Joseph Lemberg
Der Historiker
ohne Eigenschaften
Eine Problemgeschichte des Mediävisten
Friedrich Baethgen
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Der Mittelalterhistoriker Friedrich Baethgen absolvierte eine glänzende Hochschulkarriere in drei politischen Systemen. In der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik kam er zu höchsten Ehren, so zuletzt als Präsident der Monumenta Germaniae Historica. Joseph Lemberg deutet Baethgens Erfolg als Resultat der Anschlussfähigkeit eines konservativen Geschichtsdenkens, das die politischen Brüche des 20.Jahrhunderts fast unbeschadet überdauerte. Durch das Prisma seines »Historikers ohne Eigenschaften« lässt diese Problemgeschichte eine »Welt von Eigenschaften ohne Mann« (Robert Musil) entstehen, einen unheroischen Ausschnitt der deutschen Mittelalterhistorie zwischen 1920 und 1960.
Vita
Joseph Lemberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU Berlin.
Vorwort
I.Einleitung
1.Fragestellung, Forschungsstand, Quellen
2.Konzipierung der Arbeit
II.Wissenschaftliche Profilierung und politisches Profil: Heidelberg – Rom (1914–1929)
1.An der Demarkationslinie des historischen Wissens: Weltkrieg und Wissenschaft
1.1Vorkriegserbe
1.2Nachricht und Wirklichkeit: Die Stunde der Propagandisten
1.3Umkämpfte Bastionen: Wahrheit und Nation
1.4Tatsachen und Legenden: Die Stunde der Historiographen
2.Der Staat und seine ›Feinde‹: Papsttumshistoriographie und Parteienkritik
2.1Kirche und Staat
2.2Wissenschaft als Staatsdienst
2.3Kirche im Gehäuse: Cölestin V. – Bonifaz VIII.
III.Ostforschung und Aufstieg: Königsberg (1929–1939)
1.Wahrheit und Nation: Deutsche Ostforscher diskutieren Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite
1.1Historiker im national-internationalen Widerspruch
1.2Kaiser Friedrich der Zweite
1.3Halle 1930
1.4Warschau 1933
1.5Königsberg: Die »polnische Professur«
2.Rothfels – Westphal – Glum: Konservative Netzwerke an der Schwelle zum Nationalsozialismus
2.1Freiherr vom Stein-Bund
2.2Hans Rothfels
3.Reichsmythos versus Rassenideologie: Karl der Große im Widerstreit politischer Sinnstiftungen
3.1Rasse versus Reich
3.2Widerspruch der Zunft
3.3Romanisierung – Germanisierung
3.4Was heißt Romanisierung?
4.Prekäre Internationalität: Die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft
4.1Transnationale Wissenschaft in nationaler Mission
4.2Das Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums
4.3Brackmann gegen Jedlicki
4.4Volkserziehung
4.5Ostforscher Baethgen
4.6Die Besetzung Polens
IV.Von der Peripherie ins Zentrum: Berlin (1939–1947)
1.Berufung an die »Endstationsuniversität«
1.1Die Kandidaten
1.2Einspruch des NS-Dozentenbunds
2.Weltgeschichte im Weltkrieg: Baethgens Spätmittelalter
2.1»Staat, Geist und große Persönlichkeit«
2.2Universales Kaisertum und Weltgeschichte
2.3Volk – Staat – Gemeinde
2.4Staat und Stände
2.5Politik als Staatskunst
2.6Konservativer Spagat: Rankes Konsenspotential im Nationalsozialismus
3.Der sichtbare und der unsichtbare Baethgen: Berliner Jahre 1940–1944
3.1Präsenz zeigen: Reichs- und Papsttumsgeschichte während des Vernichtungskriegs
3.2Die unsichtbare Frontgemeinschaft: Gerhard Ritter
3.3Der Welt entsagen oder sie beherrschen? Der Engelpapst
3.4Dämonisierung des Politischen
4.Berliner Netzwerke: Die Reorganisation der Monumenta Germaniae Historica
4.1Alte Eliten – neue Freunde: Die Mittwochs-Gesellschaft
4.2Theodor Mayer
4.3Stunde Null
4.4Reden und schweigen: Der feine Unterschied
V.Auf dem Gipfel: München (1947–1972)
1.Nationalgeschichte ohne Nationalstaat: Nachkriegshistoriographie
1.1Zweimal Dante: Auschwitz – Bremen
1.2Friedrich Meinecke
1.3Deutsche »Katastrophen«: 1945 und 1250
1.4Britannia docet: Geoffrey Barraclough
1.5Revision, Rehabilitation, Restauration
2.Wissenschaft als Ehrdiskurs: Wahrheit und Gedächtnis
2.1Erdmann – Brackmann: Zwei Biographien, ein Erzähler
2.2Wahrheit und Nation: Nachkriegskarriere eines Dilemmas
2.3Was bleibt?
VI.Wissenschaft als Staatsdienst im Wechsel der politischen Systeme: Fazit
VII.Quellen und Literatur
1.Ungedruckte Quellen
2.Gedruckte Quellen und Literatur
Personenregister
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Sie wäre ohne das Zutun zahlreicher Menschen, denen mein herzlicher Dank gilt, nicht zustande gekommen.
Michael Borgolte, mein akademischer Lehrer, hat diese Arbeit von Beginn an mit herausfordernder Neugier begleitet. Als seinem Promovenden und Wissenschaftlichen Mitarbeiter hat er mir jene Frei- und Zeiträume gewährt, die nötig waren, um die Arbeit voran und schließlich zum Abschluss zu bringen. Dass aus dem wissenschaftlichen Vorhaben ein fertiges Buch werden konnte, schulde ich seiner umsichtigen Förderung, seinem Ansporn und Zuspruch.
