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Inhaltsverzeichnis

DAS BUCH
DER AUTOR
Inschrift
Prolog
ERSTER TEIL - 2057+
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
ZWEITER TEIL - 2059+
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
DRITTER TEIL - 2090+
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Epilog
Danksagung
Copyright

Danksagung

Meine tiefe Dankbarkeit gilt George Berger, Hannu Blomilla, Peter Hollo, Rick Kleffel, Paul Kloosterman, Kotska Wallace und (last but not least) Josette Sanchez, die alle so nett waren, verschiedene Teile dieses Buches zu lesen und zu kommentieren. Und wie immer geht mein Dank für schwere Arbeit, Geduld und eine notwendige Dosis Humor an Jo Fletcher und Lisa Rogers.

Ein Teil der Wissenschaft in diesem Buch ist real, manches ist frei erfunden. Einer der realistischsten Aspekte ist überraschenderweise die medizinische Diskussion über den Frostengel-Prozess. Interessierten Lesern sei der Artikel »Buying Time in Suspended Animation« von Mark B. Roth und Todd Nystul empfohlen, der im Juni 2005 im Scientific American erschien. Der Kälteschlaf hat sich unvermittelt von einer der unwahrscheinlichsten Visionen der Science Fiction in eine durchaus realistische Prophezeiung verwandelt.

DER AUTOR

Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden.

Epilog

Chromis wurde gebeten, während der Abstimmung nach draußen zu gehen. Nachdem sie ihr Anliegen im Kongressgebäude vorgebracht hatte, war die Dämmerung angebrochen. Obwohl die Sonne immer noch die höchste Spitze des Gebäudes beschien und die Eiskappe in ein grelles Gold tauchte, gingen über den schattigen Fußwegen und Übergängen tief unten bereits die Lichter an. Die warme Brise auf dem Balkon war eine sorgfältig gehütete Fiktion. Es war, als würde der Wind von der tropischen Landschaft zweiundzwanzig Kilometer tiefer heraufwehen und den feinen Duft von Gewürzen aus den Fischerdörfern am Ufer des großen Sees herantragen. In Wirklichkeit jedoch war der Balkon durch eine unsichtbare Hülle aus Femtotechnik vor den atmosphärischen Verhältnissen abgeschirmt. Gleichzeitig schützte der Schild vor nahezu allen denkbaren Attentaten. Es hatte zwar seit dreieinhalbtausend Jahren im Kongress des Lindblad-Rings keinen Mordanschlag mehr gegeben, aber dort draußen trieben sich immer noch radikale Elemente herum. Man musste nur die guten Bürger von Hemlock fragen, wie es war, nachdem die Vögte geschickt worden waren, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.

Chromis fragte sich, wie drinnen die Abstimmung ablaufen mochte. Im Großen und Ganzen hatte sie das Gefühl, dass ihre Ansprache in etwa so gut aufgenommen worden war, wie sie zu hoffen gewagt hatte. Sie war nicht von ihrem Manuskript abgewichen, sie war nicht ins Stocken geraten oder aus dem Rhythmus gekommen. Rotfeder hatte genau im richtigen Moment auf das Stichwort reagiert und seine Rolle mit Überzeugung gespielt. Niemand hatte versucht, sie mit einem anderen, ähnlich überschwänglichen Vorschlag zu übertrumpfen, und keiner ihrer üblichen Feinde hatte Kritik geäußert, während sie sich im Raum aufgehalten hatte. Zweifellos waren sie durch eine gewisse Ehrfurcht zurückgehalten worden. Eine Kritik an Chromis hätte so verstanden werden können, dass man die Wohltäterin des Gedenkens nicht für würdig hielt. Darauf hatte Chromis gebaut, aber sie war dennoch erleichtert.

Andererseits hatte sie auch keine Ovationen erhalten. Noch während sie den Raum verlassen hatte, war die kollektive Stimmung der Delegierten für sie undurchschaubar gewesen. Der Mangel an Fragen oder Widerspruch konnte genauso gut ein Zeichen für gelangweilte Gleichgültigkeit sein. Chromis hoffte, dass es nicht so war. Sie hatte vieles berücksichtigt, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, dass der Vorschlag auf den harten Felsen der moderaten Apathie zerschellen mochte.

