Sechsundvierzig Fußballschuhe marterten mit ihren Metallstoppeln das Spielfeld des 1. FC Lennach, achthundert Zuschauerkehlen brüllten um die Wette. Eine grasbewachsene Böschung – knapp zwei Meter hoch, oben mit einem Eisengeländer – trennte die Spielenden von den Zuschauenden.
„Wie lange noch, Ferde?“, wandte sich ein Anhänger des 1. FC Lennach an seinen dicklichen Nebenmann.
„Zwölf Minuten“, antwortete Ferde nach einem Blick auf seine Armbanduhr.
„Noch immer steht’s zwei zu zwei. Mist, das wird knapp!“, fluchte sein Freund.
„Eh“, stimmte Ferde finster zu.
„Die Unsrigen müssen mehr angreifen!“, schimpfte der andere weiter.
„Eh“, brummte Ferde, während er die Asche von seiner glimmenden Zigarette abklopfte. Plötzlich brauste er auf: „Schau dir das an, Heli! Schon wieder der Siebener! Warum deckt den keiner?!“
„Angehen! Angehen!“, tobte Heli. Ein bulliger Abwehrspieler des 1. FC Lennach beherzigte diese Aufforderung. Er sprang dem nicht viel weniger bulligen Mann mit der Nummer sieben entgegen – und wenige Augenblicke später lagen beide im Gras. Der Verteidiger stand auf und humpelte davon, der andere blieb zusammengekrümmt liegen, bis man ihn auf einer Trage vom Spielfeld schleppte.
„Recht so! Weg mit dem Hund!“, bellte Ferde. Seine Stimme überschlug sich vor Schadenfreude. Hastig sog er an seiner Zigarette und machte ein Gesicht, als wäre er selber der zweifelhafte Held, der gerade das Kunststück geschafft hatte, den bisher besten Spieler der auswärtigen Mannschaft lahmzulegen.
Das Spiel ging ohne den Mann mit der Nummer sieben weiter. Für ihn schickte der Trainer einen hageren, dunkelhaarigen Burschen mit der Nummer vierzehn aufs Spielfeld.
„Hähä, schau dir den an, Heli!“, krächzte Ferde. „Der Knabe ist die halbe Portion von seinem Vorgänger.“
„Nein, die doppelte: sieben und sieben ist vierzehn.“ Heli deutete grinsend auf die Rückennummer des Neuen.
„He, Vierzehner!“, brüllte Ferde aufs Spielfeld hinunter. „Du doppelter Siebener, hahaaa!“
Der „doppelte Siebener“ wandte sich nach dem Brüller um – und verpasste das Zuspiel des Mittelstürmers. Wütend schrie der Trainer dem Burschen etwas zu, das so ähnlich klang wie: „Karlitzer, gemma!“
„Austauschen!“, spottete Ferde.
„Nein, nicht austauschen! Dann sind wir stärker“, erwiderte Heli lachend. Sein Nebenmann ermunterte ihn, den Vierzehner „fertigzumachen“, und daraufhin erlaubten sich die beiden die Freiheit, dem Burschen allerlei Gehässigkeiten zuzurufen. Sie hatten keine Ahnung, dass der junge Sportler da unten auf dem Spielfeld vor einer entscheidenden Wende in seinem Leben stand…
Rumms! Bumms!
„Juchhu!“
So hatte es angefangen. Unermüdlich trat der Knirps Lukas mit dem rechten Fuß zu, unermüdlich knallte der Gummiball gegen das hölzerne Schuppentor.
Rumms! Bumms!
„Juchhu!“
So ging es Tag für Tag.
Rumms! Bumms!
„Auuu!“
Einmal musste es ja kommen – statt des Balls hatte der Kleine einen Stein getroffen. Die rechte große Zehe unter dem dünnen Turnschuh ließ es ihn deutlich spüren. Das darauffolgende Gebrüll schreckte Frau Lagger auf und trieb sie ans Fenster.
„Luki, was ist los?“, rief sie ihrem Sprössling zu.
„Hab’ einen Stein geschossen!“, jammerte Luki, während er den rechten Fuß umklammerte und auf dem linken Bein hüpfte.
„Geschieht dir recht“, meinte die Mutter. „Was musst du dauernd mit dem Ball herumdreschen? Siehst du, jetzt ist Schluss damit!“
Sie täuschte sich. Luki heulte zwar wie eine Sirene; doch nachdem ihn die Mutter im Haus verarztet und ihn anschließend hinausgeschickt hatte, schnappte er sich wieder sein Lieblingsspielzeug. Aber schon der erste vorsichtige Tritt gegen den Gummiball löste ein neuerliches „Au“-Gestöhn und Gehüpfe auf dem linken Bein aus.
„Luki! Lass endlich den Ball, du Schaf!“, rief Frau Lagger zum Fenster heraus. Ihr spöttisches Grinsen reizte den Ehrgeiz des Kleinen. Die rechte große Zehe wollte nicht mitspielen, also musste ausnahmsweise der linke Fuß das Balltreten übernehmen. Aber irgendetwas im linken Fuß weigerte sich, den Ball richtig zu treffen. Nach ein paar Minuten gab Luki auf und verwendete nur noch die Hände zum Schießen, obwohl er wusste, dass das mit Fußballspielen nichts zu tun hatte. Na wennschon – Hauptsache, das Schuppentor krachte wieder ordentlich!
Als ihm der Ball aus Versehen gegen die Stirn hüpfte, kam Luki ein neuer Gedanke: Wenn der eine Fuß nicht konnte und der andere nicht wollte, musste eben der Kopf aushelfen! Das war beim Fußballspielen erlaubt, so viel wusste Luki von seinem Onkel – und der kannte sich aus! Onkel Fredi war immerhin ein „guter Kicker“ gewesen, wie er selber manchmal behauptete.
