Danksagungen

Ich möchte meiner Familie danken, die mir während des Verfassens dieses Buchs eine beständige Stütze war, insbesondere mein Sohn. Indem er mich überzeugte, es unter meinem echten Namen zu veröffentlichen, erwies er sich mehr als Mann als viele, die Jahrzehnte älter sind als er. Ich danke meinen Freunden, die wissen, wer gemeint ist, und ich danke Fergal Tobin, Nicki Howard und dem gesamten Team von Gill & Macmillan dafür, dass sie von Anfang an an dieses Buch geglaubt haben, und weil es eine Freude war, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ebenso danke ich Deirdre O’Neill, die mit mir an den früheren Entwürfen des Buchs gearbeitet hat, und Alison Walsh, die die späteren Entwürfe mit mir überarbeitet hat.

Ganz besonders danke ich allen Prostitutionsüberlebenden, die ich sowohl in Irland als auch in anderen Ländern kennenlernen durfte, dafür, dass sie für mich da waren und mich einsehen ließen, dass sie es immer sein werden. Ich danke Sarah Benson für die Wärme ihrer Freundschaft sowie Nusha Yonkova und Denise Charlton für die Energie und das Engagement, das sie der Kampagne Turn Off The Red Light widmen. Ich danke Theo Dorgan und seiner Partnerin Paula Meehan für ihre Hilfsbereitschaft und Ermutigungen. Ich danke meiner Tante Theresa aus unzähligen Gründen, unter anderem weil ich mir ansonsten etwas anhören könnte!

Zu guter Letzt geht mein besonderer Dank an Kathleen Barry und ihre eigenen Bücher über Prostitution. Sie waren für mich ein Schlüssel zum Verständnis der Mechanismen hinter dem, was mir widerfahren ist. Ich danke ihr außerdem für ihre Liebenswürdigkeit und Orientierungshilfe und dafür, dass sie mich jede Zeile hindurch angespornt hat.

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Die erste Frage

Den Akt des Anprangerns oder der Schuldzuweisung macht allein das Wissen schwierig, dass jeder Mensch seine ganz eigene Geschichte mit sich bringt. Je mehr wir darüber wissen, desto leichter wird es zu verstehen, warum sie getan haben, was sie getan haben.

RICHARD HOLLOWAY, GODLESS MORALITY


Mit diesem Buch halten Sie keine typischen Memoiren in der Hand. Das ist nicht seine Absicht. Als ich dieses Buch über Prostitution schrieb, konzentrierte ich mich nicht ausschließlich auf meine eigenen Erfahrungen, denn das Thema geht sowohl über mich selbst hinaus als auch über den Platz, den ich darin einnehme. Sieben Jahre im Prostitutionsmilieu haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass Prostitution eine kollektive und nicht etwa eine rein individuelle Erfahrung ist. Deswegen schreibe ich dieses Buch auf eine Weise, die abwechselnd persönliche und universale Perspektiven einnimmt. Wir Frauen hatten weit mehr gemeinsam als Kunden und Geheimnisse allein. Wir hatten eine Erfahrung gemeinsam, deren Züge doch so allgemein waren, dass sich irgendwann ein Muster vor meinen Augen abzeichnete, das dem Prinzip Prostitution als Schema zugrunde liegt. Das Bild, das sich ergibt, ist entsetzlich abstoßend.

Glamourösen und sensationellen Darstellungen von Prostitution zolle ich weder Respekt noch biete ich ihnen Raum. Sie geben kein wahrheitsgemäßes Bild der Prostitution ab. Sie sind nicht einmal Karikaturen. Die könnten sie auch gar nicht sein, denn eine Karikatur ist nichts weiter als die aufgeblasene Wahrheit. In diesem Fall weist Glamour nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Wahrheit auf. Meine Einschätzung von Prostitution und meine Meinungen darüber beziehe ich aus den Jahren, in denen ich ihr ausgesetzt war, aus allem, was ich in dieser Zeit gesehen, gehört, gefühlt, erlebt oder irgendwie sonst erfahren habe. Glamouröses gab es da nichts. Nicht einmal einen Funken davon. Für keine von uns.

Da ist immer wieder diese erste Frage, die einer heute oder ehemals prostituierten Frau gestellt wird. Die Frage ist immer die gleiche. Die Leute wollen wissen: »Wie sind Sie da hineingeraten?« Ich glaube, es ist die erste Frage, weil menschliche Wesen ein Bedürfnis nach dem Trost haben, der von linearen Verläufen ausgeht. Gleichzeitig ist sie schwer zu beantworten, weil das Leben eines Menschen eben nicht entlang derartiger Linien verläuft. Ein weiteres Problem mit dieser Frage besteht darin, dass sie im Verlauf einer Unterhaltung nicht vollständig beantwortet werden kann, und schon gar nicht in einem einzigen Satz, wenn ein einziger Satz auch genügt, um sie zu stellen. Es ist einfach zu komplex, als dass es sich zusammenfassen ließe, ohne etwas Wesentliches der Antwort einzubüßen. In Wahrheit gibt es nicht den einen, allumfassenden Grund, sondern ein Geflecht aus Gründen. Jeder Teil davon, jeder flimmernde Faden ist in gleicher Weise bedeutend in der Gesamtbilanz der Faktoren, die in die Prostitution führen.

Das Ziel dieses Buchs besteht darin, etwas Schlechtes zu nehmen und zu versuchen, es in etwas Gutes zu verwandeln. »Etwas Gutes« bedeutet hier, diejenigen Personen an Erkenntnissen und Einsichten teilhaben zu lassen, die ein Bewusstsein für das Thema erlangen wollen, die Prostitution aber nie selbst erlebt haben oder erleben werden. Das hat etwas Gutes an sich, ich spüre das. Es liegt etwas Gutes darin, Prostitution als das zu entlarven, was es wirklich ist. Weil Erleuchtung in dem Moment entsteht, wenn Licht in dunkle Orte gebracht wird. Weil es Aufrichtigkeit erfordert, die wahren Konturen einer Sache offenzulegen.

Männer, die Prostituierte benutzen, stülpen der Prostitution ein Bild über, das befriedigend, gefällig und ansprechend für sie ist. Dieses Bild variiert von Mann zu Mann. Konstant sind dabei nur das damit verbundene Element der Fantasievorstellungen und die Tatsache, dass eine Verschiebung männlicher Wahrnehmungen nichts daran ändert, wie die betroffenen Frauen die Prostitution erleben. Die Realitäten, denen sie ausgesetzt sind, bleiben die gleichen, sie sind greifbar und unverrückbar. Mit diesem Buch verfolge ich die Absicht, eben diese Realitäten dem Leser vor Augen zu führen.

