Lars Mytting
Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund
Roman
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Insel Verlag
Es ist aber nichts verborgen, das nicht offenbar werde,
noch heimlich, das man nicht wissen werde.
Darum, was ihr in der Finsternis saget,
das wird man im Licht hören.
Evangelium nach Lukas
Irgendwo im Hekne-Teppich findet sich auch dein Gesicht.
Astrid Hekne
Eine vergessene Geschichte
Der Schlitten glitt leicht über das Eis des Flusses. Der Lågen war auf ganzer Länge gefroren. So benötigten Eirik Hekne und seine beiden Töchter nur drei Tage für die Reise von Butangen nach Dovre.
Im Jahre 1611 führten nur mühsame Karrenwege durch das Tal, wenn aber der Fluss zugefroren war, gingen solche Reisen sehr viel leichter vonstatten, oft sogar fröhlich. Die Leute, die sie im stiebenden Schnee sahen, dachten, die Schwestern würden eng beieinander unter dem Rentierfell sitzen, um sich gegenseitig zu wärmen. Wenn die Pferde ausruhen mussten, stiegen sie nicht ab, und nach ihrem Alter gefragt, antworteten sie, sie seien 1595 geboren, aber Halfrid im Sommer und Gunhild näher an Weihnachten. Dann fuhren sie weiter, ließen die Neugierigen verdutzt stehen, und wenn der Schlitten so weit gekommen war, dass niemand sie mehr hören konnte, lachten Vater und Töchter lange. Ein Lachen mit einem Beiklang war das, Übermut mit einem Kern von Resignation, zwiespältig wie alles andere in ihrem Leben auch, ganz ähnlich dem kurzen Kichern, wenn die eine von ihnen Lust auf etwas hatte und die andere sagte, sie solle doch aufstehen und es sich holen.
Sie trieben die Pferde weiter in nördliche Richtung und machten abends in der Nähe von Sel halt, an einem Hof, wo die Hekne-Leute Bekannte hatten. Dort rutschten die Mädchen vom Schlitten herab, vier Füße trafen den Boden zugleich. Als Erstes zogen sie sich die Schürze zurecht, die so breit war, dass sie beider Leibesmitte bedeckte, dann humpelten sie in ein Blockhaus, wo ein extrabreites Bett auf sie wartete.
Tags darauf waren sie gemeinsam mit der Sonne wach, die aber verschwand, als sie die tiefen Schluchten von Rosten erreichten, in denen ewiger Schatten herrschte. Die Felswände sahen aus wie von einem wütenden Riesen zugehauen. Niemals erreichte die Sonne den Talgrund, es hieß, hier werde es nie wärmer als an einem kalten Oktobertag, und hier lebten ausschließlich Geschöpfe, die kein Licht brauchten – oder keines ertrugen. Ringsum stürzte der Fels in den brausenden Fluss, der an dieser Stelle nie ganz gefror und nur als Schaum zu sehen war. Eirik leitete die Pferde im tiefen Schnee zwischen herabgestürzten Felsblöcken hindurch steil bergauf. Vater wie Pferde, Töchter wie Schlitten waren weiß vom gefrorenen Wasserdunst, durch den sie fuhren, das Tosen war so laut, dass nichts zu hören war und nichts gesagt zu werden brauchte, denn der einzige Gedanke in Rosten galt der Frage, wie lange es noch dauerte, bis man aus Rosten draußen war.
Dann glättete sich die Landschaft wieder, es gab die Sonne doch immer noch, und froh erreichten Pferde und Menschen die Blockhäuser des Hofs Lie, wo sie von der Tante der Mädchen empfangen wurden. Sie war in Butangen bei der unendlich langen Geburt dabei gewesen, an deren Ende ihre Schwester, die Mutter der Zwillinge, starb und die Frauensleute das Wunder bestaunten, das da im Blut von Astrid Hekne strampelte: zwei Mädchen, an der Hüfte zusammengewachsen.