Als Frau Lagger vorsichtshalber wieder nach ihrem Buben sah, hopste er noch immer mit seinem Ball beim Schuppentor herum.
„Luki, was machst du für verrückte Bocksprünge?“, fragte die Mutter misstrauisch.
„Ich tu’ kopfschießen lernen“, verkündete er stolz.
„Pass auf, du wirst deinen Kopf noch verlieren!“, warnte Frau Lagger, während sie ihren eigenen Kopf seufzend schüttelte.
Am nächsten Tag versuchte Luki wieder mit dem rechten Fuß zu schießen, aber die wunde Zehe sträubte sich hartnäckig dagegen. Der größte Spaß beim Ballspielen – das Krachen des Schuppentors – war mit dem „Kopfschießen“ aber nicht zu schaffen, also probierte Luki es neuerlich mit dem linken Fuß – immer wieder, unermüdlich. Eine Woche später stellte Onkel Fredi verblüfft fest: „Lukas, du bist ja beidbeinig! Du schießt mit beiden Beinen gleich gut! Aus dir wird einmal ein Mordskicker.“
„Von wegen Mords…“, mischte sich Frau Lagger ein. „Setz ihm keine Flausen in den Kopf! Sonst ergeht’s ihm so wie dir, dass er sich bei dieser dummen Balldrescherei beinahe erschlägt.“
„Was heißt da ‚dumme Balldrescherei‘“, brummte der Onkel. „So kannst du nicht von Sport reden, Schwesterchen.“
„Ich kann, Brüderchen!“ Lukis Mutter lächelte verschmitzt. Sie hielt nicht viel von Sport und meinte, für sie wäre es „Sport genug“, wenn sie beispielsweise zum Einkaufen zehn Minuten zu Fuß nach Redlitz ginge. Außerdem „marschiere“ sie ohnehin täglich fünf Minuten bis zu ihrem Arbeitsplatz, dem Büro im Sägewerk am Redlitzbach; und im Haushalt käme sie beim vielen Bücken, Heben, Putzen, Schrubben und Stiegensteigen auf mehr Gymnastikübungen als so mancher Jugendliche im Turnunterricht. Sie musste ja alles selber machen, seitdem Lukis Vater tödlich verunglückt war.
„Du bist ein geplagtes Wesen“, sagte ihr Bruder Fredi manchmal. „Es wird Zeit, dass dein Kleiner ein Großer wird, damit er dir helfen kann.“ Wenn’s ums Helfen ging, packte Fredi oft mit an, soweit es ihm sein linkes Bein erlaubte. Nach einem Verkehrsunfall war es nie mehr völlig verheilt.
„Wir sind beide geplagte Wesen“, versicherte Lukis Mutter ihrem Bruder. Auch wenn sie sich manchmal über ihn lustig machte, war sie für jede Hilfe dankbar – so wie jetzt wieder, als er vorschlug, dem kleinen Lukas ein paar „Balltricks“ beizubringen. In der Zwischenzeit konnte sie ungestört ihre Näharbeiten erledigen. „Aber pass auf!“, mahnte sie. „Bring Luki nicht solche ‚Tricks‘ bei, mit denen er sich noch mehr Hemden und Hosen zerreißt! Sonst stell’ ich dich als Flickschneider ein!“
Der Onkel grinste nur und zeigte dem Kleinen, wie man einen Ball mit der Ferse und mit dem Knie schießen kann. Luki erwies sich als ehrgeiziger Fußballschüler und probierte alles „beidbeinig“ aus: mit der linken und der rechten Ferse, ebenso abwechselnd mit beiden Knien.
„Sehr gut!“, lobte der Onkel. „Wenn du zwei Köpfe hättest, würdest du bestimmt mit beiden gleich gut schießen.“
„Ja freilich!“ Luki nickte eifrig und strengte sich doppelt an. So tollpatschig und komisch seine Verrenkungen und Sprünge anfangs auch wirkten – er übte unverdrossen, auch wenn Onkel Fredi nicht dabei war. Der merkte bald, dass sein kleiner Neffe mehr als nur ein „Balldrescher“ war. Einmal überraschte Luki den Onkel mit einem „Hüpftrick“, den er sich selbst beigebracht hatte: Er sprang zum Ball, klemmte ihn zwischen die Füße und schleuderte ihn hinter sich hoch, sodass der Ball in einem Bogen über Lukis Rücken und Kopf hinweg nach vorn flog und dann nach einem Tritt mit dem rechten Bein zum Schuppentor zischte. Noch hatte sich der Onkel vom Staunen nicht erholt, da führte ihm den Kleine den „Hüpftrick“ ein zweites Mal erfolgreich vor, nur schoss er den Ball diesmal mit dem linken Fuß aufs Schuppentor.
„Bravo! Braaavo! Du bist ein Ballartist! Ein Ballkünstler!“ Der Onkel klatschte begeistert und lockte dadurch die Mutter ans Fenster. „Hast du das gesehen?“, rief er ihr zu. „Lukas, mach das noch einmal!“
Die nächste Vorführung missglückte, der „Ballartist“ rutschte aus und fiel hin.