Ich gehe nicht davon aus, dass das leicht sein wird, denn die Beantwortung der »ersten Frage« ist aus noch einem anderen Grund besonders schwierig. Sie setzt ein unvermeidliches Hineingreifen in das eigene Selbst voraus, eine schmerzhafte emotionale Grabung. Eine ehrliche Beantwortung der Frage erfordert den Kraftakt des durchdringenden, nach innen gerichteten Nachforschens in Gegenden, in denen man nicht wühlen will, weil man eben weiß, was man dort vorfinden wird. Doch die kostbarsten Artefakte sind jene, die aus der Erde gefördert werden müssen, und so sind die wertvollsten Worte oft jene, die man dem eigenen Selbst mühselig abringen muss. Ich werde demnach sehr gründlich sein müssen. Ich werde graben müssen.

Um nun aber zum Anfang zurückzukehren und mit der Beantwortung der ersten Frage zu beginnen: Ich wuchs in zerrütteten Familienverhältnissen auf, wie sie im Lehrbuch stehen könnten. Beide meiner Eltern waren Patienten in der psychiatrischen Klinik unseres Viertels, im St. Brendan’s Hospital. Von unserer Wohnung aus, die in einem Sozialwohngebiet auf der Nordseite Dublins lag, war die Klinik zu Fuß zu erreichen.

Die Akten der Gesundheitsbehörde HSE besagen, dass bei meiner Mutter »Verdacht auf Schizophrenie« bestand und sie eine ambulante Patientin der Klinik war. Mein Vater war mal ambulanter, mal stationärer Patient, je nachdem, wie sehr ihm seine manische Depression gerade zusetzte.

Außerdem hatten aktive Süchte beide fest im Griff, im Fall meiner Mutter die Sucht nach verschreibungspflichtigen Medikamenten, im Fall meines Vaters nach der Verheißung des Glücksspiels. Ich schreibe meinen Eltern keine Schuld zu und ich weiß, dass sie keine schlechten Menschen waren. Sie waren kranke Menschen. Dies sind einfach nur Tatsachen, die ich nicht anführe, um damit zu Tränen zu rühren. Ich zeichne sie hier lediglich auf, weil sie wesentlich sind, um zu verstehen, wie ich mich in einen schädigenden, bedrückenden, zerstörerischen Lebensstil verwickeln lassen konnte, den ich mir noch an dem Tag, bevor ich mich darauf einließ, schwerlich hätte vorstellen können.

Dieses Buch schreibe ich als eine Person, die sich noch immer in einer Übergangsphase befindet und darauf hinarbeitet, sich ihres Platzes in der Gesellschaft zu vergewissern. Es ist ein steiniger Weg – schließlich ist es nicht so, als würde ich irgendwohin zurückgehen. Ich beschreite einen Weg zu einem Ziel, an dem ich noch nie war. Das Leben, das wir in unserer Kindheit führten, grenzte uns vollkommen von der Mehrheitsgesellschaft ab, und während wir aufwuchsen, waren wir uns dessen schmerzlich bewusst und nahmen es gleichzeitig wie erstarrt hin. Wir verstanden es. Es war eben unser Platz in der Welt. Das Leben, das ich als Kind erfuhr, bereitete mich auf die Prostitution vor, da es mich darauf vorbereitete, weiterhin außerhalb der Sphäre dessen zu leben, was normal war. Es bereitete mich zudem für jede andere gesellschaftlich nicht akzeptable oder ungewöhnliche Art des Zeitvertreibs oder der Beschäftigung vor. Es ergab sich einfach, dass sich mehrere Faktoren der Zeit und der Umstände so fügten, dass sich die Prostitution sowohl als einzige als auch als realistische Option auftat.

Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, durch etwas völlig Unverrückbares von der Welt und all ihren Bewohnern getrennt zu sein, etwas, das ich weder sehen noch riechen oder berühren konnte. Als ich dann ein junger, in die Prostitution verwickelter Teenager war, wirkte das Gefühl des Abgeschnittenseins von der Welt so stark auf mich ein, dass ich zwar zum Friseur gehen konnte, um mir die Haare schneiden zu lassen, mir jedoch beim besten Willen nicht vorstellen konnte, die Frau zu sein, die die Schere in der Hand hielt. Ich konnte zwar in eine Bar gehen und ein Getränk bestellen, aber hinter der Bar zu stehen und es zu servieren, das entzog sich vollkommen meiner Vorstellungskraft. Von diesen gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten ging eine gewisse Angemessenheit, Normalität und Anständigkeit aus. Das Traurige daran ist wohl, dass ich tief im Inneren das Gefühl hatte, keine Angemessenheit zu besitzen, keine Normalität zu besitzen und nicht anständig zu sein.

Auf eine ganz bestimmte Weise gab es einen eigenartig vertrauten Rhythmus darin, als Prostituierte zu arbeiten. Ich bewegte mich nicht über den Rand meines eigenen Glaubenssystems hinaus. Ich stellte das negative Selbstbild nicht infrage, mit dem ich aufgewachsen war und das ich mein ganzes Leben mit mir herumgetragen hatte. Natürlich brachte mir dies auf lange Sicht viel Leid ein, aber zu der Zeit war es in gewisser Weise einfacher zu akzeptieren, dass es mir nicht möglich sein würde, mich der Gesellschaft anzupassen und in sie aufgenommen zu werden, als die furchterregende Aufgabe auf mich zu nehmen, mein eigenes Potential zu akzeptieren. Letzteres stellte sich mir nicht einmal als eine Option dar, da ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie dies überhaupt zu bewerkstelligen sei oder wie auch nur der erste Schritt in diese Richtung auszusehen hätte. Das Leben ist eine Erfahrung, bei der es um Teilnahme geht – wenigstens sollte es so sein. Es ist jedoch möglich, dass eine Person durch Marginalisierung in frühen Lebensjahren einen solchen Schaden davonträgt, dass sie glaubt, ihre einzige Rolle im Leben sei die einer Beobachterin.

Als die Prostitution auf der Bühne meines Lebens ihren Platz einnahm, war die Wahrscheinlichkeit, dass wir koexistierten, bereits in einer der tiefsten Schichten fest verankert. Der Weg in die Prostitution ist komplex, doch ihr Aufkommen in meinem Leben war recht einfach. Ich lernte sehr schnell, die Bühne mit ihr zu teilen. Es war, als hätten wir bereits zusammen geprobt, noch bevor wir uns trafen.

