Während der Geburt hat das Kind eine eindeutige Aufgabe, die genetisch programmiert ist und einer Erwartung der Mutter gegenüber ihrem Kind entspricht: Es muss mithelfen, aus dem Mutterleib herauszukommen.
Ich spreche auch hier von einem Signalaustausch zwischen Mutter und Kind. Das Ungeborene hat sich wohlgefühlt in der Gebärmutterhöhle, nur wurde es immer enger darin. Es kommt der Augenblick, wo es unabwendbar wird: Jetzt musst du hinaus! Das erste Signal empfängt es von der Mutter, erteilt durch die ersten Wehen. Durch die Kontraktionen signalisiert sie dem Kind: Jetzt dränge dich hinaus! Das Kind empfängt das Signal und beginnt sogleich – wenn es nicht besonders faul ist –, die ihm zugewiesene Aufgabe zu übernehmen. Das Kind unterstützt seine Mutter in ihrem Bemühen, bewegt sich langsam zum Gebärmutterhals und beantwortet die Signale der Mutter durch die Tat. Damit das Ungeborene nicht gedrängt wird, hat die Natur Zeitabschnitte zwischen die Wehen gelegt. Zu Anfang ist der Rhythmus, in dem sie aufeinander folgen, langsam, dann beschleunigt er sich. Die Zeiten zwischen den Wehen werden immer kürzer (fünf Minuten, zwei Minuten, eine Minute, eine halbe Minute). Der Appell an das Kind wird immer eindringlicher: Du musst die Höhle verlassen, du musst herauskommen!
Unmittelbar nach der Geburt wird das Kind an die Brust gelegt. Eine ausgeprägte Interaktion zwischen Mutter und Kind beginnt. Das Kind saugt – die Mutter gibt.
Vater und Kind beschnuppern einander. Auch zwischen ihnen entwickelt sich eine innige Beziehung.
Viele Mütter können darüber berichten, wie sich Charaktereigenschaften der Neugeborenen in dieser Phase zu enthüllen scheinen: Das Kind hilft aktiv mit, es ist etwas bequem und braucht Hilfe von außen, es hält sich ganz zurück, will sich nicht bewegen, will überhaupt nicht herauskommen – massive Nachhilfe wird nötig.
Solche frühen Äußerungen des Charakters konnten wir, meine Frau und ich, auch bei unseren vier Söhnen beobachten. Ich habe ihre Geburt gefilmt und es ist sehr aufschlussreich, im Vergleich zwischen dieser ersten Beobachtung und der weiteren Entwicklung festzustellen, dass die Grundzüge von Charaktereigenschaften sich tatsächlich wieder bemerkbar machten. Es hat übrigens nichts damit zu tun, wie lange die Wehen dauern, jedenfalls nicht viel, sondern es geht um den Prozess der Geburt selbst.
Der erste unserer Söhne kam schnell, wie von einer Kanone geschossen. Es schien ihm wichtig, schnell ans Licht zu kommen. Er war groß und kräftig. Alle unsere Kinder kamen mit vier Kilogramm Gewicht zur Welt, hatten aber alle auch das Problem, durch den engen Geburtskanal durchzukommen. Unser Ältester ist heute genauso wie bei seiner Geburt; er ist ein Blitz. Er ist schnell, er ist dynamisch, alles muss bei ihm sofort und ohne Verzögerung geschehen. Der zweite Sohn war etwas ruhiger, es ging bei der Geburt etwas langsamer, aber er erwies sich als selbstständig. So hat er bei der Geburt einen Arm selbst herausgebracht, nachdem sein Köpfchen draußen war. Er hat sich selbst geholfen. Er war aktiver bei seiner Geburt. Er ist auch heute so, viel selbstständiger als die Brüder; er braucht wenig Hilfe von anderen, er arrangiert sich selbst mit der Welt.
Der dritte erwies sich wieder als ganz anders; ihm musste auf die Welt geholfen werden. Er hat sich bedienen lassen. Und heute? Er ist ein liebes Kind, ein familienbezogenes Kind, ein braves Kind zudem, aber was im Prozess der Geburt zum Ausdruck kam, macht sich nach wie vor bemerkbar: Er lässt sich gern helfen, lässt sich nicht ungern bedienen, er erwartet, dass wir auf ihn zugehen – und nicht umgekehrt. Ein Zug von Passivität blieb ihm erhalten. Der vierte Sohn war sanft bei der Geburt, fügte sich umstandslos in das Geschehen. Er ist noch zu jung, als dass von seiner Entwicklung etwas Bestimmtes gesagt werden könnte.
