RAIMUND SCHULZ

ABENTEURER
DER FERNE

DIE GROSSEN
ENTDECKUNGSFAHRTEN UND DAS
WELTWISSEN DER ANTIKE

KLETT-COTTA

Impressum

Meiner Mutter
(* 4. August 1932 † 29. Januar 2016)
in Dankbarkeit

 

 

 

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

 

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Aquarells von Peter Conolly (1935–2012) © akg-images / Peter Connolly

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94846-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10950-4

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Einleitung oder: Ein Amerikaner in Karthago

I. Eine Welt in Bewegung

1. Kapitäne und Krieger der Bronzezeit

Schatten der Vergangenheit und Abenteurer zur See

Kreta und die Kontakte der Minoer

Italische Krieger in Mykene

Zusammenbruch der Paläste

»Seevölker« im Nildelta

2. Phöniker und Euböer auf dem Weg in die Ferne

Der Aufstieg der phönikischen Hafenstädte

Das größte Abenteuer: Die Umrundung Afrikas?

Das Dorado von Tartessos

Die euböisch-phönikische »connection«

Pithekussai, die Stadt der Mutigen

Umrisse einer neuen Ordnung im 8. Jahrhundert v. Chr.

3. Wunderinseln, Bestien und schöne Frauen

Maritimes Geheimwissen und Erinnerung an große Taten

Geschichten von Schiffbrüchigen und wundersamen Inseln

Bestien und Prinzessinnen

Kontakte mit dem Osten

Geschichten der Philister und Hebräer

Verschriftlichung der hebräischen und griechischen Epen

4. Odysseus

Lernen und leiden

Neue und alte Irrfahrten

Komplexe Geschichten, aber keine Fantasy

Erfahrungen und Wissen einer Welt im Aufbruch

Keine reale Irrfahrt, aber codiertes Wissen

Abenteuer an den kolonisatorischen Randzonen – der Süden

Die Zonen der Protokolonisation im Nordosten

Über den Okeanos zum Jenseits

Inseln im Okeanos

Die Phäaken

Menelaos in der Südsee

Neue Lehren und Horizonte

II. Jünger Apolls

1. Geheimnisse des Nordens

Die letzte Fahrt des Odysseus

Der wundersame Aristeas

Der Weg ins westliche Sibirien

Zu den Höhen des Altai: Der Kampf der Einäugigen mit den Greifen

Apoll und die Hyperboreer

Die Bernsteinroute

2. Go West! Die Fernfahrten der kleinasiatischen Griechen

Griechischer Jüngling trifft keltische Prinzessin

Die Kelten der Hallstattkultur

Phokaia und der Aufschwung der kleinasiatischen Hafenstädte

Phokaiische Krieger in Tartessos und Massilia?

Der Seehandelsweg nach Tartessos – und zu den Zinninseln?

Kolaios und die Samier in Tartessos

3. Eine neue Ordnung der Welt

Die Naturphilosophen in Milet

Göttliche Wegweiser – das Orakel von Delphi

Neue religiöse Modelle: Seelenlehre und Wiedergeburt

Pythagoras und seine Lehren

Revolutionäre kosmologische Modelle: Die Erde als Kugel?

III. Jenseits des Mittelmeeres

1. Verlockungen des Südens

Der Aufstieg der Perser und die Ausweitung des karthagischen Einflusses im Westen

Die westafrikanischen Küsten und die Nilfrage

Das karthagische Ausgreifen in den Nordatlantik – die Expedition des Himilko

Der Periplus des Hanno an der westafrikanischen Küste

Die Anlage von Kolonien und die Erkundung des Senegal

Gold und andere Produkte

Eine Ostpassage um Afrika?

2. Der Weg nach Timbuktu

Transsaharische Karawanenrouten

Die Expedition der Nasamonen

Timbuktu und der Niger

Das große Ziel? – Eine Verbindung der transsaharischen Landrouten mit dem westafrikanischen Flusssystem

3. Persiens Vorstoß nach Indien

Kambyses in der libyschen Wüste

Indien

Die Indien-Expedition des Skylax von Karyanda

Eine Alternative? – Fahrt auf dem Ganges

Der Periplus über Indien

Die Integration der Expeditionsberichte in eine Gesamtdarstellung der Welt: Hekataios aus Milet

4. Das Wesen des Menschen in der Welt

Die Perserkriege und ihre Deutung

Der geistige Aufbruch in der Zeit des Staunens: Der Mensch als Maß aller Dinge

Diskussionen über Natur (physis) und menschliche Ordnungen (nomoi)

Die Neuentdeckung der Vergangenheit – Herodots »Historien«

Der nomos der Völker

Vergleichende Ethnographie und persische Anregungen

Die wundersamen Randvölker: Indien und Arabien

IV. Neue Welterkenntnis und das Ausgreifen in den Okeanos

1. Große Entwürfe

Herodots Kritik an der ionischen Geographie

Astronomische Interessen

Das Weltbild des Aristoteles

2. Der Vorstoß in den nordwestlichen Okeanos

Die keltische La-Tène-Kultur

Pytheas’ Suche nach den Zinninseln

Thule und der Vorstoß zum Polarkreis

Die Bernsteinrouten

3. Der Nahe und Ferne Osten

Das facettenreiche Bild der Perser

Der wache Blick des Söldners: Xenophons persische Freunde

Der Wissensdurst des Arztes: Ktesias über Indien

4. Alexanders Suche nach den Enden der Welt

Der makedonische Musenhof

Alexanders Feldzug gegen Persien

Alexander am Kaspischen Meer und am Hindukusch

Das indische Abenteuer

In Taxila!

Auf dem Weg zum Ganges?