Verglichen mit dem Begriff »Beruf« ist der Begriff »Lebensstil« weitaus angebrachter, wenn man über Prostitution spricht. Beim Wort »Lebensstil« entstehen bestimmte Bilder vor unserem inneren Auge. Vielleicht denken wir an Cocktails, Cafés und Croissants. Oder wir denken an Yachten und Häfen, an den entspannten und stimulierenden Urlaub der Wohlhabenden. Vielleicht denken wir auch an Kinderbetreuung, Hypotheken und den täglichen Arbeitsweg. Das sind nicht die Bilder, die ich hier ins Gedächtnis rufen möchte. Wenn es um »Lebensstil« geht, dann denken die wenigsten von uns – und nicht einmal Prostituierte selbst – an Frauen, die in Seitenstraßen oder Hotels auf den Knien rutschen. Es passt nicht zum Bild, das sich das öffentliche Bewusstsein von einem Lebensstil macht. Das sollte es aber, denn »Lebensstil« bedeutet einfach nur »die Art und Weise, wie jemand lebt«. Und hier handelt es sich auch nicht um eine Beschäftigung, die Sie vor der Wohnungstür abstellen können. Jemand, der in einem anderen Bereich arbeitet, kann zum Beispiel seine »Dienst­uniform« ablegen. Nun sorgen aber vielschichtig miteinander verknüpfte Faktoren dafür, dass eine Prostituierte dies nicht tun kann.

Erstens ist es nicht möglich, sich offen darüber zu unterhalten, was man tut. Man ist an eine Heimlichtuerei gebunden, die den ausgeprägten Effekt hat, einen von den Mitgliedern der »normalen« Gesellschaft zu distanzieren. Die Gesellschaft anderer Prostituierter ist die einzige Gesellschaft, in der man ehrlich sein kann. Man kann sich darüber unterhalten, wie der Tag war, welche Pläne man für die nächste Woche hat, was für grässliche Erfahrungen man am Abend zuvor gemacht hat usw. Es ist die einzige Gesellschaft, in der man ganz sicher nicht für das verspottet wird, was man macht. Es ist die einzige Gesellschaft, in der einem vollkommenes Verständnis dafür entgegengebracht wird, wie man an diesen Punkt hier gelangt ist, warum man an ihm stehen bleibt und warum man eventuell nie von ihm wegkommen wird.

Man wird in die Gesellschaft einer Gruppe von Menschen verwiesen und zur gleichen Zeit aus der Gesellschaft anderer hinausgedrängt. Ein einzelner Grund allein kann dies nicht erklären, es gibt viele Gründe. Als Prostituierte ist man im Allgemeinen Nachtarbeiterin; man schläft lange in den Tag hinein, wenn »normale« Bürger für gewöhnlich ihrer Arbeit nachgehen. Kommen diese nach Hause und lassen den Tag ausklingen, kann es sein, dass man selbst noch nicht lange aufgestanden ist und gerade erst für den eigenen »Tag« in die Gänge kommt. Allein dieser schlichte Umstand trennt einen von der Gesellschaft, er ist aber keineswegs derjenige, der am durchdringendsten ist.

Drogen- und Alkoholmissbrauch sind weitverbreitet. Wir alle kennen das Stereotyp der Heroinabhängigen, die auf den Strich geht, um ihre Sucht zu befriedigen. Das kommt in der Prostitution vor, ich habe es gesehen. Sehr viel regelmäßiger habe ich jedoch gesehen, dass Frauen in der Prostitution Süchte entwickeln, die sie vorher nie hatten, meistens nach Alkohol, Valium und anderen verschreibungspflichtigen Beruhigungsmitteln sowie nach Kokain. Diese Substanzen werden genommen, um die schlichte Grässlichkeit dessen zu betäuben, Geschlechtsverkehr mit zahllosen sexuell abstoßenden Fremden zu haben, von denen alle auf ihre Weise Missbrauch betreiben, ob sie es wissen oder nicht, wobei es manche mit voller Absicht tun. Diese Substanzen bieten in wirksamer Weise Erlösung und Flucht. Das Ausmaß an Drogen- und Alkoholmissbrauch in der Pro­stitution hat für mich nichts Überraschendes an sich; tatsächlich würde ich es angesichts der Umstände ohnehin erwarten. Die Realitätsflucht mittels chemischer Substanzen wird von den Frauen selbst stark, wenn auch unfreiwillig, unterstützt. Wie in allen Gesellschaftsschichten beeinflussen sich die Menschen gegenseitig, und wenn in ein und derselben Gemeinschaft von Menschen zum einen die Notwendigkeit besteht, der Realität zu entfliehen, und zum anderen diese Flucht ständig vorgelebt wird, ist das Ergebnis offensichtlich.

Eine Drogen- oder Alkoholsucht trennt eine arbeitende Prostituierte auf emotionaler und psychologischer Ebene noch mehr von der »durchschnittlichen« Gesellschaft, und in vielen Fällen treibt die Abhängigkeit die Anzahl der Stunden nach oben, die eine Frau sich selbst der Prostitution hingeben muss, während sich die Abhängigkeit verschärft und einen Hunger entwickelt, den nur Geld stillen kann. Die Auswirkung ist unverkennbar: Die Prostitution hat eine faktische Barriere in Form einer Sucht erzeugt. Diese wiederum hat den kumulierenden Effekt, sie weiter in die Prostitution hineinzuzwingen und zugleich weiter von der Mehrheitsgesellschaft zu entfernen.

Die Frau, die diesem Lebensstil verfangen ist, hat ein derartig starkes Gefühl des »Andersseins«, dass sie anfängt, sich selbst als so grundverschieden von anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu betrachten, dass es ihr in keiner Weise möglich oder machbar erscheint, an dieser Gesellschaft teilzuhaben. Damit meine ich, dass es ihr vom Gefühl her nicht als möglich erscheint, eine normale Arbeitsstelle zu finden, sich ausbilden zu lassen oder manchmal auch nur Beziehungen zu Personen außerhalb der Sphäre der eigenen Lebenswelt zu knüpfen. Wenn sie ihren Lebensunterhalt illegal verdient, ist es nicht möglich, eine Hypothek oder ein Geschäftsdarlehen zu erhalten usw., und dies entfernt sie noch weiter von dem, was als »normal« funktionierender Teil der Öffentlichkeit angesehen wird.

Ich glaube, das trifft vor allem auf jemanden wie mich selbst zu, die ihr erstes geregeltes Einkommen aus der Prostitution bezog und daher keine andere reale Form der Beschäftigung kennengelernt hatte.

Für mich stand damals mit absoluter Sicherheit außer Frage, jemals ein funktionierender Teil der Gesellschaft sein zu können, der Gesellschaft, die ich Tag für Tag um mich herum sah, was starke Ressentiments in mir verursachte und entsprechend kanalisierte. Wenn ich am frühen Abend zum Rotlichtgebiet lief und ein Grüppchen junger Frauen sah, die, in die Uniform einer der nahen Banken gekleidet, zusammen die Straße entlangspazierten (was im Bereich der Baggot Street oft vorkam), packte mich eine heftige Welle der Eifersucht und der Ressentiments. Sie brach auf eine Weise über mich herein, die ich schwerlich rechtfertigen oder beschreiben kann. Mit dem Abstand der Jahre und nach ausgiebiger Prüfung meiner eigenen Gefühle weiß ich, dass ich damals ganz deutlich gespürt hatte, dass sie die akzeptierten Mitglieder einer Welt waren, von der man mich ausgeschlossen hatte, und dafür hasste ich sie.