Dank gebührt auch Johannes Helmrath, dem Zweitgutachter, und Frank Rexroth, der das Drittgutachten erstattete. Beiden Gutachtern verdanke ich wertvolle Hinweise für die Drucklegung der Arbeit. Das Land Berlin förderte diese Arbeit über einen Zeitraum von fast zwei Jahren mit einem Elsa-Neumann-Stipendium – den mit der Begutachtung meines Dissertationsprojekts betrauten Verantwortlichen hoffe ich, durch das vorgelegte Buch gerecht zu werden. Ganz besonders danke ich den Herausgebern für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Campus Historische Studien. Mein Dank gilt auch dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT für die Übernahme der Druckkosten. Jürgen Hotz vom Campus Verlag hat die Drucklegung mit aller erforderlichen Umsicht begleitet. Die Arbeit wurde im Juli 2015 durch den Förderverein des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Droysenpreis ausgezeichnet; dem Förderverein und den Mitgliedern der Jury gilt mein herzlicher Dank.
Teile der Arbeit habe ich in Michael Borgoltes Forschungskolloquium vorstellen dürfen, dessen angenehmer Diskussionskultur sowohl ich selbst als auch meine Arbeit viel verdankt. Im Oktober 2013 hatte ich zudem Gelegenheit, ein Kapitel auf dem VIII. Medieval History Seminar am Deutschen Historischen Institut London zu präsentieren. Den Teilnehmern und den Leitern Stuart Airlie, Michael Borgolte, Patrick Geary, Ruth Mazo Karras, Frank Rexroth und Miri Rubin danke ich für die anregende Diskussion. Für ihre wertvolle Unterstützung bei meinen Archivrecherchen danke ich zudem Arno Mentzel-Reuters, dem Leiter der Bibliothek und des Archivs der Monumenta Germaniae Historica, und Genoveva Rausch, die das Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften leitet.
Die Arbeit ganz oder teilweise gelesen und mit wichtigen Hinweisen bereichert haben Teresa Pedro, Marcel Müllerburg, Claudia Moddelmog, Susanne Härtel, Barbara Schlieben, Anna Ziegenhorn, Klaus und Christiane Lemberg, besonders aber Hartmut Schleiff, der mir ein stets kritischer und darum wertvoller Gesprächspartner war und ist. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Zu einem guten Ende gebracht hätte ich die Arbeit aber gewiss nicht ohne meine Frau Teresa Pedro. Sie hat mir in der schier endlosen »Endphase« meiner Promotionszeit mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften beigestanden. Ihr und meinem Sohn Rafael ist diese Arbeit gewidmet.
Berlin, im Juli 2015 |
Joseph Lemberg |
Aus New York, wohin sie 1941 emigriert war, schrieb Hannah Arendt am 9. Juli 1946 an Karl Jaspers in Heidelberg:
»Gerade deshalb ist es ja so schlimm, daß die Universitäten 1933 ›ihre Würde verloren haben‹. Ich weiß nicht, wie man es anstellen soll, ihre Reputation wiederherzustellen. Denn sie haben sich lächerlich gemacht. Denazifizierung, sicher recht wichtig, ist da ja auch nur ein Wort; denn die Institution selbst, schlimmer der Stand der Gelehrten, sind lächerlich geworden. Dabei ist nicht entscheidend, daß Professoren nicht zu Helden geworden sind; sondern ihre Humorlosigkeit, ihre Beflissenheit, ihre Angst den Anschluß zu verpassen. […] Nun weiß ich, daß viele, vermutlich sogar eine Majorität, niemals im Ernst Nazis waren. Nur wird einem auch dies leider fragwürdig […]«.1
Der Reputationsverlust der deutschen Universitäten, den Hannah Arendt im Jahr 1946 beschwor, trat in Deutschland – wenn überhaupt – nur sehr vorübergehend ein. So sehr deutsche Professoren durch ihre Allianzen mit dem Nationalsozialismus gegenüber der kritischen Beobachterin Arendt »ihre Würde verloren« und sich vor der internationalen Gelehrtenrepublik selbst diskreditiert hatten, so wenig litt darunter im Deutschland der frühen Nachkriegszeit ihr Ansehen. Getragen von einer ungebrochenen Kontinuität gesellschaftlicher Anerkennung setzte der überwiegende Teil deutscher Lehrstuhlinhaber seine Karrieren nach 1945 fort. Für Hannah Arendt mochte der »Stand der Gelehrten […] lächerlich« geworden sein. In Deutschland aber lachte über diesen kein Mensch, weder vor 1945 noch danach.
Mit »verantwortlichem Ernste«, so mahnte Friedrich Baethgen im Jahr 1935, solle man der »Schicksalhaftigkeit« unseres »nationale[n] Dasein[s]« und »den bleibenden Notwendigkeiten und Aufgaben unseres völkischen Lebens« begegnen.2 Und mit »gesteigertem Ernst«, so behauptete Friedrich Baethgen 1937, widme man sich, seitdem »das völkische Leben« durch die »Begründung unseres nationalsozialistischen Staates« eine »neue Stufe erreicht habe«, den Kernfragen der »mittelalterlichen Periode unserer Geschichte«.3 Mit weihevollem Ernst aber begegnete man Zeit seines Lebens auch ihm, Baethgen (1890–1972), der sich die Zeichen seiner gesellschaftlichen Anerkennung in jedem der von ihm durchlebten politischen Systeme ans Revers heften durfte: 1920 das »Verdienstkreuz für Kriegshilfe« im Ersten Weltkrieg, 1939 das von Adolf Hitler verliehene »silberne Treudienst-Ehrenzeichen«, 1964 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband.4 Erstaunlich, doch keineswegs außergewöhnlich ist diese Sammlung politischer Ehrenzeichen, die das Kontinuum gleich vierer politischer Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts versinnbildlichen. Sie sind die Frucht einer beachtlichen Wissenschaftskarriere, die den noch im Kaiserreich promovierten Baethgen (1913) über seine erste Professur in Königsberg (seit 1929) und seinen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität (1939) schließlich nach München führte, wo er nach dem Krieg als Präsident der Monumenta Germaniae Historica (1947–1958) und als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1956–1964) führende Wissenschaftsinstitutionen des Landes repräsentierte.