Nicht zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise nach Neu-Florenz spürte sie die stille Anwesenheit der Wohltäterin, als würde Bella Lind schweigend neben ihr auf dem Balkon stehen, genauso gespannt auf den Ausgang der Abstimmung wartend wie Chromis. Sie vermutete, dass es unmöglich war, sich so intensiv mit einer bestimmten Person zu beschäftigen, ohne dass sie schließlich einen gewissen Grad von Wirklichkeit annahm. Und sie bezweifelte, dass jemand in den Jahrhunderten der Vorbereitungen länger und intensiver als sie über Bella Lind nachgedacht hatte. Einst war die Wohltäterin eine ferne, schemenhafte historische Gestalt gewesen, doch nun war sie eine greifbare Persönlichkeit geworden, von der Chromis den Eindruck hatte, ihr schon bei vielen Gelegenheiten begegnet zu sein. Je stärker dieses Gefühl der Substanzhaftigkeit wurde, desto mehr schwor sie sich, den Geist nicht zu enttäuschen, dem ihre Einbildungskraft Gestalt verliehen hatte.

Über ihr wurden die hellsten Sterne sichtbar. Der Widerschein der Eiskappe vertrieb jede Hoffnung, die Milchstraße sehen zu können, aber Chromis wusste ungefähr, wo sie sich befinden musste. Irgendwo da draußen, dachte sie, wartete Bella.

Hinter ihr öffnete sich die Tür. Sie sah, wie Rotfeder auf sie zukam, um ihr Neuigkeiten zu überbringen. Sie musterte seinen ernsten Gesichtsausdruck und spürte, wie sich ihre imaginäre Gefährtin höflich zurückzog.

»Du hast keine guten Nachrichten, nicht wahr?«

»Es tut mir leid. Es hätte fast geklappt, aber …« Er bot ihr seine Hände an.

»Sag es mir.«

»Dreiundvierzig Ja-Stimmen, neunundvierzig Nein-Stimmen, sieben Enthaltungen.«

»Verdammt.«

»Du hättest es fast geschafft, Chromis. Jedenfalls ist es keine überwältigende Niederlage. Es wird eine neue Chance geben.«

»Ich weiß, aber … verdammt.« Die Enttäuschung kam in langsamen, sanften Wellen, nicht in einem großen, vernichtenden Schwall.

»Du hast das Saatkorn gepflanzt. Jetzt musst du nur hoffen, dass es in ein paar Delegierten keimt.«

»Ich hatte gehofft, sie schon in dieser Runde zu überzeugen, Rotfeder. Ich hätte nicht gedacht, dass es so knapp ausgehen würde. Ich habe mir immer nur eine grandiose Niederlage oder einen totalen Sieg vorgestellt. In beiden Fällen hätte ich dieses Gebäude im Gefühl verlassen können, dass meine Arbeit erledigt ist, um entweder mit hängendem Kopf nach Hause zu fliegen, als tragisch gescheiterte Heldin, oder als Siegerin. Stattdessen stehe ich nun vor diesem schmutzigen Kompromiss.«

»So ist nun mal die Realität«, sagte Rotfeder. »Sie hat schon immer dazu geneigt, epische Momente ins Wasser plumpsen zu lassen.«

»Wie soll ich sie jetzt noch für meinen Plan gewinnen?«

»Mit eisernem Willen und unbeirrbarer Hartnäckigkeit.« Er blickte sie mit entsetzter Verständnislosigkeit an. »Du bist doch nicht diesen langen Weg gegangen, um jetzt einfach aufzugeben, oder?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Die Wohltäterin hätte nicht aufgegeben.«

»Ich weiß.«

Er trat zu ihr an die Balkonbrüstung und nahm sie tröstend in die Arme. »Ich glaube, wir sollten nun an ihre Schuldgefühle appellieren. Es ist schön und gut, wenn du sie darauf hinweist, wie edel und anständig wir uns fühlen werden, wenn wir dein Vorhaben verwirklichen, aber damit wirst du nur ein paar erreichen. Um die anderen zu gewinnen, solltest du betonen, wie die Zukunft uns sehen wird, wenn wir scheitern. Ruf ihnen ins Gedächtnis, dass es nach historischem Ermessen eines Tages keinen Kongress des Lindblad-Rings mehr geben wird, sondern nur noch Dokumente unserer Entscheidungen.«

Vielleicht war es nur eine kurze Fluktuation in der femtotechnischen Blase, die den Balkon abschirmte, aber Chromis hätte schwören können, dass sie den Hauch der realen abendlichen Kühle auf ihrer Haut spürte.