Durch Wüste und Meer

Alexanders maritimes Denken

V. Die Erkundung des Ostens

1. Seleukiden und Mauryas

Das Erbe Alexanders

Die Seleukiden und das Mauryareich

… und wieder: Ärzte als Vermittler

2. Griechen am Ganges

Megasthenes über die Gesellschaft und Regierung des Mauryareiches

Griechen erobern das Gangestal

König Menander und die Begegnung mit dem Buddhismus

3. Expeditionen der Ptolemäer und die Geographie des Eratosthenes

Die Erkundungsfahrten der Ptolemäer im Roten Meer

In den Südsudan und nach Meroe

Griechen in Meroe und am Blauen Nil

Alexandria und das neue Erdbild des Eratosthenes

Eudoxos von Kyzikos und der Seeweg nach Indien

VI. Die Erschließung des Nordens durch die Römer

1. Amerika rückt näher

Der Fall Karthagos und die Expedition des Polybios

Die Fahrt des Eudoxos an der westafrikanischen Küste

Inseln im Atlantik: Von Madeira zu den Kanaren

Auf nach Amerika?

2. Roms Vorstoß in die mitteleuropäischen Binnenräume

Poseidonios im Keltenland

Das römische Interesse an der Welt

Caesar an der spanischen Atlantikküste

Vorstoß ins »freie Gallien«

Die Britannienexpedition und ihre Deutung

Caesar als Ethnograph – die Erfindung der Germanen

3. Zur Elbe und Ostsee

Weltherrscher und Welteroberer: Die Neuordnung des Augustus

Alte Gegner und neue Ziele

Römische Karten und Weltvorstellungen als Grundlage militärischer Strategien?

Feldzüge zur Elbe und Kriegsschiffe im Nordmeer

Angriff auf das Marbodreich und der Feldzug des Germanicus

Die Ostsee

Expeditionen der Kaufleute und die »Bernsteinstraße«

VII. Die Globalisierung Eurasiens

1. Pfeffer und Weihrauch

Der Aufschwung der kaiserzeitlichen Wirtschaft

Der Hunger nach fernöstlichen Produkten

Die kaiserliche Kriegspolitik

Finanzielle Interessen, aber keine Handelspolitik

Gewinne und Kosten des Indienhandels

Die Schiffe der Indienfahrer

Der Persische Golf und die arabischen Handelsnetze

Alexandria, das Tor zum Osten

Der Periplus des Roten Meeres

Somalia und Arabien

Indien!

2. Die Juweleninsel

Neue Herausforderungen

Die Juweleninsel

Das Geheimnis des Rajias

Die Seidenleute

3. »Korallen und Seide«

Nach Kattigara! – Alexandros segelt ins chinesische Meer

Eine »Gesandtschaft« des Königs An-tun

Das Wunder der »Seidenstraßen«

Die Expeditionen des Zhang Qian

Die chinesische Expansion in das Tarimbecken

Das Reich der Kushanas als Drehscheibe des Handels

Pan Chao und die Suche nach einer Verbindung zu Rom

Die Agenten des Maes Titianus in China

4. Von Kattigara bis Thule … ohne Amerika?

Transfer medizinischer Kenntnisse und religiöser Bewegungen

Die Verarbeitung des Weltwissens in der Perspektive des Reichsdieners – Die naturalis historia des Plinius

Facetten der Geographie – römische Schriftsteller und die Weltkarte des Ptolemaios

Die östlichen Weltgegenden zwischen Ideal und Realität

»Vertraute Weltränder« – Indien und Germanien als Gegenwelten und Spiegel des eigenen Niedergangs

Utopische Reiseromane als Gegenmodell

Das ferne Abenteuer als Ausweg aus gesicherter Nähe

Der nördliche Okeanos und die letzte Botschaft der Antike

Eine verpasste Chance?

VIII. Wie die Alte Welt in die Neue kam

Das Ende des Aufbruchs und der Verlust der mediterranen Einheit

Isidor von Sevilla über die Welt

»Reale« Zielprojektionen – Antipoden und irdisches Paradies

Geographisch-kosmologische Grundlagen der Fernerkundung: Erdkugelthese, Klimazonen und Umfangsmessungen

Das lateinische Christentum als Traditionsbrücke

Der Beginn des Aufbruches: Mobilität, Wissenstransfer und Aristoteles-Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts

Die »Öffnung des irdischen Paradieses« und die Suche nach dem Priesterkönig Johannes – von Rubruk bis Marco Polo

Die Südverlagerung der paradiesischen Welten und der Vorstoß der Portugiesen nach Afrika

Kolumbus und die Westfahrt über den Atlantik

Die Alte in der Neuen Welt

Epilog

Dank

Anhang

Zeittafel

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Länder- und Ortsregister

Tafelteil

EINLEITUNG ODER:
EIN AMERIKANER IN KARTHAGO

Es war eine Zeit, als unendlich viele Völker der Menschen über die Erde sich hin und her bewegten.

(Kypria Frg. 1(1))

In Karthago(2) lebte einst ein geheimnisvoller Fremder, der sich für verborgene Schriften interessierte. Er stamme – so seine Geschichte – von einem riesigen Festland jenseits des Atlantiks(1). Viele Menschen lebten dort, an einer großen Bucht siedelten Griechen(1), die Herakles(1) über das Wasser geführt hatte. Zwischen dem Festland und Spanien(1) gebe es vier Inseln, unter ihnen Ogygia(1), das Eiland der Nymphe Kalypso(1). Zu ihnen könnten nur Ruderschiffe gelangen, weil das Meer sehr träge sei. Eine Insel sei heilig, von mildem Klima und voller Wohlgerüche. Denn auf ihr schlafe der Gott Kronos(1) in einer Höhle aus goldenem Gestein. Alle 30 Jahre entsenden die Griechen des großen Westlandes eine Opfergesandtschaft, die nach 30 Jahren durch eine neue abgelöst werde. Der Fremde – so schließt die Erzählung – habe selbst zu einer solchen Gesandtschaft gehört, sei aber nicht auf das Festland zurückgekehrt, sondern habe »vieler Menschen Länder durchreist«, bis er sich in Karthago niederließ auf der Suche nach Weisheit und Wissen.