Immerhin lässt sich nach unseren Erfahrungen sagen, dass der Prozess der Geburt, für den das Kind von der Natur programmiert ist, und zwar im Sinne seiner aktiven Mithilfe, als aussagekräftig angesehen werden kann für Grundzüge des sich nun herausbildenden Charakters; denn ein Kind gibt durch sein Verhalten, ob aktiv, selbstständig, passiv, sanft, schnell und so weiter, Antworten auf erste Anforderungen, die an es gestellt werden. Wir haben die Möglichkeit, die entsprechenden Signale zu registrieren, ohne sie überzubewerten.
Der Vater badet das Kind zum ersten Mal.
Das Kind breitet die Arme aus und seine Zunge schiebt etwas fort. So nimmt es das unangenehme Gefühl des Nach-hinten-Fallens vorweg.
Die Geburt ist vollzogen. Ich will nicht von Geburtstrauma und Ähnlichem reden, aber es ist unbestreitbar: Das Neugeborene erlebt völlig neue Reize, ist ihnen zum ersten Mal ausgesetzt. Es ist von seiner Mutter getrennt. Die Haut erfährt Reize, die sie zuvor nicht kannte: Kälte, Wärme, die Berührung mit fremdem Stoff, der die Hautoberfläche kratzt. Zum ersten Mal spürt das Kind Hunger und der Hunger wird nicht auf der Stelle gestillt durch eine stets Nahrung spendende Leitung wie im Mutterleib, sondern es werden Signale notwendig, das Kind muss nach Nahrung verlangen und oft muss es warten, bis seinem Verlangen nachgegeben wird. Licht fällt auf die Netzhaut seiner Augen, Lichtunterschiede werden wahrnehmbar, seine Ohren empfangen Geräusche. Kurz gesagt: Eine Menge neuer Reize stürmt während und nach der Geburt auf das Kind ein, ein Chaos zunächst, das von dem Neugeborenen organisiert, zugeordnet werden muss: Licht, Geräusche, Berührungen, Empfindungen. Bei dem chaotischen Ansturm von Signalen wäre es ohnehin nicht verwunderlich, wenn das Kind als erste Antwort darauf zunächst einmal schreit. Es ist zu viel für den Neuankömmling! Er braucht Erholung und Beruhigung. Erhält er schnell die Mutterbrust, wird er beruhigt reagieren. Der Vorgang des Saugens stellt einen gleichmäßigen Rhythmus her, gleichzeitig fühlt das Kind sich versorgt, die anderen Reize treten in den Hintergrund.
Kinder brauchen in dieser Situation Ruhe, um die neuen Reize einordnen zu können. Vor allen Dingen gilt es zu klären, was diese Signale für sie selbst bedeuten.
Der erste Schrei
Sobald das Kind mit der Luft in Verbindung kommt, setzt durch einen Reflex die Lungentätigkeit ein. Die Dehnung der Lungen verursacht Schmerzen und diese bringen den berühmten ersten Schrei hervor. Dieser Schrei ist sowohl ein intensiver Impuls für die Lungentätigkeit als auch erste Kommunikation mit der Umwelt.
Während der Geburt eines Kindes und in der ersten Zeit danach sehe ich eine Phase, die ich kosmisch nennen möchte. Im Talmud gibt es eine sehr schöne Geschichte. Sie erzählt, dass zu jedem Kind während seiner Entwicklung im Mutterleib ein Engel vom Himmel heruntersteigt und ihm das gesamte kosmische Wissen ins Ohr flüstert. Während der Geburt legt der Engel einen Finger auf den Mund des Kindes, damit es alles wieder vergisst. Von dieser Berührung durch den Engel tragen wir alle die kleine Mulde auf der Oberlippe.
Es lässt sich hinzufügen: Manche von uns haben nicht alles vergessen oder erinnern sich leichter oder schneller. Das soll heißen, dass wir nichts Neues lernen, sondern uns wieder an das kosmische Wissen erinnern, das der Engel uns während unseres Eingehülltseins im Mutterleib ins Ohr geflüstert hat.