»Das käme der Ketzerei ziemlich nahe, Rotfeder – vor allem, wenn wir uns eigentlich auf die Feier unserer Dauerhaftigkeit vorbereiten sollen.«

»Zehntausend Jahre sind nur ein Steinchen, das wir in den Canyon der Ewigkeit werfen, Chromis.«

»Schon gut. Ich werde mit ihren Schuldgefühlen arbeiten.«

»Gutes Mädchen. Und du solltest dir überlegen, jemanden anderen anzusprechen, der beim nächsten Mal deinen zahmen advocatus diaboli spielt. Ich würde die Rolle gerne wieder übernehmen, aber ich glaube kaum, dass man uns dieses kleine Spielchen ein zweites Mal abnimmt.«

»Wahrscheinlich hast du Recht.«

»Kopf hoch. Trotz allem hast du dich hervorragend geschlagen.«

»Meinst du?«

»Auf jeden Fall. Ich bin überzeugt, dass du bereits ein paar Konkurrenten aus dem Rennen geworfen hast. Dies war das letzte Mal, dass wir etwas von Springbrunnen gehört haben.«

»Das ist doch schon etwas.«

»Das mit der DNS hat großen Eindruck gemacht.«

»Ich habe nachgedacht«, sagte Chromis, als eine Idee in ihren Gedanken Gestalt annahm. »Der Einwand, den du vorbringen solltest, dass eine Kopie in die falschen Hände fallen könnte.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Es ist eine gute Vorsichtsmaßnahme, dass sich die Botschaft nur mit der DNS der Wohltäterin entschlüsseln lässt. Außerdem hätte ich dann den weiten Weg zum Mars nicht umsonst unternommen. Aber wir könnten noch eine zusätzliche Sicherung einbauen.«

»Sprich weiter«, forderte Rotfeder sie auf.

»Ich finde, die Kopie der Botschaft – welche Form sie auch immer annehmen wird – sollte in der Lage sein, selbst zu entscheiden, ob sie ihren Inhalt offenbaren möchte oder nicht. Dazu wäre ein gewisser Grad von Intelligenz nötig, um die Feinheiten menschlichen Verhaltens erkennen zu können. Dann könnte die Kopie ihre Entscheidungen an der Situation orientieren, die sie vorfindet.«

»Mit anderen Worten, sie selbst sollte so etwas wie ein menschliches Wesen sein.«

»Das liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten, Rotfeder. Wenn ich es genauer betrachte, wäre es eine geradezu sträfliche Nachlässigkeit, die Kopien der Botschaft nicht mit intelligenten Bewusstseinen auszustatten.«

Rotfeder dachte längere Zeit darüber nach, während Chromis beobachtete, wie sich die Schatten unter ihnen in ein tiefes, geheimnisvolles Dunkelrot verwandelten. Immer mehr Siedlungen leuchteten nun in der Abenddämmerung, und kleine Boote fuhren über den See, hell und farbenfroh wie Papierlaternen.

»Ich glaube, ich muss mich deiner Meinung anschließen«, sagte er. »Aber es gibt da einen offensichtlichen Stolperstein: Wer würde sich einverstanden erklären, seine Persönlichkeit in eine Milliarde Flaschen kopieren zu lassen, wie eine billig produzierte Massenware?«

»Ich bin überzeugt, dass sich ein Freiwilliger finden wird.«

Er nickte wissend. »Und ich wette, du hast schon einen Kandidaten im Sinn.«

»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn ich gewonnen habe.«

»Vergiss nicht: Spiel mit ihren Schuldgefühlen. Das funktioniert immer. Das hätte mir schon viel früher einfallen können.«

»Vielleicht hätte es geholfen, Rotfeder. Dann hätten wir heute Abend wenigstens feiern können.«

»Ach, das sollte uns nicht davon abhalten, es trotzdem zu tun. Wir können immer noch feiern, dass wir nicht von einer überwältigenden Mehrheit abgewiesen wurden.