»A strange story«, würde der Engländer sagen. Für antike Hörer war sie gar nicht abwegig. Geheimnisvolle Inseln, ferne Kontinente und Seefahrer, welche die Weiten des Ozeans überwinden auf der Suche nach Abenteuern und Weisheit – das waren beliebte Themen selbst der seriösesten Gelehrten. Zu ihnen gehörte Plutarch(1), der die Geschichte im 1. Jahrhundert n. Chr. aufzeichnete.1 Doch was hat es auf sich mit den Inseln im Atlantik(2) und dem Land im fernen Westen? Ist es Amerika(1), wie der große Astronom Johannes Kepler und andere glaubten? Und wenn der Fremde von dort stammte und Griechen(2) auf ihm lebten, kann man daraus schließen, dass die Antike 1500 Jahre vor Kolumbus(1) von Amerika wusste? Oder(1) ist alles nur Seemannsgarn, von dem die Welt des Mittelmeers(1) so unendlich viel gesponnen hat.

Niemand weiß bis heute eine befriedigende Antwort. Doch eines ist sicher: Plutarch(2) verfasste seine Geschichte in einer Zeit, als die geographische Weltkenntnis der Antike auf ihrem Höhepunkt stand und sich von dem Wissen der Westeuropäer vor den Fahrten des Kolumbus nur unwesentlich unterschied: Binnen eines Jahrtausends hatten Griechen und Römer ihren geographischen Horizont bis nach Java(1) und zum Chinesischen Meer im Osten, zum Ural und in die sibirischen Steppen im Norden, in das innere Afrika bis zum Niger(1) und Tschadsee, im Nordwesten nach Skandinavien und wahrscheinlich Island ausgedehnt.

Nur wenige zweifelten an der Kugelgestalt der Erde, und so gehörte auch die Möglichkeit einer Fahrt von Spanien über den Atlantik nach Indien, ja sogar die Annahme unbekannter Kontinente im Okeanos für die Intellektuellen und geographisch Interessierten zum Allgemeingut. Dieses Buch möchte erklären, wie es dazu kam, was die Alten dazu trieb, die Grenzen des Vertrauten zu durchbrechen, wie weit sie kamen und welche Konsequenzen die stete Erweiterung des Welthorizontes für die Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Kultur hatte.

Warum es eine solche, die gesamte Antike umfassende Darstellung bisher nicht gibt – das letzte Werk aus dem Jahre 1963 ist konzeptionell veraltet,2 neuere Arbeiten konzentrieren sich auf bestimmte Epochen, Zielgebiete und Einzelunternehmungen3 –, hat mehrere Gründe. Antike Entdeckungsgeschichte war und ist aufgrund der schwierigen Quellenlage – wir haben keinen einzigen vollständig erhaltenen Expeditionsbericht im Original – und ihrer Deutungsvielfalt ein delikates Arbeitsfeld. Gewagte Thesen stehen neben Hyperkritik, die jedem Rekonstruktionsversuch den Boden entzieht. Hinzu kommt die Magie spektakulärer Themen wie Atlantis, Thule oder die Hyperboreer, die nicht nur versierte »Außenseiter« anziehen, sondern Tummelplatz esoterischer Phantasten sind, kurzum: Der antiken Entdeckungsgeschichte haftet immer ein wenig der Geruch des Unseriösen an. Das mag wohl ein Grund dafür sein, warum sie die zünftigen Heroen der Althistorie lange Zeit ignorierten. Sie suchten das Wesen der Antike durch die Analyse ihrer kulturellen, politischen, rechtlichen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu ergründen und konzentrierten sich meist auf klassische Akteure wie Sparta, Athen und Rom im Zentrum der mediterranen Welt. Wohl richtete sich der Blick auch auf deren »Ränder«, doch in der Regel nur dann, wenn es sich um militärische Großereignisse wie die Perserkriege, den Alexanderzug, die Punischen Kriege oder das Ausgreifen Roms(1) in die europäischen Binnenräume handelte. Diese Vorgänge wurden auch in ihrer entdeckungsgeschichtlichen Dimension gewürdigt, doch hieraus ein zentrales Arbeitsfeld zu entwickeln, kam den wenigsten Gelehrten in den Sinn.

So blieb die antike Entdeckungsgeschichte lange ein Randthema, das hierzulande nur von einigen prominenten Einzelforschern bearbeitet wurde, wie Richard Hennig, Albrecht Dihle oder Dieter Timpe. Hennigs Arbeiten sind jedoch vielfach veraltet, Dihles und Timpes Studien widmen sich bestimmten Räumen (Osten bzw. Nordeuropa) und Spezialproblemen (vornehmlich der Ethnographie). Dagegen standen und stehen Gelehrte aus Ländern mit einer eigenen langen entdeckungsgeschichtlichen Tradition (wie Spanien oder England) dem Thema offener gegenüber, doch auch hier überwiegt die Spezialforschung zu territorialen und maritimen Großräumen (Indischer Ozean, Nordsee etc). Einen neuen Impuls brachte die mit dem Zerfall des Sowjetimperiums und dem Internetzeitalter einsetzende Globalisierung. Die von ihr angestoßenen »turns« der Geschichtswissenschaft suchten sich von alten Begrenzungen zu lösen, ringen aber bis heute um das methodische Profil einer modernen Welt- und Globalgeschichte. Auch die Antike wurde in diesen Trend eingefügt; manche sprachen von Globalisierungsvorgängen, die um 3000 v. Chr. einsetzten;4 im Zuge des »spatial turn« entdeckte man die antike Geographie wieder als Untersuchungsobjekt, dem sich inzwischen eine Reihe jüngerer Gelehrter widmet,5 und auch die Ethnographie, lange ein Orchideenfach spezialisierter Philologen, gewinnt international an Interesse.6 Gut erschlossen ist ebenfalls die disparate Quellenlage. An Kommentaren und Fragmentsammlungen mangelt es nicht.7

Allerdings ist es bis heute nicht gelungen, klare methodische und inhaltliche Kriterien zu entwickeln, mit denen man all diese Initiativen in ein Gesamtbild antiker Entdeckungen einfließen lassen und deren welthistorische Bedeutung bestimmen könnte, obwohl die Analyse der Anfänge historischer Globalisierungs- und Vernetzungsvorgänge eine Fülle von Erkenntnissen verspricht. Antike Fernexpeditionen waren Voraussetzungen transregionaler Kulturkontakte, kolonialer Siedlungsbewegungen, militärischer und machtpolitischer Expansion sowie wirtschaftlicher Verflechtungen. »Heiße« Phasen der Öffnung wechselten ab mit Perioden des Innehaltens, der Selbstvergewisserung, der Sammlung und Neujustierung von Kräften, die dann wieder der Ferne entgegenstrebten.

