitlich befristete Aushilfstätigkeit zu finden.

In Vers 1 steht, dass der Hausherr sich früh am Morgen aufmachte – zweifellos vor sechs Uhr morgens, dem offiziellen Beginn des zwölfstündigen Arbeitstages.

Der Lohn für Tagelöhner war deutlich niedriger als die übliche Bezahlung für einen Vollzeitarbeiter oder einen Hausdiener, die etwa einen Denar pro Tag betrug. Der Denar war eine römische Silbermünze, die knapp vier Gramm Silber erhielt.1 Es war der normale Tageslohn für einen Soldaten, der im römischen Heer diente, und galt als anständige Entlohnung. (Die Bezeichnung „Denar“ leitet sich von dem lateinischen Wort für „zehn“ ab, denn der ursprüngliche Wert der Münze entsprach dem Wert von zehn Eseln.) Ein einfacher, ungelernter Tagelöhner konnte natürlich für einen Bruchteil dieses Lohnes eingestellt werden, denn er war nicht in der Position zu verhandeln. Wenn er keine Arbeit fand, hatte er an diesem Tag vielleicht nichts zu essen. Außerdem herrschte bei diesen Aushilfstätigkeiten erbitterte Konkurrenz.

Es war außergewöhnlich großzügig von dem Weinbergbesitzer, den Tagelöhnern für einen Tag Arbeit einen ganzen Denar anzubieten. Es war ein respektabler Lohn, viel mehr als das, was Aushilfsarbeiter normalerweise für niedere Tätigkeiten bekommen würden.

Natürlich stimmte die 6-Uhr-Mannschaft diesen Konditionen freudig zu und machte sich an die Arbeit.

Um die dritte Stunde (um 9 Uhr vormittags) fand sich der Weinbergbesitzer wieder auf dem Marktplatz ein. Das Gleichnis beschreibt ihn als einen freundlichen, großzügigen Mann, der andere nicht ausnutzte oder profitgierig war. Vielleicht brauchte er diese zusätzlichen Arbeiter nicht unbedingt, sondern sie taten ihm einfach leid, weil sie so dringend Arbeit brauchten. Auf dem Marktplatz waren immer noch viele Männer, die keine Arbeit gefunden hatten. Sie standen untätig herum – nicht weil sie nicht arbeiten wollten, sondern weil noch niemand sie eingestellt hatte.

Diesmal versprach er keinen konkreten Lohn, bevor er weitere Arbeiter einstellte und sie in seinen Weinberg schickte. Er sagte nur: „Ich will euch geben, was recht ist“ (Matthäus 20,4).

„Und sie gingen hin“ (Vers 5). Sie müssen gewusst haben, dass er ein ehrenhafter Mann war, und verließen sich auf sein Wort, auch wenn kein fester Lohn vereinbart war. Es war bereits ein Viertel des Arbeitstages vergangen, und sie hatten noch keine Aussicht auf Beschäftigung; darum waren sie nicht in der Position zu verhandeln. Sie hatten keine Wahl und mussten akzeptieren, was immer sie bekamen.

„Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe“ (Vers 5). Er ging in regelmäßigen Abständen zurück zum Marktplatz – um 12 und um 15 Uhr – und schickte alle, die er fand, zum Arbeiten in seinen Weinberg.

„Um die elfte Stunde“, als er noch einmal hinging (Vers 6), war der Arbeitstag so gut wie vorbei. Der Arbeitstag würde in einer Stunde vorüber sein, aber er fand immer noch Arbeiter, die ohne Beschäftigung waren. Diese Männer waren so verzweifelt auf Arbeit angewiesen, dass sie selbst jetzt noch nicht aufgegeben hatten. Zweifellos waren diese Männer nach der langen Wartezeit völlig entmutigt und dachten, dass sie an diesem Tag nicht das Geringste zum Lebensunterhalt ihrer Familien würden beitragen können.

