Verlag Freies Geistesleben
«Man bekommt nicht die innere Stetigkeit im Verfolgen dessen, was in der Seele keimt und fruchtet, wenn man so eilen will von Neuem zu immer Neuerem, sondern es handelt sich wirklich darum, dass die Dinge reifen müssen in der Seele. Da muss man sich ganz abgewöhnen, was heute eigentlich in vieler Beziehung üblich ist. Da muss man sich gewöhnen an ein inneres aktives Arbeiten der Seele, an ein Arbeiten im Geiste.»
Rudolf Steiner, Dornach, 9. Mai 1924
Eine Einleitung von Nothart Rohlfs
Wenn bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von Karma und Reinkarnation die Rede war, so wurden die Quellen eines solchen «Glaubens» zumeist in östlichen Religionen gesucht. Hinduismus und Buddhismus kannten entsprechende Vorstellungen, der aufgeklärte Westen wähnte sich längst über sie hinaus.
Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Thema, von Amerika kommend, hierzulande erneut aktuell. Stichworte dazu: Reinkarnationstherapie, Rückführung, Regression. Es waren Techniken entwickelt worden, die beanspruchten, Menschen in Stand zu setzen, Aussagen nicht nur über pränatale Vorgänge, sondern über ihre früheren Verkörperungen zu machen. Parallel zu den aufkommenden Rückführungen wurden Forschungen bekannt, die unter Federführung des amerikanischen Psychiaters Ian Stevenson vor allem in Asien stattgefunden hatten und Aussagen von Kindern überprüften, die nach deren Selbstverständnis von eigenen Verkörperungen handelten, die meist kurz zurückzuliegen schienen.
Die geisteswissenschaftlichen Forschungen Rudolf Steiners zum Thema spielten damals wie heute im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle, obwohl sie aufgrund ihrer Eigenart, dem Erkenntnisbedürfnis des modernen Bewusstseins Rechnung zu tragen, insbesondere demjenigen als höchst aktuell erscheinen können, der sich nicht mit zeitgenössischen Neu-Offenbarungen begnügen, sondern gedanklich verstehen will, «wie Karma wirkt» (Vortragstitel Steiners). In der entsprechenden Szene wurde bislang übersehen, dass Steiner als philosophisch wie naturwissenschaftlich gebildeter, dabei unkonventioneller Denker und Kulturinspirator, ein gedanklich außerordentlich reizvolles Konzept von Karma und Wiederverkörperung entwickelt hat, das viele üblicherweise offen bleibende Fragen schlüssig zu beantworten vermag. Sein Verständnis des Menschen beinhaltet die beiden Ideen als fundamentale Tatsachen der Entwicklung des menschlichen Geistes, die nicht nur dem Glauben, sondern menschlicher Erkenntnis zugänglich seien. Doch stießen seine Auffassungen außerhalb eines Umkreises interessierter Persönlichkeiten in der Vergangenheit häufig auf Gleichgültigkeit und Skepsis, oder sie wurden aus der Perspektive des neuzeitlichen Materialismus als unwissenschaftlich belächelt. In der Tat lassen sie sich nicht mit überholten Denkgewohnheiten über Mensch und Welt vereinbaren, sondern erfordern die Anstrengung sorgfältigen und radikalen Umdenkens in grundsätzlicher Hinsicht.
Angesichts der heute erneut zunehmenden Akzeptanz der Ideen von Reinkarnation und Karma, angesichts des reichen Angebots sogenannter Rückführungen in frühere Leben wie auch zahlreicher Veröffentlichungen vermeintlicher Erinnerungen an einstige Verkörperungen, scheint es naheliegend und lohnend, sich mit dem Karmaverständnis Steiners und seinem Übungsansatz vertraut zu machen. Dazu soll dieses Büchlein Gelegenheit bieten.
Wie lässt sich der Steinersche Karmabegriff in seinen wesentlichen Zügen charakterisieren?
Zunächst ist mit einem solchen Begriff der Gedanke der aufeinander folgenden Erdenleben untrennbar verknüpft. Karma verbindet die früheren mit der gegenwärtigen Verkörperung bzw. diese mit den folgenden Inkarnationen im Sinne eines Zusammenhangs früherer Ursachen mit später eintretenden Wirkungen.
Steiner gebraucht zur Erläuterung dieses Zusammenhangs gelegentlich den Vergleich mit einem Bogen.1 Der Schuss des Bogens erzielt gewisse Wirkungen. Zugleich sind bei dessen Nutzung Rückwirkungen auf ihn selbst beobachtbar. Die Sehne wird schlaffer, das Holz verändert sich durch den Gebrauch.
In einem vergleichbaren Sinn wirken die Handlungen des Menschen auf ihn selbst zurück. Seine Taten und Unterlassungen im weitesten Sinne – also auch alles, was er mittels seiner Sinne wahrnimmt und mithilfe seiner Erkenntniskräfte verrichtet – kehren in ihren Folgen in verwandelter Form in späteren Verkörperungen zu ihm zurück. Doch sind diese Rückwirkungen, anders als beim Bogen oder einem genutzten Handwerkszeug, weder ihrer Art noch dem Zeitpunkt ihres Eintreffens nach vorhersehbar. Und während der Bogen unter den anhaltenden Rückwirkungen gleichsam ein anderer wird, treffen die karmischen Rückwirkungen auf die unveränderliche geistige Individualität. Nur deren seelische (astralische) und leibliche (ätherische und physische) Umhüllung unterliegt im Laufe der Verkörperungen den Auswirkungen früherer Geschehnisse und wandelt sich dementsprechend. Die Individualität erfährt dadurch zwar entscheidende Bereicherungen und Vertiefungen, in ihrem Kern aber bleibt sie sich gleich.