All das führte regelmäßig zu einer Neubewertung (»reevaluation«) der Welt, indem man Vertrautes an Neuem maß und Unbekanntes dem Bekannten einfügte. Dieser Prozess schlug sich in einer pulsierenden literarischen Produktion auf verschiedenen Gebieten nieder.8 Exploration und Expansion dynamisierten das Denken und setzten Erkenntnisschübe im Bereich geographischer, ethnographischer und philosophischer Weltkenntnis in Gang, die zu den klassischen Traditionskernen europäischer Wissenskultur gehören. Doch bis heute fehlt eine moderne Synthese, die Fernerkundungen über einen längeren Zeitraum nicht isoliert und für sich genommen würdigt, sondern in den Gesamtzusammenhang der antiken Geschichte einordnet. Das Buch wagt den Versuch einer integrierten Entdeckungsgeschichte: einer Gesamtdarstellung von Expansion und Fernerkundung im Rahmen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen.

Um die Komplexität der Vorgänge zu verstehen, bedarf es tragfähiger Analysemodelle. Man benötigt ein Grundmuster von Faktoren, das den Weg weist durch die verwirrende Vielfalt raumgreifender Mobilität und erklärt, warum manche Gesellschaften die Grenzen des Vertrauten hinter sich ließen und andere nicht, weshalb sie das in bestimmten Zeiten und von bestimmten Orten aus häufiger taten als von anderswoher. Ich nenne dieses Muster eine »explorative Konstellation«. Sie war Grundlage jeder folgenreichen Entdeckungsaktion und erklärt an sich schon vieles von dem, was die Antike als Epoche besonders macht.

(1.) Zunächst muss es Menschen geben, die bereit sind, ihren heimischen Lebensraum zumindest für eine gewisse Zeit aufzugeben und die Risiken einer Fernerkundung auf sich zu nehmen. Bewegung über große Entfernung ist eine Urform menschlicher Existenz, besungen in Liedern, episch verklärt und verdichtet zu Gründungsmythen von Völkern und Religionen. Doch bedürfen zumal Gesellschaften wie die der (mediterranen) Antike, die zu 90 % vom Ackerbau lebten, einer besonderen mentalen und sozialen Disposition, die den Aufbruch ins Unbekannte auch jenseits militärischer Zwänge forcierte und ihn mit sozialer Anerkennung honorierte.

Nicht nur die Geschichte des Fremden aus Karthago(3), sondern auch andere Quellen deuten darauf hin, dass überregionale Mobilität eine relativ leicht zu wählende Alternative zum stationären Verharren war und dass diejenigen, die das Abenteuer auf sich nahmen, ähnlich große Verehrung genossen wie die Helden des Schlachtfeldes. Herakles, Odysseus, Jason oder Aeneas sind die großen Weltwanderer, durchdringen ferne Meere und Länder, bevor sie ihre Heimat wiedersehen oder eine neue gründen. Unzählige Mythen erzählen von jungen Männern, die sich in die Fremde wagen, Ungeheuer besiegen, reiche Schätze und das Herz schöner Jungfrauen gewinnen, bevor sie mündig und mächtig werden, ein Motiv, das mit der realen Welt insofern übereinstimmt, als in zahlreichen Gesellschaften der Antike tatsächlich junge Männer durch die Bewährung in der Fremde ihren Rang in der Welt der Erwachsenen erkämpfen mussten.9 Könnte es sein, dass sich aus dieser Mentalität des wagemutigen Aufbruchs unter bestimmten Umständen ein der Frühen Neuzeit vergleichbarer »spirit of exploration« entwickelte? Und wenn das so war, aus welchen Quellen speiste er sich und wie weit trug er?

Um das zu beantworten, gilt es (2.) genauer nach den Zielen der Entdecker zu fragen sowie zu ergründen, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen sie fremden Küsten und Ländern zustrebten. Augustinus(1) bemerkt einmal, man könne an der Hafenpromenade von Karthago Mosaiken von menschenähnlichen Geschöpfen bewundern:10 Wunderwesen mit nur einem Auge mitten auf der Stirn oder dem Gesicht auf der Brust; andere haben riesige Ohren, Hundeköpfe oder nach hinten gekehrte Füße. Über sie gab es dicke Schmöker für billiges Geld.11 Sie sind die antike Variante der Aliens, welche die Raumschiffe der Zukunft in der endlosen Weite des Alls antreffen, äußerlich irgendwie menschlich, aber doch verstörend anders, mal freundlich hilfreich, mal tödlich verschlagen. Spitze oder große Ohren gehören zum vertrauten Arsenal des Unvertrauten damals wie heute, und wie in der Zukunft so lebten die antiken Aliens an der Schwelle zu Welten, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.12

In den Geschichten dieser Welten zu schwelgen und sich an den Bildern ferner Wunderwesen zu erfreuen ist das eine, sich aufzumachen und den Weg dorthin zu wagen, ein anderes und viel riskanteres Unternehmen, das handfeste Motive voraussetzt. Jeder Aufbruch ist mit einer Erwerbshoffnung verbunden.13 Diese kann materieller Art sein, in Form von wertvollen Rohmaterialien und Metallen, die es zu Hause nicht gibt; sie kann in Handelsgewinnen bestehen, die sich daraus ergaben, dass man unter Umgehung von Zwischenhändlern den Weg zu fernen Schätzen fand. Sie kann aber auch politischer Art sein, wenn ein Kolonistenführer nach Macht und Einfluss strebt, der ihm zu Hause verwehrt ist, oder indem der Feldherr durch Eroberungen Ruhm, Anerkennung und Akzeptanz gewinnt; oder ideell-geistiger Art, indem der Reisende Wissen mitbringt und sich zum Experten von Routen, Ländern und Menschen erklärt, die anderen verborgen sind.