Friedrich Baethgen hat, um mit Hannah Arendt zu reden, den »Anschluß«5 an die Institutionen seines Faches nie verpasst, auch und gerade zwischen 1933 und 1945 nicht: Das zeigt seine prestigereiche Berufung nach Berlin, ins wissenschaftliche und politische Zentrum des nationalsozialistischen Deutschland, der er 1939 folgte; das verdeutlicht gleichfalls seine Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften im November 1944. Baethgens fulminante Nachkriegskarriere ist ohne seine Bewährungsgeschichte im nationalsozialistischen Staat nicht denkbar. Und doch ist auch für Baethgen Hannah Arendts Hoffnung in Rechnung zu stellen, dass viele Professoren »niemals im Ernst Nazis waren«.6 Baethgen war nie Mitglied der NSDAP. Seine Tätigkeit im nationalsozialistischen Staatsdienst beschränkte sich auf seine Hochschulämter an der Königsberger (1929–1939) und an der Berliner Universität (1939–1947). In seinem Werk spielt der Begriff der ›Rasse‹ keine und der des ›Volkes‹ eine untergeordnete Rolle. Worauf beruht sein Erfolg im nationalsozialistischen Deutschland?
Gegenstand dieser Arbeit ist es, diese Frage zu beantworten. Sie bewegt sich damit in jenem Problemkreis, den Hannah Arendt 1946 mit ihrer Frage nach den »deutschen Professoren« und dem Jahr »1933« vorgezeichnet hat. Baethgen repräsentiert mit seinem politisch eher unscheinbaren Profil den Großteil deutscher Ordinarien, die im Nationalsozialismus ihre Karrieren fortsetzen konnten, ohne dass sie ihr überkommenes Wissenschaftsverständnis im Jahr 1933 aufgegeben hätten und vollständig auf die Ideologeme des Nationalsozialismus eingeschwenkt wären. Baethgen steht damit für jene große Gruppe innerhalb der deutschen Historikerzunft, die Karl Ferdinand Werner im Jahr 1967 dazu veranlasste, zu behaupten, dass die »›Gleichschaltung‹ der deutschen Geschichtswissenschaft« im Nationalsozialismus gescheitert sei;7 Werner bezog sich dafür auch auf Schriften Baethgens.8 Dieses Urteil hielt Werner freilich nicht davon ab, zugleich auf die »tiefgehenden Affinitäten zwischen dem Geschichtsbild der Geschichtswissenschaft in Deutschland und dem Weltbild des Nationalsozialismus« aufmerksam zu machen. Die gescheiterte Gleichschaltung hätten »Hitler und seine Gefolgsleute […] zumindest teilweise verschmerzen« können, weil »deutsche Historiker« den »Auffassungen des NS-Geschichtsbilds entgegengekommen oder sogar gefolgt« seien.9 Werners These von der gescheiterten Gleichschaltung vertrat 30 Jahre später noch Ursula Wolf, die die politische Haltung aller deutschen Ordinarien und planmäßigen Extraordinarien zum Nationalsozialismus quantifizierend untersuchte. Wolf kam im Jahr 1996 zu dem Ergebnis, dass die Geschichtswissenschaft – trotz fassbarer politischer Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus – zum überwiegenden Teil den totalen Herrschaftsanspruch des NS-Staates habe abwehren können. Der »Widerstand« der Historiker »gegenüber dem nationalsozialistischen Geschichtsverständnis« habe sich zum einen in ihrem Insistieren auf »wissenschaftliche[r] Autonomie«, zum anderen in der Abwehr einer »rassistische[n] Geschichtsbetrachtung« erwiesen.10 Aufbauend auf Wolfs empirischer Erhebung bilanzierte Jürgen Elvert, dass sich eine Minderheit von immerhin 20 Prozent der nach 1933 im Amt verbliebenen Historiker »eine kritische Haltung gegenüber dem NS-System« bewahrt habe. Hingegen hätten sich etwa 40 Prozent »zu einer offenen Kooperation« mit dem Regime entschlossen. Demgegenüber habe eine »etwa gleich große Gruppe«, zu der Wolf und Elvert auch Friedrich Baethgen zählten, »ein Arrangement mit dem NS-System« angestrebt, dabei aber versucht, »im Rahmen des Möglichen das traditionelle Wissenschaftsverständnis zu bewahren«: »Gelegentliche Lippenbekenntnisse zum System sollten hier jene Freiräume schaffen, die als notwendig erachtet wurden, um wissenschaftlich arbeiten zu können«; doch habe auch ihre »vermeintlich unpolitische Haltung letztlich das System« gestützt.11
Eine Gegenposition zu Werner, im Grunde aber auch zu Wolf und Elvert, nahm bereits in den 1990er Jahren Peter Schöttler ein: »Die Selbst-Gleichschaltung der Universitäten und zumal der historischen Seminare funktionierte nahezu reibungslos«.12 Schöttler verwies auf die Vielzahl deutscher Historiker, die in ihren Schriften die Politik des Regimes bejubelt und legitimiert hatten.13 Er bezog sich auf das neue Paradigma der Volksgeschichte, deren Vertreter sich »auf dem Hintergrund der Hitlerischen Politik […] ganz bewußt in den Dienst einer aggressiven Politik« gestellt hätten.14 Und nicht zuletzt berief sich Schöttler für seine These auf den Tatbestand der zahleichen außeruniversitären Forschungsnetzwerke, die es den darin involvierten Historikern erlaubt hätten, sich ideologisch oder gar praktisch-instrumentell dem Regime anzudienen. Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, deren Rolle auf dem Frankfurter Historikertag von 1998 lebhaft debattiert wurde und der Frage nach den »Deutschen Historikern im Nationalsozialismus«15 eine völlig neue Wendung gab, sind hier an erster Stelle zu nennen;16 ebenso der so genannte »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaft«.17
