Der kleine Hey

Die Kunst
des Sprechens

Nach dem Urtext
von Julius Hey

Neu bearbeitet
und ergänzt
von Fritz Reusch

 

 

 

 

 

 

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Bestellnummer SDP 52
ISBN 978-3-7957-8600-7

© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 8702
© 1956, 1971 (revidierte Neuauflage) und 1997 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

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Vorwort des Herausgebers

Als Julius Hey um die Jahrhundertwende sein dreiteiliges Werk »Deutscher Gesangsunterricht« herausgab, konnte er kaum ahnen, daß dieses Lehrbuch, wenn auch in verkürzter Form, einen Siegeszug durch alle Lande antreten sollte. Hey hatte seine Lehrweise ursprünglich nur für seinen Schülerkreis und zudem als reine Gesangslehre entwickelt. Erst die Verantwortung gegenüber der oft fehlerhaften Aussprache bei Schauspielern und Sängern veranlaßte ihn, seinem Hauptwerk einen »Sprachlichen Teil« anzufügen.

Es bezeugt die Richtigkeit dieses Lehrweges, daß gerade dieser Teil unter dem Namen »Der Kleine Hey« das Standardwerk für Sprecherziehung geworden und dies in größter Auflage bis heute für die sprechtechnische Ausbildung der »Schauspieler, Redner, Geistlichen, Lehrer und Sänger« geblieben ist. Die Lehrweise Heys erfaßt die elementaren Grundlagen der »Kunst des Sprechens« so allgemeinverbindlich, daß sie ebenso als das fundamentale Lehrbuch für die Nachwuchsschulung der Rundfunksprecher, Telefonistinnen und der Berufsredner innerhalb der Organisationen – also für die mehr praktische Rhetorik – benutzt wird. Nicht zuletzt bietet sie eine wertvolle Hilfe für den Unterricht in der Schule wie auch für das private Selbststudium.

Zwar ging die von Fritz Volbach besorgte Neuausgabe (1912) inhaltlich auf den »Sprachlichen Teil« Heys zurück, es erfolgten jedoch, außer den notwendig gewordenen Umarbeitungen der stimmphysiologischen Grundlagen, eingreifende Abänderungen des Originals, vor allem im Hinblick auf die Lautordnung und die Auswahl der Kapitel. Diese sachlichen Gründe waren maßgebend, die vorliegende Neubearbeitung dem Urtext wieder anzugleichen. Julius Hey begründete seine Lautordnung ausdrücklich durch den »organischen Zusammenhang« ihrer phonetischen Bildung (bis in die Phonationsstellungen hinein); außerdem fanden sich wertvolle, gerade in unserer Zeit wieder gültige sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, die Julius Hey, neben seinem umfassenden physiologischen Sachwissens, zum unbestrittenen Altmeister der Sprecherziehung machen. Auch das in Vergessenheit geratene Kapitel über »Die sprachliche Tonbildung«, das unter dem Titel »Die Stimmprüfung« erstmals wieder veröffentlicht wird, schien der Wiederaufnahme wert.

Trotzdem war eine eingehende Neubearbeitung bzw. Ergänzung der bisher vorliegenden Ausgaben notwendig. Sie geschah im Hinblick auf die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Stimmphysiologie und Phonetik sowie auf den künstlerischen Auffassungswandel der Redekunst und Sprechgestaltung. Insbesondere sind die beiden Kapitel über »Rhythmus und Dynamik in der Sprache« und »Übungsliteratur für den Unterricht« umgestaltet worden. Ergänzend hinzugekommen ist der neue Beitrag über »Das Stimmorgan« (Atmung, Tönung, Lautung).

Die schwierigste Frage war, ob die bekannten und bewährten »Sprechverse« beibehalten oder durch neue ersetzt werden sollten. Mögen sie auch hie und da als »mechanisch« empfunden werden und dem Prinzip der »Ganzheitsmethode« im Unterricht widersprechen, so begründet Julius Hey ihre Verwendung mit folgenden Worten: »Bei den Übungsversen konnte durch die Häufung tautophoner (vokal- und konsonantengleicher) Wortbildungen eine gewisse Monotonie des mehr mechanischen Vortrages nicht vermieden werden. Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß die phonetisch einwandfreie Aussprache nur durch äußerste Konzentration auf die Lautbildung zu erreichen ist. Jeder Versuch, gleichzeitig damit ein Kunstwerk dichterisch zu gestalten, wäre, abgesehen vom Mißbrauch des künstlerisch Geschaffenen, rein übungsmäßig kaum zu bewältigen und würde vom Erlebnis der elementaren Lautgebärde nur ablenken.« Gerade in diesen »Sprech-Etüden«, die vom Phonetischen der Lautgebärde her gesehen zweifellos genial konzipiert sind, liegt das Typische und Wertvolle des »Kleinen Hey«; um dieses Bewährten und Vertrautgewordenen willen sind sie in der nahezu ungekürzten Fassung beibehalten worden.