In der Regel tauchen diese Motive nicht isoliert voneinander auf – Eroberung verspricht immer auch materielle Gewinne und geht mit einer Ausdehnung des geographischen Horizontes einher. Sie bilden meist ein sich gegenseitig bedingendes Faktorenensemble. Um es vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Ausgangssituation zu entschlüsseln und die Dynamik antiker Entdeckungen insgesamt zu verstehen, muss man (3.) ihre politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kennen.

Fernerkundung war und ist immer eine Gemeinschaftsleistung und schon allein deshalb eine politische Angelegenheit. Entdeckungen beruhten selten auf Zufällen, Naturereignissen oder gar dem Willen der Götter, sondern auf komplexen Entscheidungen, und diese entwickelten sich in einer politischen Ordnung und einem sozioökonomischen Umfeld, die für den Erfolg der Expeditionen wegweisend waren. Nicht ohne Grund wählte der Fremde aus der Geschichte des Plutarch(3) die Hafenmetropole Karthago(4) als neue Heimat und nicht ohne Grund war hier und in anderen Küstenstädten die Exotik der Fremde so präsent. Sie waren Anlauf- und Kulminationspunkte mobiler Abenteurer und besonders aufgeschlossen für den Aufbruch in die Fremde und die Aufnahme von Wissen über die Ferne. Das Wissen wurde innerhalb der »communities of seafarers«14 mündlich weitergegeben und seit frühester Zeit in mythischer und epischer Form codiert. Diese Codes aufzulösen gehört zu den spannendsten, aber auch heikelsten Aufgaben antiker Entdeckungsgeschichte.

Waren es aber nur die Erfahrungen und die Hoffnung auf Handelsgewinne, welche die Küstenstädte und ihre Menschen möglicherweise zu Vorreitern von Entdeckungen machten? Wie verhielten sie sich zu den Zielen der Eroberer, die behaupteten, das Ende der Welt gefunden und neue Welten erschlossen zu haben? Antike Entdeckungen vollzogen sich nicht nur in einer Atmosphäre friedlichen Handels und freundlicher Kontaktaufnahme, sondern auch kriegerischer Gewalt, die vielfach tiefe Wunden in die Räume und Gesellschaften riss, auf die Expeditionsheere und –flotten trafen. Welches Verhältnis bestand zwischen militärischer Expansion, Fernhandel und Kolonisation? Bewegten sie sich auf ähnlichen Routen und strebten den gleichen Ländern zu, und welchen Anteil hatten sie an der Erweiterung des Welthorizontes und ihrer Verarbeitung?

All diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man (4.) die geographischen Rahmenbedingungen von Fernerkundungen und die Raumvorstellungen der Akteure in den Blick nimmt. Kein Kapitän, kein Seeräuber, kein Kolonistenführer und auch kein Feldherr schickt seine Mannschaft in völlig unbekannte Gewässer auf der Suche nach Phantomen. Er muss eine akzeptierte, in sich stimmige Gesamtkonzeption von der relativen Lage des Zieles im Verhältnis zu den bekannten Räumen und dem Weg dorthin besitzen, auch wenn die konkreten Umstände und die genaue Länge des Weges (noch) unbekannt sein mögen. Diese Vorgaben verschafften den Akteuren Sicherheit und Autorität, doch wie weit reichten ihre Raumvorstellungen und Ziele?

Wir glauben vielfach, das Gravitationszentrum der klassischen Antike sei der Mittelmeerraum gewesen. Mittelmeerstudien stehen hoch im Kurs und sind unverzichtbar für das Verständnis der Grundlagen und Zusammenhänge antiker Geschichte.15 Dennoch bieten auch sie nicht die ganze Wahrheit und verraten mitunter eine Perspektivverengung, die sich aus dem Interesse für politische Phänomene der mediterranen »Zentren« ergibt.

Es ist Zeit, der vertrauten Optik eine neue hinzuzufügen: das Mittelmeer (ohne dessen Besonderheit zu ignorieren) in einen größeren Zusammenhang zu stellen: dessen vermeintliche »Ränder« als pulsierende Kontaktzonen zwischen mehreren »Weltgegenden« und »Weltmeeren« zu begreifen16 sowie Menschen als Akteure des historischen Wandels ernst zu nehmen, die von der antiken Elitenliteratur gerne an den Rand gedrängt wurden.

Damit eröffnet sich eine Geschichte auch jenseits der vertrauten Spieler Athen, Sparta und Rom, eine Geschichte von Mächten und Abenteurern der Ferne, deren Perspektive nicht nur auf die mediterrane Welt, sondern weit darüber hinaus reichte und auf Gesellschaften traf, die in umgekehrte Richtung ihre Fühler an die Ränder des mediterranen Raums ausstreckten. Dieses Buch kann zwar keine Entdeckungsgeschichte der Antike aus der Sicht der Inder(1), Araber(1) oder der innerasiatischen Nomaden bieten – was immerhin eine lohnende und reizvolle Aufgabe wäre, aber den Fachleuten überlassen werden muss. Aber es kann die genannten Kulturen und ihre Menschen insoweit mit der mediterranen Geschichte verbinden, dass sie nicht als passive Objekte griechisch-römischer Exploration, sondern als gleichrangige Akteure eines interagierenden Weltgeschehens begriffen werden, die mitunter viel früher als Griechen und Römer über die Meere und Karawanenrouten in die ost- bzw. nordmediterranen Kontaktzonen gelangten.

Eine solche Ausrichtung braucht zwar immer einen Standpunkt – sonst wird sie beliebig – und dieser wird nach wie vor der griechisch-römische Zivilisationsraum bleiben (für den ich mich kompetent fühle). Diesen Standpunkt jedoch mit der Perspektive anderer Großräume zu verbinden, gehört zu den notwendigen und faszinierenden Aufgaben einer modernen Entdeckungsgeschichte. Sie ermöglicht es, die griechisch-römische Antike aus ihrer geographischen und historiographischen Vereinzelung zu lösen und in den Rahmen einer Weltgeschichte der Vormoderne einzuordnen, die mehr ist als eine Vorgeschichte historischer Globalisierung.