Diese Art von Ressentiments, das kann ich bezeugen, drängt eine Prostituierte noch weiter ins Abseits, denn sie ist nicht nur kein Teil der Gesellschaft, sie sieht sich selbst auch als mit dieser verfeindet an. Die Gesellschaft wiederum erwidert die Feindseligkeiten. Die Einstellungen und Meinungen gegenüber Prostituierten sind fast nie positiv. Eine Prostituierte wird einzig und allein innerhalb der Sphäre der Prostitution akzeptiert, weshalb sie paradoxerweise beginnt, sich da sicher zu fühlen, wo es am unsichersten für sie ist.

Die Jahre verstreichen, die Freundschaften der Prostituierten zu anderen Frauen ihres Handelsgewerbes bestehen seit einiger Zeit und haben sich somit verfestigt. Oft kann sie in der Freundschaft mit anderen Leuten keinen positiven Aspekt erkennen. Ich persönlich hatte einen größeren Radius, worüber ich froh bin, aber das Gefühl, von denen außerhalb der Prostitution durch eine Sperre getrennt zu sein, hatte auch ich in gewissem, ja beträchtlichem Grade, und ich habe gesehen, dass es bei anderen nahezu vollständig vorherrschte.

Nach ein paar Jahren fällt es einem dann auf einmal wie Schuppen von den Augen, dass man diese Jahre in keiner offiziell akzeptablen Weise erklären kann. Unternimmt eine arbeitende Prostituierte zum Beispiel den Versuch, ihren Lebenslauf zusammenzustellen, so starrt sie schon bald auf weiße Seiten, die unmöglich zu füllen sind. Ihr wird klar, dass sie einen Weg eingeschlagen hat, den man nicht mehr zurückgehen kann. Irgendwo auf diesem Weg, als sie nicht einmal hinsah, ist hinter ihr ein Tor ins Schloss gefallen. Es scheint, dass es von nun an kein Zurück mehr gibt. Abgesehen davon, dass sie in den Augen des Gesetzes eine Verbrecherin ist, erkennt sie nun, dass sie ihre Lage offiziell nirgendwo, auf welcher amtlichen Ebene auch immer, erklären kann. Dies entfernt sie noch weiter von der Gesellschaft und bestätigt und verschlimmert nur noch, was sie schon immer gespürt hat; sie fühlt sich noch ausgegrenzter und einsamer, befindet sich noch mehr im Abseits, ist noch deprimierter, noch mehr von der Allgemeinheit abgeschnitten, die Abwärtsspirale setzt sich immer und immer weiter fort.

Weil all diese Facetten zusammenkommen, um eine Subkultur zu bilden, der sie jetzt voll und ganz angehört, weil sich ihr ganzes Dasein nun in der »Welt« der Prostitution abspielt, ist der Begriff »Lebensstil« wesentlich angebrachter als der des »Gewerbes« – und ganz gewiss angebrachter als der des »Berufs«.

Zu meinem Glück muss mein Gespür für meine persönliche Identität stärker gewesen sein als die Identifizierung mit der Schattenseite der Gesellschaft, und dies sogar in den schlimmsten Zeiten, sei es später, als ich ein »Callgirl« und kokainabhängig war, oder als Jugendliche, als ich auf den Strich ging und pro Woche eine abstoßende Menge von »Kunden« »bediente«. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, Teil der Gesellschaft zu sein, die mich umgab, hatte ich doch ein klares Verständnis davon, wer ich als Individuum war – zum Glück, denn für eine Prostituierte ist es das Leichteste auf der Welt, den Sinn für sich selbst zu verlieren, dafür, wer man eigentlich ist. Abgesehen davon, dass man in einer Welt lebt, die man sich zuvor nicht hätte vorstellen können, abgesehen vom zwingend damit einhergehenden Verlust des Selbstgefühls, findet der Kampf nicht nur von innen, sondern auch von außen her statt, verschwört sich die Gesellschaft doch dazu, einen von seinem neuen Status als unwürdiges Stück Scheiße zu überzeugen.

Nutte, Schlampe, Flittchen, Hure ... Diese Attribute finden nun im wahrsten Sinne des Wortes Anwendung auf einen selbst, und es ist leicht, von dem getrennt zu werden, wer man ist, und zu vergessen, wer man war. Natürlich kann man im Nachhinein nachvollziehen, wie sich jener Übergang ereignet hat. Die Person zurückbringen, die man war, bevor sich diese üble Entwicklung vollzogen hat, das kann man dagegen nie.

Das Traurige ist der gesellschaftliche Makel, der einem anhaftet. Entscheidend ist aber, dass man sich ins Gedächtnis ruft, dass dieser Makel wirklich nur in der Wahrnehmung der Leute existiert hat. Wenn man es schafft, dieser Außenwahrnehmung für sich selbst nur einen geringen Wert beizumessen und sich auf die schwierigere Aufgabe zu konzentrieren, negative Selbstwahrnehmungen zum Verschwinden zu bringen, dann ist es möglich, die Prostitution zu überstehen und wenigstens die Mühe auf sich zu nehmen, sich das zurückzuholen, was von der Person übrig ist, die man einmal war. Leider lassen sich diese Überbleibsel nur schwer ausfindig machen, und noch schwieriger ist es, sie während der Genesung überhaupt zu erkennen.

Ich habe sieben Jahre in der Prostitution verbracht und bin seit vierzehn Jahren ausgestiegen, doch obwohl ich doppelt so lange von ihr weg bin, als ich in sie verwickelt war, ist sie unvermeidlich nach wie vor eine der deutlichsten, der prägendsten Erfahrungen meines Lebens. Sie formt einen in mehrfacher Hinsicht. Für jemanden, der nicht über diese Erfahrung definiert werden möchte, ist es schwer, sich dies einzugestehen. Wenn aber jemand, der so etwas durchgemacht hat, den Konsequenzen offen ins Auge blicken will, dann hat es höchste Priorität, diese Tatsache zu akzeptieren.