Und damit noch ein letztes Wort über den Gebrauch des »Kleinen Hey«. Dieses ausgesprochene Lehrbuch ist weniger zum Durchlesen als zum kapitelweisen Durcharbeiten bzw. zum Nacharbeiten und Nachschlagen geschrieben worden. Man gehe daher mit Sorgfalt, Fleiß und Geduld und nicht problematisch und reflektierend an die Arbeit, greife einzelne Abschnitte oder Laute heraus und lasse sich von den eingehenden Beschreibungen führen. Der originale Text ist vielfach so anschaulich geschrieben, daß sich schon beim Lesen die richtigen Artikulationsbewegungen von selbst einstellen. Erkennt der Lesende zudem noch die Vielfalt der von Hey gebotenen Anregungen und Wissensgehalte, dann wird er mit Ehrfurcht die ungeheure Kleinarbeit dieses einzigartigen und menschlich so sympathischen Lehrmeisters dankbar zu schätzen wissen.

Unsere Zeit ist schnellebiger als die damalige. Wir erwarten oft nur »Rezepte«, die möglichst rasch zum Erfolg führen. Was uns aber, gerade im Hinblick auf »Die Kunst des Sprechens«, nottut, ist die Besinnung auf das Geistige, die Liebe zur Sache und ein lebendiges Spüren der Sinne für das im Wortelement Wirksame. Nur auf diese Weise kommt unsere Zeit, über das Zweckhafte der Umgangssprache und deren drohenden Verfall hinaus, wieder zu einer Kultur des Wortes.

»So wie die Dichtkunst schöpferisch gestaltetes Wort ist, so sind auch die Elemente des Wortes, die Laute, geistigen Ursprungs. Als solche sind sie ›Zeichen‹ einer dem Geistigen immanenten Ordnung, in der auch der Mensch lebendig steht.

Die Kunst des Sprechens ist mehr als nur die Bildung von Vokalen und Worten. Sie ist ein Aufnehmen, ein Innewerden von Kräften, die dem Menschen durch seine Stimme zuströmen. Sprech-Erziehung heißt: dem inneren Sinn und Gesetz der Sprachelemente bis zur Wurzel nachzuspüren, um darin die Wahrheit und Schönheit des Sprachkunstwerkes erkennen und erleben zu können.«

Fritz Reusch

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Die Stimmprüfung

Stimmfehler und Stimmhilfen

Die Lautlehre

Zur Einführung

Die sprachliche Behandlung der Vokale (Vokalisation)

1. Die hellen Vokale

A (18–22), Ä (22), E (23–25), I (26–27)

2. Die dunklen Vokale

O (28–30), Ö (30), Ü (31), U (32–33)

3. Die Doppellaute

AI–EI (34), AU (35), ÄU–EU (36–37)

Die sprachliche Behandlung der Konsonanten (Artikulation)

1. Die Klinger

L (39), N–NG (40–41), M (41), R (42–44), W (45), J (45)

2. Die Reibelaute

Vorderes CH (47), S (47–48), Z (49), SCH (50–52), F, V, PF (52–53)

3. Die Verschlußlaute

K–CK (54–55), G (55–56), Q (57), Hinteres CH (57), H (58–59), D–T (60–61), B–P (61–62)

Rhythmus und Dynamik der Sprache

1. Silben-, Wort- und Satzbetonung

2. Hebung und Senkung des Sprechtones

3. Sprachrhythmus und Versmaß

4. Zeilen- und Strophenform

Das Organ der Stimme

1. Atmung

2. Tönung

3. Lautung

Übungsliteratur für den Unterricht

Schrifttum

Die Stimmprüfung

STIMMFEHLER UND STIMMHILFEN

Jeder Sprecherzieher sollte nicht nur vor der ersten Unterrichtsstunde, d. h. ehe er mit einem neuen Schüler zu arbeiten beginnt, sondern auch von Zeit zu Zeit als Kontrolle eine eingehende Prüfung der ihm anvertrauten Stimme vornehmen. Er gewinnt dadurch Klarheit über Ziel und Weg seiner Lehrweise und findet den richtigen Ansatzpunkt, um die individuelle Stimmveranlagung des Schülers aus den natürlichen Gegebenheiten am besten entwickeln zu können.