Die Reichweite der Fernerkundung hing – das ist der letzte in Rechnung zu stellende Faktor – natürlich (5.) immer auch davon ab, welche technischen und materiellen Mittel zur Verfügung standen. Ist es richtig, dass der Aufbruch über das Meer nur von solchen Orten möglich war, die über einen ausreichenden Baumbestand und Metalle zum Bau von Schiffen verfügten? Ist Mangel oder Reichtum der Wegbereiter von Fernerkundungen? Und wie steht es generell mit der Orientierungsfähigkeit und den nautischen Künsten der Antike?

Grundsätzlich neigen wir dazu, die Leistungsfähigkeit antiker Entdecker zu unterschätzen, was mitunter in einen hyperkritischen Umgang mit den Quellen mündet. Seefahrer der Antike fuhren angeblich nur entlang der Küsten und scheuten die offene See wie der Teufel das Weihwasser; widrige Winde und Strömungen sowie der stürmische Winter bildeten vermeintlich unüberwindbare Barrieren, genauso wie menschenfeindliche Wüsten. Die Nutzung von Karawanenrouten außerhalb der gemäßigten Breiten sei nur Einheimischen, nicht aber dem Mittelmeermenschen möglich gewesen – so einige der Vorbehalte. Man kann sie getrost ad acta legen.

Die Meinung, antike Seefahrt habe sich ausschließlich oder vornehmlich an der Küste entlang und nie im Winter (mare clausum) abgespielt, ist von der Forschung seit längerem als Mythos entlarvt.17 Er lebt dennoch immer wieder auf, zum einen weil schon die Optik antiker Quellen und moderner Beobachter durch die Seekriegsgeschichte geprägt ist, die sich aus besonderen, aber nicht zu verallgemeinernden Gründen vornehmlich in Küstennähe abspielte. Bisher wurden Wracks im mediterranen Raum ausschließlich in Küstennähe gefunden. Das liegt aber daran, dass nur in den flachen Küstengewässern Funde möglich sind, dagegen das Mittelmeer mit einer mittleren Tiefe von 1450–1500 m (die der Ostsee beträgt nur 55 m) und die vielbefahrenen Hauptbecken mit einer Tiefe von 3000–5000 m im Hochseebereich Sichtungen und Bergungen antiker Wracks so gut wie ausschließen.18 Bei alldem schwingt mitunter eine gewisse Skepsis gegenüber dem technischen Stand und der Innovationsfreudigkeit antiker Nautik mit,19 die ohne Kenntnis des (wohl erst im 11. Jahrhundert n. Chr. in China(1) entwickelten) Magnetkompasses20 angeblich Hochseefahrten ausschloss und nicht in der Lage gewesen sein soll, gegen den Wind zu kreuzen.

Auch diese Bedenken sind von der Forschung mehrfach überzeugend zurückgewiesen worden. Manöver zum Kreuzen gegen den Wind war antiken Seglern auch ohne Lateinsegel seit dem frühen 1. Jahrtausend v. Chr. (durch Querraffen des rechtwinkligen Hauptsegels und Drehen des Mastes bei ausreichender Kieltiefe) möglich und es gibt bedenkenswerte Thesen, dass einige einen solaren Kompass an Bord führten.21

Tatsächlich gab es spätestens seit der mittleren Bronzezeit nicht nur im Mittelmeer(2), sondern auf fast allen Weltmeeren hochseetaugliche Schiffe. Man braucht gar nicht auf die vielzitierten Ozeanfahrten der (Lapita-)Polynesier zu verweisen, um zu zeigen, dass Menschen seit frühester Zeit auch ohne technische Hilfsmittel und Instrumente wie Magnetkompass und Sextant weite Strecken über das offene Meer außer Sichtweite der Küsten mehr oder weniger regelmäßig zurücklegten.22 Auch im Mittelmeer segelte man schon seit ca. 2000 v. Chr. von Kreta nach Ägypten sowie von Sizilien nach Sardinien Strecken von bis zu 200 km, was ungefähr der Fahrtlänge der frühen Polynesier im Pazifischen Ozean entsprach.23 Im Laufe der Antike haben sich die Distanzen erhöht und die saisonalen Zeiten der Seefahrt auf das ganze Jahr ausgedehnt. In der Kaiserzeit überquerte man die rund 1000 km des Arabischen und Indischen Meeres, und für große Getreidetransporter war eine Direktfahrt von Alexandria nach Sizilien und ins westliche Mittelmeer auch im Winter Standard.24

Das sparte nicht nur Zeit, sondern bot nautische Vorteile. Jeder Fahrensmann weiß, dass schwere Stürme auf hoher See leichter abzuwettern sind, dagegen die größten Gefahren in Land- und Küstennähe lauern, wo Untiefen und Riffe, unkalkulierbare Strömungen, Strudel und Fallwinde (zumal einer Lee-Küste) sowie Piraten der Fahrt schnell ein Ende setzen können. Nicht ohne Grund ist die Sorge, im Sturm oder in der Nacht an eine (womöglich unbekannte) Küste verschlagen zu werden, ein immer wiederkehrender Topos der antiken Literatur.25

Wenn dennoch Handels- und Kriegsschiffe die Küstenfahrt bevorzugten und sich auch die meisten Erkundungsfahrten entlang des fremden Gestades bewegten,26 dann hatte das wenig mit der Angst vor dem offenen Meer oder gar der Unfähigkeit zu tun, außer Landsicht zu segeln, sondern mit praktischen Erwägungen. So nutzten mediterrane Segler schon immer (und noch heute) besonders im Sommer die thermischen Küstenwinde: die nach Sonnenaufgang einsetzende auflandige Seebrise und die nächtliche Landbrise, um (mit »halbem Wind«) Fahrt aufnehmen und gegen die auf See vorherrschende Windrichtung ansteuern zu können, was neben anderen Argumenten auch die Vorstellung ad absurdum führt, antike Schifffahrt habe vornehmlich bei Tage stattgefunden. Oft hat man Nachtfahrten über das offene Meer der Tagesfahrt sogar vorgezogen, weil der unbewölkte Nachthimmel eine exaktere Navigation nach den Sternen ermöglichte (»Nachtsprung«).27