Inzwischen waren diese Mädchen sechzehn Jahre alt und sollten hier in einer Hütte oberhalb von Lie leben, an einem selten befahrenen Karrenweg, in passender Entfernung von den Menschen. Die Hütte war eigens für sie gebaut worden, aus ordentlich winddicht gesetzten Stämmen und ebenmäßig zugerichteten Innenwänden, die gelb leuchteten und nach frischer Kiefer dufteten; ein Schlaf- und ein Arbeitsraum. Sie richteten sich dort ein und scherzten wie üblich miteinander. Als Halfrid Gunhild bat, im Ofen Holz nachzulegen, antwortete ihre Schwester: »Ja, wenn du Wasser holst.«
Seit ihrer Kindheit hatten die beiden Mädchen ihre Familie mit Webarbeiten überrascht und erfreut. In Butangen und den umliegenden Dörfern waren allerdings nur schlichte Muster bekannt. Jetzt wollte Eirik ihnen das jahrhundertealte Wissen zugänglich machen, das, so wusste er, weiter nördlich bewahrt wurde. Bei ihrer Tante konnten sie von den ältesten Meisterinnen aus dem Bøverdal und Lesja und den Dörfern dazwischen lernen. Murmelnd und bedacht, gebeugt und oft barsch, alles Frauen, Trägerinnen von aus der Vergangenheit ererbtem Wissen um Wolle und Pflanzenfarben. Nur sie kannten bestimmte Muster, die von der Nachwelt als skybragd, Wolkenpracht, oder lynild, Blitzfeuer, bezeichnet und weder mündlich erklärt noch schriftlich aufgezeichnet wurden, sondern nur erlernt werden konnten, indem man wochenlang danebensaß und sie dann stets aufs Neue wiederholte.
Ohne dass es ihnen selbst bewusst war, gehörten viele Frauen im nördlichen Gudbrandsdal zu den kundigsten Vertreterinnen der europäischen Webkunst. Tagelang saßen sie vor altertümlichen, an der Wand lehnenden Hochwebstühlen, deren Kettfäden von durchbohrten Steinen beschwert herabhingen. In anderen Ländern war dieses Handwerk durch Zunftregeln oder sogar Gesetze Männern vorbehalten, und was in dieser Gegend smettvev hieß, wurde im übrigen Europa als Gobelin bezeichnet, als Webteppich, Bildwirkerei. Aber was woanders in der Welt vorging, interessierte hier noch weniger, als was auf dem Mond passierte, und wenn sich jemand darüber beschwert hätte, hätte er zu spüren bekommen, dass es für Frauen aus dem Gudbrandsdal, waren sie nun arm oder reich, keine Tradition in Untertänigkeit gab und sie selbst dem geduldigsten Mann die Hölle heiß machen konnten.
Monat um Monat wurden die Hekne-Schwestern von ihren Lehrerinnen besucht. Bei Tageslicht wurde gewebt, am Abend vor der Feuerstelle gesponnen, in deren Wärme das Wollfett weicher wurde. Die Mädchen lernten geheime Techniken der pflanzlichen Wollfärbung, überdies – so wurde erzählt – durften sie im Zwielicht auch einen Blick auf Webstücke aus vorchristlichen Zeiten werfen, auf Bilder, die uralte nordische Sagen erzählten, mit nicht mehr deutbaren Symbolen und Figuren von Gestaltwandlern und Wesen, halb Tier, halb Mensch.
Doch das gehörte zu den Lehren der Nacht. Am Morgen saßen die Mädchen wieder im Sonnenlicht, bereit, Bildteppiche mit der Darstellung christlicher Legenden zu schaffen. Stets Seite an Seite, die breite, schön bestickte Schürze über Leibesmitte und Beinen. Ihre Fingerfertigkeit hatten sie dann schon durch die stets variierenden Zopfmuster bewiesen, die sie einander bei Sonnenaufgang flochten, und die Traurigkeit, die ihre Begleiterin sein musste, war entweder noch nicht herangereift, oder sie hatten sich längst mit ihr abgefunden.
Die Alten entdeckten schnell, wie behände und genau die beiden arbeiteten. Mit ihrer ganz eigenen vierhändigen Methode flochten sie die Fäden rascher ein als sonst jemand, und wer sie beobachtete, dem wurde klar, warum »Weberknecht« (norwegisch »Webweib«) auch der Name einer Spinne war. Bald auch bemerkten die Meisterinnen die besondere geistige Verbindung zwischen den Schwestern. Eng verknüpfte Reflexe, schattenartig gelesene Gedanken – der Einfall der einen war noch nicht mal ausgesprochen, so half ihr die andere bereits bei seiner Verwirklichung. Wenn sie sich aber uneins waren und gegeneinander arbeiteten, ging gar nichts mehr, da konnte die eine sich nichts vornehmen, ohne dass die andere es sofort blockierte oder zerstörte. Zudem sahen sie die störenden Züge der anderen vorher und ärgerten sich zusätzlich darüber. So war es schwer, Frieden zu finden und den Ärger aus der Welt zu schaffen. Dann gab es ein hartnäckiges, fruchtloses Ringen, das die Lehrerinnen beenden mussten, damit eine schöne Arbeit nicht verdorben wurde.