Diese Forderung gilt in fast noch höherem Maße für jeden, der den »Kleinen Hey« zum Selbststudium benutzen will. Zwar ist es, besonders für den Anfänger, nicht leicht, seine eigene Stimme zu beurteilen, d. h. etwaige Stimmhemmungen zu konstatieren und dementsprechend zu korrigieren. Man lernt dies am besten durch eingehende Selbstbeobachtung, und zwar unter Gesichtspunkten, wie sie im folgenden als »Stimmhilfen« gegeben werden. Denn nur so gewinnt der Sprecher allmählich einen objektiven Eindruck von seiner Stimme und befreit sich vom Befangensein und, was noch schlimmer ist, vom »Verliebtsein« seinem eigenen Stimmklang gegenüber.

Mag es auch das Ziel jeder Stimmerziehung sein, das »Persönliche« eines Menschen durch seine Stimme zum Ausdruck kommen zu lassen, so steht sie zunächst doch vor der praktischen Aufgabe, auch bei unzureichender Beschaffenheit des Organs die Tonerzeugung wie auch die Tonbildung so weit zu fördern, daß Stimmfunktion und Sprechweise technisch und künstlerisch allen Anforderungen gerecht werden können.

Dabei ist unter Tonerzeugung im folgenden alles das zu verstehen, was die Voraussetzung zu einer natürlichen und gesunden Stimmfunktion bildet: die Atmung und die damit verbundene Zwerchfelltätigkeit, das lockere Muskelspiel des gesamten Körpers, vor allem des Stimmorgans, und nicht zuletzt der einwandfreie Stimmbandschluß. Tonbildung dagegen umfaßt die vielseitige artikulatorische Arbeit innerhalb des Ansatzrohres: Weitung des Schlundraumes, Öffnen der Resonanzen, Registerausgleich als Grundlage einer tonlich vollklingenden und klaren Vokalisation und Artikulation.

Man könnte diese beiden Hauptaufgabengebiete der Stimm- und Sprecherziehung unter die Leitworte »Luft und Raum« stellen. Denn nur durch das Bereitmachen und die Pflege dieser beiden wichtigsten Voraussetzungen wird der nötige Stimmklang erst geschaffen und gestärkt, damit er für die Sprechgestaltung, besonders wenn sie beruflich ausgeübt wird, ausreicht.

Zweifellos kann auf Grund methodisch richtiger Anleitung jedes Sprechorgan bis zu einem gewissen Grad der Klangvervollkommnung gebracht werden. Unüberwindliche organische Fehler dürfen freilich nicht vorhanden sein: z. B. Stimmbänder mit Wucherungen, chronische Anschwellung der Weichteile im Schlund oder verstopfte Nasenwege (Polypen) usw. Alles andere, d. h. nicht organisch Bedingte, ist zu korrigieren. Sogar bei ungünstigstem Stimmbefund (heiseres oder tonloses Sprechen) kann eine kräftige und modulationsfähige Stimme allmählich entwickelt werden.

Um zu erkennen, wo die Natur aufhört und die Unnatur beginnt, gehe man beim Unterricht zunächst vom normalen Sprechton (Eigenton) des Schülers aus. Man lasse ihn ein einfaches Gedicht, das keine merkliche Hebung und Senkung der Stimme erfordert, oder auch einen Prosatext sprechen. Das zuverlässige Ohr des Lehrers wird dabei bemerken, wie es um die Atmung bestellt ist und ob eine natürliche Vokalaussprache vorhanden ist oder nicht. Die Bildung der Konsonanten, die meist unzulänglich ist, kann zunächst noch außer Betracht bleiben, es sei denn, organische Sprachfehler beeinträchtigen die Artikulation.