Wenn Frachter abends die Häfen ansteuerten, dann auch deshalb, weil der nächtliche Landwind schwächer als die Seebrise am Tage ist.28 Hinzu kamen logistische, kaufmännische und handelspolitische Erwägungen: Wenn ein Kapitän zur Erkundung von Fernrouten oder zur Anlage von Handelsplätzen und Kolonien in fremde oder nur halbwegs bekannte Gewässer aufbricht, dann sucht er geeignete Partner, Siedlungs- und Anlegepunkte naturgemäß nicht auf offener See, sondern auf küstennahen Inseln oder an den Küsten selbst, vorzugsweise in der Nähe des Mündungsgebietes von Flüssen, die Trinkwasser und einen Weg ins Landesinnere bieten. Die regelmäßige Wasser- und Nahrungsaufnahme an der Küste ersparte zudem die Mitführung von größeren Mengen an Verpflegung und schuf Raum für Handelswaren oder Ruderer bzw. Marinesoldaten. Umfangreichere Warenmengen an Bord konnte man auf einer Fahrt entlang der Küste (in Form der Kabotage) in kürzerer Zeit einer viel größeren Kundschaft anbieten.29

Dagegen waren die mit zahlreichen Ruderern betriebenen Kriegsschiffe von vornherein nicht in erster Linie für die Hochseeschifffahrt, sondern für das schnelle Manöver, den Rammstoß und/oder für das Entern in Küstennähe konstruiert (was nicht heißt, dass sie leicht umgerüstet nicht auch Routen über das offene Meer bewältigen konnten). Um Gewicht zu sparen und den Bordraum mit möglichst vielen Ruderern bzw. Marinesoldaten zu füllen, mussten auch sie auf Proviant verzichten und abends an Land Nahrung und Schlafmöglichkeiten suchen. Überlebende einer Seeschlacht hofften auf die rettende Küste, und die Kommandeure suchten die Sichtverbindung zu dem an Land postierten Feldherrn.

Aber es gab eben auch Konstellationen wie die Suche nach wertvollen Metallen oder Produkten unter Umgehung von Zwischenhändlern und Zwischenstationen, in denen diese Erwägungen keine Rolle spielten.

Ein wesentlicher Grund für die in diesen Fällen gefragte Fähigkeit, ohne Landkontakt das offene Meer zu überqueren sowie schier endlose Strecken am Rande der trockensten Wüsten zu meistern, besteht darin, dass die Menschen der Antike in einem viel engeren Bezug zur Natur lebten, Botanik, Tierwelt und Ökologie sinnlich viel intensiver wahrnahmen als der moderne Mensch. Positionen wurden nach dem »Pfad der Sterne« und den »Zeichen der Natur« bestimmt: auf hoher See nach Geruch, Farbe, Temperatur des Wassers, nach den Winden und der Atmosphäre, der Bewegung und dem Vorkommen von Vogel, Fisch und Pflanzenresten sowie der in allen Kulturen, auch der Inder und Polynesier, praktizierten Aussendung von Vögeln zur Bestimmung der Küsten- und Landnähe; zu Lande nach der Bewegung von Dünen, Markierungen und Oberflächenstrukturen.30 Deshalb konnten antike Seefahrer und Landreisende in der Regel, wenn nicht militärische Großoperationen die Koordinierung mehrerer Verbände erforderten, auf präzise Karten verzichten. Nase, Auge, Gehör und der über Generationen geschärfte siebte Sinn bildeten verlässliche Hilfen, zumal wenn sie mit dem Wissen von Karawanenführern und Lotsen sowie verbesserten Transportmitteln verbunden wurden.31 Im Falle der Hochseenavigation kommt hinzu, dass sie sich in Räumen entwickelte, die vergleichsweise geringe maritime Schwierigkeiten bereiteten. Das Mittelmeer gleicht in dieser Hinsicht den melanesischen Gewässern und unterscheidet sich vom Nordatlantik, aber auch vom Roten Meer.32 Es ist ein vergleichsweise berechenbarer maritimer Großraum. Die Luftströmungen sind im Sommer regelmäßig, der Himmel ist überwiegend heiter, es gibt selten Nebel, schwache, nur in wenigen Regionen (Kleine Syrte, Meerengen) gefährliche Gezeiten33 und keine Wirbelstürme. Stürme sind heftig aber kurz. Man meidet die Seefahrt im Winter vor allem deshalb, weil der bedeckte Himmel die Sternennavigation erschwert.

Die enge Verzahnung zwischen Land und Meer zumal im Norden sowie die zahlreichen Inseln machen das Mittelmeer(3) zusammen mit den günstigen klimatischen Bedingungen zu einem idealen Trainingsgelände für Seefahrer34, die von hier aus über die Straße von Gibraltar, den Bosporus(1) und (mittelbar über Fluss und Kanal) das Rote Meer bzw. den Persischen Golf in den Atlantik sowie in das Indische bzw. Arabische Meer fuhren und dort an die nautische und navigatorische Expertise heimischer Seefahrer anknüpften.35

Trotz alledem waren Fernexpeditionen mit enormen Gefahren verbunden: Zahllose Geschichten von Menschen fressenden Riesen und Seeungeheuern, Männer mordenden Frauen und verschlagenen Göttinnen spiegeln die Ängste in epischer und mythischer Form.36 Die Furcht vor dem Meer und die verzweifelte Suche nach dem rettenden Eiland sind klassische Topoi genauso wie der Respekt vor der grenzenlosen Steppe sowie das traurige Los des Verirrten, der von Räubern ermordet oder entführt wird und sich tot oder als Sklave fremder Herren wiederfindet. Mobilität über große Entfernungen war und blieb ein Geschäft mit hohem Einsatz und häufigen Totalverlusten, ganz abgesehen von den aus moderner Sicht fast unvorstellbaren Unannehmlichkeiten.

Leider wissen wir wenig über das Leben an Bord eines antiken Schiffes, das aus dem Roten Meer kommend die Küsten Indiens ansteuerte oder weiter in das Chinesische Meer segelte. Auch über die täglichen Nöte einer antiken Karawane an den Hängen des Hindukusch, im saharischen Fezzan oder an den Rändern der Taklamakan ist uns keine Aufzeichnung erhalten. Doch eines ist sicher: Die Entbehrungen unterschieden sich kaum von denen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit37; auch deshalb haben reiche Kaufleute lange Routen gemieden und stattdessen ihre Untergebenen auf den Weg geschickt. Andererseits blieben die logistischen Mittel, der Transport von Trinkwasser und tierischen sowie pflanzlichen Lebensmitteln nicht hinter den Standards des sogenannten Entdeckungszeitalters zurück.