Bringen Schöttlers Einwände Werners, Wolfs und Elverts These von der gescheiterten »Gleichschaltung« der deutschen Geschichtswissenschaften im Nationalsozialismus zu Fall? Das Problem ist nicht nur empirischer Art, sondern vor allem begrifflicher. Karl Ferdinand Werner verstand 1967 unter »Gleichschaltung« die Absicht des Regimes, »alle Lehrstühle mit Anhängern zu besetzen und wissenschaftliche Publikationen ohne Parteilinie zu verbieten«, oder noch schärfer: das Vorhaben, »die zentralen Institutionen der deutschen Geschichtswissenschaft dergestalt in die Hände zuverlässiger Anhänger zu bringen, daß eine geeignete Lenkung und Überwachung der Disziplin möglich wurde«.18
Demgegenüber hat bereits Karen Schönwälder zu Recht eingewandt, dass der »Maßstab für das Scheitern bzw. den Erfolg« der Gleichschaltung »nicht die Durchsetzung eines real gar nicht vorhandenen Konzepts einer völligen institutionellen und inhaltlichen Neugestaltung geschichtswissenschaftlicher Tätigkeit sein« könne.19 Was Werner seinem Gleichschaltungsbegriff zugrunde gelegt hatte, war als totalitäre Utopie zwar existent, vermochte in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft aber kaum, den operationellen Status einer wissenschaftspolitischen Handlungsvorgabe zu erlangen, wie rezentere Untersuchungen zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zeigen.20 Ohnehin musste das Regime auf den Anspruch, »alle Lehrstühle mit Anhängern zu besetzen und wissenschaftliche Publikationen ohne Parteilinie zu verbieten«21, verzichten, wollte es sich die Loyalität auch jener Mehrheit von Wissenschaftlern erhalten, die bei aller Zustimmung immer auch einen Rest von Distanz wahrten. So hat denn auch Jan Eckel darauf hingewiesen, dass gerade das »Neben- und Miteinander partieller Übereinstimmung und Dissonanz kennzeichnend für den Integrationsmodus des nationalsozialistischen Regimes« gewesen sei.22 Noch schärfer hat Otto Gerhard Oexle das Problem anhand des hochgradig integrativen Begriffs der ›Gemeinschaft‹ gefasst: »Man könnte sagen«, der Gemeinschaftsbegriff »erforderte das Dabei-Sein gerade dann, wenn man, wie das bei Intellektuellen und Professoren gewiss in der Regel der Fall ist, vieles an den Ereignissen mißbilligte und jedenfalls nicht allem zustimmte, was geschah«.23
Dazu aber tritt ein weiteres, der Umstand nämlich, dass es sich bei der so genannten nationalsozialistischen ›Ideologie‹ um eine durchaus inkonsistente und im Ganzen widerspruchsvolle Angelegenheit handelte. In Anlehnung an Hans Mommsens Begriff der »polykratischen Herrschaft« mochte Frank Lothar Kroll von einem »Polyzentrismus« der nationalsozialistischen Weltanschauung sprechen.24 Oliver Lepsius hat die »Nichtkanonisierbarkeit«, die »Offenheit und Interpretationspluralität« der NS-Ideologie herausgestellt, »deren Grundlagen weitgehend konturlos« gewesen seien.25 Das Wissenschaftsverständnis des Nationalsozialismus nannte Michael Grüttner ein »intellektuelle[s] Vakuum«, das sich durch die »dauernde Unsicherheit darüber« ausgezeichnet habe, »welche Art von Wissenschaft die wahre nationalsozialistische Wissenschaft« eigentlich sei.26
Diese Überlegungen zeigen, wie problematisch sowohl Werners, Wolfs und Elverts Begriff von der ›gescheiterten Gleichschaltung‹ als auch Schöttlers Gegenbegriff von der ›Selbst-Gleichschaltung‹ der Historikerschaft ist. Denn beiden Begriffen liegt eine Konformitätsannahme zugrunde, die im Falle Schöttlers zur Einebnung aller durchaus geduldeten Nonkonformitäten führt, im Falle der Position Werners, Wolfs und Elverts aber nahelegt, dass allein das Insistieren auf wissenschaftliche Standards schon als Nonkonformität und damit als Resistenz zu werten sei.27 In dieser Arbeit soll auf beide Begriffe verzichtet werden.28
Stattdessen soll es hier darum gehen, das gleichsam dialektische Ineinandergreifen von Nähe und Distanz zum Nationalsozialismus, von Konformität und Nonkonformität zu problematisieren, und zwar anhand eines Protagonisten, dem Kaspar Elm noch 1992 eine »von Grund auf konservative« Haltung attestierte und der ihn zu dem Urteil bewog, dass seine Berufung nach Berlin im Jahr 1939 »wahrscheinlich auch in der Weimarer Zeit nicht anders ausgefallen« wäre.29 Es wird zu prüfen sein, ob es ausreichend Anlass dazu gibt, Elms kontrafaktischem Urteil über Friedrich Baethgen zuzustimmen. Abgesehen von dieser Frage im Einzelfall verweisen Elms Überlegungen aber auf ein grundsätzliches Problem: die Frage nämlich nach der Kontinuität und der Konformität konservativer Werthaltungen und Geschichtsbilder im Nationalsozialismus. Worin genau besteht die »karrierestrategisch[e] und weltanschaulich[e]« Geschmeidigkeit, die zuletzt Johannes Helmrath Friedrich Baethgen bescheinigt hat?30 Wie verhält sich Baethgens Erfolgsgeschichte im Nationalsozialismus zu der Tatsache, dass dieser, wie Kaspar Elm schreibt, »längst vor Hitler, Rosenberg und Himmler mit Worten, die von Treitschke stammen könnten, seinen Glauben an die Nation und ihre wahrhaft weltgeschichtlichen Leistungen zum Ausdruck gebracht hatte«31?