Noch eindeutiger läßt sich die natürliche Beschaffenheit des Organs beurteilen durch Sprechübungen auf den drei Grundvokalen: A, U und I. Sie sollen langsam, mehrmals und im Wechsel von laut und leise gesprochen werden. Für den Vokal A wähle man den Sprechvers: Barbara saß nah am Abhang (S. 21), oder, abwechselnd zwischen A und E: Nah dem Hage Tannen schwanken (S. 21). Für U und I eignen sich am besten: Unter dunklen Uferulmen (S. 33) bzw.: Spitzfindig ist die Liebe (S. 27).

Schon hier erkennt man, bei welcher Lautstärke und unter welchen sonstigen Vorbedingungen die Klang- und Vokalerzeugung am günstigsten ist. Will man noch die Anspruchsfähigkeit des Organs bei raschem Vokalwechsel mit schwierigen Konsonantenanhäufungen prüfen, so lasse man kurze Sätze etwa in folgender Art sprechen: Kurt wacht nicht; Wicht huscht nachts; Waldpracht lugt durchs Zwielicht.

Hat man nun festgestellt, welcher Vokal der natürlichen Klangäußerung am meisten entgegenkommt, so festige man den sog. »Normalton«1), d. h. den auf dem physiologisch-phonetischen »Nullpunkt« (bei völlig gelöstem Stimmorgan) gebildeten Vokal, der gleichsam »absichtslos« erklingen muß. Man nennt diesen Normalton auch die »Indifferenzlage«, von der Fritz Schweinsberg sagt: »Alle stimmtechnische Arbeit ... muß von der Indifferenzlage ausgehen. Das ist jener Tonbezirk, der bei geringstem Energieaufwand erzeugt wird. In ihm und um ihn herum bewegt sich die natürliche Sprechtonlage des Menschen.«

Gerade diese für den Anfang so wichtige Sprechweise fällt dem Schüler oft schwer; sie vermittelt aber, etwa durch aneinandergereihte Silben: la–la–la oder na–na–na, am ehesten die indifferente, ruhige Stellung des Kehlkopfes sowie der übrigen Organe.

Sind mit dieser ersten Eignungsprüfung die individuellen Stimmvoraussetzungen festgestellt, dann erhebt sich die Frage: Womit hat der Unterricht nun zu beginnen? Man vergesse nie, daß auch ein wohlklingendes Organ niemals so gefestigt und widerstandsfähig ist, um den gesteigerten Anforderungen einer gesicherten Berufs- oder Kunstsprache standhalten zu können. Der Registerausgleich, die natürliche Erweiterung der Ausdrucksfähigkeit, die Kräftigung der Vokalbildung durch Öffnen der Resonanzen – also alles das, was zur dynamischen Schattierung des Vortrages erforderlich ist, läßt sich nur durch sorgfältige Auswahl des Unterrichtsstoffes und durch immer wiederholtes, richtiges Üben erreichen.

Um dem Lehrer hierbei die Wahl des rechten Weges zu erleichtern, sollen im folgenden die wichtigsten Stimmfehler und Stimmhilfen in der Form von Frage und Antwort behandelt werden:

Frage 1: Was soll geschehen, wenn das Organ zu schwach oder die Tragfähigkeit der vokalen Klangäußerung zu gering erscheint, um einen größeren Raum stimmlich ausfüllen zu können?

Antwort: Bei einem zu schwachen oder zu wenig tragfähigen Organ sind vor allem die Ursachen zu klären, die die Entfaltung des Sprechtones behindern. Bei weiblichen Stimmen z. B. ist es in den meisten Fällen das Sprechen auf dem widerstandslosen Mittelregister, das bei entsprechender Klangsteigerung nicht selten (durch Mangel an resonanzfähiger Kopfstimme) kreischend und doch dünn und ausdruckslos wirkt. Ebenso verhindert eine schwächliche oder ungeordnete Atmung den kraftvollen, weittragenden Ton.

Hier hilft nur tiefgehende, energische Einatmung (Zwerchfell-Flankenatmung!). Durch sie wird die bei Anfängern oder konstitutionell schwach Veranlagten oft zu beobachtende, aber unzulängliche Schlüsselbein- oder Hochatmung ausgeschaltet. Hat der Schiffer in ruhiger, ungezwungener Haltung die Lunge reichlich mit Luft gefüllt, dann lasse er mit der Mundstellung des Vokals A den Atem langsam und gleichmäßig wieder entweichen.