Wir sollten aber ihre Untätigkeit nicht mit Faulheit verwechseln. Als der Hausherr sagte: „Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?“, antworteten sie: „Es hat uns niemand eingestellt.“ Vielleicht waren sie älter, schwächer oder aus anderen Gründen weniger geeignet für schwere landwirtschaftliche Arbeiten. Der Weinbergbesitzer stellte sie dennoch auf der Stelle ein – zu denselben vagen Konditionen, die er auch der 9-Uhr-Gruppe genannt hatte: „Geht auch ihr in den Weinberg, und was recht ist, das werdet ihr empfangen!“ (Matthäus 20,7; Schlachter).

Bei anderer Gelegenheit sagte Jesus einmal: „Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (Lukas 10,7; 1. Timotheus 5,18). Das war auch ein unumstößliches Prinzip im Gesetz von Mose: „Der Lohn des Tagelöhners soll nicht über Nacht bei dir bleiben bis zum Morgen“ (3. Mose 19,13; Schlachter). Diese Regel galt insbesondere für Arme und Tagelöhner: „Dem Tagelöhner, der bedürftig und arm ist, sollst du seinen Lohn nicht vorenthalten, er sei von deinen Brüdern oder den Fremdlingen, die in deinem Land und in deinen Städten sind, sondern du sollst ihm seinen Lohn am selben Tage geben, dass die Sonne nicht darüber untergehe – denn er ist bedürftig und verlangt danach –, damit er nicht wider dich den Herrn anrufe und es dir zur Sünde werde“ (5. Mose 24,14–15).

Dieser Weinbergbesitzer war ein ehrenhafter Mann, der sich an die Vorschriften von Gottes Gesetz hielt. „Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten“ (Matthäus 20,8; Hervorhebung des Autors). Es ist bezeichnend, dass er seinen Verwalter anwies, die Arbeiter in umgekehrter Reihenfolge zu bezahlen. Der direkte Kontext lässt darauf schließen, dass dies der Schlüssel zum Sinn dieses Gleichnisses ist. Wir werden gleich sehen, warum. Aber richten Sie Ihr Augenmerk zunächst darauf, dass die Männer am Anfang der Schlange nur eine Stunde lang gearbeitet hatten. Diejenigen am Ende der Schlange hatten zwölf Stunden lang geschuftet. Aber als der Verwalter anfing, den Lohn auszuzahlen, bekamen diejenigen, die nicht so lange gearbeitet hatten, „jeder … einen Denar“ (Vers 8; Schlachter). Sie erhielten den vollen Tageslohn eines Soldaten für eine einzige Stunde Aushilfstätigkeit! Sie waren sicher völlig außer sich vor Dankbarkeit angesichts der Großzügigkeit ihres Arbeitgebers.

Zweifellos konnten die Männer am Ende der Schlange es kaum erwarten, bis sie an die Reihe kamen. Sie dachten, der Weinbergbesitzer hätte sich damit dazu verpflichtet, einen Denar pro Stunde zu zahlen. Sie müssen angenommen haben, dass sie nun logischerweise den Lohn für zwölf Arbeitstage erhalten würden.

Hier lässt Jesus nun beim Erzählen der Geschichte etwas aus. Er sagt nicht, wie die 9-Uhr-Gruppe, die 12-Uhr-Gruppe und die 15-Uhr-Gruppe bezahlt wurden, aber wir können davon ausgehen, dass sie ebenfalls jeweils einen Denar erhielten.

In den Versen 10–12 geht es dann weiter: „Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; da empfingen auch sie jeder einen Denar. Und als sie ihn empfangen hatten, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgemacht, die wir die Last und Hitze des Tages getragen haben!“ (Schlachter).

Ist das fair?

Was hatte der Weinbergbesitzer ihnen versprochen? „Einen Denar für den Tag“ (Vers 2; Schlachter). Das war nicht nur ein fairer Lohn; es war ungewöhnlich großzügig für eine Aushilfstätigkeit. Und sie hatten diesem Lohn freudig zugestimmt.

Trotzdem waren sie nun verärgert. Das Wort, das im Deutschen mit „murren“ übersetzt wird, lautet im Griechischen egogguzon. Es ist ein lautmalerisches Wort – das heißt, es klingt schon wie ein Grollen oder eine gemurmelte Beschwerde. Die Männer schmollten also und waren sichtlich unzufrieden mit dem Lohn, den sie erhalten hatten.