„Hat da gerade wer von einem ‚Ballkünstler‘ geredet?“, fragte die Mutter spöttisch. „Ins Gras plumpsen kann ich auch. Fredi, ich warne dich! Bring dem Buben nicht solchen Unsinn bei, sonst teile ich dich zum Wäschewaschen ein! Immer diese Grasflecken an Knien und Ellbogen!“
Onkel Fredi ließ sich nicht einschüchtern und ermunterte seinen Neffen zu weiteren „Balltricks“. Er zeigte ihm, wie man mit dem „Innenrist“ und dem „Außenrist“ schießt und brachte ihm „Volleyschüsse“ bei. „Wolleschüsse sind toll, die knallen am lautesten!“, jubelte Luki, als das Schuppentor nach einem Volltreffer wieder einmal vor Schreck zitterte. Luki hielt sich schon für einen Fußballer. Groß war seine Enttäuschung, als er zum ersten Mal richtige Fußballer sah, und zwar im Fernsehen. Der Onkel hatte Luki – weil Frau Lagger Sportsendungen hasste – zu sich nach Hause mitgenommen und ihn bei einer Fußballübertragung zuschauen lassen.
„Ui! So viele Kicker auf einen Haufen!“, sagte Luki staunend. Kurz darauf beschwerte er sich: „Die nehmen sich gegenseitig den Ball weg. Das ist gemein!“
Der Onkel musste geistige Schwerarbeit leisten, um dem Neffen zu erklären, worum es bei einem „echten Fußballmatch“ ging.
„So ein Mätsch ist blöd“, behauptete Luki. „Die rennen ja nur hin und her und machen keine Tricks. Die haben nicht einmal ein Schuppentor.“
Kaum fünf Minuten später hatte der Kleine genug. Er ließ den verdutzten Onkel sitzen, lief heim und spielte nach seinen eigenen Fußballregeln. Erst ein paar Wochen später wagte es der Onkel noch einmal, Luki zu einem „Mätsch“ mitzunehmen, diesmal nach Redlitz zum Fußballplatz. Redlitz war zwar nur ein kleines Bergdorf, aber seine Bevölkerung schaffte es Jahr für Jahr, eine eigene Fußballmannschaft aufzustellen. Sie spielte – wie Onkel Fredi zu sagen pflegte – „in der untersten der unteren Klassen“ und war bei den Gegnern als „Holzhackertruppe“ verschrien. Tatsächlich verdienten nicht wenige von den Redlitzer „Kickern“ ihren Lebensunterhalt als Holzarbeiter im Sägewerk.
Onkel Fredi und Luki kamen gerade zurecht, um die Fußballer beim „Aufwärmen“ zu beobachten. Das Aufwärmen gefiel Luki, denn da nahmen sich die Spieler nicht gegenseitig den Ball weg – nein, fast jeder hatte einen eigenen Ball! Einige machten damit sogar Kunststücke, genau wie Luki daheim! Während der Kleine an der Schokolade knabberte, die ihm der Onkel spendiert hatte, musterte er die „richtigen Fußballer“. Am besten gefiel ihm ein langer, junger Mann, der einen Lederball mit kurzen Kopfstößen vor sich hertrieb.
Gleich nach Spielbeginn fing Luki wieder zu nörgeln an: „Die streiten ja genauso um den Ball wie die im Fernsehen!“
Der Onkel musste zugeben, dass diesmal tatsächlich gestritten wurde. Nach fünf Minuten wurde sogar gerauft, und Luki stellte nicht ganz unrichtig fest: „Fredi, schau! Die zwei spielen Boxen. Sag ihnen, sie sollen wieder kicken!“
Onkel Fredi zog es vor, nichts zu sagen. Es kümmerte sich ohnehin bereits ein anderer um die zwei Raufbolde: ein schwarz gekleideter, grauhaariger Mann. Der war Luki schon vorhin aufgefallen, weil er immer wieder wie ein Verrückter in ein silbernes Trillerpfeifchen geblasen und damit die anderen beim Spielen gestört hatte. Jetzt pfiff er wieder schauerlich. Er fischte aus seinem schwarzen Hemd eine leuchtend gelbe Karte heraus und fuchtelte damit den Streithähnen vor den Nasen herum.
„Was will der schon wieder? Karten spielen?“, fragte Luki verwirrt. „Ist das der ‚schwarze Peter‘?“
„Nein, der Schiedsrichter.“ Onkel Fredi grinste. „Pass auf, jetzt werden die beiden Streithammel gleich Ruhe geben.“
Der Onkel schien recht zu haben. Aber nach wenigen Minuten gerieten abermals zwei Spieler aneinander, nachdem der eine nicht den Ball, sondern das Schienbein des Gegners getroffen hatte. Daraufhin begannen ein paar Zuschauer derart zu brüllen, dass sich Luki die Ohren zuhielt.
„Foul! Foul!“
Luki verstand immer nur „faul“. Er konnte sich nicht erklären, was an der Sache „faul“ sein sollte – gerannt waren die Kicker allesamt fleißig, und sie prügelten sich fleißig, bestimmt nicht faul! Doch das empörte Geschrei der Zuschauer verstummte nicht.
„Foul!“
„Ausschluss!“
„Rote Karte!“
„Holzhacker!“
Ängstlich sah sich Luki nach Holzhackern um. Vor denen fürchtete er sich, seitdem ihn beim Sägewerk ein Arbeiter mit einem hoch erhobenen Beil erschreckt hatte.
Der „schwarze Peter“ – nein, der Schiedsrichter – kam wieder mit seinem Pfeifchen angesprungen und trennte die beiden Fußballer. Die waren bestimmt keine richtigen Fußballer, die stritten schon wieder!
„Das ist blöd, ich geh’ heim“, beschloss Luki, und schon rannte er seinem verblüfften Onkel davon.