Sie lächelte, als ein Teil ihrer früheren guten Laune zurückkehrte. »Mir ist jeder Vorwand recht.«

Er blickte hinab zu den Siedlungen am Seeufer. »Ich weiß sogar schon einen tollen Laden – wir könnten uns jetzt gleich von einer Transithaube hinbringen lassen, wenn du möchtest.«

»Sollte ich nicht lieber nach drinnen gehen und mich dem Trubel stellen?«

»Würdevolle Stille wäre angemessener. So entfalten die nagenden Schuldgefühle viel besser ihre Wirkung.«

»Wenn du es sagst.«

»Ich weiß es. Jahrelange Erfahrung mit solchen Situationen.« Rotfeder schloss die Augen, um zwei Transithauben zu rufen. In Kürze würde die Femtotechnik in ihrer Umgebung einen kleinen Teil von sich abstellen, um die zwei Freunde sicher zu transportieren.

»Hast du das ernst gemeint«, fragte Chromis, während sie warteten, »dass der Kongress nicht für die Ewigkeit gemacht ist?«

»Wie ich bereits sagte, zehntausend Jahre sind eigentlich gar keine lange Zeit. Ich bin mir sicher, dass auch die Spicaner gedacht haben, sie würden ewig leben. Aber eines Tages wird mit uns das Gleiche geschehen. Wir werden verschwinden, und etwas anderes wird an unsere Stelle treten.«

»Etwas Menschliches?«

»Nicht unbedingt.«

Die Hauben trafen ein und umkreisten sie wie eine Schar schwarzer Motten, bis sie ihre endgültige Reisekonfiguration angenommen hatten. Als sie spürten, dass ein Gespräch im Gange war, warteten sie diskret einen Moment ab, die beiden Menschen vom Balkon fortzubringen.

»Dann wird all das hier«, sagte Chromis und deutete auf die Aussicht vor ihnen, »alles, was wir geschaffen und wofür wir gelebt haben, all die Träume, denen wir Existenz verliehen haben, nicht für immer hier sein? Davon bist du fest überzeugt?«

»Es wäre egozentrisch, etwas anderes zu glauben. Nahezu jedes intelligente Wesen, das jemals gelebt hat, gehörte einer Zivilisation an, die nicht mehr existiert. Warum sollte es mit uns anders sein?«

»Aber unsere Taten werden Bestand haben.«

»Wenn wir Glück haben. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auch sie nicht überdauern werden.«

»Das klingt so trostlos, Rotfeder.«

»Eher anregend, würde ich sagen.«

»Aber wenn nichts, was wir tun, eine Garantie auf Dauerhaftigkeit hat, wenn selbst die besten Gesten nur eine winzige Chance haben, uns zu überleben – warum geben wir es dann nicht einfach auf?«

»Es gibt zahllose Gründe, nicht aufzugeben«, sagte Rotfeder. »Wir sind hier, und wir leben. Es ist ein wunderschöner Abend, der letzte vollkommene Sommertag.« Er drehte sich um und nickte den wartenden Hauben zu. »Jetzt lass uns gehen und das Beste daraus machen, solange es geht.«

Eins

Parry Boyce blickte von der gewellten roten Oberfläche des Kometen auf. Er klappte sein Helmfernglas herunter, schaltete es auf mittlere Vergrößerung und wartete, bis sich das Bild stabilisiert hatte.

Nur ein winziger Hauch Schubkraft hielt die fünfzigtausend Tonnen des Schiffs über Parrys Kopf. Der kostbare Massentreiber war jetzt zu voller Länge ausgestreckt, aber immer noch längsseits an die Rockhopper angekoppelt. Ein Schwarm aus flackernden blauen Lichtern am Kopf des Treibers zeigte, dass sich rund um die blockierte Einsatzausrüstung immer noch etwas tat. Die Reparaturen wurden von chromgelben Robotern übernommen, über denen eine winzige Gestalt im Raumanzug schwebte. Er wusste, dass es Svetlana war, bevor sein Helm ein Symbol neben ihr einblenden konnte.

Sie waren nicht im Guten auseinander gegangen. Er hatte ihr wegen der Reparaturarbeiten Ärger gemacht, aber nur, weil Bella ihm Ärger gemacht hatte. Es machte ihnen allen schwer zu schaffen, hier festzusitzen und nichts tun zu können.