Um den Sprechton nun in den Bereich des tiefen, resonanzreichen Brustregisters zu bringen, laute man den Vokal A oder die Silbe »la« mit möglichst kräftigem Toneinsatz an, und zwar im Wechsel zwischen Sprechen und Singen. Man wähle zunächst eine natürlich-bequeme Tonlage (Eigenton!) und erweitere sie allmählich nach oben und nach unten. Sodann folgt der Klingeranschluß: al – am – an oder der Konsonantenanlaut: la – ma – na; da – dort – du und schließlich der Übergang zu den hellen Vokalen und Doppellauten: il – el; ni – ne; eil – ein usw.

Bei klanglosen Männerstimmen gehe man den gleichen Weg. Man wird hier oft rascher zum Ziel gelangen, da keine scharf geschiedenen Registergrenzen den Stimmumfang einengen. Zur Stärkung des Brustregisters bevorzuge man die dunkle Vokalreihe, in ebenso weittragender, metallischer Färbung2).

Damit schwache Stimmen nicht überfordert (forciert) werden, vermeide man anfangs allzu große dynamische Steigerungen und wäge die bereits gewonnene Widerstandsfähigkeit des Organs sorgsam ab.

Frage 2: Was ist zu tun, wenn das Stimmorgan (Material) zwar kräftig und weittragend, seine Klangbeschaffenheit (Timbre) aber so rauh und unbiegsam ist, daß die Vokalbildung faserig, spröd, ja geradezu unsympathisch wirkt?

Antwort: Bei einer an sich kräftigen und weittragenden, aber rauh und unbiegsam klingenden Stimme ist der Weg genau umgekehrt wie oben. Hier geht es um die weiche Anspruchsfähigkeit des Organs, die nur von der »primären Klangerzeugung«, d. h. von der gesunden Funktion der Stimmbänder und der mit ihnen in Verbindung stehenden Teile aus zu gewinnen ist3). Die »faserige« oder hauchige Vokalbildung wiederum hängt mit mangelhafter Atemregulierung (Atembalance!) oder mit ungenügendem Stimmbandschluß zusammen.

Dieser Fehler wird am ehesten behoben durch Anlauten des Vokals I, der den engsten Glottisschluß bewirkt. Man intoniere ihn, nach tiefer Einatmung und längerer Bereitschaft vor dem Beginn des Vokaleinsatzes (kurzes Anhalten des Atems), in scharf abgesetzten Impulsen. Dabei helle man die zwischen Sprechen und Singen erklingende Tonlage etwas auf: i–i–i, il–il–il.

Weitere Silbenbildungen mit Klingern folgen, an die sich dann der Vokal so weich wie möglich anschließen soll. Spricht das Organ leidlich gut an, bleibt es aber dennoch hart und spröde, so übe man im Pianissimo: wi – wü – wu; li – lü – lu; ni – nü – nu. Oder: sie blüht nun nochmals; wie kühn und wortkarg. Schließlich gehe man mit kräftigem Toneinsatz zu den hellen Vokalen I, E, Ä und A über.

Frage 3: Wie erreicht man beim Schüler die lautreine Vokalbildung, so daß er fähig ist, die hellen Vokale von den dunklen zu unterscheiden?

Antwort: Falls der Schüler den Gegensatz zwischen heller und dunkler Vokalisation noch nicht genügend beherrscht, so helfen kurze, klar gesprochene Silben wie: die, da, dort oder: wie, wo, was. Es kommt darauf an, durch die Verfeinerung des Tastsinnes (Erspüren des Muskelspiels der Sprechorgane) den Tonsinn (innere Klangvorstellung) immer mehr zu wecken.

Bringt der Anfänger hingegen ein natürliches Empfinden für den Unterschied der Vokalfärbung mit, so gehe man bald zu den Konsonanten über.

Frage 4: Welches Vokalgebiet erleichtert dem Schüler eine natürliche, unbehinderte Tongebung und Aussprache?

Antwort: Diese Frage läßt sich nicht generell beantworten. Die eine Stimme neigt anlagemäßig mehr zum hellen, die andere zum dunklen Vokalgebiet. Darin äußert sich die Klangfarbe (Timbre) der betreffenden Sprechstimme. Zwar wird man immer von der günstigsten Veranlagung ausgehen, das Endziel bleibt jedoch, die klare und reine Aussprache aller Vokale zu erreichen. Hier muß der Lehrer behutsam führen, indem er zunächst einmal alle mundartlichen Unreinheiten (Lautverschiebungen) ausmerzt. Der Schüler bemühe sich indessen, auch in seiner Umgangssprache einwandfrei zu sprechen.