Es war in gewissem Sinne eine Art Universität. Ich habe viel gelernt, wahrscheinlich mehr, als mir klar ist. Ich habe Fähigkeiten erworben, von deren Existenz ich bis dahin nichts wusste und derer ich mich bis zum heutigen Tage bediene, wenn auch oft nur mit halbem Bewusstsein. Als einen der ersten Tricks – es lässt sich wohl kaum von fachlichem Geschick reden – lernte man, einen Mann so schnell wie möglich zum Kommen zu bringen, aus dem schlichten Grund, dass Zeit Geld war, und je schneller ein Mann zum Höhepunkt kam, desto schneller konnte man sich dem nächsten und dessen Geld widmen. Diese Erkenntnis ließ sich bei Stammkunden erwerben, deren sexuelle Neigungen man kannte. Heute muss ich das nicht mehr tun. Sex mit jemandem, den man liebt, und Sex innerhalb der Beziehungsdynamik zwischen Freier und Prostituierter sind so grundsätzlich verschieden, wie man es sich nur vorstellen kann. Ich bezweifle sogar, dass es für jemanden vorstellbar ist, der die Tiefe dieses Unterschieds nicht selbst erlebt hat. Ich weiß, dass ich es mir niemals hätte erträumen können, bevor ich es für mich selbst erfahren habe.

Zu den Fähigkeiten, die ich durch die Prostitution erworben habe, zählt auch ein überaus geschärftes Gespür für die Absichten von Menschen. Das war mir sehr von Nutzen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Prostitution. Darüber hinaus hat es mich verändert und mich daran erinnert, wie ich mich verändert habe.

Die Veränderung ging nicht gefahrlos vonstatten und der Weg dorthin war lang. Er begann nicht mit dem ersten Mal, als ich gegen Geld Sex hatte, sondern mit den gestörten Verhältnissen in meiner Familie. Die nächsten Schritte auf diesem Weg bestanden in Bildungsbenachteiligung und Jugendobdachlosigkeit. Diese Lebensgeschichte trifft man in der Prostitution sehr häufig an. Ich habe keine andere kennengelernt, die häufiger gewesen wäre. Ich werde nun ausführlich von meiner eigenen Erfahrung mit diesem Lebensweg berichten, und Sie können mir glauben, dass die Geschichten unzähliger anderer sich ebenfalls darin wiederfinden. Zuvor werde ich jedoch erklären, warum ich dieses Buch unter meinem wirklichen Namen schreibe.

Lange Zeit schwankte ich, ob ich das Buch anonym oder unter meinem eigenen Namen verfassen sollte. Ich dachte über das Thema Anonymität nach und fragte mich: Wenn Heimlichtuerei und Scham die Fäden sind, aus dem der Stoff dieses Gewands gewebt ist, und wenn sich Heimlichtuerei durch Offenlegung verflüchtigt, löst sich dann auch das Gewand auf? Wird es mich, wenn ich meinen Namen offenbare, vielleicht in irgendeiner Weise von der Scham befreien? Nun, selbst wenn dies möglich ist, so ist es doch so, dass sich Scham auch im Tageslicht nicht auflöst. In düsteren Stunden denke ich, dass sich lediglich das Gewebe des Gewands ändern wird, wenn ich mich zu erkennen gebe; dass es dann einfach nur in neuer Gestalt ersteht, ein Gebilde aus einem einzigen Faden, dem Faden der bloßgelegten Scham. Was davon trifft zu? Vielleicht beides und dann bringt es nichts, darüber nachzugrübeln.

Dennoch konnte ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dieses Buch anonym zu schreiben. Einerseits spürte ich zwar, dass eine Veröffentlichung meines Namens bedeuten würde, das Gefühl der Scham zwischen mir und meinem Sohn und dem Rest unserer Familie aufzuteilen, andererseits konnte ich mit dem Gedanken der Anonymität keinen Frieden finden. Das bereitete mir für eine ganze Weile Sorgen. Ich wollte einfach nur die Wahrheit sagen, doch wie könnte ich meine Darstellungen als wahrheitsgetreu betrachten, wenn ihnen auf der Titelseite ein Name aufgestempelt wäre, der nicht meiner ist? Würde ich mich nicht schuldig machen, indem ich den Lesern gegenüber unaufrichtig wäre, noch ehe sie auch nur die erste Seite aufgeschlagen hätten?

Diesen Bericht unter Pseudonym zu veröffentlichen erschien mir lange so, als hätte ich die Herausforderung angenommen, die Wahrheit zu sagen, um schon an der ersten Hürde zu scheitern. Ich habe mich schwer damit getan, entsetzlich schwer. Auf der Suche nach einem Pseudonym kombinierte ich immer wieder meinen Vornamen mit einer Vielzahl von Nachnamen. Der Hintergedanke dabei war, wenn ich meinen Vornamen beibehielte, würde mich die Unfähigkeit, das Buch unter vollem Namen zu veröffentlichen, mit einem weniger schlechten Gewissen quälen. Die Rechnung ging nicht auf – wie auch? Mein mit irgendeinem anderen Namen kombinierter Vorname ist immer noch nicht mein eigener Name. Für mich stand außer Frage, dass ein Pseudonym her musste, und doch wollte die bohrende Überzeugung nicht verstummen, dass ich nicht in vollem Umfang Zeugnis ablegen, nicht umfassenden Anspruch auf meinen eigenen Bericht erheben könnte, wenn ich diesen unter irgendeinem anderen Namen veröffentlichen würde. Ich konnte mich nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass mich einer dieser Namen repräsentierte. Was also sollte ich tun?

Schließlich fand sich eine Antwort: Ich würde den Nachnamen meines Partners verwenden. In dem Moment, als er es vorschlug, wusste ich, dass es der einzige Name der Welt war, der mir auf der Titelseite dieses Buchs nicht missfallen würde. So sollte es sein, und ich war zufrieden damit – bis er und ich uns trennten, während ich an dem Buch schrieb. Damit war ich wieder am Ausgangspunkt angelangt und grübelte weiter, wie ich mich nennen sollte.

Ich beschloss, dem mentalen Ringen ein Ende zu setzen und einen Namen zu wählen, der Eigenschaften zum Ausdruck brachte, die mir gefielen. Queen Maeve war eine irische Kriegerkönigin, und ich weiß, dass die Tatsachen, die ich in diesem Buch darlege, einer ganzen Menge Unsinn widersprechen werden, der über die Prostitution in Umlauf gebracht wird. Daher fand ich, ich könnte ein wenig von ihrer Energie gebrauchen. Der Legende nach soll Queen Maeve einmal während der Schlacht eine Gefechtspause durchgesetzt haben, weil sie ihre Periode hatte. Sie war nicht bereit, einen unfairen Nachteil gegenüber den Männern hinzunehmen, nicht einmal von der Natur. Ihr Stil gefiel mir. Für mich hatte der Nachname Conway schon immer einen gewissen melodischen Klang, und ich fand, dass er sehr gut zu Maeve passte. Ich schlug nach, was »Conway« bedeutete, und entdeckte, dass es zwei mögliche Bedeutungen hatte, von denen die eine »furchteinflößender Krieger« war. Die Namen schienen somit gut zusammenzupassen.