Damit sind die Leitfragen umrissen, die dieser Untersuchung zu Werk und Karriere Friedrich Baethgens zugrunde liegen. Sie zielen in erster Linie auf Baethgens Schaffen zwischen den Jahren 1933 und 1945. Von den insgesamt achtzehn Jahren, die Baethgen zwischen 1929 und 1947 als ordentlicher Professor an deutschen Universitäten lehrte und forschte, entfallen allein zwölf Jahre auf die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. In dieser Zeit entstand ein Großteil seiner wichtigsten Schriften, so seine Anthologie Der Engelpapst (1943)32, seine Darstellungen »Europa im Spätmittelalter« (1940),33 seine Arbeiten zur historischen Ostforschung.34 Zwischen 1933 und 1945 wurden aber auch die Weichen gestellt für seine weitere Karriere, knüpfte oder vertiefte Baethgen entscheidende Beziehungen und besetzte die Ämter, die ihm nach 1945 erlaubten, in der bundesdeutschen Nachkriegsmediävistik eine institutionelle Schlüsselrolle zu spielen. Bildet damit die Zeit des Nationalsozialismus den Schwerpunkt der Untersuchung, so soll und kann doch weder die Zeit vor 1933, noch nach 1945 ausgeblendet werden. Die Arbeit nimmt Baethgens gesamtes Werk und seine gesamte Karriere in den Blick und damit auch die politischen Zäsuren, die Baethgens Werdegang zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik geprägt haben. Die Deutung Baethgens gewinnt ihre explanatorische Kraft zu allererst aus der politischen Grundbedingung seiner Gelehrtenexistenz: nämlich aus dem Umstand der rasant aufeinanderfolgenden politischen Systembrüche im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Weder Baethgens Werk noch seine Karriere sind bisher zum Gegenstand einer kritischen Untersuchung gemacht worden.35 Erhöhte Aufmerksamkeit fand jedoch seit den 1990er Jahren die Geschichte seines Fachs im 20. Jahrhundert, die deutsche Mittelalterhistorie. Michael Borgolte brachte in seiner Forschungsbilanz zur Sozialgeschichte des Mittelalters (1996) erstmals die Problemfelder, Diskursfronten und Diskussionsstände der Nachkriegsmediävistik in Ost- und Weltdeutschland zur Darstellung.36 Monographische Untersuchungen zur deutschen Mittelalterhistorie im Nationalsozialismus ließen aber – sieht man von Karl Ferdinand Werners bereits erwähnter Studie aus dem Jahr 1967 ab – bis nach dem Frankfurter Historikertag von 1998 auf sich warten. Anne Christine Nagel hat in ihrem Buch »Im Schatten des Dritten Reiches« (2005) den Nationalsozialismus zum Fluchtpunkt gewählt, um die bundesdeutsche Nachkriegsmediävistik und ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit darzustellen.37 Zu führenden Protagonisten der deutschen Mediävistik im 20. Jahrhundert liegen inzwischen monographische Studien vor, so zu Percy Ernst Schramm38, Hermann Aubin39 und Karl Hampe40; auch zu Otto Brunner41 und zu Ernst Kantorowicz42, deren Werke freilich schon seit den 1980er Jahren ein lebhaftes wissenschaftsgeschichtliches Interesse auf sich gezogen haben. Gesteigerte Aufmerksamkeit, wenngleich nicht erschöpfende Behandlung fanden auch die Werke und Karrieren Herbert Grundmanns43, Hermann Heimpels44 und Gerd Tellenbachs45. Zur Geschichte der Mittelalterstudien an der Berliner Universität seit ihrer Gründung liegen inzwischen Längsschnitte von Johannes Helmrath und Michael Borgolte vor.46 Aus Anlass des Gründungsjubiläums der Historischen Zeitschrift nahmen jüngst Johannes Fried und Frank Rexroth 150 Jahre Mittelalter- bzw. Spätmittelalterforschung im Spiegel der HZ in den Blick.47 Die Deutungsmuster und epistemologischen Orientierungen deutscher Mittelalterhistoriker vor, während und nach dem Nationalsozialismus hat Otto Gerhard Oexle seit den 1980er Jahren problematisiert.48
Trotz dieses beachtlichen Diskussionsstandes herrscht über zentrale Problemkonstellationen der deutschen Mittelalterhistorie im Nationalsozialismus aber noch immer Unklarheit. In diese kann eine Studie zum Werk und zur Karriere Friedrich Baethgens Licht bringen. Denn sowohl Baethgens Sozialbeziehungen als auch die Problembeziehungen seines Werks zu den Arbeiten Karl Hampes und Ernst Kantorowicz’, Albert Brackmanns und Hermann Aubins, Carl Erdmanns und Gerd Tellenbachs machen ihn zu einem aufschlussreichen Fallbeispiel der deutschen Mediävistik im 20. Jahrhundert. Durch das schmale Sichtfenster seines Werks hindurch geraten dieserart Problemzusammenhänge in den Blick, die bislang kaum Beachtung gefunden haben. Zwei Problemstränge, die in dieser Arbeit erhellt werden sollen, lassen sich unterscheiden:
Erstens die Frage nach dem Verhältnis von Mittelalterhistorie und Ostforschung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus: Wenn auch die Erforschung der so genannten historischen Ostforschung in den letzten zwei Jahrzehnten enorm vorangeschritten ist, so haben doch die zahlreichen inhaltlichen und personellen Querverbindungen zwischen der Mittelalterhistorie und den Institutionen der Ostforschung bisher kaum hinreichend Aufmerksamkeit gefunden.49 In A. C. Nagels Arbeit zur bundesdeutschen Mittelalterforschung wird die mediävistische Ostforschung kaum erwähnt;50 umgekehrt hat Eduard Mühle in seiner Biographie zu Hermann Aubin zwar dessen ostwissenschaftliches Werk umfassend gewürdigt, sämtliche Problembeziehungen zur Mittelalterforschung aber ausgespart.51 Dies ist umso verblüffender, als Albert Brackmanns Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), deren Erforschung in den letzten Jahren lebendige Debatten ausgelöst hat,52 maßgeblich durch Mittelalterhistoriker administriert wurde. Zu ihnen zählen Albert Brackmann und Hermann Aubin an der Spitze; in untergeordneten Verantwortungsbereichen wirkten Friedrich Baethgen, Fritz Rörig, Rudolf Kötzschke, Erich Maschke und Erich Keyser. Anhand Baethgens soll in dieser Arbeit zum einen exemplarisch nach den karrierestrategischen Effekten und Wechselbeziehungen zwischen Mediävistik und Ostforschung gefragt werden. Zum anderen aber sollen die epistemologischen Orientierungen Baethgens und Brackmanns in den Blick genommen werden, und zwar auch hier erstmals vor dem Hintergrund ihres mediävistischen Diskurszusammenhangs ebenso wie ihres ostwissenschaftlichen Engagements: Was bedeutet es für das Wahrheitsverständnis deutscher Ostforscher, dass Brackmann in der Debatte um Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite die epistemologische Position des Positivisten vertrat? Welche Position nahm Baethgen in diesem Zusammenhang ein (s. Kapitel III.1, III.4 und V.2)?