Als der Weinbergbesitzer ihre Beschwerden hörte, sagte er zu einem von ihnen: „Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? Nimm das Deine und geh hin! Ich will aber diesem Letzten so viel geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht, mit dem Meinen zu tun, was ich will? Blickst du darum neidisch, weil ich gütig bin?“ (Verse 13–15; Schlachter).

Der Ausdruck „neidisch blicken“ lässt auf Eifersucht schließen. Und seien wir ehrlich: Eifersucht ist typisch menschlich. Vermutlich war jeder, der am Ende der Schlange stand, ungehalten. Schließlich hatten diese Männer einen kompletten zwölfstündigen Arbeitstag hinter sich – und die meiste Zeit hatten sie in der heißen Sonne gearbeitet, während die Männer, die um 17 Uhr eingestellt worden waren, in der kühlenden Brise des Nachmittags angefangen und nur eine Stunde lang gearbeitet hatten.

Aber wir dürfen die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die Mannschaft, die um 6 Uhr eingestellt wurde, mit dem Angebot, einen Denar am Tag zu verdienen, sehr zufrieden gewesen war. Sie begannen ihren Arbeitstag in bester Stimmung und waren begeistert darüber, dass der Weinbergbesitzer so großzügig zu ihnen war. Er bot ihnen mehr Lohn an, als sie normalerweise hätten erwarten können.

Wodurch veränderte sich ihre Stimmung so drastisch? Dadurch, dass jemand, der es (ihrer Ansicht nach) weniger verdient hatte, sogar noch großzügiger behandelt wurde. Im gleichen Augenblick fühlten sie sich schlecht behandelt und waren eifersüchtig darauf, dass die anderen so viel Glück hatten. Ihre Haltung änderte sich komplett. Sie konnten den Gedanken nicht ertragen, dass andere Arbeiter denselben Lohn erhalten sollten, obwohl sie weniger hart gearbeitet hatten als sie selbst. Plötzlich verwandelte sich ihre Dankbarkeit und Bewunderung für die extreme Großzügigkeit des Weinbergbesitzers in Groll und Verbitterung.

Die 17-Uhr-Arbeiter waren natürlich außer sich vor Freude. Sie begriffen besser als alle anderen, wie großzügig sie behandelt worden waren (nachzulesen in Lukas 7,40–48).

Das Sprichwort

Wenn Sie sich nun den unmittelbaren Kontext dieses Gleichnisses anschauen, werden Sie feststellen, dass es von einem einfachen Sprichwort eingerahmt wird. Jesus zitiert es am Anfang des Gleichnisses: „Aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein“ (Matthäus 19,30). (Der Kapitelumbruch zwischen Matthäus 19 und 20 ist willkürlich eingefügt. Der letzte Vers von Kapitel 19 ist die Einleitung für das darauf folgende Gleichnis.) Dann, am Ende des Gleichnisses, greift Jesus dieses Sprichwort noch einmal auf: „So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“ (Matthäus 20,16).2 Eine Anspielung an das Sprichwort findet sich auch im Gleichnis selbst, in jenem Schlüsselsatz in Matthäus 20,8, wo der Weinbergbesitzer seinen Verwalter anweist, wie die Arbeiter ihren Lohn ausbezahlt bekommen sollen: „Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.“

Bei anderen Gelegenheiten zitierte Jesus dasselbe Sprichwort in etwas abgewandelter Form. Wir finden es zum Beispiel in Lukas 13,30: „Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein“, sowie in Markus 10,31: „Viele aber werden die Letzten sein, die die Ersten sind, und die Ersten sein, die die Letzten sind.“

Das Sprichwort selbst ist etwas rätselhaft. Was soll es bedeuten? Es sagt nicht genau dasselbe aus wie der Ausspruch in Markus 9,35: „Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener“, oder der in Markus 10,43–44: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ Bei diesen Aussagen geht es um Demut und Selbstaufopferung. Sie sind im Grunde Imperative: Anweisungen, anderen in Demut zu dienen, statt nach Macht und Ansehen zu streben.