Doch auch nach der Geburt sehe ich Kinder noch als dem Kosmischen verwandt an. Für sie ist alles noch ein großes Ich. Noch ist es ihnen versagt, zwischen Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden. Stellen wir uns vor: Ein Neugeborenes liegt auf dem Rücken, es kann sich noch nicht fortbewegen, aber es tauchen Dinge auf vor seinen Augen: eine Hand, ein Fuß, ein Gesicht. Das Kind versteht noch nicht auseinanderzuhalten, ob die Hand, die vor seinen Augen auftaucht, seine eigene ist oder eine fremde. Alles, was es sieht, was es erlebt, gehört noch zu einem großen Ich. Anders gesagt, alles gehört zu einem großen Wesen, dessen Teile in seinem Gesichtskreis auftauchen. Von dem Augenblick an, in dem das Kind die Dinge berühren kann, unterscheidet es zwischen zwei Phänomenen. Packt es den eigenen Fuß, fühlt es die Berührung doppelt: einmal mit der Hand, die zupackt, zum anderen am Fuß, der gepackt wird. Ergreift es die Hand seiner Mutter, spürt es nur von einer Seite die Berührung, nämlich in seiner zugreifenden Hand. Nach und nach teilt sich die Welt, die anfänglich ein großes Ich-Wesen darstellte. Das Bewusstsein stellt sich ein, dass nicht nur ein einziges Ich existiert, sondern ein Ich und ein Nicht-Ich. Während der Phase des einen großen Ich gab es bereits den Unterschied zwischen angenehmen und unangenehmen oder irritierenden Reizen. Sie können sowohl von innen wie von außen kommen: von innen sind das zum Beispiel Hunger, Blähungen, Verstopfung; Reize von außen sind unter anderem Kälte, Wärme, ein Geschmack, der dem Kind gefällt oder nicht, die Berührung, die es spürt und als angenehm oder unangemessen empfindet. Alles dies wird noch nicht mit einem anderen, also dem Nicht-Ich, in Verbindung gebracht, sondern alles scheint noch dem einen Ich anzugehören.
Neuere Forschungen haben ergeben, dass Neugeborene ihren Kopf sehr oft der Mutter als der Quelle erster Bedürfnisbefriedigung, aber auch Gegenständen zuwenden, die nur den Geruch der Mutter aufgenommen haben. Mit dem Klang der Stimme ist es ähnlich. Ich bin nicht sicher, ob das Kind die Mutter schon als einen Teil der Umwelt oder noch ganz als Teil des eigenen Ich empfindet.
Auch ältere Kinder fühlen sich in einer Sitzhaltung geborgen, die an die embryonale Stellung in der schützenden Gebärmutter erinnert.
Die Trennung vom Kosmos, die in ein individuelles Dasein führt, die Entdeckung »Ich bin begrenzt« bringt auch das Bewusstsein individueller Eigenschaften: Das bin ich, das sind die anderen. Hier taucht schon unbewusst die Frage nach den Wechselbeziehungen auf.
Was kann ich den anderen bedeuten, was bedeuten die anderen für mich? In welchen Beziehungen stehen wir zueinander? Die Wahrnehmung der eigenen Begrenztheit bedeutet zugleich: Ich kann nicht alles sein, obwohl ich das möchte. Andererseits: Ich kann mich noch nicht selbstständig fortbewegen, um da zu sein, wo ich sein möchte – also brauche ich Hilfe. Das Bewusstsein der eigenen Begrenztheit lässt automatisch den Wunsch nach Freiheit entstehen. Zu diesem Freiheitswunsch gehört das Bedürfnis nach Kommunikation – wer frei sein will, muss sich mitteilen können –, gehört die Neugier und die Anstrengung, eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Isoliert sein bedeutet, nicht frei zu sein. Freiheit ist ein Bewusstseinszustand im Bezug zu anderen.
Die Entdeckung von Ich und Nicht-Ich weckt nachdrücklich den Wunsch, zu erfahren, was mich von dem oder den anderen unterscheidet, ruft die uns angeborene Neugier auf den Plan.
Nach etwa acht Wochen können Babys willentlich, nicht mehr nur reflektorisch, nach Dingen greifen.
Sobald das Kind in der Lage ist, das andere zu ergreifen, Objekte zu berühren, an sich zu nehmen, in den Mund zu stecken, erhöht sich sein Kompetenzgefühl: Ich selbst kann anderes erfahren!
Zufrieden saugt das Kind an der Brust der Mutter.
Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass in der Zeit unmittelbar nach der Geburt das Gehirn des Menschen noch nicht ausgereift ist. Das Gehirn entwickelt sich vielmehr in den ersten vier Monaten nach der Geburt, als müsse das neue, kognitive Bewusstsein noch lernen vom Nichtbewussten. Während dieser Zeit der Gehirnentwicklung werden die Spielregeln eingeübt, entsteht die Vergleichsskala zwischen Ist-Wert und Soll-Wert. Wie funktionieren die Mechanismen, mit denen ich die Differenz zwischen Ist- und Soll-Wert verringern kann, um mein Ziel zu erreichen? Das Kind braucht in diesen Monaten, in denen die Gehirngänge sich ausbilden, möglichst viele Reize, sollte viele Erfahrungen machen können. Der Aufbau des Gehirns, seiner Gänge und Windungen wird davon beeinflusst. Nicht die spätere Intelligenz hängt davon ab, aber Möglichkeiten und Alternativen werden leichter abrufbar. Aus diesem Grund ist der Erfahrungsradius in diesem frühen Kindesalter so wichtig.