Parry stand am hell ausgeleuchteten Rand des Lochs, das er in die Haut des Kometen geschnitten hatte. Der zylindrische Schacht war geometrisch perfekt, ein Element der Ordnung in der ansonsten chaotischen Landschaft der Kruste. Die hundert Meter tiefe und fünfzig Meter durchmessende Wandung war bereits mit einer sauberen, laserglatten Schicht aus gehärtetem blaugrauem Sprühstein verkleidet.

Er rief ein Musikstück aus den Dateien des Orlan-19 ab und verlor sich im erhebenden Quawwali von Nusrat Fateh Ali Khan. Nach einiger Zeit – es mochten Minuten oder auch Stunden gewesen sein – zeichnete sich im Flutlicht der Schatten einer weiteren sich bewegenden Gestalt im Raumanzug ab. Sie musste soeben aus einem der kuppelförmigen Oberflächenzelte gekommen sein, die zwanzig Meter vom Rand des Schachts entfernt aufgebaut waren. Hinter den Zelten standen die gespreizten Beine der kantigen Cosmic Avenger, der schweren Landeeinheit, die sie von der Rockhopper hergebracht hatte.

Parry versuchte die Person am Gang zu erkennen, bevor seine Ausrüstung sie identifizieren konnte. Feldman und Shimozu bewegten sich mit der Vorsicht und Sparsamkeit von Unterwasserarbeitern – sie waren vorher in der Meeresabteilung von DeepShaft auf der Erde tätig gewesen. Mike Takahashi jedoch war durch und durch Raumfahrer. Selbst wenn er einen dreißig Jahre alten ausgemusterten russischen Orlan-19 mit dem Ballast von fast einer Tonne abgereichertem Uran trug, bewegte er sich mit weiten anmutigen Sprüngen, ohne Angst, für längere Zeit den Kontakt zur Oberfläche zu verlieren.

Das Helmdisplay markierte Takahashis Anzug und hängte seinen Namen in pulsierenden blauen Buchstaben an, begleitet von einem Gesichtssymbol im Manga-Stil.

»Hübsches Loch.«

»Danke«, sagte Parry.

»Aber es wird nicht hübscher, wenn du es die ganze Zeit nur anstarrst.«

»Ich überlege, ob man die Beschichtung verstärken sollte«, sagte er, die Hände in die Hüften gestemmt. »Vielleicht mit einem kleinen Klecks da drüben.«

Takahashi stand neben ihm, sodass ihre klobigen Schatten in den Abgrund fielen. Er spielte am liebsten estnische Choräle. Parry hörte die Musik über die Sprechverbindung.

»Wir brauchen dich drinnen«, sagte Takahashi.

Parry fragte sich, was los sein mochte. Takahashi hätte ihn problemlos rufen können, ohne sich persönlich zu ihm zu begeben.

»Worum geht es?«, fragte er, während sie zum Zelt zurückgingen.

»Keine Ahnung. Irgendwas geht kaputt. Hast du das Schiff in letzter Zeit überprüft?«

»Vor einer Weile.«

»Vielleicht solltest du es dir noch einmal ansehen.«

Parry klappte erneut das Fernglas herunter. Die Rockhopper sprang ihm entgegen, als sich die Linsen justiert hatten. Alles sah genauso wie vorher aus, nur dass die flackernden Schweißfackeln am Kopf des Treibers verschwunden waren. Auch von Svetlanas schwebendem Anzug war nichts mehr zu sehen.

»Interessant«, sagte er.

»Gut oder schlecht?«

Parry ließ das Fernglas wieder einfahren. »Lässt sich so noch nicht sagen.« Er griff nach der Zelttür und zog sie weit genug auf, damit die beiden Männer eintreten konnten.

Im Zelt gab es keinen Atmosphärendruck. Es war eine verfestigte kuppelförmige Unterkunft. Das Material war von einem supraleitenden Geflecht durchzogen, um einen minimalen Schutz gegen geladene Partikel zu bieten. Gillian Shimozu und Elias Feldman saßen zu beiden Seiten einer Plastikkiste und spielten Karten auf dem Deckel. Die Karten, zum Teil verblasst und mit Magic Marker nachgezeichnet, waren auf dickem, geriffeltem Kunststoff gedruckt. So ließen sie sich besser mit den Handschuhen eines Raumanzugs greifen.