Aber das Sprichwort, das in diesem Gleichnis genannt wird, steht im Indikativ – hier geht es um eine einfache Tatsachenbeschreibung: „Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“ Was bedeutet das und wie sieht es praktisch aus? Bei einem Wettrennen zum Beispiel würde die einzige Möglichkeit, dass die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sind, darin bestehen, dass alle gleichzeitig ans Ziel kommen. Wenn alle die Ziellinie im selben Moment überqueren, sind die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten. In diesem Fall endet der Wettlauf tatsächlich mit einem Unentschieden.

Das ist natürlich genau das, worauf Jesus mit diesem Gleichnis hinauswill. Diejenigen, die zuerst eingestellt wurden, und diejenigen, die zuletzt eingestellt wurden, erhielten alle genau den gleichen Lohn. Sie alle, vom Ersten bis zum Letzten, kamen in den vollen Genuss der Großzügigkeit des Weinbergbesitzers.

Welche geistliche Lektion verbirgt sich in dieser Geschichte?

Worum es geht

Die Lektion ist tatsächlich ziemlich einfach: Die Geschichte ist ein exaktes Bild für Gottes souveräne, rettende Gnade. Weil Sünder alle unwürdig sind und Gottes Gnade unerschöpflich ist, erhalten alle Gläubigen einen unendlich großen Anteil seiner liebevollen Zuwendung und seines Erbarmens, obwohl niemand das wirklich verdient. „In ihm haben [wir alle] die [vollkommene] Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade“ (Epheser 1,7). Er „hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus“ (Epheser 2,6-7; Hervorhebung des Autors). Hier geht es um alle, die gerettet sind. Gott hat beschlossen, ihnen sein Reich zu schenken (Lukas 12,32) – ihnen allen, und zwar in gleichem Maße. Auch der sterbende Verbrecher, der im letzten Augenblick seines Lebens seine Schuld bekannte, kam ins Paradies, wo er gemeinsam mit Petrus, Jakobus und Johannes, die buchstäblich ihr Leben im Dienst für Jesus geopfert haben, ewiges Leben und immerwährende Gemeinschaft mit Jesus genießt.

Der Weinbergbesitzer in unserem Gleichnis steht für Gott. Der Weinberg ist das Reich Gottes. Die Arbeiter sind Gläubige, Menschen, die in den Dienst des Weinbergbesitzers getreten sind. Der Arbeitstag steht für ihre Lebenszeit. Der Abend für die Ewigkeit. Der Verwalter steht vielleicht für Jesus Christus, dem das ganze Gericht übergeben wurde. Der Denar wiederum für das ewige Leben.

Beachten Sie: Dieser Lohn ist nicht etwas, das die Arbeiter verdient haben. Er wird ihnen nicht wie eine Art Mindestlohn als faires Entgelt für die getane Arbeit ausgezahlt. Dafür ist er viel zu hoch. Er steht vielmehr für ein großzügiges Geschenk, eine überreiche Gabe, die den höchsten Lohn, den ein Tagelöhner sich jemals erhoffen könnte, bei Weitem übersteigt.

Darum geht es hier also: Wenn Sie wirklich an Jesus glauben, kommen Sie in den vollen Genuss von Gottes unermesslicher Gnade – und das gilt auch für alle anderen Menschen im Reich Gottes. Ihr Platz im Himmel ist kein Teilzeitarrangement, dessen Dauer und Umfang sich danach richten, wie lange Sie für Ihren Herrn gearbeitet haben. Die Segensgeschenke, die mit unserer Erlösung einhergehen, werden nicht nach Quoten verteilt, die anhand der persönlichen Leistungen ermittelt werden. Vergebung wird uns nicht in dem Maß zuteil, in dem unsere guten Taten unsere Schuld überwiegen. Sie wird uns auch nicht teilweise vorenthalten, wenn wir zu lange oder zu schlimm gesündigt haben. Jedem, der ins Reich Gottes kommt, werden Gottes Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung in vollem Umfang zuteil. Diese Geschenke sind völlig unabhängig davon, wie lange Sie im Reich Gottes gearbeitet haben. Sie sind unabhängig davon, wie schwierig oder einfach Ihre Lebensumstände sind. Sie sind unabhängig davon, ob Ihr Dienst geringfügig oder umfangreich gewesen ist. Ob Sie in der Blüte Ihres Lebens als Märtyrer sterben oder ein friedliches Leben führen und ein hohes Alter erreichen. Diese Geschenke erhalten gleichermaßen diejenigen, die in ihrer Jugend zu Jesus finden, wie diejenigen, die ihre Schuld erst am Ende eines ausschweifenden Lebens von Herzens bereuen. Wenn dieses irdische Leben vorbei ist, dann werden Sie, sofern Sie zu Jesus gehören, Gottes Reich betreten, ebenso wie jener Verbrecher am Kreuz (Lukas 23,43), wie der Apostel Paulus (2. Korinther 5,8) und jeder andere Gläubige, der seitdem gestorben ist.