Das Hungergefühl gehört, wie schon erwähnt, zu den ersten neuen Erfahrungen nach der Geburt, und zwar zu den unangenehmen. Das Kind, noch nicht in der Lage, sich selbst zu helfen, gerät in Panik und beginnt zu schreien. Früher oder später kommt die Mutter und bemüht sich, den Hunger zu stillen. Das Kind beginnt zu lernen: Bringt es seine unangenehme Empfindung, sein Unbehagen zum Ausdruck, gibt es eine Antwort darauf. Die Antwort besteht aus einer ganzen Reihe von Informationen: Die Mutter kommt, sie nimmt das Kind auf, drückt es an sich. Das Kind spürt den Hautkontakt, hört vielleicht wieder den Herzschlag der Mutter, reflektorisch beginnt es zu saugen, nach und nach nimmt das Hungergefühl ab. Das Kind nimmt die Erscheinungen, die es bei dieser Gelegenheit erfährt, alle einzeln wahr, also jede für sich. Noch kann es nicht erkennen, dass sie zusammengehören. Es bedarf geraumer Zeit, ehe der Zusammenhang deutlich wird. Durch Wiederholung entsteht die neue Wahrnehmung eines aus unterschiedlichen Phasen bestehenden Ablaufs.
Jedes Mal, wenn das Kind auf ein Unbehagen mit Schreien reagiert, erhält es eine Antwort. Von dem Augenblick an, in dem das Kind die Wechselbeziehung zwischen Unbehagen, Signalgeben (Schreien) und Antwort herausgefunden hat, wird es das System als Instrument benutzen, ohne es wirklich zu durchschauen.
Es übt sich ein: Signalgeben bringt Feedback, und zwar ein positives. Ich schreie und mein Hunger wird gestillt; ich brauche keine Angst mehr zu haben.
Zwei Faktoren stellen sich als wichtig heraus: Lässt die Mutter das Kind lange schreien, ehe sie die lindernde Antwort gibt, so heißt das für das Lernverständnis des Kindes: Ich muss laut und lange schreien, um eine Antwort zu erhalten. Jede Mutter, die gestillt hat, kennt das Phänomen der von der Natur erdachten Regulierung des Milchzuflusses in die Brust beim ersten Hungerschrei des Kindes. Es liegen Sekunden zwischen den beiden Signalen, dem Schrei und dem Einschießen der Milch aus den Milchdrüsen in die Brust der Mutter. Sind Mutter und Kind aufeinander eingespielt, weiß die Mutter sogar ungefähr den Zeitpunkt, zu dem das Kind Hunger bekommen sollte, und schon funktioniert der wunderbare Mechanismus. Ich erinnere mich daran, dass meine Frau gelegentlich sagte, die Milch schieße in ihre Brust, und bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, kam schon das erste Signal des Kindes.
Wer dies weiß und deshalb das Kind zu stillen beginnt, bevor es richtig zum Weinen gekommen ist, und es schon nach den ersten Lauten der Unruhe an sich nimmt, der wird dem Kind die Erfahrung vermitteln, dass sich auch mit kleinen, feinen Signalen kommunizieren lässt. Um sich verständlich zu machen, sind grobe Signale nicht vonnöten. Lässt man das Kind schreien, wird es feinere Signale für unwirksam halten, es gewöhnt sich daran, zu schreien.
Der Zeitfaktor spielt im Lernprozess eine entscheidende Rolle, denn das Kind bemerkt die durchschnittliche Dauer des Intervalls zwischen Signal und Feedback genau, zwischen Schreien und Antwort also. Gewöhnung stellt sich ein. Das Kind gewöhnt sich an eine gewisse regelmäßige Dauer zwischen Schreien und Antwort und lernt, diesen Zeitabstand zu tolerieren. Ist die Mutter aber gerade beschäftigt, weil sie vielleicht kocht, und der Zeitabstand vergrößert sich, entsteht neue Beunruhigung, die in Panik übergehen kann. Der Zeitabstand ist für das Kind nicht mehr kalkulierbar und daher auch nicht zu tolerieren.
Einzelne Feedbacksignale lernt das Kind bald in einen Zusammenhang zu bringen, und zwar dann, wenn sie sich wiederholen. Die sich nähernden Schritte der Mutter zum Beispiel, Geräusche der aufgehenden und sich schließenden Tür, das Gesicht der Mutter, die sich über das Kind beugt, um es aufzunehmen, alles dies wird zum Teil eines Zusammenhangs, des einen Prozesses, der zur Linderung des Hungergefühls führt. Kinder verlangen nach Berechenbarkeit und in dieser frühen Phase steht der Vorgang des Stillens an erster Stelle. Zwischen dem ersten Signal des Kindes und der Reihenfolge von Signalen, die es aufnimmt bis zur Erfüllung seines Bedürfnisses, sollte eine Ordnung bestehen. Denn der Säugling ist dabei, seine Umwelt zu ordnen: Nur die Regelmäßigkeit der Abläufe vermittelt ihm ein Gefühl der Sicherheit.