Zweitens die Frage nach der Resonanzfähigkeit konservativer Mittelalterbilder im Nationalsozialismus: Zwar wurden in den letzten Jahren wiederholt die Kontinuitäten neuhistorischer Geschichtsbilder zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus bzw. Bundesrepublik thematisiert, wie Bernd Faulenbachs Studie zur Ideologie des deutschen Weges, Karen Schönwälders Arbeit Historiker und Politik oder Christoph Cornelißens Biographie zu Gerhard Ritter zeigen.53 Gleichwohl standen seit den 1990er Jahren in erster Linie Studien zu den methodischen Brüchen und Neuerungen in der Geschichtswissenschaft der 1920er und 1930er Jahre im Mittelpunkt des Interesses. Willy Oberkromes Untersuchung zum neuen Paradigma der Volksgeschichte etwa löste lebhafte Debatten um das Verhältnis von wissenschaftlicher Innovation und politischer Ideologie aus.54 Eine problemgeschichtliche Analyse jener konservativen Meistererzählungen vom Mittelalter, die sich weniger am Volksbegriff als an den überkommenen Kategorien ›Staat‹, ›Geist‹ und ›große Persönlichkeit‹ orientieren, steht aber noch immer aus. Sie soll für das Werk Baethgens exemplarisch geleistet werden. Dabei interessiert auch hier in erster Linie die Frage nach der Anschlussfähigkeit dieser Erzählungen sowie des in ihnen zum Ausdruck kommenden konservativen Geschichtsdenkens an den Nationalsozialismus (s. Kapitel III.3, IV.2 und IV.3).
Empirisch gründet die Arbeit zum einen auf Baethgens Schriften sowie auf Publikationen anderer Historiker, die zu den Problemzusammenhängen des Baethgenschen Werks in Beziehung stehen. Zum anderen stellen Baethgens (Teil-)Nachlässe im Archiv der Monumenta Germaniae Historica und im Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ein zentrales Quellenkorpus dieser Arbeit dar. Allerdings wurde Baethgens Nachlass offenbar durch Baethgen selbst stark bereinigt. So fehlt beispielsweise Baethgens gesamte Korrespondenz mit Albert Brackmann und der Publikationsstelle Berlin-Dahlem, der Schaltzentrale der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Diese und andere Lücken mussten durch ausgreifende Recherchen in den Archivbeständen diverser Ministerien, Akademien und Universitäten sowie in den Nachlässen von Karl Hampe, Willy Andreas, Fritz Rörig, Fritz Hartung, Ernst Kantorowicz, Herbert Grundmann, Siegfried A. Kaehler, Karl Brandi, Gerhard Ritter, Friedrich Glum, Albert Brackmann, Wilhelm M. Mommsen und Friedrich Meinecke ergänzt werden.55
Mit dieser Studie zum Werk und zur Karriere Friedrich Baethgens soll der Fokus auf die »normale Wissenschaft«56 gerichtet werden, das heißt auf einen jener historischen Akteure des ›Wissenschaftsbetriebs‹, die sich gemeinhin unterhalb der Wahrnehmungsebene wissenschaftshistorischer Vergegenwärtigung befinden. Baethgen hat es nicht vermocht, in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Disziplin eine paradigmatische Wirkung zu entfalten, die die Nachgeborenen als erinnerungswürdig hätten ansehen können. Bereits seine Nachrufe ordneten den Mittelalterhistoriker als eher mediokre Wissenschaftlergestalt ein.57 Prägnant hat schon Gerd Tellenbach in seinem Nekrolog Baethgens Lebenswerk dadurch gekennzeichnet, dass es weder grundstürzend neue Quellenfunde noch originelle Begriffe und schon gar nicht spektakuläre Thesen erbracht habe.58 Tellenbach ging gar so weit, über den Verstorbenen zu mutmaßen, es wäre diesem »wohl nur erträglich«, »von seiner persönlichen Lebensleistung reden zu hören, wenn sie in den sachlichen Zusammenhang der Geschichte der neuesten Geschichtswissenschaft, teilweise auch der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, gestellt und damit in gewisser Weise neutralisiert würde.«59 Von dem Bescheidenheitstopos, mit dem der Nachrufer die Erinnerung an den Verewigten schmückte, kann hier wohl abgesehen werden. Bemerkenswert aber ist Tellenbachs Anregung, Baethgens Lebenswerk zu neutralisieren, das heißt, so darf man Tellenbach deuten: die Forderung, Baethgens vergleichsweise unscheinbares Werk einer umfassenden Historisierung zu unterziehen, um es überhaupt sichtbar zu machen. Den Gattungskonventionen des Nachrufs folgend hat Tellenbach selbst freilich keine umfassende wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung anstreben können. Sie bleibt dieser Arbeit vorbehalten.