Frage 5: Welche physiologischen Ursachen bedingen die ungenügende oder gar fehlerhafte Vokal- und Konsonantenbildung, so daß die freie Klangentfaltung der Sprechstimme behindert wird?

Antwort: Es gibt die verschiedensten Ursachen einer erschwerten Aussprache. Meistens verhindert die schwerfällige Zungenbewegung eine einwandfreie Konsonantenbildung; auch der Vokalklang wird eingeengt. Gymnastische Übungen mit Zunge, Zäpfchen und Gaumensegel oder intensive Bewegungen des Unterkiefers, der Lippen usw. geben den Artikulationswerkzeugen (Formanten) Leichtigkeit, Geschmeidigkeit und doch die nötige Energie. Man unterstützt den Erfolg dieser Übungen, indem man die Silben: na und da, bei flachgelegter Zunge, mit rascher und sich weit öffnender Kieferbewegung sprechen läßt.

Klingen die Laute gaumig, so liegt das am verengten Schlund- und Rachenraum (pressen und knödeln). Man bringe die Zungenmasse nach vorne und bemühe sich, das an sich unwillkürlich arbeitende Zäpfchen »in den Griff zu bekommen« und hochzustellen. Dies geschieht am besten durch die Bereitschaftsstellung für helle Vokalisierung (gehobene Oberlippe) und durch langsame, tiefe Einatmung durch Mund und Nase (Gähnstellung!). Dabei intoniere man, bei gehaltener »Atemstütze«, kurz und kräftig den Vokal A (a – a – a), erst ruhig, dann schneller, bei langsam entweichendem Atem. Auf diese Weise wird sich bald ein freier Vokalklang einstellen, der durch dunkle Färbung abgerundet und veredelt werden kann.

Frage 6: Wie lassen sich mundartliche, angeborene oder durch Gewöhnung eingepflanzte Lautverbildungen ausmerzen und was soll geschehen, wenn die reine Aussprache durch falsche Muskelspannungen oder durch schlechte Atemführung beeinträchtigt wird?

Antwort: Mundartliche Lautverbildungen sind oft schwerer zu bekämpfen als organische Stimmfehler, da sie auf Gewöhnung und Sprech »faulheit« (Nuscheln) beruhen. Dadurch ist das Ohr verdorben. Insofern fällt schon der Volks- und höheren Schule die verantwortungsvolle Aufgabe zu, die Jugend zur klangschönen, lautreinen Hochsprache zu erziehen. Die Dialekte sind so verschiedenartig, daß sich kaum allgemeingültige Lehrweisen vorschreiben lassen. Der Sprecherzieher muß vielmehr mit gutem Gehör und Geschmack die Fehler erkennen, und er soll selbst einwandfrei vorsprechen. Meistens ist der Vokalklang verbildet, oder es werden die Konsonanten, vor allem auch die Endsilben, lässig ausgesprochen. Erst wenn der Schüler den Unterschied zwischen Mißbildung und reiner Hochsprache selbst zu erkennen vermag, kann er das Falsche mit Erfolg verbessern.

Bleibt es dennoch bei unüberwindlichen Aussprachefehlern, dann ist zu untersuchen, ob nicht bestimmte (obengenannte) Organveränderungen die mangelhafte Artikulation bedingen. Diese kann man, sofern sie nicht krankhaft sind (Stimmbandknötchen, Polypen usw.), durch geeignete Übungen ausgleichen: Atemführung, Intonationsübungen oder kurze Silben mit nasalem Abschluß: im, in, ing; im, üm; in, üng, ni, nüng.

Mangelnder Stimmbandschluß kann durch folgende Übungen behoben werden (wobei die Vokale mit fast hartem Toneinsatz, jedoch leise, ohne Ausströmen des Atems zu intonieren sind): Im ersten Ärger; in ew’ger Angst; ihr edlen Äste am Obstbaum.

Frage 7: Wie weit reicht der Umfang der mit brauchbarem Brustton erzeugten Stimme und wie läßt sich dieser auf natürlichem Wege vergrößern?