Dass Fußball ein Mannschaftssport ist, schien Luki nicht begreifen zu wollen. Er war gewohnt, allein zu spielen. Mit Kindern kam er nie zusammen, außer wenn ihn die Mutter zum Einkaufen nach Redlitz mitnahm. Einen Kindergarten besuchte er nicht – in Redlitz gab es sowieso keinen, und jeden Tag mit dem Omnibus zweimal hinunter ins Tal nach Gronach zu fahren wäre umständlich und teuer gewesen. Außerdem sprang ohnehin der Onkel gern als Kindermädchen ein. Er arbeitete wegen seiner Beinverletzung nur noch aushilfsweise im Sägewerk, in dessen Nähe er auch wohnte, da blieb ihm genug Zeit. Was für andere Kinder „Mama“ und „Papa“ waren, das waren für Luki „Mama“ und „Onkel Fredi“. Die hatte er beide gern!
Onkel Fredi gab es auf, seinen Neffen zum Fußballplatz zu locken, er begnügte sich damit, ab und zu vorm Schuppentor mit dem Kleinen zu üben: schießen, ferseln, köpfeln. Der Onkel versuchte es auch mit „Tormanntraining“. Aber als Tormann nach dem Ball springen und ihn fangen zu müssen, das machte Luki nicht viel Spaß. Dabei krachte ja das Schuppentor nicht, und das war noch immer die Hauptsache als Abschluss eines jeden Balltricks!
Frau Lagger hatte wenig Freude mit dem polternden Schuppentor, besonders dann, wenn sie einen Teil ihrer Büroarbeiten fürs Sägewerk zu Hause erledigte. Sobald das Geballer ihres Sprösslings zu arg wurde, rief sie zum Fenster hinaus: „Luki! Schluss jetzt!“
Einmal versuchte der Kleine zu verhandeln: „Zwei Schüsse noch!“ Die Mutter gab nach.
„Fünf Schüsse noch!“, rief er ein andermal, nachdem er dahintergekommen war, dass „fünf“ mehr als „zwei“ ist.
„Also schön, fünf“, entgegnete die Mutter seufzend. „Aber mach schnell, ich zähle mit!“
Auf diese Weise lernte Luki schon früh, bis fünf zu zählen.
„Musst du immer mit Bällen herumschießen?“, fragte Frau Lagger einmal. „Geh lieber etwas Schönes malen!“
Luki malte also – Bälle; Bälle in allen Farben und Größen. Die Mutter schien anfangs nicht zu verstehen, dass diese „bunten Kugeln“, wie sie Lukis Kunstwerke nannte, Fußbälle sein sollten. Also zeichnete er Füße dazu, genauer gesagt: Schuhe; dicke, große Schuhe mit sauber gebundenen Schuhbändern. Um der Mutter zu zeigen, dass man auch mit dem Knie schießen kann, ergänzte er die Schuhe mit Beinen. Später versuchte er, den restlichen Körper zu malen, vor allem den Kopf dazu. Den brauchte man ja zum Köpfeln!
„Sehr schön, Luki“, meinte Frau Lagger. „Aber hast du nicht auf Arme und Hände vergessen?“
„Ach“, rief der Kleine, „die sind nicht so wichtig! Die braucht nur der Tormann.“
Da erwiderte die Mutter lachend, es sei ein Wunder, dass Luki nicht mit vier Beinen auf die Welt gekommen sei.
Onkel Fredi, der fast jeden Tag vorbeischaute, lobte die Zeichnungen. Zu seiner Schwester sagte er: „Schade, dass wir so abgelegen wohnen. Wenn es hier Nachbarskinder gäbe, könnte Lukas richtig Fußball spielen.“
„Du immer mit deinem Fußball!“, erwiderte Frau Lagger kopfschüttelnd.
„Ich sag’ dir, der Bub hat Talent“, ereiferte sich ihr Bruder.
„Talent? Wie willst du das bei so einem Knirps schon wissen?“, entgegnete Lukis Mutter. „Er spielt gern mit Bällen – wie andere Kinder auch, weiter nichts.“
„Wart’s ab, bis er in die Schule geht!“ Der Onkel lächelte überlegen. Er war davon überzeugt: Sobald Luki mit anderen Buben zusammenkäme, würde er begreifen, dass Fußball ein Mannschaftssport ist. Dann würde der Kleine zu einem „großen Kicker“ werden…
Onkel Fredi täuschte sich. Als Luki in die Volksschule Redlitz eintrat, stellte sich heraus, dass es diesmal unter den Schulanfängern außer ihm nur drei Buben gab. Sie hatten mit den Mädchen gemeinsam Turnunterricht, und ihre Lehrerin dachte nicht daran, mit dieser Klasse Fußball zu spielen. Wenn Luki im Turnsaal einen Ball entdeckte und seine „Tricks“ ausprobierte, hieß es gleich: „Lukas, was hopst du da herum? Komm her, spiel anständig!“
„Anständig spielen“ hieß gewöhnlich „Völkerball“, und dabei waren die Hände wichtiger als die Füße. Zwar hatte das Tormanntraining mit Onkel Fredi aus Luki einen geschickten Fänger gemacht. Trotzdem konnte er es nicht lassen: Als der Ball einmal in Wadenhöhe angeflogen kam, schoss Luki ihn mit dem rechten Fuß „volley“ zurück und traf ein Mädchen, das vor Schreck umfiel.
„Lukas, was war das?!“, fragte die Lehrerin.
„Ein Wolleschuss“, antwortete Luki stolz.
„Wieso Wolle? Fangen sollst du den Ball!“, belehrte ihn die Lehrerin. „Stell dich zu den Abgeschossenen! Marsch, marsch, du Ballkasper!“
Luki trollte sich also zu den „Abgeschossenen“. Eine Weile schaute er nur noch zu. Erst als sich der Ball nach einem Fehlschuss in die hinterste Turnsaalecke verirrte, rannte Luki hin und führte der Klasse seinen „Hüpftrick“ vor.