Satt und geborgen schläft der Säugling.
Es hat etwas Eigenartiges auf sich, wenn wir sagen, das Kind organisiere seine Umwelt. Denn meist gehen wir davon aus, dass die Welt organisiert sei und der Mensch sich nur darin zurechtfinden müsse. In Wirklichkeit ist es tatsächlich der Mensch, der sich die Welt organisiert.
Ich will es einmal so sagen: Um in dieser kosmischen Welt existieren zu können, muss sich unser Körper organisieren, er muss sich Ordnungen bauen, die ihm Orientierung geben, die ihm Differenzierungen ermöglichen. Und je mehr er sich in dieser Weise organisiert und sich Orientierung schafft, umso größer wird seine Sicherheit. Wir brauchen eine Ordnung der Dinge, um uns sicher zu fühlen.
Die Entwicklung der Gehirnfunktion zur Rekonstruktion von Dingen und Sachverhalten, die der Orientierung dienen, spielt sich – wie schon gesagt – in den ersten Monaten nach der Geburt ab. Dabei ist zu beobachten, dass in den ersten vier Monaten, manchmal auch länger, die beiden Gehirnhemisphären des Kindes getrennt arbeiten. Der Balken, der die beiden Hemisphären verbindet, hat seine Funktion noch nicht vollständig aufgenommen. Informationen der linken Hälfte werden noch nicht simultan nach rechts, Informationen der rechten Hälfte noch nicht sogleich nach links übertragen. Kinder bewegen sich in diesen Monaten deshalb einseitig: links, links oder rechts, rechts; das heißt, sie bewegen den linken Arm oder das linke Bein stets nach links, den rechten Arm oder das rechte Bein stets nach rechts. Reicht man dem Kind etwas von der linken Seite, wird es stets mit der linken Hand danach greifen, gibt man es ihm von rechts, mit der rechten Hand. Erst viel später kommt die Zeit, in der Kinder mit der einen Hand über die andere hinweggreifen.
In der Motorik der Signale agieren Hände und Füße zunächst gleichzeitig, also miteinander. Die ersten Signale, die das Baby gestisch gibt, gleichen denen einer mechanischen Puppe, bei der sich Arme und Beine zugleich bewegen. Die Selbstständigkeit der Bewegungen unserer Gliedmaßen, unabhängig voneinander, wird erst nach und nach erreicht.
Dazu ist Übung nötig und Entwicklungszeit, bevor Hände und Füße getrennt und selbstständig Signalträger werden. Am Anfang gibt das Kind seine Erregung als Ganzheit zu erkennen, mit Händen und Füßen, mit der Bewegung des Kopfes und mit seiner Stimme.
Auch während jener Phase der Entwicklung, in der sich die Verbindung zwischen rechter und linker Hemisphäre vollzieht, erhält sich noch immer die Dominanz der rechten über die linke Gehirnhälfte. Die dominierende rechte besitzt die Eigenschaft, ganzheitliche Wahrnehmungen zu transportieren. Sie nimmt ganzheitlich auf. Die Tatsache, dass in ihr Gefühl, Kreativität, Spontaneität beheimatet sind, zeigt diese Ganzheitlichkeit deutlich an. Denn wir wissen: Es gibt kein halbes Gefühl, es gibt nur unterschiedliche Gefühlsintensitäten (trotz der gemischten Gefühle, von denen wir sprechen), es gibt keine halbe Spontaneität und keine halbe Kreativität. Alle diese Phänomene entsprechen der Grundeigenschaft der rechten Gehirnhälfte, der Ganzheitlichkeit. Die linke Gehirnhälfte dagegen praktiziert die digitale Aufnahme der Erscheinungen, das heißt, sie nimmt die Dinge und die Welt analytisch auf, kann sie teilen und kann ihre Teile erkennen. Hier sind Mathematik, Grammatik, Systematik zu Hause, also alle Funktionen, die der Logik unterworfen und teilbar sind. Diese linke Gehirnhälfte wirkt auf die rechte Körperhälfte und ihre Sprache.
Man hat den verbindenden Balken zwischen den Gehirnhälften experimentell getrennt. So wurde einem Menschen, bei dem allein die linke Gehirnhälfte in Funktion war, ein Gegenstand in die Hand gedrückt und er konnte genau bestimmen, was für ein Stück er in der Hand hielt. Dagegen war es ihm unmöglich, Auskunft darüber zu geben, zu welchem Ganzen das Stück gehörte.