Nun hatte ich mich für ein Pseudonym entschieden, aber auch das konnte gewisse Ängste leider nicht verscheuchen, die damit einhergingen, diese Tatsachen öffentlich zu machen. Die Wahrheit über die Prostitution zu untersuchen, verursachte die eine Art von Schmerz, sie der Öffentlichkeit vorzulegen die andere. Die erste Art von Schmerz hat mich beständig durch jede Zeile begleitet, die ich geschrieben habe, und wird erst dann verschwinden, nachdem ich den letzten Punkt getippt haben werde. Der Gedanke, das Buch wirklich zu veröffentlichen, der Öffentlichkeit diese Wahrheiten vorzulegen, bringt eine andere Art Schmerz mit sich, der sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt. Da ist das andauernde, unterschwellige, negative Gefühl, die Ängste und die Paranoia bei dem Gedanken, für alle öffentlich sichtbar zu sein. Da ist das Gefühl der Abwehrhaltung und die Erwartung, be- und verurteilt zu werden. Und natürlich ist da noch das Gefühl der Scham. Heute fühlt es sich an, als ob sie schwächer wird, aber nicht jeder Tag ist wie dieser, und Scham, so habe ich gelernt, ist hartnäckiger als Trauer. Es ist nicht so, dass die Scham mit der Zeit langsam abebbt; manchmal verbirgt sie für eine Weile ihr Gesicht und scheint sich davonzuschleichen, nur um dann wieder zielstrebig aus dem Schatten heraus und in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu schreiten, so real und lebendig wie an jenem Tag, an dem man sie zum ersten Mal sah. Auch die Trauer kann einem dieses gemeine Schnippchen schlagen, und sie tut es auch, doch sie besitzt weder die Beharrlichkeit noch die Langlebigkeit der Scham.

In meiner Vorstellung trägt die Scham eine Maske, so wie jene, die man an Halloween sieht. Ihre Erscheinung ist immer abstoßend. Heute kann ich sie nicht sehr deutlich sehen, doch ich weiß, das bedeutet nicht, dass sie verschwunden ist. Ich habe mich entschieden, hier keine Maske zu tragen, nicht einmal eine, die mir auf die ein oder andere Weise gefällt, denn meine Maske abzusetzen ist meine Art, der Scham die Stirn zu bieten und sie herauszufordern, es mir gleichzutun. Deswegen habe ich entschieden, der Welt mitzuteilen, dass mein Name Rachel Moran ist.

Kapitel 2

Eine Kindheit im sozialen Abseits

Wir kennen die Welt nur durch unsere Beziehung zu ihr.

DR. M. SCOTT PECK, DER WUNDERBARE WEG


Es haben sich bedeutende Weltgeschehnisse in einer Zeit abgespielt, in der ich alt genug gewesen wäre, um sie zu verstehen und mich an sie zu erinnern. Dass dies nicht zutrifft, lag an meiner faktischen und tatsächlichen Abschottung von der Welt. Zwei gute Beispiele dafür sind der Fall der Berliner Mauer und das Ende der Apartheid in Südafrika. Auch nach all den Jahren noch erwische ich mich dabei, wie ich mich herausrede. Weshalb erinnere ich mich nicht an den Fall der Berliner Mauer? Weiß ich denn nicht, dass die Berichte darüber überall im Fernsehen liefen und dass alle Welt nur davon sprach? Wie kann es sein, dass ich mich nicht an das Ende der Apartheid erinnere? Weiß ich denn nicht, wie wir Iren unseren Beitrag dazu geleistet haben, dass international Druck ausgeübt wurde? Erinnere ich mich denn nicht an den Arbeiterstreik der Kaufhauskette Dunnes Stores gegen die Apartheid? Genau vor solchen Fragen graut es jemandem, der sich in meiner Position befindet, denn die wahren Antworten dröhnen viel lauter in unseren Köpfen als die Lügen, derer wir uns bedienen, um sie zu verschleiern.

In Wahrheit erinnere ich mich nicht an das Ende der Apartheid, weil ich 1993 damit beschäftigt war, als Prostituierte zu arbeiten und ein Drogenproblem zu entwickeln. Ich führte einen Lebensstil vollkommen abseits gemeinschaftlicher Normen und fühlte mich weder willkommen noch war ich geneigt, an der Gesellschaft teilzunehmen, und dies auf so ziemlich jeder Ebene. Außenpolitik war eines der letzten Themen, über die wir Prostituierten untereinander sprachen, und es wäre mir bzw. den meisten von uns zu der Zeit nie in den Sinn gekommen, uns die Zeitung zu kaufen oder die Nachrichten anzusehen. Ist das so verwunderlich? Warum sollte sich jemand mit einer Welt befassen wollen, die ihr kollektiv aus dem Weg ging?

Wir hatten zur damaligen Zeit zwar einen funktionstüchtigen Fernseher im Haus, aber ich erinnere mich nicht an den Fall der Berliner Mauer, weil am 9. November 1989, als die Mauer fiel, mein Vater seit kaum einer Woche tot war und sich die Schizophrenie meiner Mutter in einem beunruhigenden Aufschwung befand. Mein Vater beging Selbstmord, indem er sich aus dem vierten Stock eines Wohnblocks stürzte, worauf meine Mutter auf unheimliche und gruselige Art reagierte, denn sie war hocherfreut. Ich war zu verstört und benommen, um für das Zeit zu haben, was anderswo auf der Welt wohl so passierte. Ich konnte gerade noch einen ausreichend klaren Kopf bewahren, um mich auf das zu konzentrieren, was in unseren eigenen vier Wänden ablief. Meine Mutter fand nun Gefallen daran, zu tanzen, richtig zu tanzen, in einem ungeübten, rasenden Stepptanz. So tanzte sie durchs Haus, sang und lachte über die wunderbare neue Freiheit, die sich ihr mit der noch jungen Witwenschaft nun bot. Bitte verzeihen Sie den bitteren Ton, ich weiß nicht, wie ich ihn abstellen soll, aber das ist die »Befreiung«, die mir von der Woche im Gedächtnis bleibt, in der die Berliner Mauer fiel.

Wovon ich hier spreche, sind familiäre Funktionsstörungen und die Art und Weise, wie sie einen von der Welt trennen und zu sozialer Ausgrenzung führen können. Trennung und Ausgrenzung sind hier nur einen Sprung voneinander entfernt, sodass man beide leicht miteinander verwechselt. Von einem Sprung kann nicht einmal die Rede sein, denn sie überlappen und vermengen sich förmlich. Familiäre Dysfunktionen erzeugen soziale Ausgrenzung, und zwar so umfassend und akribisch, wie ich es mir nur ausmalen kann: Sie knöpfen sich restlos alle Kinder vor, die in den betroffenen Haushalt hineingeboren werden, und lehren sie in jedem einzelnen Augenblick ihres Lebens zu kapieren und hinzunehmen, dass sie und die Welt, in der sie leben, zwei klar voneinander getrennte, verschiedene Dinge sind.