Bis dahin hatten die beiden Mädchen nur selten eigene Muster entworfen und hatten sich die geheimnisvolle Bildsprache, für die sie später bekannt werden sollten, noch nicht erarbeitet. Die sollte sich am deutlichsten in dem nachmals berühmten Wandteppich zeigen, der die Skråpånatta darstellte, die Kratzenacht, das Weltenende, bei dem die Erde bis auf den blanken Fels abgeschabt und Lebende wie Tote zum Jüngsten Gericht geschoben würden. Vorerst webten sie Teppiche mit den Heiligen Drei Königen oder den klugen und den törichten Jungfrauen, und so ging es den Winter und den Frühling hindurch, bis in den Sommer des Jahres 1612.
Dieser Sommer war bis zu einem Sonntag spät im August gediehen, einem Sonntag, der geschichtlich bedeutsam werden sollte. An einem Samstag hätte sich alles ganz anders entwickelt, aber sonntags waren die Dörfler in der Kirche versammelt. Alle außer den zwei Schwestern, die aufgrund ihrer Behinderung Menschenansammlungen mieden.
Auf diese Weise verpassten sie den unerhörten Vorgang, dass der Lensmann von Dovre mitten im Gottesdienst in die Kirche getrampelt kam, schlimmer noch, er hatte seine Streitaxt nicht im Vorraum abgestellt, sondern schritt mit ihr im Arm bis zur Kanzel, stieß den Schaft dreimal hart auf den Boden und gab bekannt, dass das Land sich im Kriege befand. Ab sofort.
Mehrere hundert schottische Söldner waren im Westen des Landes, im Romsdal, an Land gegangen, hatten die Lesja-Dörfer bereits passiert und näherten sich Dovre. Der Pfarrer erklärte den Gottesdienst für beendet, die Kirche leerte sich rasch, und im Laufe des Tages stellte jeder einzelne Hof einen Soldaten. Die Höfe am Talgrund wurden nacheinander verlassen, die Menschen flüchteten sich auf die Sommeralmen, nur das eine oder andere festgebundene Kalb blieb zurück. In diesen Zeiten pflegten Soldaten sich zu nehmen, was sie benötigten, ob Verpflegung, Obdach oder Frauen. Die Gerüchte besagten überdies, dass diese Schotten mit dem Leibhaftigen selbst im Bunde stünden. Es hieß, sie erschlügen jeden, den sie unterwegs antrafen, und würden die Häuser, aus denen diese armen Leute gerannt kamen, niederbrennen. Wer fliehen konnte, werde von ihren Hunden in Stücke gerissen. Sie vergnügten sich damit, dem Milchvieh die Hufe abzuschlagen und es blutend herumstapfen zu lassen. Da war es am besten, auf dem Hofplatz ein Kalb anzubinden und alle Türen offen stehen zu lassen, in der Hoffnung, dass die Soldaten genügend Essen und Platz vorfanden und den Hof verschonten.
Die Hekne-Schwestern blieben zurück. War es, um einen kostbaren Webteppich zu schützen? Sie konnten sich nur langsam zu Fuß fortbewegen, sodass sie dem Feind leicht zum Opfer gefallen wären. Oder wollten sie schlicht und einfach nicht fliehen, aus Gründen, die sie bereits zu dieser Zeit ahnten? Niemand stand ihnen nahe genug, um das zu erfahren.
Tags darauf passierte ein lärmender Trupp von über dreihundert Soldaten Dovre. Voraus die Hunde, gefolgt von Offizieren zu Pferde mit Helmen, Schwertern und je zwei Pistolen. Der Tross bestand aus einem buntscheckigen Haufen von abgerissenen Fußsoldaten und jungen Kerlen. Dann kamen noch ein paar Frauen, Waffenschmiede und Sattelmacher. Als Nachhut folgten einige erfahrene Veteranen.