Er konnte auch ein Gedicht wortwörtlich wiedergeben, mühte sich jedoch vergeblich, etwas über seinen Inhalt zu sagen. Umgekehrt wiederum haben Patienten, bei denen allein die rechte Gehirnhälfte in Funktion gesetzt war, bei geschlossenen Augen ohne Weiteres von dem Ganzen sprechen können, von dem sie ein Teil in der Hand hielten. Es gelang ihnen aber nicht, ebendieses Teil zu beschreiben. Sie konnten den Inhalt eines Gedichts wiedergeben, erinnerten sich jedoch nicht an den genauen Wortlaut.
Diese Ganzheitsfunktion ist bei Kindern bis zum Alter von zwei Jahren als dominant anzusehen. Sie nehmen ihre Umwelt als Ganzheitsgestalt wahr. Die Gefühle dominieren und, was Ganzheit auch bedeutet, das Kind verlangt die Erfüllung seiner Bedürfnisse sofort und ungeteilt. Denn das Kind weiß die Dinge, und dazu gehört auch die Zeit, nicht zu teilen, nicht analytisch zu teilen, nacheinander zu begreifen. Jede Erscheinung ist unteilbar. Es gibt keine Abstufung, nach der zwischen wichtig und weniger wichtig unterschieden werden könnte. Alles ist von gleicher Art, und das heißt von größter und dringlichster Wichtigkeit.
Über die Begegnung von Mutter und Kind, über die ersten Hautkontakte, über die Wärme, die das Kind an der Mutterbrust empfindet, ist viel gesagt und viel geschrieben worden. Auf einige wichtige Punkte will ich hinweisen, um zu zeigen, wie sensibel ein Säugling reagiert. Eine Mutter, die ihr Kind aufnimmt, hat zum Beispiel kalte Hände. Für sie ist das normal, sie nimmt es bewusst gar nicht wahr, aber jedes Mal, wenn sie ihr Kind wickelt, empfindet dieses es als Kälteschock. Es zieht sich in sich zusammen, die Berührung der kalten Finger ist ihm nicht angenehm. Daraus erwachsen ihm Probleme, gerade unter den Gesichtspunkten von Gewöhnung, Orientierung und Berechenbarkeit. Denn sobald es seine Bedürfnisse gestillt hat, »erinnert« es sich des darauf folgenden Vorgangs. Es fürchtet sich zu schreien, weil es weiß, dass es die Berührung des »Eiszapfens« zu erwarten hat. Die Frage stellt sich, welche Unannehmlichkeit erträglicher ist: in der eigenen Nässe liegen zu bleiben oder die kalten Hände zu spüren. Diesem Problem zum Beispiel ist leicht beizukommen, wenn die Mutter sich, bevor sie ihr Kind berührt, bewusst macht, ob oder dass sie kalte Hände hat, und sie vorher in warmes Wasser taucht. Tatsächlich kann hier eine Irritation beim Säugling entstehen und die Mutter kann überhaupt nicht begreifen, warum ihr Kind jedes Mal zu schreien beginnt, wenn sie sich ihm nähert.
Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei rhythmischen Störungen. Kleine Kinder reagieren sehr empfindlich auf einen bestimmten Rhythmus. Als angenehm wird ein regelmäßiger Schaukelrhythmus empfunden. Nehmen sich Vater und Mutter beim Wickeln des Kindes wenig Zeit, wird das Kind schnell und hektisch angefasst, zu nervös, zu abrupt, so entsteht eine unangenehme Empfindung beim Wickelkind, da dies seinem eigenen Rhythmus zuwiderläuft. Wiederholt sich der Vorgang, wird das Kind seiner Pflegeperson gegenüber negativ reagieren, und zwar nur, weil der Rhythmus nicht stimmt.
Eltern, besonders junge Eltern, brauchen übrigens keine Angst zu haben, einmal etwas falsch zu machen, nicht so perfekt zu sein, wie sie sein möchten. Ihr Baby beweist viel Toleranz gegenüber Fehlern in seiner Behandlung, es sei denn, die Fehler wiederholen sich, werden zur Regel. Ansonsten können wir mit der Toleranz des Babys uns gegenüber rechnen.
Kein Kind liebt die allzu schnelle Bewegung eines anderen. Rasche, abrupte Bewegung irritiert es. Kein Mensch liebt es, wenn Bilder sich verwischen, ihn etwas unerwartet attackiert, sodass er keine Zeit hat, dazu Stellung zu nehmen. Berechenbarkeit spielt auch für den Erwachsenen noch eine große Rolle. Überraschung erregt uns, kann uns aus dem Gleichgewicht bringen. Sicherheit empfinden wir nur gegenüber dem Erwarteten.