„Toll!“, rief die Lehrerin. „Wenn du groß bist, kannst du zum Zirkus gehen. Aber jetzt spielen wir wieder anständig weiter.“
Luki blickte enttäuscht drein. Die Lehrerin verstand anscheinend überhaupt nichts von Fußball – obwohl sie sonst so viel wusste! Na ja, da konnte man wohl nichts machen. Luki mochte sie trotzdem. Schon in der ersten Schulwoche hatte sie ihn gelobt, weil ihm beim Zeichnen die schönsten Kugeln gelungen waren. Und als sie das „O“ durchgenommen hatten, war er wieder der Beste gewesen! „Sehr brav“, hatte die Lehrerin gesagt. „Sehr brav!“ – Das klang wie eine Zauberformel. Sie sollte Lukis Ehrgeiz auch noch später anspornen – unter ganz anderen Umständen als in der Volksschule…
Bei Schönwetter durften sich die Kinder während der großen Pause im Schulhof austoben. Ein paar Buben aus den höheren Klassen spielten etwas, das sie „Fußball“ oder „Kicken“ nannten. Luki wusste nicht, dass „kicken“ ein Wort aus der englischen Sprache ist und „stoßen“ bedeutet; aber er ahnte es, wenn er den kleinen Grobianen aus sicherer Entfernung zusah. Sie stießen und rempelten einander, und so mancher Tritt galt gar nicht dem ledernen Fußball, sondern dem Bein eines Spielers. Obendrein wurde gebrüllt und gestritten, bis eine Lehrerin dazwischenfuhr und den Kampfhähnen den Ball abnahm.
Erst in der zweiten Klasse wagte Luki es einmal, sich den „Kickern“ anzuschließen. Die ärgsten Rüpel aus der ehemaligen vierten Klasse waren ja nicht mehr dabei. Luki vermied es, sich mitten ins Getümmel hineinzudrängen. Er lauerte lieber, bis ihm der Lederball entgegengekollert kam – gerade richtig für den „Hüpftrick“! Schon stieg der Ball in schönem Bogen wie gewohnt über Lukis Kopf hinweg, doch der Schuss blieb aus. Luki spürte plötzlich einen Stoß von hinten und flog kreischend ins Gras. Wenige Augenblicke später jubelten die gegnerischen Spieler über ein Tor, die anderen machten Luki zum Sündenbock.
„Du Kasper!“, beschimpften sie ihn. „Was hüpfst du wie ein Geißbock herum? Schieß anständig oder hau ab!“
Luki entschloss sich fürs „Abhauen“. Beleidigt setzte er sich auf die steinernen Stufen vor der Eingangstür der Schule.
Am nächsten Tag nahm er seinen eigenen Ball mit und übte in der Pause etwas Neues: „Gaberln“ nannten es die Buben. Dabei versuchten sie den Ball abwechselnd mit den Füßen, den Knien oder mit dem Kopf durch kurze Stöße in der Luft zu halten. Jeder geglückte Stoß wurde mitgezählt. Sobald der Ball jedoch den Boden berührte, musste man mit dem Zählen von vorn beginnen. Luki kam anfangs nicht einmal bis drei, der Ball entwischte ihm immer wieder. Ein paar Mädchen lachten spöttisch. Sie nannten Luki einen „Ballkasper“, der zum Kicken zu feig wäre.
„Ich tu’ überhaupt nicht kicken, ich tu’ nur gaberln“, erwiderte Luki.
Zu Hause übte er das Gaberln auch. Ab und zu half ihm Onkel Fredi dabei, indem er aufmunternd mitzählte: „Eins… und zwei – hoppla! Noch einmal: eins… und zwei… und drei… und noch eins… und… wusch – bravo! Noch eins… aus…“
So ging’s dahin. Nach einiger Zeit keuchte der Onkel vor lauter Zählen fast ebenso wie sein Neffe. „Bravo! Gut gemacht!“, tönte es immer wieder begeistert über den Hof.
„Schluss jetzt!“, funkte manchmal Frau Lagger dazwischen. „Könnt ihr zwei Ballkasperln nicht auch einmal etwas anderes spielen – vor allem etwas Leiseres?“
„Aber freilich!“, entgegnete ihr Bruder gewöhnlich. Danach verschleppte er den Neffen in seine Werkstatt, wo sie miteinander bastelten – das heißt: Onkel Fredi bastelte. Luki schaute zu. Gelegentlich durfte der Kleine mithelfen, indem er beispielsweise beim Zuschneiden oder Abschleifen eine Latte festhielt. Bald erlaubte ihm der Onkel zum ersten Mal, ein Holzstück mit Feile und Schleifpapier zu bearbeiten. Dabei zeigte sich, dass Luki geschickte Hände hatte. „Gut gemacht!“, lobte ihn Onkel Fredi immer wieder; und er fragte seinen Neffen, ob er einmal Tischler oder Zimmermann werden wolle.
„Ja!“, rief Luki eifrig. „Tischler ist gut. Aber Zimmermann ist noch besser – weil’s ein Mann ist – so wie du, Onkel Fredi.“
Als Luki nach der Volksschule in die Hauptschule wechselte, musste er jeden Tag mit dem Autobus hinunter ins Tal nach Gronach fahren. Bei der ersten Fahrt begleitete ihn die Mutter, bei der zweiten Onkel Fredi.
„Schau, Lukas!“, rief der Onkel, als sie an einem Sportplatz vorbeikamen. „Da müsstest du einmal mitkicken! Beim SV Gronach!“
„Ach was“, entgegnete Luki lustlos. „Kicken“ bedeutete für ihn immer noch gegenseitiges Stoßen und Treten, und dazu fehlte ihm der Mut.