Da dieses kleine Heer einem schmalen Karrenweg hoch am Hang folgte, kam es direkt an der Tür der Hekne-Schwestern vorüber. Die mussten längere Zeit die Stimmen und das Getrampel von Soldaten und Pferdehufen gehört haben. Fast war der Tross durch, da zügelte ein Offizier sein Pferd und gab einen Befehl. Zwei junge Männer bekamen je ein Schwert, verließen die Reihen und gingen auf das Blockhaus zu. Hinter ihnen wartete die Truppe.
Ohne anzuklopfen gingen sie hinein.
Blieben seltsam lange drinnen.
So lange, dass der Offizier ihnen schon jemanden nachschicken wollte, doch da kamen sie heraus, die Schwerter gesenkt, zwei mit Trinkwasser gefüllte Ledersäcke in den Händen.
Welche Worte an jenem Tag im Hekne-Haus gewechselt wurden, sollte nie jemand erfahren außer den Beteiligten. Gewiss ist, dass Soldaten auf der Hut sind, oft angsterfüllt, und man kann durchaus annehmen, dass diese beiden sich auf den ersten Blick fragten, ob das da am Webstuhl möglicherweise zwei Nornen waren, Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden eines jeden Menschen sponnen. Auf den Inseln, von denen die Soldaten stammten, lebte der altnordische Götterglauben stark fort.
Sie dürften überrascht gewesen sein, dass sie einander verstanden. Die Offiziere waren Schotten vom Festland, die Söldner aber kamen von den Orkneys und von Hjaltland – so hatten die Wikinger die Shetlandinseln genannt, die vor über sechshundert Jahren von Norwegen aus besiedelt worden waren. Man sprach dort immer noch eine Variante des Altnordischen, obwohl die Inseln jetzt Schottland zugehörten.
Das Heer zog weiter und schlug am selben Abend sein Lager an einer Stelle namens Kråkvolden auf, eine Stunde Marsch südlich des Hekne-Hauses. Dort entzündeten sie Feuer, tranken tüchtig und gaben sich dem ryggtak hin, einer Form des Ringens mit Klammergriffen um den Rücken, wohl auch von ihren norwegischen Vorvätern ererbt.
Was die Bevölkerung allerdings nicht wusste: Die Soldaten planten gar nicht, Norwegen zu plündern. Sie wollten hinüber nach Schweden, um dem schwedischen König als Söldner im Kalmarkrieg gegen Dänemark zu dienen. Sie hatten bislang auf ihrem Weg weder gebrandschatzt noch getötet. Ihren Ruf als wüste Kerle aber verdienten sie durchaus. Fast alle waren sie unbewaffnet, die wenigsten hatten schon gekämpft, die meisten waren zwangsrekrutierte Armeleutesöhne, manche aus dem Gefängnis freigekauft, andere schlicht und einfach verschleppt.
Der Führer dieses Heeres hieß Ramsay, unter ihm diente Oberst Sinclair, der jeden Morgen ein wenig Schießpulver in seiner Handfläche abbrannte, um aus der Form des Rauchs zu deuten, welche Gefahren der Tag bereithielt. Nicht, dass sie die Norweger gefürchtet hätten. Der Marsch durch dieses Land war weniger riskant als die Schiffspassage durch den Skagerrak. Norwegen war abgewirtschaftet und arm, nichts als öde Landschaften, deren abgemagerte Bewohner sich beim Anblick Fremder versteckten. Das hatte die Reise bisher ja bewiesen, oder nicht? Keine Feinde zu sehen!
Doch verbreiteten Nachrichten sich zu jener Zeit nur langsam, und so wussten Ramsay und Sinclair nicht, dass König Christian in Kopenhagen bereits acht Jahre zuvor den Glauben an das Söldnerwesen verloren und zur Verteidigung dieses unwegsamen, von harschem Wetter geplagten Landes eine neue Regelung erlassen hatte, den leidang. Diese Wehrpflicht erlegte den Bauern auf, Soldaten zu stellen, außerdem hatte jeder Hof die Pflicht, ein Gewehr zu besitzen. Es gab ein Warnsystem auf festgelegten Routen mittels Botschaftsstäben, Heerpfeile genannt. Am einen Ende waren sie schwarz angebrannt, am anderen hing eine kleine Schlinge wie von einem Galgen, zur Mahnung, dass jeder Bauer, der den leidang versäumte, am Dachfirst seines eigenen Hauses aufgehängt und das Haus selbst in Brand gesteckt werden sollte.