Ein überzogener Bewegungsablauf bedeutet grundsätzlich Gefahr, spricht von zu hoher Intensität. Ich erinnere an die relative Kraft in einem ruhenden Stein. Wird er jedoch geschleudert, potenziert sich diese Kraft in einem Maß, wie es dem Stein im Ruhestand nicht zukommt.
Nicht allein das Baby, auch der alternde Mensch reagiert hochempfindlich auf überschnelle Bewegungen. Denn für ihn birgt diese Schnelligkeit die gleiche Gefahr. Mit seiner herabgesetzten Motorik kann er nicht schnell genug reagieren. Hier liegt aber auch der Schlüssel für Schwierigkeiten zwischen älteren Menschen und Heranwachsenden. Denn Kinder bewegen sich ihrerseits sehr schnell, das heißt auch unberechenbar. Für den älteren Menschen steckt darin eine Gefahr, denn er kann dabei tatsächlich, etwa bei einem Zusammenstoß, zu Schaden kommen. Hinter dem scheinbar pädagogischen Verlangen, die Kinder sollten ruhig sein, verbirgt sich die Angst vor dem Schnellen, dem Unberechenbaren. Das Bedürfnis nach Ruhe ist vorgeschützt, denn eine Gesellschaft am Nebentisch, die laut lacht, stört meist weniger als die bewegungsfreudige Unruhe der Kinder. Nimmt man diese Erscheinungen wahr, lässt sich der Umgang zwischen Großeltern und Kindern, zwischen Alt und Jung natürlich auch regeln, dadurch nämlich, dass man die Phänomene erklärt, und zwar den Kindern, denen sehr wohl begreiflich zu machen ist, dass ihre allzu raschen Bewegungen einen störenden Faktor in den guten Beziehungen zu den Großeltern darstellen.
Das Saugen erzeugt einen beruhigenden Effekt und trägt so zum Einschlafen bei.
Saugen ist ein Zeichen von Interesse: Ich will mehr wissen!
Saugen und Beißen: Bei Schwierigkeiten kann sich das Kind »verbeißen«.
Sich selbst beruhigen gegenüber der Außenwelt: oft ein Akt von Scheu, aber wie die Augen zeigen, auch mit Interesse am Geschehen.
Entfernung ist ein weiterer Gesichtspunkt, der im frühen Kindesalter eine Rolle spielt. Auf eine bestimmte Entfernung können die Augen des Kindes Menschen und Dinge sehen, darüber hinaus weniger erkennen, in großer Nähe oft gar nicht sehen. Jede Mutter kennt ungefähr die Entfernung, in der das Kind ihr Gesicht wahrnimmt und lächelt. Bei Babys liegt dieser Erkennungspunkt in relativer Nähe, später wird größere Entfernung verlangt: So nahe soll man ihm nicht mehr kommen! Kommen wir dem Kind mit unserem Gesicht zu nah, ohne dass es im Spiel geschieht, wenn wir einmal ganz nahe herankommen und uns dann wieder entfernen – ein Spiel, das Kinder meist mögen –, fühlt das Kind sich bedrängt. Schon das Neugeborene hat ein Territorialgefühl. Typische Reaktionen auf zu große Nähe sind Blinzeln, Husten, Hicksen, Gähnen, Zeichen übrigens auch für Langeweile, hier jedoch für das empfundene Unbehagen. Das Abwenden des Gesichts heißt auch: Ich möchte eine Pause, deine Nähe wird mir zu viel. Sie entspricht den Bedürfnissen des Kindes nicht mehr. Beachten wir diese angeborenen Normen nicht, werden wir erfahren, dass das Kind auf der Stelle negativ reagiert. Es schreit oder wendet den Kopf ab, als ob es signalisieren wollte: Mit dir möchte ich keinen Kontakt, du bist mir zu nahe gekommen.
Bereits in den ersten Pflegemonaten und erst recht darüber hinaus sind Distanz und Respekt vor dem Distanzverlangen des Kindes von wesentlicher Bedeutung. Wie gesagt, die Distanzgrenze liegt beim Baby etwas näher, bei etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimetern, mit der Zeit vergrößert sich der Abstand. Diese Distanzregel, das Spiel von Nähe und Entfernung, begleitet uns unser ganzes Leben lang. Wir sprechen von Menschen, die uns nahestehen, von entfernten Bekannten, wir sprechen vom engen Freundeskreis und vom weiteren. Das Ritual der Annäherung, das ich in meinem Buch Partnerschaft und Körpersprache beschrieben habe, spielt eine lebenswichtige Rolle. Dieses Ritual hat unüberwindliche natürliche Normen, es besitzt von Kultur zu Kultur unterschiedliche soziale Ordnungen, bei denen die Entfernungen eine wesentliche Rolle spielen.