Der Onkel ließ nicht locker. „Pass auf“, sagte er, „in der Hauptschule bekommst du einen richtigen Turnlehrer. Der versteht von Fußball bestimmt zehnmal mehr als deine Volksschullehrerin.“
„Glaubst du, dass er meinen Hüpftrick zusammenbringt?“, fragte Luki.
Der Onkel zuckte mit den Schultern.
„Also nicht“, meinte Luki. „Dann kann dieser Lehrer auch nicht richtig Fußball.“
„Du kannst natürlich richtig Fußball“, spöttelte der Onkel.
„Ja freilich.“ Luki nickte.
Der Turnlehrer, ein grauhaariger, langer Mann namens Habler, schien tatsächlich nicht viel von Fußball zu verstehen. Jedenfalls hielt er wenig davon und jagte seine Schüler lieber über Sprungkästen, Böcke und Bänke hinweg oder auf Strickleitern hinauf. Korbball und Volleyball waren ihm anscheinend lieber als Fußball. Luki nahm es ihm nicht übel, denn wenn er an die wilden Kickereien seiner Mitschüler in der Volksschule dachte, konnte er gar nicht anders als darüber froh sein, dass Herr Habler Gymnastik und Geräteturnen bevorzugte. Außerdem war er zugleich Lehrer für Werken, und weil er viel Lob für Lukis Geschicklichkeit übrig hatte, wurden die beiden so etwas wie Freunde. Diese Freundschaft endete nach der zweiten Klasse – Herr Habler ging in Pension. Mit seinem Nachfolger in Werken kam Luki leidlich aus, am neuen Turnlehrer, Herrn Zecknagel, behagte ihm der scharfe Tonfall nicht.
„Burschen“, pflegte Herr Zecknagel zu sagen, „ihr habt zu wenig Biss.“
„Sollen wir zum Zahnarzt gehen?“, fragte Luki einmal – und damit war er bei Herrn Zecknagel abgeblitzt.
Der neue Turnlehrer baute immer wieder kurze Fußballspiele in seinen Turnunterricht ein und achtete streng darauf, dass alle die Spielregeln beherrschten und auch einhielten. Einen Tritt gegen das Schienbein beispielsweise – in Lukis Volksschulzeit etwas durchaus Übliches – bezeichnete er als „schweres Foul“, das er mit einem fünfminütigen Ausschluss ahndete. Trotzdem warf er Luki immer wieder vor, allzu „zimperlich“ zu spielen. Also spielte Luki einmal „hart“ – aber nicht gegenüber den Mitspielern, sondern hart gegen den Ball: Dem versetzte er einen derartigen Tritt, dass gleich darauf die Torlatte nicht weniger krachte und zitterte als zu Hause das Schuppentor.
„Ein Bombenschuss! Sehr brav!“, rief der Turnlehrer zu Lukis Verblüffung.
Ein Lob von Herrn Zecknagel! So eine Überraschung!
In der folgenden Zeit litten das Schuppentor und Frau Laggers Ohren gemeinsam. Luki hatte, um dem neuen Turnlehrer zu gefallen, mit einem eigenen „Bombenschusstraining“ begonnen. Opfer dieses lautstarken Unternehmens wurde Lukis Plastikball. Nach einem „Bombentreffer“ in der rechten „Kreuzecke“ – der rechten oberen Ecke des Schuppentors, wo eine Schraube etwas herausragte – ging dem Ball die Luft aus. Frau Lagger hörte den Knall und riss das Fenster auf. Noch während sie schimpfte, wurde ihr klar, dass der Rest des zerplatzten Balles für ein weiteres „Bombenschusstraining“ nicht mehr taugen würde.
„Siehst du, das ist die Strafe für dein rücksichtsloses Geballer!“, belehrte Frau Lagger ihren Sprössling. „Bilde dir bloß nicht ein, dass du von mir einen neuen Ball kriegst!“
Sie zog sich wieder ins Zimmer zurück und ließ den verdatterten Bombenschuss-Schützen draußen stehen. Dem traten, obwohl er nun mit zwölf Jahren kein kleiner Bub mehr war, die Tränen in die Augen.
Frau Lagger freute sich insgeheim über das unverhoffte Ende von Lukis „Bombenschusstraining“. Die Freude dauerte nur ein paar Tage, dann stellte sich Onkel Fredi mit einem nagelneuen schwarzweißen Lederball bei Luki ein. Das noch spiegelglatte Leder glänzte so verführerisch, dass sogar Frau Lagger nicht widerstehen konnte: Sie wollte auch einmal einen Schuss mit dem Wunderball wagen.
„Feste drauf!“, feuerte Luki seine Mama an.
„Fester!“, rief er nach ihrem zweiten Versuch. „Noch fester!“
Beim dritten Mal schwirrte ihr Schuh hinter dem Ball her.
„Ein herrlicher Doppelschuss!“, spottete Onkel Fredi.