Der Himmel ist keine Belohnung für einen langen Dienst oder harte Arbeit. Manche Menschen dienen Christus ihr Leben lang, andere nur für eine sehr kurze Zeit. Doch uns alle erwartet das gleiche ewige Leben. Wir alle werden im Himmel die gleichen geistlichen Segensgeschenke erhalten.

Wenn Ihnen das ungerecht erscheint, dann denken Sie daran, dass es viel mehr ist, als irgendjemand von uns verdient. Die Segnungen des Himmelreiches sind für alle die gleichen, weil wir einzig und allein aus Gnade erlöst worden sind. Das ist eine wirklich gute Nachricht für Sie und für mich: Wir müssen uns den Weg ins Himmelreich nicht verdienen. Unsere Errettung hängt nicht von unseren Verdiensten ab.

Die Absicht

Warum hat Jesus dieses Gleichnis erzählt? Die Ereignisse, von denen Matthäus vor und nach dem Gleichnis berichtet, geben eine Antwort auf diese Frage.

Jesus erzählte es direkt nach seinem Gespräch mit dem reichen Jüngling und er wandte sich damit in erster Linie an seine zwölf Jünger. Der junge Mann, der sehr wohlhabend war und viel Einfluss hatte, war zu Jesus gekommen und hatte ihn gefragt: „Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben habe?“ (Matthäus 19,16). Er war vielleicht darauf aus, gelobt zu werden, denn er dachte offensichtlich, dass er alle geistlichen Verpflichtungen erfüllt hatte und ein vorbildliches Leben führte. Er schien auf jeden Fall ein vielversprechender potenzieller Jünger zu sein.

Aber statt ihm einfach die gute Nachricht des Evangeliums zu verkünden, sprach Jesus ihn auf seinen Gehorsam dem Gesetz gegenüber an. Als der junge Mann erklärte: „Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend an; was fehlt mir noch?“ (Matthäus 19,20; Schlachter), forderte Jesus ihn auf, all seinen Besitz zu verkaufen, den Erlös unter den Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen. Das war aber ein Opfer, das der junge Mann nicht zu bringen bereit war.

Jesus unterstrich auf diese Weise die Tatsache, dass der reiche Jüngling seine Besitztümer mehr liebte als Gott oder seinen Mitmenschen. Mit anderen Worten: Obwohl er behauptet hatte, dass er das gesamte Gesetz Gottes hielt, verletzte er doch die beiden wichtigsten Gebote (Matthäus 22,37–40). Der Mann war nicht bereit, dies anzuerkennen. Er war nicht bereit, seiner Sünde ins Auge zu sehen und sich davon abzuwenden. Stattdessen „ging er betrübt davon“ (Matthäus 19,22).

Die Jünger waren völlig perplex, als Jesus dem reichen jungen Mann Hindernisse in den Weg zu legen schien, statt ihn zu ermutigen. Bestürzt fragten sie: „Ja, wer kann dann überhaupt gerettet werden?“ (Vers 25; Schlachter).

Die Antwort, die Jesus gibt, weist darauf hin, dass die Errettung Gottes Werk ist, nicht etwas, das irgendein Sünder sich aus eigener Kraft verdienen könnte: „Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich“ (Vers 26).