Die vier Anzüge tauschten zwitschernd Protokolle aus.

»Noch ist Zeit, um ins Spiel einzusteigen«, sagte Shimozu. Sie blickte zu Parry auf, als dieser die Zelttür hinter sich verschloss.

»Ich passe.« Hinter Shimozu balancierte auf einer hellroten Sauerstoffpumpe ein Flextop, der ein Bild des Saturn mit dem blauen Logo von China Daily in der oberen linken Ecke zeigte.

»Spielverderber«, sagte Shimozu und nahm eine Karte vom Tisch.

»Gibt es etwas Neues von Batista oder Fletterick? Es sieht danach aus, als ob wir vielleicht gebraucht würden«, sagte Parry.

Feldman legte sein Blatt ab, eine Serie von Assen. »Am Treiber?«

»Es scheint, dass die Arbeiten eingestellt wurden. Falls es Saul nicht gelungen ist, Freizeitschichten für seine Roboter durchzusetzen, kann das nur bedeuten, dass wir wieder über ein funktionierendes Einsatzsystem verfügen.«

»Juhu«, sagte Shimozu. Sie hatte ihren Blendfilter über die Helmscheibe gezogen. Die mattschwarze Beschichtung verhinderte, dass sich darin die Karten spiegelten, die sie in der Hand hielt.

»Du solltest deinen Enthusiasmus lieber etwas dämpfen«, sagte Parry. »Noch einmal: Gibt es etwas Neues?«

Takahashi deutete auf den Bildschirm. »Vielleicht hat es gar nichts mit dem Treiber zu tun. Eben kam das Bild vom Saturn rein.«

»Deshalb habt ihr mich hergeholt?«, fragte Parry.

»Ich fand es seltsam. Warum zeigen sie den Saturn?«

»Batista und Fletterick«, sagte Parry ungeduldig.

»Vielleicht gab es einen Unfall«, spekulierte Takahashi. Die anderen beiden teilten nun auch für ihn Karten aus, aber er schien viel mehr am Bildschirm hinter Shimozu interessiert zu sein. »Kann mir jemand sagen, wie ich diese Sendung in meinen Helm kriege?«

»Benutz dein Drop-down-Menü«, sagte Feldman gereizt, als hätte er es ihm schon hundertmal erklärt. »Geh auf Einstellungen, dann auf die Optionen für das audiovisuelle Helmdisplay, dann …«

Parry ging am Spieltisch vorbei zur Sauerstoffpumpe und hob den Flextop auf. Er drückte sehr vorsichtig zu, um das quasi-lebendige Ding nicht zu verletzen. Das Hauptbild zeigte immer noch den Saturn, aber nun sprach ein Experte in einem eingeblendeten Fenster. Er kannte den Mann nicht. Text in chinesischer Schrift tickerte über die Fußzeile des Bildschirms.

Vielleicht hatte Takahashi recht. Vielleicht tat sich etwas in der Nähe des Saturn. Aber was für ein Ereignis konnte bedeutend genug sein, dass China Daily ihm so viel Aufmerksamkeit widmete? Im Vergleich zu den Hauptnachrichtensendungen wirkten Bella Linds Fische wie Meister der anhaltenden Konzentration.

In diesem Moment aktivierte sich sein Helmdisplay von selbst, und ein Prioritätsfenster klappte auf, in dem Bellas Gesicht erschien.

»Parry«, sagte sie. »Gott sei Dank. Ich habe schon gedacht, wir müssten die Crusader losschicken, um dich abzuholen. Wie es scheint, hat der Reparaturtrupp die Energieleitung für die Außenkommunikation durchtrennt.«

»Ich hoffe, du machst ihnen deswegen die Hölle heiß.«

»Unter normalen Umständen würde ich es tun, aber … jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

Niemand sagte etwas. Die anderen warteten darauf, dass Parry für sie sprach. Die Karten lagen auf dem Tisch.