Die Verteidiger sammelten sich bereits.
Am Dienstag hatten die Heerpfeile auch noch den letzten Winkel des Gudbrandsdals erreicht. Einen Tagesmarsch südlich der Schotten standen fünfhundert Bauernsoldaten bereit, in einer Kringen genannten Gegend, wo der Fels steil in den Laagen abstürzte und ein schmaler, gewundener Pfad die einzig gangbare Passage war. Nebeneinander zu gehen war hier unmöglich. Am Mittwoch erreichten die Schotten diese Stelle. Als das Heer auf seine ganze Länge auseinandergezogen war, fiel ein Schuss, und Oberst Sinclair stürzte vom Pferd, an der Stirn getroffen von einem Jackenknopf aus Erbsilber, zu einer runden Kugel gekaut und abgefeuert aus einem fast zwei Meter langen Radschlossgewehr. Der Schütze war ein Mann aus Ringebu, der wusste, um einen zu töten, der mit dem Teufel im Bunde stand, war Silber vonnöten. Sinclairs einziger Trost bestand darin, dass er in den folgenden Jahrhunderten als Heerführer der Schotten bekannt wurde, denn er war vorausgeritten.
Nun wurden die Schotten mit Gewehren, Spießen und Langäxten von oben angegriffen. Drei Stunden später war die Hälfte der Söldner tot. Nur wenige Norweger waren gefallen. Die überlebenden Schotten wurden ein Stück nach Süden geführt und in eine Scheune gesperrt. Die Lensmänner gaben Order, sie in die Festung Akershus in der Hauptstadt zu bringen und dort den Männern des Königs zu überlassen. Allerdings wurde jetzt im August jede Hand bei der Ernte benötigt, und als spätnachts der Branntwein kreiste, wurde Murren laut, denn um die Gefangenen so weit zu begleiten, brauchte es viele Leute zur Bewachung und große Mengen Verpflegung und würde zudem so lange dauern, dass zu Hause Korn und Heu auf dem Feld verdarben. Das konnte ja wohl nicht der Dank des Königs dafür sein, dass sie das Land verteidigt hatten!
Der nächste Morgen brachte Fluchtversuche, Streit zwischen Wachen und Gefangenen, später auch der Wachen untereinander, und es endete damit, dass die schottischen Söldner je zu zweit aus der Scheune geführt und draußen mit Gewehren und Spießen hingerichtet wurden.
In der Stille darauf stellten sich Schreck und Scham ein.
Helf uns Gott. Was haben wir getan. Großer Gott. Was haben wir bloß getan.
Eine nach innen gewandte Angst. Darüber, zu welcher Brutalität sie fähig waren.
Dazu waren wir imstande. Selbst ich. Selbst du.
Achtzehn Mann kamen mit dem Leben davon, drei davon wurden bis nach Akershus verbracht, wo das Geschehene vom Statthalter aufgezeichnet und die Akte geschlossen wurde. Eine militärische Großtat, von einem Massaker gefolgt – niemand wollte an das Blutbad vor der Scheune erinnert werden. Achtzig Jahre sollten vergehen, bevor der Schottenfeldzug schriftlich erwähnt wurde, in Gedichten und Liedern zum Leben erweckt, und zwar durch und durch als Heldentat. Die einzige Ausnahme war ein Lied, das aber bald wieder in Vergessenheit geriet, da es auch das Massaker erwähnte. Ein Vers davon galt einem Jungen, der verschont wurde. Er hatte sich losgerissen, war mutig auf die Spieße zugeschritten und hatte dabei auf Norwegisch gesagt:
Wenn Gott einst die Toten lässt auferstehen, sollt als Halfrid Heknes Freund ihr mich sehen.
Man darf wohl annehmen, dass es ebendieser junge Mann war, der einige Tage nach der Schlacht in Lie eintraf. Er hatte eine hässliche Stichwunde und sagte, er wolle gegen Kost und Logis gratis arbeiten. Sein Bruder war in Kringen getötet worden. Sie waren Söhne kleiner Leute von den Hebriden, die Arbeit auf Hjaltland gesucht hatten, als die Offiziere junge Männer zwangsrekrutierten. Das verstieß zwar gegen Recht und Gesetz, aber sie waren bewaffnet, die Jungs waren es nicht. Die Bauern in Lie glaubten ihm, er bekam Sense und Axt, Hacke und Spaten. Jeden Tag brachte er Wasser, Feuerholz und etwas zu essen zum Hekne-Haus.