Also dachten die Jünger darüber nach, dass es unmöglich ist, sich Gottes Gunst zu verdienen. Zweifellos warfen sie einen prüfenden Blick auf ihr eigenes Leben. Im Gegensatz zu dem reichen Jüngling hatten sie in der Tat alles aufgegeben, um Jesus nachzufolgen (Vers 27). Und nun wollten sie von ihm irgendeine Bestätigung dafür bekommen, dass ihr Opfer nicht umsonst war. Das veranlasste Jesus dazu, dieses Gleichnis zu erzählen.

Als der reiche junge Mann wegging, war Petrus derjenige, der sich zum Sprecher aller Jünger machte: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns dafür gegeben?“ (Vers 27). Die Zwölf waren wie die 6-Uhr-Mannschaft im Gleichnis. Sie waren die Ersten, die Jesus zu Beginn seines Dienstes berief. Sie hatten während der Mittagshitze gearbeitet und wesentlich länger als zwölf Stunden. Es waren schon beinahe drei Jahre. Sie hatten Häuser, Arbeit und Beziehungen aufgegeben, um Jesus zu dienen. Mit Ausnahme von Judas liebten sie Jesus ganz bestimmt. Sie alle würden für das Evangelium ihr Leben geben. Und nun wollten sie wissen, was sie für ihr Opfer bekommen würden.

Die Jünger dachten zweifellos, dass sie besondere Segensgeschenke erhalten würden. Sie glaubten, dass sie schon sehr bald das Reich Gottes erben würden, und waren sehr aufgeregt. Sie zweifelten nicht daran, dass Jesus der Messias war. Allerdings gingen sie davon aus, dass Jesus über ein konkretes irdisches Königreich herrschen würde – mit all der Macht und Herrlichkeit, die damit einhergehen. Und da sie die ersten Jünger gewesen waren, erschien es ihnen vollkommen logisch, dass einer von ihnen zur Rechten von Jesus sitzen würde, auf dem höchsten Ehrenplatz.

Sie hatten eine naive, unreife Sicht von Gottes Reich und sie behielten sie sogar nach der Auferstehung noch bei. Als sich ihnen der auferstandene Christus bei einer Zusammenkunft zeigte und sie auf die Pfingstereignisse vorbereitete, wollten sie wissen: „Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel die Königsherrschaft wieder her?“ (Apostelgeschichte 1,6; Schlachter). Nun, da Jesus sogar über den Tod triumphiert hatte, hofften sie, endlich ihre Kronen und Throne und Ehrenplätze zu erhalten.

Und genau diese Frage stellte Petrus nach dem Zwischenfall mit dem jungen Mann: „Was wird uns dafür gegeben?“ (Matthäus 19,27). Jesus ging in seiner Antwort auf ihr Verlangen nach besonderen Ehrungen ein. Er versicherte ihnen, dass sie tatsächlich Ehrenplätze in Gottes Reich erhalten würden. Aber dann fügte er hinzu, dass jeder im Reich Gottes geehrt werden würde: „Wahrlich, ich sage euch: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet bei der Wiedergeburt, wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels. Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird’s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben“ (Verse 28 und 29).

Es ist aber faszinierend, wie wenig Eindruck die Lektion, die in dem dann folgenden Gleichnis steckt, auf die zwölf Jünger gemacht hat. Sie waren nämlich so besessen von dem Gedanken, dass man ihnen besondere Ehre erweisen würde, dass sie selbst da noch Zukunftspläne schmiedeten und sich um die Vorrangstellung rangelten. Bereits die nächste Episode, die Matthäus schildert, macht dies deutlich: „Da trat zu ihm die Mutter der Söhne des Zebedäus mit ihren Söhnen, fiel vor ihm nieder und wollte ihn um etwas bitten. Und er sprach zu ihr: Was willst du? Sie sprach zu ihm: Lass diese meine beiden Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken“ (Matthäus 20,20–21). Matthäus (der natürlich selbst einer der Zwölf war) fährt fort: „Als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über die zwei Brüder“ (Vers 24). Sie waren verärgert, weil sie alle nach den Ehrenplätzen gierten!