»Was ist los, Bella?«

»Etwas Großes«, antwortete sie. »So groß, dass ich dich im Schiff brauche, und zwar sofort. Aber bevor du aufbrichst, möchte ich, dass der Treiberschacht bereit gemacht wird, eine DUE aufzunehmen.«

»Von diesem Baby müssen wir nichts absprengen, Bella. Es wird sicher und sauber nach Hause zurückfallen.«

»Ich rede nicht davon, den Kometen umzugestalten«, sagte sie. »Ich rede davon, ihn in die Luft zu jagen.«

 

Svetlana Barseghian tupfte hellgrünes Desinfektionsmittel auf die Druckstellen in ihrer Leistengegend, dann riss sie das Armband mit dem Dosimeter von ihrem Handgelenk und vergewisserte sich, dass die Missionsdosis immer noch unter vierhundert Millisievert lag. Sie zog sich eine Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt von Lockheed-Krunichew Fusion Systems an, stieg in fleckige graue Turnschuhe und kämmte mit einer Hand durch ihr Haar, das nach dem Weltraumspaziergang platt war und juckte. Sie drückte sich zwei rosafarbene Ohrschützer in die Gehörgänge, um den Hintergrundlärm zu dämpfen. Außer in den zwei Stunden, wenn die meisten Maschinen abgeschaltet wurden, war es in der Rockhopper lauter als im Orlan-18.

Ein Labyrinth aus Verbindungskorridoren brachte sie zur Zentrifuge Nummer zwei. Als sie Bellas Büro erreichte, sah sie, dass Craig Schrope bereits da war. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich diesmal benehmen wollte.

Bella forderte sie mit einem Wink zum Eintreten auf, drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und sagte etwas zu Svetlana. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut war zu hören. Svetlana wurde klar, dass sie immer noch die Ohrschützer trug. Sie zog sie heraus und legte sie in den kleinen Plastikbehälter zurück, den sie am Klettband ihrer Jogginghose befestigte.

»’tschuldigung.«

»Ich hatte den Vorschlag gemacht, dass du dich setzt«, sagte Bella liebenswürdig. Sie wartete geduldig, bis Svetlana auf einem leichten Klappstuhl Platz genommen hatte.

Bellas schallgedämpftes und mit Teppichen ausgelegtes Büro war der größte private Raum im Schiff. Gleichzeitig diente er ihr als Schlafquartier. Die Wände waren pastellgrau und stellenweise mit seismischen Karten in Falschfarben tapeziert, die körnige Bilder von Schiffswracks und Korallenriffen zeigten, die bei Tauchexpeditionen aufgenommen worden waren. Der einzige Einrichtungsgegenstand, der sich nie veränderte, war Bellas Aquarium mit fünfhundert Litern Wasser.

Svetlana wusste, dass Schrope das Aquarium nicht ausstehen konnte. Das Ding war eine Konzession am äußersten Rand der Regelwidrigkeit, genau das, womit er sich in Big Red so viele Feinde gemacht hatte. Dort hatte man ihn als Bluthund bezeichnet. Es hieß, dass Schrope von DeepShaft zur Rockhopper versetzt worden war, damit er so weit wie irgend möglich vom Mars entfernt war.

Nun saß er neben Bella hinter dem Schreibtisch, hinter dem eigentlich Jim Chisholm hätte sitzen sollen. Er spielte mit einem Firmenkugelschreiber und wirkte rundum zufrieden mit sich selbst.

»Tut mir leid, dass du so überstürzt antanzen musstest«, sagte Schrope mit tiefer, schnurrender Stimme.

Svetlana rückte sich auf dem Klappstuhl zurecht, ohne etwas zu erwidern.

»Wie war die Schicht?«, fragte Bella. Sie trug eine Halskette aus Haifischzähnen und eine verblasste rote Holzfällerjacke. Darunter war eine schwarze Weste zu erkennen, auf die ein Bild aus Goldfolie mit dem Schriftzug Titanic Bar & Grill geprägt war.

»Lief schon besser. Ich bin nicht gerade ein Fan von Blackouts während eines Außeneinsatzes.«

Bella zog wissend eine Augenbraue hoch. »Schon wieder die Achtzehner?«

»Dasselbe alte Trimix-Problem.«

»Vergiss nicht, es im Logbuch zu erwähnen. Auch wenn die Zentrale uns zwingt, diesen rekonditionierten Schrott zu benutzen, heißt das nicht, dass wir ihn toll finden müssen.«

»Alles ist nach industriellen Weltraumstandards zertifiziert«, sagte Schrope und zupfte eine Staubflocke von seinem tadellosen blauen DeepShaft-Overall. »Auf der Hammerhead kommen die Leute mit Sachen zurecht, die noch viel älter als die Achtzehner-Modelle sind, ohne ständig zu jammern und zu stöhnen.«

»Das ist das Problem der Hammerhead«, sagte Svetlana.