„Du kriegst gleich einen Doppelschuss hinter die Ohren“, drohte ihm Frau Lagger, während sie auf einem Bein ihrem Schuh hinterherhüpfte. Der Onkel stichelte weiter: „In dir steckt ein gefinkelter Torschütze: Den Schuh schießt du in die rechte Kreuzecke, den Ball gleichzeitig in die linke – und der Tormann steht in der Mitte und schaut blöd.“
„Lass mich in Frieden mit deinen Fußballweisheiten!“, brummelte Frau Lagger. Sie schlüpfte in ihren Schuh, blickte listig auf und sprach weiter: „Lach nicht, sonst mach’ ich Ernst und geh wirklich unter die Fußballer! Dann treibe ich die ganze Fußballwelt mit meinen Schuhen vor mir her.“
„Warum nicht?“, erwiderte Onkel Fredi schmunzelnd. „Soll ich dir richtige Fußballschuhe besorgen? Solche mit Stoppeln unten dran?“
„Schuhe mit Stoppeln, pah – das ist ja wie Stöckelschuhe!“, rief Frau Lagger. „Du weißt genau, dass ich nie Stöckelschuhe trage.“ Mit einem Ruck wandte sie sich ab und stolzierte auf den Zehenspitzen ins Haus, als hätte sie Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen an. Onkel Fredi lachte hinter ihr her. Da zupfte ihn Luki am Ärmel und fragte: „Wenn Mama von dir keine Fußballschuhe will, kannst du dann nicht mir ein Paar schenken?“
„Dir?“ Der Onkel grinste. „Lieber nicht. Du ballerst jetzt schon so toll herum – wenn du richtige Fußballschuhe anhast, geht beim ersten Schuss das Schuppentor in Trümmer.“
Luki vergaß den Wunsch nach Fußballschuhen gleich wieder, er hatte ohnehin den schönen Lederball bekommen. Der war zwar etwas schwerer als der alte Plastikball und erforderte beim Schießen mehr Kraft. Dafür ließ er sich durch den Wind nicht leicht aus der Flugbahn bringen, sodass Luki es bald schaffte, bestimmte Stellen des Schuppentors zu treffen. Seine Mutter wunderte sich, als er sie einmal um ein Stück Kreide bat. Kurz darauf ging’s draußen wild zu.
„Nummer eins! Volley!“
Rumms!
„Nummer vier! Außenrist!“
Bumms!
„Jetzt Nummer sieben! Volley!“
Rumms!
Frau Lagger trat ans Fenster und schaute misstrauisch hinaus. Dass der Ball gegen den Schuppen polterte, war nichts Neues. Neu war, wie das Schuppentor aussah: vollgemalt mit zwanzig Kreidekreisen, jeder mit einer Nummer darin! Ein alter Küchenstuhl stand links neben dem Tor. Luki hatte ihn gebraucht, um die fünf obersten Kreise zu zeichnen. Stolz erklärte er seiner Mutter, er habe ein „Nummerntrefftraining“ erfunden.
„Sag eine Nummer! Ich muss sie treffen!“, rief er aufgeregt.
„Hm… dreizehn.“ Frau Lagger schmunzelte. Der Kreis mit der Nummer dreizehn lag ungefähr in der Mitte des Schuppentors.
„Dreizehn also. Hast du das gehört, Lederwuchtel?“, wandte sich Luki an seinen Ball. Der erwiderte nichts. Er ließ kurz mit sich „gaberln“ und zischte nach einem Tritt von Lukis rechtem Fuß in Richtung Schuppentor.
Rumms!
„Dreizehn! Getroffen! Ich werd’ verrückt.“ Frau Lagger staunte.
„Siehst du“, erwiderte Luki, „die Lederwuchtel folgt mir schon brav.“
„Lederwuchtel?“
„Ja, so heißt sie.“
„Redest du mit deinem Ball?“
„Ja freilich, das ist mein neuester Trick. Welche Nummer soll ich jetzt treffen?“
Die Mutter schüttelte verwundert den Kopf, dann wählte sie die Nummer fünf – das war der Kreis rechts unten am Schuppentor.
Luki lief zu einem Busch, wo die „Lederwuchtel“ liegen geblieben war, gaberlte wieder kurz und schoss.
„Vier! Knapp daneben. Trotzdem nicht schlecht“, meinte die Mutter.
„Das gilt nicht!“, rief Luki. „Ich hab’ vergessen, der Lederwuchtel die Nummer zu sagen.“ Er rannte wieder nach seinem Ball, nahm ihn in die Hände und redete auf ihn ein: „Nummer fünf sollst du treffen, nicht vier! Hörst du, Lederwuchtel?“
Lukis Mutter fing zu lachen an. Sie lachte noch immer – da prallte die „Lederwuchtel“ gegen den Kreis Nummer fünf, dass die Kreide staubte!
„Potz Blitz“, murmelte Frau Lagger.
„Weiter, weiter, Mama! Welche Nummer kommt jetzt dran?“, wollte Luki wissen.
Die Mutter wählte noch ein paar Nummern und kam aus dem Staunen nicht heraus: Fast jeder zweite Schuss war ein Treffer. Erst als der Ball nicht zur Nummer eins – ganz links unten – flog, sondern den alten Küchenstuhl durch die Luft wirbelte, rief Frau Lagger: „Schluss jetzt, Luki! Deine Lederwuchtel ist ärger als eine Kanonenkugel!“
Onkel Fredi war von Lukis Treffkünsten begeistert. Er wartete nicht länger zu und brachte aus einem Gronacher Sportgeschäft Fußballschuhe mit. Luki freute sich – aber nur bis zur ersten Anprobe. Die Schuhe waren ihm etwas zu lang und die Stoppeln beim Gehen ungewohnt. „Stöckelschuhe für Männer“, spöttelte die Mutter, als Luki unsicher über den glatten Boden im Flur watschelte. Beinahe wäre er über die steinernen Stufen beim Haustor hinuntergestolpert. Der erste Schussversuch misslang, die Stoppeln fetzten ein Riesenstück Gras samt Wurzeln aus der Erde.