Ihr Ziel ist es, das Werk und die Karriere Friedrich Baethgens zu neutralisieren, das heißt, die politischen, sozialen und wissenschaftlichen Hervorbringungskontexte sichtbar zu machen, die für Baethgens Werk und Karriere konstitutiv waren. Dafür bediene ich mich einer analytischen Strategie, die unter dem Namen Problemgeschichte bekannt ist. »Gemeint ist« damit, so Otto Gerhard Oexle unter Rekurs auf Wolf Lepenies, »ein wissenschaftsgeschichtliches Vorgehen, das die den einzelnen fachlichen Fragestellungen zugrundeliegenden wissenschaftlichen und lebensweltlichen Orientierungen zum Gegenstand hat.«60 Es geht darum, die den wissenschaftlichen Fragestellungen »zugrundeliegenden Schichten von Bewußtsein und Erkenntnis sichtbar werden« zu lassen, »von denen her die Fragestellungen und Ergebnisse der Forschung überhaupt erst konstituiert und gesteuert werden«.61 Mit der Rede von den »Tiefenschichten der Erkenntnis«62 ist zum einen all das umschrieben, was gemeinhin unter der Superchiffre Leben subsumiert wird: die materiellen, sozialen, politischen, mentalen Hervorbringungskontexte eines Wissenschaftlers, seine Wertorientierung, seine mentale Disposition.63 Zugleich aber enthalten jene »Tiefenschichten der Erkenntnis« bereits die grundlegenden Kategorien wissenschaftlicher Wirklichkeitsaneignung: nämlich die sich aus den genannten lebensweltlichen Wertorientierungen speisenden konstitutiven Leitbegriffe und Deutungsmuster, die den Problembestand eines wissenschaftliches Oeuvres, ja ganzer Disziplinen maßgeblich organisieren. Wie weit die Lebenswelt in das wissenschaftliche Kategorien- und Problemarsenal der Historie hineinragt, wird etwa überdeutlich an dem Begriff der Nation: Er bildete einen zentralen Bezugspunkt lebensweltlicher Orientierung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung nicht nur europäischer Historiker seit dem frühen 19. Jahrhundert, sondern auch Friedrich Baethgens. Der problemgeschichtlich arbeitende Historiker nimmt damit stets die Interdependenz von Wissenschaft und Leben in den Blick. Er sucht nach den neuralgischen Punkten, an denen die Lebenswelt zum konstitutiven Movens wissenschaftlicher Arbeit wird.
Oexle hat die Problemgeschichte in erster Linie als wissenschaftshistorische Methode zur Analyse wissenschaftlicher Texte herangezogen. In dieser Arbeit soll mit dem Instrumentarium der Problemgeschichte aber nicht nur Baethgens Werk, sondern auch seine Karriere erfasst werden. Denn ebenso wie wissenschaftliche Texte und Fragestellungen sind auch Karrieren Produkte lebensweltlicher Orientierungen und mentaler Dispositionen. Dabei wird es nicht darum gehen, Baethgens Aufstieg als den eines »Karrieristen« zu denunzieren. Unter dem Gestus moralischer Empörung verdeckt der Karrierismusvorwurf mehr, als er erklären kann. Vielmehr soll anhand Baethgens Karriere nicht mehr als die Tatsache verdeutlicht werden, dass es sich bei der Bereitschaft und dem Willen, Karriere zu machen, um eine zentrale, ja unverzichtbare mentale Disposition im Referenzsystem Wissenschaft handelt – so wie in anderen aufstiegsorientierten Bereichen des Lebens auch. Wer Karriere macht, von dem ist anzunehmen, dass er es will. Über die Absicht freilich spricht man nicht, und auch Friedrich Baethgen, der ehemalige Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hat es vornehm vermieden, über derlei Dinge ein Wort zu verlieren. Diese Verhaltensdisposition aber deshalb auszublenden, hieße, vor einer zentralen, in die »Tiefenschichten der Erkenntnis«64 weit hineinragenden Wertorientierung die Augen zu verschließen.
Damit aber tritt ein privilegiertes Interdependenzverhältnis zwischen Wissenschaft und Leben ins Zentrum des Interesses: das nämlich zwischen dem Werk und der Karriere Friedrich Baethgens. Interdependent ist dieses Verhältnis deshalb, weil die Schriften eines Wissenschaftlers nun einmal zu den Grundbedingungen seiner Karriere gehören – umgekehrt wird damit aber auch die Absicht des Wissenschaftlers, durch Karriere die eigene materielle Existenz zu sichern, zu einem konstitutiven Movens der wissenschaftlichen Arbeit. Gewiss zu Recht hat man eingefordert, Ian Kershaws Frage, »wie Hitler möglich war«,65 nicht allein mit dem Verweis auf den »Karrierismus« und den »fehlgeleitete[n] Idealismus« seiner Anhänger zurückzuführen, sondern nach der »Resonanzfähigkeit« der nationalsozialistischen Ideologie in den Köpfen der Deutschen und damit auch deutscher Wissenschaftler zu fragen.66 Wer aber nach der »Resonanzfähigkeit« des »Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften«67 fragt, darf – in entgegengesetzter Blickrichtung – den politischen Resonanzraum, in dem Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945 mit ihrer Forschung Anklang suchten und Gehör fanden, nicht übersehen. Neben die Frage nach der Resonanzfähigkeit des Nationalsozialismus in Baethgens Werk tritt damit die in umgekehrter Weise formulierte Frage nach der Resonanzfähigkeit Baethgens im Nationalsozialismus. Sie ist fassbar: durch erworbene Ämter, durch verliehene Ehrungen, durch wissenschaftliche und politische Gutachten – durch all jene sozialen Manifestationen der Anerkennung, die eine Karriere voraussetzt.68 Ian Kershaws Frage ›Wie war Hitler möglich?‹, die uns veranlassen kann, über die mentalen Dispositionen deutscher Wissenschaftler zum Nationalsozialismus nachzudenken, wird damit für diese Arbeit umgekehrt: Wie war Baethgen möglich? Das heißt: Was sind die sozialen, institutionellen, politischen, mentalen, problemgeschichtlichen Bedingungsmomente seiner Erfolgsgeschichte im Nationalsozialismus?