Was genau im Frühsommer des nächsten Jahres geschah, weiß niemand so genau. Der Tante der beiden Mädchen gelang es, die Dinge aus dem Geschwätz der Leute herauszuhalten, und der Einzige außerhalb des Tales, der davon erfuhr, war Eirik Hekne, als er die Mädchen gegen Weihnachten nach Hause holen wollte. Da war die Wunde fast wieder verheilt. Jedenfalls die Wunde, die bluten konnte.
Eines Tages, erzählte die Tante, kamen Schreie aus dem Hekne-Haus, Schreie von beiden Mädchen, so gellend und flehentlich, dass sie unten auf dem Hof zu hören waren. Man rannte hoch und fand die Schwestern blutend und verängstigt. Was geschehen war, wollten sie nicht sagen, außer, dass sie sich selbst versehentlich verletzt hätten und niemand sonst die Schuld trage. Es war schwierig, die Wunde zu versorgen, die Aufregung war groß, und so bemerkte man erst später am Tage, dass der schottische Junge verschwunden war. Er hatte genügend Proviant eingesteckt, um sich bis zur Küste durchzuschlagen. Doch eigenartig, unmissverständliche Spuren zeigten, dass er einen Teil des Gestohlenen wieder in den Vorratsschuppen zurückgebracht hatte. Offenbar hatte er für zwei gepackt, dann aber den Plan aufgegeben und den zweiten Flüchtling zurückgelassen.
Die Wunde entzündete sich, die Mädchen fieberten lange, und dass sie überhaupt überlebten, lag nur daran, so meinte die Tante, dass sie sich mit einem besonderen Messer verletzt hatten, das sie auch bei ihren Webarbeiten verwendeten, dem Geschenk einer Frau aus dem Bøverdal. Dieses Messer war ein Erdfund, also verlorengegangen und irgendwann wiedergefunden, nachdem es bereits vergessen worden war. Es war überdies ebenso scharf wie jene Messer, die von den Leuten als Zwergenwerk bezeichnet wurden, die also von den Unterirdischen geschmiedet und gehärtet worden waren. Solche Messer gab es in jedem Dorf, die Leute reichten sie von Hand zu Hand, um kranke Tiere und Menschen zu heilen, und die Tante meinte, die beiden Mädchen seien nur mit dem Leben davongekommen, weil auch dieses Messer von Zwergen gefertigt worden war.
In der Folge stellte sich eine neue Schweigsamkeit zwischen den beiden Schwestern ein. Zum ersten Mal arbeitete jede für sich an einem eigenen Webstück, und die beiden ersten Arbeiten, die so entstanden, schienen Fiebervisionen entsprungen zu sein. Einem Gerücht nach war der Junge noch einmal nachts zu ihnen zurückgekehrt und hatte Halfrid angeblich etwas dagelassen, das ihr besonders lieb und teuer war, doch niemand erfuhr, worum es sich da handelte. Eirik holte sie nach Hause, und unter dem Eis, über das sie fuhren, trug der Lågen wieder einmal ein Geheimnis aus dem Gudbrandsdal mit sich dem Meer entgegen.
Zu Hause in Butangen zogen sie in das kürzlich errichtete Wohnhaus auf Hekne ein. Ein neuer Hochwebstuhl wurde ihnen hingestellt, hier arbeiteten sie für den Rest ihres kurzen Lebens an einem besonderen Stück. Hekne-Teppich wurde es genannt, als Eirik es nach ihrem Tod der Kirche stiftete; ihre reichste und rätselhafteste Arbeit. Später, nachdem die Schwesterglocken gegossen und nach den beiden Mädchen benannt waren, ahnten die Leute, woher die Macht der Glocken stammte, denn so unzertrennlich wie die beiden Mädchen waren auch die Kirchenglocken. Welcher Freiheitsdrang aber in einer solch schicksalhaften Verbundenheit wohnte, hätte nur begriffen, wer gewusst hätte, was dort in Lie vorgefallen war. So ahnte auch kaum jemand, welche Mächte auf dem Sterbelager der Schwestern entfesselt wurden, als Gunhild ihre Hände mit Halfrids verschränkte und sagte:
Solls du treittn weit und soll ich treittn kort und wann das Stück is fertich solln wir beide wiederkehrn.
ERSTER TEIL