»Der Unterschied ist der, dass sie nicht ständig darauf herumreiten«, sagte Schrope gleichmütig. »Aber da es hier ein großes Problem zu sein scheint, habe ich für die nächste Rotation die Umrüstung auf Zweiundzwanziger bewilligt.«

Als wäre das Kreuzchen im Bestellungsformular die größte Gefälligkeit des Jahrhunderts! »Und wann wäre das, Craig?«, fragte Svetlana freundlich. »Bevor oder nachdem Jim sein Rückflugticket bekommt?«

Schrope tat ihre Frage ab, indem er mit dem Kugelschreiber durch die Luft schnitt. »Bella, vielleicht solltest du Svetlana über die neueste Entwicklung in Kenntnis setzen. Da diese Angelegenheit indirekt auch Jim betrifft …«

»Was für eine Entwicklung?«, fiel Svetlana ihm ins Wort.

»Wir haben einen neuen Auftrag erhalten«, sagte Bella. »Wir sollen den Treiber abkoppeln und hier zurücklassen.«

»Und der Komet?«

»Da draußen gibt es noch jede Menge davon.«

Svetlana schüttelte fassungslos den Kopf. »Wir können ihn nicht einfach aufgeben, nachdem wir so viel Arbeit investiert haben. Der Treiberschacht ist angelegt, der Sonnenkollektor ist installiert und für die Beschleunigungsphase bereit …«

»Vielleicht müssen wir uns um einen größeren Fisch kümmern. Ich brauche ein paar technische Daten.«

Schrope übernahm die Gesprächsführung. »Könnten wir schnell von hier wegkommen, wenn es nötig wäre?«

»Wir sind jederzeit bereit, uns auf sichere Entfernung zurückzuziehen«, sagte Svetlana.

»Ich meine, ob wir sofort auf Vollschub gehen können, für eine längere Reise.«

Svetlana ging eine mentale Checkliste durch. »Ja«, sagte sie vorsichtig. »Normalerweise würden wir noch ein paar Tests machen, vor allem nach einer längeren Abschaltung wie in diesem Fall …«

»Verstanden«, sagte Bella. »Aber es gibt keinen zwingenden Grund, warum wir den Antrieb nicht hochfahren sollten?«

»Nein. Aber Parry und die anderen …«

»Die Avenger ist bereits auf dem Rückweg. Sie werden in Kürze an Bord gehen. Noch etwas, Svieta: Im Handbuch steht, dass wir das Triebwerk auf ein halbes Ge hochjagen können, wenn wir es ganz lieb streicheln …« Sie redete nicht weiter, aber Svetlana wusste auch so, worauf sie hinauswollte.

»Theoretisch.«

Bella kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ja oder nein?«

»Also gut, ja. Aber man sollte es nicht länger als ein paar Stunden machen. Danach bekommen wir es mit zunehmendem Verschleiß bei kostspieligen, nicht ersetzbaren Komponenten zu tun. Es droht ein erhöhtes Risiko von Ausfällen, die die Mission gefährden. Ganz zu schweigen von der strukturellen Belastung des kompletten Schiffs.«

Bella tippte mit einem Finger auf den Ausdruck einer E-Mail im Klartext. »Lockheed-Krunichev versichert mir, dass die Belastung unterhalb der konstruktionsbedingten Grenzwerte liegt. Wenn du mir sagst, dass das Triebwerk durchhält, bin ich glücklich und zufrieden.«

Das Dokument lag von Svetlana aus gesehen auf dem Kopf, aber sie konnte trotzdem erkennen, dass es in der Betreffzeile um Janus ging. Römische Mythologie. Der Gott mit den zwei Gesichtern. Wofür stand er noch gleich?

Außerdem war es der Name eines Saturnmondes.

»Es ist machbar«, sagte sie.

»Gut«, schloss Bella die Diskussion ab. Aber Svetlana entging nicht, dass sie das Wort mit einem Seufzer aussprach. Als hätte sie insgeheim gehofft, eine andere Antwort zu erhalten.