Dieses Thema entwickelte sich im Kreis der Zwölf zu einer Quelle ständiger Zänkereien. Selbst als sie in der Nacht, in der Jesus verraten wurde, im Obergemach versammelt waren, war es Jesus, der den anderen die Füße wusch, weil sie alle „groß“ sein wollten und die Pflicht, den anderen die Füße zu waschen, dem niedrigsten Diener oblag (Johannes 13,4–17). Im weiteren Verlauf des Abends, direkt nachdem Jesus das Brot gebrochen und den Wein gesegnet hatte, „erhob sich … ein Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten solle“ (Lukas 22,24).

Obwohl Jesus das Gleichnis von den Arbeitern erzählt hatte, um den Egoismus und die Eifersucht der Jünger zu entlarven, dauerte es eine Weile, bis sie diese Lektion verstanden hatten.

Die Prinzipien

Das Gleichnis enthält viele wichtige Grundprinzipien. Einige davon sind entscheidende Kernwahrheiten des Evangeliums und die meisten von ihnen sind auf den ersten Blick ersichtlich.

Das Gleichnis lehrt in erster Linie, dass man sich die Errettung nicht verdienen kann. Das ewige Leben ist ein Geschenk, das uns Gott ausschließlich nach seinem souveränen Willen und aus reiner Gnade gewährt.

Aber die offensichtlichste Lektion des Gleichnisses ist, dass Gott jedem, der Jesus nachfolgt, dieselbe überströmende Gnade gewährt. Zöllner, Huren oder Verbrecher kommen ebenso in den Genuss des ewigen Lebens wie diejenigen, die Gott ihr Leben lang gedient haben, die Tausenden die Gute Nachricht verkündet haben oder für Jesus in den Tod gegangen sind. Dankenswerterweise gibt Gott keinem von uns, die wir zu seiner Familie gehören, das, was wir wirklich verdient hätten.

Wenn wir in den Himmel kommen, werden wir im Haus des Vaters wohnen (Johannes 14,2). Wir sind alle „Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi“, und wir werden alle mit ihm „zur Herrlichkeit erhoben werden“ (Römer 8,17). Wir bekommen alle nicht nur einen Teil des Himmels; wir bekommen ihn alle ganz!

An einer anderen Stelle weist die Bibel allerdings darauf hin, dass es zusätzlich zu der vollkommenen Erlösung und dem ewigen Leben weitere Belohnungen geben wird, die Gott seinen Kindern für ihren treuen Dienst schenkt. Am Richterstuhl Christi werden unsere Werke beurteilt: „Hat jemand fest und dauerhaft auf dem Fundament Christus weitergebaut, wird Gott ihn belohnen. Verbrennt aber sein Werk, wird er alles verlieren. Er selbst wird zwar gerettet werden, aber nur mit knapper Not, so wie man jemanden aus dem Feuer zieht“ (1. Korinther 3,14–15; Hoffnung für alle). Manche werden Schaden erleiden und manche werden ihre Belohnung empfangen, je nachdem, ob ihre Werke vor Gott bestehen können oder nicht.

Es geht bei dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg jedoch nicht um Belohnungen. Jesus erteilt seinen Jüngern eine Lektion über das überfließende, ewige Leben, das alle bekommen, die ihm als Herrn und Retter vertrauen. Der Himmel selbst ist keine Belohnung, die man sich durch harte Arbeit verdienen kann. Er ist ein Gnadengeschenk, das allen Gläubigen gleichermaßen in seiner ganzen Fülle gewährt wird. Gott „[sieht] die Person nicht an“ (Apostelgeschichte 10,34), und er macht keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, Reich und Arm, Jude und Nichtjude (Galater 3,28).

Auch einige weitere wichtige Prinzipien werden durch dieses Gleichnis vermittelt. Wir sehen zum Beispiel, dass Gott derjenige ist, der die Errettung bewirkt. In dem Gleichnis begibt sich der Weinbergbesitzer auf der Suche nach Arbeitern zum Marktplatz und bringt sie dann in seinen Weinberg. Gott ist derjenige, der sucht und errettet. Unsere Errettung ist voll und ganz sein Werk, und das ist der Hauptgrund dafür, warum wir kein Recht haben, ihm Vorschriften darüber zu machen, was er anderen gibt oder nicht gibt. Gott – und nur Gott – hat das Recht, gnädig zu sein, wem immer er will.