Ich habe viel Unsinn darüber gehört, dass Kinder »es nicht besser wissen«. Kinder wissen es besser, sie wissen es in hundertfacher Hinsicht und aus Tausenden Gründen besser. Wenn man als Kleinkind in einem kaputten Zuhause seine ersten bewussten Gedanken fasst, dann spürt man eindeutig, dass dieses Zuhause anders ist als die anderen. Im Fall meiner Familie begegneten wir jeden Tag praktischen Beispielen für unsere eigene Armut und wussten von klein auf, dass sie uns von denen um uns herum absonderte. Auch bekräftigte die Welt außerhalb unserer Gemeinschaft diese Tatsache, indem sie gelegentlich in unser Leben eindrang. Das tat sie zum Beispiel jedes Jahr in Form des Haushaltsgelds. Meine Mutter beschäftigten zwei Dinge: Würde der Preis für Tabak steigen? Und: Würde die Sozialhilfe steigen? Der Benzinpreis interessierte sie nicht, denn nicht einmal im Traum konnte sie ein Auto besitzen, nicht einmal, wenn sie hätte fahren können, was sie nicht konnte. Sie interessierte nichts, was mit Zinssätzen oder Hypotheken zu tun hatte, denn für sie kam nicht in Frage, ein eigenes Heim zu besitzen. Sie brachte kein Interesse für Steuersätze auf. Die waren für jene relevant, die Arbeit hatten, doch auf ihren Mann traf das so gut wie nie zu, und seit sie ihre Kinder bekommen hatte, hatte sie selbst keinen einzigen Job gehabt. Sie war auch nicht an politischen Entscheidungen interessiert, die sich auf Gewerbe, Handel oder die Geschäftswelt auswirkten, denn sie war eine ungebildete Hausfrau aus der benachteiligten Schicht und bewohnte eine ganz andere Sphäre der Wirklichkeit. Das meiste von dem, worüber gemeinhin diskutiert wurde, war nicht relevant für uns und war es auch nie gewesen. Das Haushaltsgeld war nur eine von vielen Arten, mit der uns die Außenwelt daran erinnerte, dass wir anders waren.

Somit war uns unsere Stellung in der Gesellschaft sehr wohl klar, selbst als Kleinkinder. Ebenso klar war uns unsere Lage als Nachwuchs einer Familie mit geistig erkrankten Oberhäuptern. Es wäre unmöglich, psychische Erkrankungen nicht wahrzunehmen, wenn diese das Ausmaß annehmen, mit dem sie meine Eltern heimsuchten, selbst in frühestem Alter und ganz besonders im Fall meiner Mutter.

Wegen seiner manischen Depression versank mein Vater oft und über ausgedehnte Phasen hinweg in einen trübsinnigen Zustand, in dem er lange Zeit einfach nur dasaß und ins Nichts starrte, und ich wusste, dass das nicht normal war. Ich hatte keinen einzigen Erwachsenen, außer meiner Mutter, je so gesehen. Ansonsten war ihre Krankheit ganz und gar anders, und ich war mir der Unterschiede zwischen dem Verhalten der beiden überaus bewusst. Es wäre gänzlich unmöglich, ihre Krankheit nicht zu bemerken, sogar für das jüngste Kleinkind, weil sie mit völlig absurden Ausbrüchen aus der Realität einherging. Ihre Wahnvorstellungen beinhalteten angebliche Vorkommnisse, die sich unmöglich hätten ereignen können, Dinge, die die Naturgesetze brachen, wie zum Beispiel die Schwerkraft. Für mich war sie ganz eindeutig ein Mensch, der Dinge sah, die nicht geschahen. Ebenso klar war mir, dass andere Erwachsene nicht über solche Dinge sprachen, sie waren also offensichtlich Menschen, die keine Dinge erlebten, wenn diese nicht tatsächlich geschahen. Das Missverhältnis zwischen dem Verhalten meiner Mutter und dem der Lehrer in der Schule (diese waren die einzigen anderen festen Beispiele des Erwachsenseins, die wir in unserer Kindheit hatten) war derart eklatant, dass es den unanfechtbaren Beweis dafür lieferte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Doch selbst bevor ich das Beispiel anderer Erwachsener vor mir hatte, wusste ich, dass mit unserer Mutter etwas nicht stimmte.

In meinen frühen Jahren beschleunigte sich ihr Sinkflug in die Krankheit rapide, und ich erinnere mich deutlich, wie ich sie eines Tages fragte, wann es ihr besser gehen würde. Sie sah mich mit großen Augen und einem unschuldigen, leicht verdutzten Blick an, als würde sie sich fragen, wie ich auf so eine Idee käme. Sie sagte mir, sie sei nicht krank. An diesem Tag begriff ich, dass meine Mutter krank, sich dessen aber nicht bewusst war. Ich kann nicht sicher sagen, wie alt ich an jenem Tag war, aber das Gespräch fand im Wohnzimmer der Wohnung meines Großvaters in der Innenstadt statt, und aus dieser zogen wir aus, als ich vier Jahre alt war. Die schon seit zwölf Jahren andauernde Abhängigkeit meiner Mutter von dem Beruhigungsmittel Mogadon zusammen mit ihrer unbehandelten Schizo­phrenie brachte Symptome und Verhaltensweisen zutage, die man unmöglich für etwas anderes als eine schwere Krankheitsform halten konnte. Ich wusste, dass es nicht normal war, wenn sie jeden einzelnen Tag ihres Lebens bis 18 Uhr im Bett lag. Sie schob es auf Schlafstörungen, doch in Wirklichkeit war es nur eins der vielen Symptome für eine psychische Erkrankung in Kombination mit einer Sucht.