Wenn dem so ist und sich die Antike offenbar im Hinblick auf die technisch-nautischen Voraussetzungen (und vielleicht in Bezug auf die explorative Mentalität) nur wenig von der Frühen Neuzeit unterschied, und wenn sie außerdem vergleichbare geographische Kenntnisse von der Welt hatte, dann erhebt sich um so mehr die Frage, warum nicht schon der Antike der epochale Entdeckungsdurchbruch gelang, den die Afrikaumsegelung der Portugiesen und die Atlantikfahrten des Kolumbus einleiteten oder – anders gewendet – warum es so lange dauerte, bis Menschen des Mittelmeerraums die Barrieren der großen Ozeane nachhaltig und folgenreich überwanden, kurzum: Warum setzt die »Frühe Neuzeit« in dieser Hinsicht so »spät« ein? Diese fundamentale Frage kann nur im Rahmen einer dichten Beschreibung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungskontexts geklärt werden, in dem sich die Entdeckungsunternehmungen bewegten. Genau das soll im Folgenden geleistet werden.

Nimmt man die genannten Kriterien einer »explorativen Konstellation« zusammen, dann wird auch klar, weshalb eine Geschichte der antiken Entdeckungen nicht mit Homer oder anderen aus der klassischen Antike vertrauten Epochen beginnen kann, sondern dort, wo die entscheidenden Grundlagen organisierter Fernerkundungen gelegt wurden. Das ist die Bronzezeit des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr. In dieser Zeit setzte eine fundamentale Wandlung ein. Erstmals ergänzen schriftliche Quellen die archäologische Überlieferung. Sie bezeugen größere Gemeinwesen im Osten des Mittelmeerraums (Mesopotamien, Ägypten), die unter monarchischer Regierung die Kunst des entwickelten Ackerbaus beherrschten, handwerkliche Differenzierung kannten und größere Armeen aufstellten. Politische Stratifizierung, gesellschaftliche Differenzierung sowie die Bedingungen einer wehrhaften Palastherrschaft führten dazu, dass die Eliten einen regelmäßigen Bedarf nach fernen Gütern entwickelten: vornehmlich Mineralien und Metalle (Zinn, Kupfer), aber auch Holz (für Tempel- und Schiffbau), Luxuswaren und exotische sowie medizinisch verwendbare Naturprodukte (Weihrauch, Opium, Bernstein, Perlen, Edelsteine).38 Diese Produkte gab es oft nur in entfernten Gebieten des Mittelmeerraums, der ostafrikanischen Küsten, Indiens oder des atlantischen Nordens und in Innerasien.

In vielen dieser Regionen lassen sich in der gleichen Zeit Frühformen der Bergwerkskunst und Metallurgie nachweisen. Es entstand so etwas wie ein überregionales Marktgeschehen, das Handel, Netzwerkbildung und Mobilität von Menschen über weite Entfernungen stimulierte sowie die Bildung entsprechender Kulturtechniken wie Lagerhaltung und Schrift (zunächst zur Memorierung von Gütern und in Form von Listen) anregte.39 Gleichzeitig oder wenig später spezialisierten sich an den territorialen und maritimen Transferzonen (Levante, Zypern, Kleinasien) kleinere Stadtstaaten auf den Erwerb und Transport der Produkte.

Mit der Erfindung des Segels auf Schiffen, die eine Geschwindigkeit von bis zu 5 Knoten (9 km/h) erreichten und einen Kurs von 90–1000 am Wind hielten,40 sowie mit der Domestizierung des Esels, der Lasten von bis zu 90 kg über bis zu 50 km täglich tragen konnte, standen seit dem 4. Jahrtausend revolutionäre Transporttechniken zur Verfügung, die in der Folge stetig verbessert und durch die Domestizierung des Dromedars/Kamels aus Arabien und die Einführung des Pferdes aus der russischen Steppe ergänzt wurden.41

All das mündete in eine erste heiße Phase organisierter Fernerkundung: Die ostmediterrane Welt war von Kulturen geprägt, deren Wohlstand und Identität zu wesentlichen Teilen auf der Beherrschung von maritimen oder territorialen Verbindungswegen beruhten. Dementsprechend ist seit der Mitte des 2. Jahrtausends eine Differenzierung im Schiffbau zwischen Handels- und Kriegsschiffen zu beobachten.42 Der Zugriff auf die Ferne vollzog sich – nimmt man die archäologischen Zeugnisse als Beleg – in einer Atmosphäre des Wettbewerbs, der die Bewältigung langer Wege, die Kontrolle von Seerouten und Karawanenwegen sowie den Erwerb exotischer Produkte und den Besitz seetüchtiger Schiffe zu einer Quelle von Ruhm und Reichtum machte.43 Damit waren die Grundlagen gelegt für einen über 2000 Jahre währenden Aufbruch, der am Mittelmeer begann und Schritt für Schritt entfernteren Regionen zustrebte bis zu den Grenzen der Welt … und darüber hinaus.

I. 
EINE WELT IN BEWEGUNG

HERRSCHER, HÄNDLER UND HELDEN DER FRÜHZEIT

1. 
KAPITÄNE UND KRIEGER
DER BRONZEZEIT

Schatten der Vergangenheit und Abenteurer zur See

Wer einmal das Glück hat, am Strand von Kommos(1) in Südkreta(1) der untergehenden Sonne zu folgen, der hört die Rufe und sieht die Schatten: Stolze Schiffe nähern sich der Bucht, begleitet von Gesängen und gerudert von Männern mit salzverkrusteten Gesichtern, selbstbewusst, kühn und zufrieden. So wie vor 4000 Jahren, als Kommos Zwischenstation von Seefahrern war, die das Meer zu ihrer Heimat und die Ferne zu ihrem Ziel erklärten.