Bis zum heutigen Tag fährt er fort, Arbeiter in sein Königreich einzuladen. Während der gesamten Menschheitsgeschichte hindurch beruft Gott immer wieder Menschen jeden Alters in seine Nachfolge. Jesus wies darauf hin, als er sagte: „Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (Johannes 9,4; Schlachter). Unser Gleichnis zeigt, was er damit gemeint hat. Sein Erlösungswerk geht weiter, bis er wiederkommt, um die Menschheit zu richten. Und dieser Tag wird kommen.

Gott ruft Sünder, nicht Menschen, die sich für gerecht halten. Er bringt Menschen in seinen Weinberg, die wissen, wie sehr sie ihn brauchen, und nicht solche, die von sich sagen: „Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!, und [nicht wissen], dass [sie] elend und jämmerlich [sind], arm, blind und bloß“ (Offenbarung 3,17). Die Männer, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatten und auf Arbeit hofften, waren verzweifelt und wussten genau, wie dringend sie Hilfe brauchten. Sie waren arm, elend und mittellos und bettelten um Arbeit – sie stehen für diejenigen, die „geistlich arm sind“ (Matthäus 5,3). Sie waren in keiner Weise selbstzufrieden – vor allem diejenigen nicht, die den ganzen Tag gewartet und immer noch keine Arbeit gefunden hatten. Genau für solche Menschen ist Jesus gekommen. Genau diese sucht und rettet er: „Nicht die Starken brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder zur Buße“ (Markus 2,17; Schlachter; siehe auch 1. Korinther 1,26–31).

Nur Gott bestimmt, wann und wie er Menschen rettet. Warum wartet er bei einigen bis zur letzten Stunde, bevor er sie ruft? Warum stellte der Weinbergbesitzer nicht schon bei seinem ersten Gang zum Marktplatz alle ein, die dort warteten? Das Gleichnis nennt uns die Gründe nicht. Ebenso wenig wissen wir, warum Gott Menschen zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens rettet. Er bestimmt in seiner Souveränität, wann und wen er ruft. Aber all diejenigen, die gerufen werden, wissen, dass sie bedürftig sind, und sind bereit zu arbeiten. Und ihre Bereitschaft ist ein Ergebnis und nicht die Ursache der Gnade, die Gott ihnen erweist. „Gott selbst ist ja in euch am Werk und macht euch nicht nur bereit, sondern auch fähig, das zu tun, was ihm gefällt“ (Philipper 2,13; Neue Genfer Übersetzung).

Gott hält sein Versprechen. Der Weinbergbesitzer sagte der ersten Gruppe, dass er jedem von ihnen einen Silbergroschen geben würde, und er tat es. Er hielt auch das Versprechen, das er denen gab, die er später einstellte. Er sagte, er würde ihnen geben, was recht war – und was er ihnen gab, war mehr als großzügig.

Gott gibt uns immer mehr, als wir verdienen. „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts“ (Jakobus 1,7). Und alles, was wir statt ewiger Verdammnis bekommen, ist mehr, als wir verdienen. Darum ist es völlig unangebracht, wenn Christen anderen die Gnade missgönnen, die Gott ihnen erweist, oder wenn sie denken, er hätte sie irgendwie betrogen. Schon allein der Gedanke daran ist undenkbar. Aber genau das war die Haltung des älteren Bruders in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er missgönnte seinem Bruder zutiefst die Gnade, die sein Vater ihm erwies.

Gott ist gnädig und wir sollten seine Gnade feiern. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zeigt wunderbar, wie Gnade funktioniert. Meine eigene Reaktion auf dieses Gleichnis ist tiefe Dankbarkeit, denn es gibt viele, die treuer waren als ich, die härter gearbeitet, die sich länger bemüht und größere Schwierigkeiten erlebt haben. Es gibt vielleicht auch andere, die weniger hart, weniger lange und weniger sorgfältig gearbeitet haben. Aber auch der größte Sünder kommt in den Genuss dieser überströmenden Gnade und Gott errettet uns alle für immer (Hebräer 7,25). Dadurch wird er verherrlicht, und das ist ganz sicher ein Grund, um ihn zu loben – und sich gemeinsam mit allen zu freuen, die diese Gnade empfangen durften.