Es gibt eine Million unscheinbarer Möglichkeiten, sich als Kind sozial ausgegrenzt zu fühlen. Dies sind einige meiner Erinnerungen daran: in der Schule nie einen Stift zu haben, sich immer einen borgen zu müssen oder, wenn ich einen hatte, dann einen ungefähr dreieinhalb Zentimeter langen, völlig zerkauten, der Spott und Hohn auf sich zog. Selten ein Buch zu haben, immer mit jemand anderem dessen Buch teilen zu müssen oder »mit reinzuschauen«, wie die Lehrerin sagte; die miteinander wettstreitenden Gefühle der Demütigung und der Überzeugung, zu stören und eine Plage zu sein. Nie Unterhosen zu haben und inständig zu hoffen, dass besonders auf dem Schulhof keiner Anlass dazu hatte, es herauszufinden. Nie Socken zu besitzen und die meines Vaters zu tragen, die doppelt umgestülpt wurden, um ihre Übergröße wettzumachen, und im Sportunterricht vor Scham im Boden zu versinken, wenn ich meine Schuhe ausziehen musste. Der Lehrerin eine Antwort geben zu müssen, wenn sie mich vor der ganzen Klasse fragte, wieso ich mitten im Januar nicht den Pullover meiner Schuluniform trug, während ich in Wahrheit keinen hatte. Und, wenn ich zu spät kam und wusste, dass alle Augen auf mich gerichtet sein würden, vor der Klassenzimmertür von zehn rückwärts zu zählen, weil es mir half, mich vor der Schande zu wappnen, angestarrt zu werden. Alle diese Dinge gaben mir zu verstehen, dass ich von meinen Klassenkameraden abgesondert, dass ich eine Außenseiterin war.

Natürlich konnte ich dem, was mir damals passierte, nicht die richtigen Worte verleihen. Ich wusste nur, dass ich in meinem Viertel und in meiner Schule als anders betrachtet wurde – aus Gründen, die auf der Hand lagen. Ich sah, dass die Situation falsch war, und ich hatte recht, so zu denken. Mein Fehler war nur, dass ich glaubte, dass auch an mir etwas falsch war.

In meinem Erwachsenenleben sollte eine Zeit kommen, in der ich Kriminologie und Soziologie studierte, doch diese Dinge hatte ich lange erlebt, bevor ich je etwas über sie las. Diese Themen später in einem Umfeld zu studieren, das so losgelöst von ihnen war, war eine merkwürdige und surreale Erfahrung.

Ich weiß, dass mir Existenznot und gesellschaftliche Benachteiligung den Weg in die Prostitution geebnet haben. Im Allgemeinen wirken sich diese Mängel etwas anders auf Männer und Frauen aus. Zwar verleiten sie beide Geschlechter stark zu einem Leben in der Kriminalität, doch die genaue Verbrechensart unterscheidet sich entlang der Grenzlinien zwischen ihnen. Nach meinen Erfahrungen ist es wahrscheinlicher, dass Männer Drogendealer und Frauen Drogenkuriere werden. In Sachen Diebstahl begehen Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit bewaffnete Raubüberfälle, während die Mehrheit der Ladendiebe, die ich kennengelernt habe, Frauen waren. Was Geschlechterunterschiede in Zusammenhang mit Prostitution anbelangt, versuchen Männer eher, Letztere unter ihre Kontrolle zu bringen und von ihr zu profitieren, indem sie die Rolle von Zuhältern übernehmen. Das ist weitaus wahrscheinlicher, als dass sie ihren eigenen Körper verkaufen.

Ich habe bei anderen Menschen so bittere Not und solche Entbehrungen mitangesehen, dass dies meiner Meinung nach erklären könnte, dass sie zur Kriminalität verleitet wurden – und ich habe das in meinem Leben viele Male gesehen. Um ein Beispiel zu nennen, muss ich ein Ereignis vorwegnehmen. Ich war der Prostitution seit ein paar Jahren entkommen und hatte mich ungefähr ein Jahr zuvor wieder auf den Bildungsweg gemacht. Ich lief die Parnell Street entlang, als ein obdachloser Mann auf mich zukam. Er war dreckig, in Lumpen gekleidet und trug einen langen, schmutzstarrenden und verfilzten Bart. Er sah so aus, als wäre er mindestens vierzig Jahre alt, wahrscheinlich eher fünfundvierzig. Er sprach mich an, und die Worte, die aus seinem Mund kamen, trafen mich wie ein Schlag. Er sagte: »Rachel, erkennst du mich nicht? Ich bin es, John!« Das alles sagte er mit einem breiten, begeisterten Lächeln. Er freute sich so, mich zu sehen. Hinter dem Bart und dem Dreck und der gegerbten Haut erkannte ich seine Augen. Es war dasselbe durchdringende Blau, und nun blitzte dieselbe Lebhaftigkeit in ihnen auf, Funken des gleichen vergnügten und verschmitzten Lichts. Es war wirklich John.

John und ich hatten im Sommer 1990 ein psychiatrisches Begutachtungszentrum für Jugendliche besucht. Wir waren damals beide vierzehn. Ich war dort gelandet, weil ich aus einem Heim entlassen, aus einer Pflegefamilie geworfen und der Schule verwiesen worden war, und das alles innerhalb weniger Wochen. In dem Zentrum gab es noch etwa ein Dutzend anderer Kids, aber John und ich hatten einen besonderen Draht zueinander. Wir lachten andauernd. Auf dem Gelände gab es eine kleine Schule, die aus einem Klassenzimmer bestand, und irgendwann musste ich mich zwingen, im Unterricht nicht mehr zu John rüberzugucken, denn jedes Mal, wenn sich unsere Blicke kreuzten, prusteten wir los und bekamen Ärger mit dem Lehrer. Am Ende war ich es leid, psychiatrisch begutachtet zu werden, und machte mich davon. Ich hatte John seither nicht wiedergesehen, und zwischen damals und dem Tag, an dem ich ihn auf der Parnell Street traf, waren zehn Jahre vergangen. In diesen zehn Jahren war er um dreißig Jahre gealtert. Er erzählte mir, dass er seit seinem achtzehnten Geburtstag obdachlos war. Wenn ein Junge, der sich in einer Pflegeeinrichtung befand, achtzehn wurde, erwartete man von ihm, dass er sich um sich selbst kümmern konnte. Er konnte entweder untergehen oder schwimmen. Viele gingen unter, so wie John.

Wir unterhielten uns einige Minuten lang. Dann streckte er die Arme nach mir aus, um mich zu umarmen. Ich umarmte ihn und war von seinem Geruch angewidert. Die Schuldgefühle trafen mich direkt nach dem Gestank. Ich weinte, als ich fortlief.

Ich bin mir sicher, an dem Tag, an dem ich von John fortlief, ging er wieder nahtlos zu dem über, was er vorher getan hatte, und ich bin mir ebenso sicher, dass er sich durchs Leben stahl und betrog, wie er konnte, so, wie ich es getan hatte, als ich ähnlich verzweifelt war.

Ich habe Leute sagen hören, Existenznot und soziale Ausgrenzung hätten nicht das Geringste mit dem Vorhandensein der Kriminalität zu tun und diese lasse sich ganz einfach mit dem Vorhandensein des Bösen erklären. Ich habe Anfang der 90er-Jahre viele Jugendliche wie John kennengelernt. Ich war Anfang der 90er-Jahre eine Jugendliche wie John. Ich weiß, was passiert war, um uns dahin zu manövrieren, wo wir waren. Ich weiß auch, dass das Böse nichts damit zu tun hatte.