„Das sind keine Schuhe, das sind Rasenmäher“, beschwerte sich Frau Lagger. Ihr Bruder verabschiedete sich hastig. Er ahnte schon, dass er mit seinem Geschenk mehr Kummer als Freude ausgelöst hatte. Frau Lagger zog ein verdrießliches Gesicht, als ihr Sprössling beim nächsten Schuss wieder ein Stück Rasen aushob, und Luki war zum Heulen zumute. Seine Lederwuchtel wollte den Tritten der neuen Schuhe nicht so wie gewohnt gehorchen. Fünf Minuten später gab er auf. Er ließ er die „Stöckelschuhe für Männer“ ungeputzt in der hintersten Ecke des Schuhkastens verschwinden und holte sich die alten Turnschuhe.
Im engen Turnsaal gelang es Luki nur selten, als Fußballer aufzutrumpfen. Herr Zecknagel konnte sich für seine „Ball- und Hüpftricks“ kaum begeistern und wies Luki immer wieder zurecht: „Lass deine Mätzchen, Lagger! Spiel anständig!“
Anständig! Schon in der Volksschule hatte sich Luki über dieses Wort geärgert. Bald gab er sich keine Mühe mehr, wenn in Turnen Fußball gespielt wurde. Gymnastik war ihm lieber. Denn sobald es um Körperbeherrschung und Beweglichkeit ging, hielt er ohneweiters mit den Größten und Stärksten seiner Klasse mit.
Einmal sollte sich Lukis Klasse, die 3b, in einem Fußballspiel mit der 4a messen. Herr Zecknagel hatte mit deren Turnlehrer gewettet, die 3b würde sich ehrenvoll schlagen und zumindest ein Unentschieden erreichen.
„Toll, dass der Zecknagel so viel von uns hält!“, meinten ein paar von den Drittklasslern.
„Blödsinn“, meinten andere. „Die 4a wird uns abschießen wie Hasen!“
Luki meinte gar nichts, ihm war das Spiel gleichgültig. Herr Zecknagel hatte ihn ohnehin nur als Ersatzspieler vorgesehen. Trotzdem – als sie an einem kühlen, aber sonnigen Frühlingstag zum ersten Mal nicht im stickigen Turnsaal, sondern draußen auf dem großen Fußballplatz neben der Schule spielen sollten, bekam auch Luki Lust zum Kicken. Vorsorglich hatte er seine Lederwuchtel mitgenommen; und während sich die anderen Spieler zu einer Besprechung um die Turnlehrer scharten, näherte sich Luki – ununterbrochen gaberlnd – einem der beiden Tore.
„Zwanzig!“, huschte es ihm plötzlich durch den Kopf. Der Kreidekreis Nummer zwanzig auf dem Schuppentor zu Hause bedeutete die rechte obere Ecke, eine sogenannte Kreuzecke.
„Nummer Zwanzig – volley“, murmelte Luki vor sich hin. Wenige Augenblicke später schnalzte seine Lederwuchtel so laut gegen das obere Ende der rechten Torstange, dass sich Turnlehrer und Spieler verwundert umsahen.
„Lagger! Sofort her mit dir!“, befahl Herr Zecknagel.
Luki eilte zurück, indem er seinen Ball abwechselnd mit dem linken und dem rechten Fuß vor sich her trieb. – „Dribbeln“ nannte Herr Zecknagel dieses Kunststück. Kurz vor den Schülern und Lehrern bremste Luki ab und versuchte seinen Hüpftrick – mit Erfolg. Den üblichen Schuss ließ er weg. Es war ja kein Schuppen da, und die Lehrer und Mitschüler über den Haufen zu schießen wäre bestimmt nicht ratsam gewesen.
„Hast du keine Fußballschuhe?“, fragte Herr Zecknagel nach einem strengen Blick auf Lukis alte Turnschuhe.
„Daheim schon“, antwortete Luki, während er sich seinen Ball unter den Arm klemmte. „Aber mit diesen komischen Tretern kann ich nicht einmal gehen. Meine Mama sagt, das sind Stöckelschuhe für Männer.“
Einige Mitschüler lachten. Herr Zecknagel schüttelte verständnislos den Kopf, dann gab er seiner Mannschaft die letzten Anweisungen. Fünf Minuten später begann das Spiel – ohne Luki. Er war, wie geplant, nur einer von drei Ersatzspielern.
Die Drittklassler hielten sich tapfer. Immer wieder blockten sie die Angriffe der körperlich überlegenen Viertklassler erfolgreich ab. Für einen Gegenangriff waren sie allerdings zu schwach, sodass zunächst keine der beiden Mannschaften zu einem Torschuss kam. „Ein erbärmliches Mittelfeldgeplänkel“, nannte Herr Breitmeier, der Turnlehrer der 4a, das Ganze.
Luki stand eine Weile tatenlos da. Als ihm bewusst wurde, dass er schon minutenlang seine geliebte Lederwuchtel unterm Arm hielt, wurde ihm das Gekicke auf dem Spielfeld zu langweilig. Er schlenderte, ohne dass Herr Zecknagel es merkte, mit dem Ball etwas abseits zu jenem Platz, wo die großen Mülltonnen standen, und begann zu gaberln. Nur wenn die Spieler oder die wenigen Zuschauer aufgeregt zu schreien anfingen, hielt Luki inne und wandte sich kurz dem Spielfeld zu. Dreimal bedeutete das Geschrei, dass die Viertklassler ein Tor geschossen hatten. Der Schütze war jedes Mal ein langer, blonder Bursche gewesen, den seine Mitschüler „Kersche“ riefen.
„Drei zu null – und das durch einen lupenreinen Hattrick!“, sagte Herr Breitmeier stolz.
Luki kümmerte sich nicht um den „Hattrick“, er übte lieber seinen Hüpftrick. Nebenbei „dribbelte“ er auch: Immer wieder schubste er seine Lederwuchtel mit den Füßen zwischen den Mülltonnen herum, als wären die Blechbehälter seine Gegner. Erst in der Pause gesellte