Für die problemgeschichtliche Analyse der Karriere Baethgens heißt das: Baethgens Prädisposition zu einer wissenschaftlichen Karriere und damit zu einer Laufbahn im Staatsdienst zu erhellen; die wechselnden politischen Referenzsysteme dieser Beamtenkarriere in den Blick zu nehmen; die Bedingungen seines institutionellen Erfolgs sichtbar zu machen, zu denen neben Baethgens wissenschaftlichem Werk auch sein soziales Netzwerk sowie die mit den Angehörigen dieses Netzwerkes geteilten mentalen und habituellen Dispositionen gehören.69 Gerade die institutionelle und repräsentative Schlüsselrolle, die Baethgen nach 1945 als Präsident der Monumenta Germaniae Historica und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften einnahm, soll dazu Anlass geben, anhand des Protagonisten die Strategien akademischer Ehrgenerierung – die soziale »Logik der Ehre«70 – in der Mittelalterhistorie vor ebenso wie nach 1945 zu thematisieren; eine bundesrepublikanische Institutionengeschichte der Häuser, an deren Spitze Baethgen nach dem Krieg rückte, kann und will diese Arbeit indessen nicht leisten.
Ziel der problemgeschichtlichen Werkanalyse hingegen ist es, die wissenschaftlichen Probleme, die der Autor in seinen Texten beim Namen nennt und bearbeitet, selbst zum Problem zu machen, indem sie als Symptome fundamentaler epistemologischer und politischer Problemkonstellationen erkennbar werden, die über Baethgens Werk hinausweisen. Epistemologisch sind diese Problemkonstellationen dann zu nennen, wenn in ihnen grundlegende Fragen der Erkenntnis oder wissenschaftlicher Methodologie zum Ausdruck kommen. Von politischen Problemkonstellationen soll hingegen die Rede sein, wenn sich uns ihre Brisanz erst im Kontext der Politik – sei es Tagespolitik, politische Ideologie oder politische Theorie – erschließt. Die Untersuchung erschöpft sich also nicht darin, die Textoberfläche des Baethgenschen Oeuvres nach seinem rhetorischen Tribut an den – jeweils wechselnden – politischen Zeitgeist abzusuchen, das heißt, allein die äußerliche Präsenz des Politischen in den Blick zu nehmen. Vielmehr geht es darum, das Politische als konstitutives Movens, als problemstrukturierendes Prinzip seines Werkes sichtbar zu machen. Ich orientiere mich damit an einer Strategie, die – gleichfalls unter dem Emblem der Problemgeschichte – Ulrich Raulff in seiner Werkbiographie zu Marc Bloch unübertroffen vorgeführt hat.71 Dabei ist für den Fall Baethgen nachdrücklich in Rechnung zu stellen, dass sich dieser – ganz im Gegensatz zu Marc Bloch – nie im Zentrum der Problemkonstellationen seiner Zeit befand. Denn die problemgeschichtlichen Leittexte der deutschen und der internationalen Mittelalterhistorie verfassten andere. Und anders als es etwa Ulrich Raulff für Marc Bloch zu Recht beansprucht, kann man nicht sagen, dass sich Baethgen an den politischen und epistemologischen Fragen seiner Zeit konsequent abgearbeitet hätte. Eher waren es die Fragen, die in seinem Werk arbeiteten, ohne dass Baethgen ihre politische und epistemologische Brisanz immer klar erkannt hätte. Anders als es Raulff für Bloch getan hat,72 lässt sich Baethgen daher kaum als aktiver und überlegener Tiefenanalyst des Politischen seiner Gegenwart beschreiben; gleichwohl ist das Politische in den Tiefen seines Werks vorhanden.
Mit dem Versuch, sowohl Baethgens Karriere als auch sein Werk in einer 73747576777879
Ganz in diesem Sinn sollen die problemgeschichtlichen Konstellationen des Baethgenschen Werkes und die sozialen Relationen seines Netzwerks als Problemstränge erhellt werden, die durch ›Baethgen‹ hindurchgehen, sich in ihm bündeln und ›Baethgen‹ damit als Problem- und Beziehungsknotenpunkt erst konstitutieren. Sie erzeugen jene menschliche »Hohlform«80, in die sich das, was wir ›Der Historiker Friedrich Baethgen‹ nennen, einfügt.81 Die Rede von der Eigenschaftslosigkeit Friedrich Baethgens zielt durchaus nicht auf die abwegige Behauptung, dass dem Historiker Baethgen keine Eigenschaften zuzuschreiben seien, sondern dass die hier thematisierten Eigenschaften des Historikers Baethgen außerhalb seiner selbst liegen: in einer »Welt von Eigenschaften ohne Mann«82, in jener Welt aus problemgeschichtlichen Konstellationen und sozialen Relationen, die wir die deutsche Mittelalterhistorie der 1910er bis 1950er Jahre nennen.83 Damit ist zugleich eine methodische Grenzlinie gezogen: Über den ›Menschen‹ Baethgen, seinen Charakter, seine Vorlieben und Abneigungen, seine Hoffnungen und Ängste, kurz: seine ›Persönlichkeit‹, gibt diese Arbeit ebenso wenig Auskunft wie über die Totalität seiner ›Lebensgeschichte‹.84
Lässt dieses Vorgehen eine »Biographie ohne Subjekt«85 erwarten? Ja, insofern die problemgeschichtliche Neutralisierung Baethgens, um Tellenbachs Begriff aufzugreifen,86 zu einer Dezentrierung seines Werkes führt, das in eine Vielzahl von Problemgeschichten aufgelöst wird. Nein, insofern Baethgen in diesem Konstruktionsprozess als biographisches Subjekt einer Karriere und damit als Akteur erst sichtbar wird: Baethgens Karriere bildet die narrative Stütze, die den »gedanklichen Zusammenhänge[n] der Probleme«87 dieser Arbeit Kohärenz verleiht.