Soll ich die Flasche nehmen, die Oma mir anbietet? Die Unsicherheit der Mutter und Großmutter, ob das Kind die Flasche halten kann, überträgt sich auf das Baby.
Die Mutter reagiert positiv, die Spannung löst sich. Allerdings hält die Großmutter die Flasche noch immer fest, obwohl eine leichte Stütze von unten genügen würde.
Im deutschsprachigen Raum stehen Partner einander unmittelbar gegenüber, während man in mittelmeerischen oder vor allem in angelsächsischen Kulturen lieber Schulter an Schulter oder in einem sehr offenen Winkel zueinander steht.
Das Baby, wo immer es auch geboren wird, will stets das ganze Gesicht seiner Pflegeperson sehen. Die Zuwendung, die es erwartet, verlangt die frontale Begegnung, das volle Gesicht der Mutter oder des Vaters. Der Säugling liebt es nicht, dass einer ihm das Gesicht im Profil oder Halbprofil zuwendet, wenn er sich mit ihm beschäftigt oder mit ihm spricht. Übersetzt heißt das: Er verlangt die volle Zuwendung. Auch als Erwachsener spüren wir, dass es weniger angenehm ist, wenn ein Gesprächspartner, während er mit uns spricht, den Blick oder sein Gesicht abwendet. Er nimmt das Gespräch mit uns nicht ganz ernst.
Dem Baby geht es nicht anders, ohne zu wissen, warum. Es wird beruhigt sein, wenn Mutter oder Vater ihm ihr Gesicht voll zuwenden, und es wird unruhig werden, wenn die Mutter nebenbei mit etwas anderem beschäftigt ist, während sie sich gleichzeitig um ihr Kind kümmert. Das Baby reagiert prompt. Es straft die Mutter, indem es zu schreien beginnt oder sich abwendet.
Bei etwas älteren Kindern lässt sich beobachten, wie sie, sobald wir die frontale Stellung aufgeben, unser Gesicht mit ihren kleinen Händen wieder zu sich zu drehen versuchen und so den Wunsch nach voller Zuwendung aktiv ausdrücken. Kinder wollen auch den geraden Augenkontakt, so wie wir ihn später als Zeichen der Aufrichtigkeit verstehen.
In der Wechselbeziehung zwischen Mutter und Kind existieren, was das Tempo des Bewegungsablaufs angeht, beachtliche Unterscheidungsmerkmale. Mütter, deren Bewegungsfluss eher langsam verläuft, haben eine beruhigende Wirkung auf ihre Kinder. Langsam darf aber nicht viel langsamer heißen, als es der eigene Herzschlag ist. Aber, wie gesagt, Langsamkeit beruhigt das Kind, als ob man ihm sagte: Es ist alles in Ordnung, du kannst ruhig einschlafen! Ein beschleunigter Rhythmus aufseiten der Mutter spricht eine andere Sprache, stellt eine Ankündigung von Erleben dar, sowohl in negativer, zum Beispiel »Vorsicht, Gefahr!«, wie in positiver Hinsicht: Jetzt passiert etwas. Komm, sei munter! Babys reagieren positiv auf hohe Stimmlagen. Eltern neigen dazu, unbewusst diese hohe Stimmlage zu benutzen, um ihr Kind zu stimulieren. Wir wollen miteinander spielen. Ereignisse stehen bevor! Erwächst die schnellere Bewegung aus der Situation, aus dem gegenseitigen Verständnis zwischen Mutter und Kind sich beschleunigend, wird die aktive Teilnahme des Kindes nicht auf sich warten lassen, und so entspricht sie auch einer Gefühlssteigerung zwischen Mutter und Kind. Nur die abrupte Anhebung des Tempos wird das Kind beunruhigen, aus seinem Rhythmus bringen.
Beim Baby selbst signalisieren ruckartige Bewegungen des Körpers natürlich Unbehagen, Stress, Schwierigkeiten. Sie sind ein deutliches Zeichen dafür, dass es sich mit seiner Umwelt uneins fühlt. Solche unregelmäßigen Bewegungen drücken meist einen Konflikt aus, der in der Abhängigkeit von den Erwachsenen begründet liegt: Ich brauche die Mutter, aber zugleich stört sie mich, beunruhigt sie mich, wo immer die Ursache liegen mag. Der Konflikt zwischen Ja und Nein erzeugt ebenfalls jene Unregelmäßigkeit der Bewegung. Diese Art ambivalenter Empfindungen kann sogar zu Atembeschwerden oder asthmatischen Reaktionen führen.