Dämonendunst

 

 

 

Band 67

 

Dämonendunst

 

von Logan Dee und Susanne Wilhelm

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte.

Nach vielen Irrungen hat Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi angenommen. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und niemand ahnt von den Schwierigkeiten, die sie quälen und die es ihr fast unmöglich machen, die Kräfte der Höllenplagen-Dämonen einzusetzen, die sie sich am Höhepunkt ihres perfiden Plans einverleibt hat. Dorian Hunters Trick scheint ihr mehr zuzusetzen, als sie es zunächst für möglich hielt … und der Dämonenkiller ahnt nicht einmal, welcher Schlag ihm gegen den angeblichen Asmodi gelungen ist, dessen Wiedererstarken er sich nicht erklären kann.

Olivaro, der ehemalige Januskopf, schickt Hunter auf die Spur eines geheimnisvollen Geschehens auf den Scilly-Inseln, einer kleinen vorgelagerten Inselgruppe. Gleichzeitig fällt Coco Zamis in einen magischen komatösen Zustand – wenn Dorian ihr helfen will, so Olivaro, dann auf den Scilly-Inseln.

Heimlich weist Olivaro jedoch auch Lucinda Kranich alias Asmodi die Spur dorthin. Dort könne auch ihr geholfen werden. Weiß der alte Intrigant wieder einmal mehr als alle anderen? Es sieht ganz so aus, denn er nennt Lucinda Kranich bei ihrem wahren Namen, als er »Asmodi« gegenübertritt, und er scheint sich gut mit der geheimnisvollen Maschine auszukennen, die Menschen in den Wahnsinn treibt …

Dorian entdeckt Hinweise auf eine versunkene Insel, die noch vor zweihundert Jahren zu den Scillys gehörte, an die sich seltsamerweise aber niemand mehr erinnern kann; nur noch Legenden sprechen davon. Vom Keller eines Sanatoriums für Geistesgestörte aus gibt es einen unterirdischen Tunnelzugang zu dieser Insel, doch noch ehe der Dämonenkiller ihn betreten kann, erobert die Kranich ihn im Sturm.

In einem U-Boot, das von der russischen Kapitänin Darja Kusnezow gesteuert wird, versucht er einen anderen Zugang zu finden, doch sie werden Opfer einer dämonischen Attacke. Überraschenderweise taucht das völlig lädierte U-Boot in letzter Sekunde unter Wasser in einer riesigen Höhle auf. An Bord haben nur drei Personen überlebt: Dorian selbst, die Kapitänin und der Freak Professor Harrison, der die Klinik leitete und von dort aus stets »Nachschub an Wahnsinnigen« über den Tunnel zur Insel schickte. Warum, bleibt unbekannt. Der Freak erkennt in Dorian seinen »Meister« … auch das nach wie vor aus ungeklärten Gründen.

Gemeinsam schlagen sie sich durch, bis sie den geheimnisvollen Flammenschädel finden, der über unfassliche Macht zu verfügen scheint. Die Kapitänin wird verletzt und magisch infiziert. Schließlich treffen sie auf eine Gruppe von Dämonen, die einem geheimnisvollen Kult zu frönen scheint – sie veranstalten eine Feier für … Dorian Hunters frühere Existenz als William David Hadley!

Gleichzeitig setzt sich auch Jeff Parker auf die Spur der Verschwundenen. Auf einer anderen Insel der Scillys begegnet er einem mysteriösen Spuk; ein geisterhaftes Mädchen verlangt von ihm, den Feuerschädel zu finden, der ihm einst gestohlen wurde. Jeff befreit sich mit einem Trick aus der Zwangslage, doch was es mit dem Feuerschädel auf sich hat, erfährt er nicht. Er ahnt allerdings, dass er nicht der Einzige ist, der sich auf dieser Suche befindet.

Derweil erinnert sich Dorian an einige Geschehnisse aus seinem elften Leben, der Existenz nach dem Jungen Daniel. Dort begegnete er schon einmal dem Freak Harrison – nur dass dieser damals noch ein echter Dämon war, den außerdem eine Besonderheit auszeichnete. Harrison, der sich damals noch anders nannte, litt in der Gegenwart von Wahnsinnigen keine Schmerzen, was ihn von allen anderen Dämonen unterschied. Er versuchte, zu ergründen, warum dies so war, und unternahm Versuche mit Irrsinnigen.

Dabei schlug sich Dorian in seinem elften Leben als Sir William an seine Seite und unterstützte ihn, geriet immer tiefer in die Faszination der morbiden Forschungen. Oder doch nicht? Zum ersten Mal erinnert sich Dorian an zwei Versionen eines vergangenen Lebens. War er vielleicht doch der Dorfdepp Billy, eines der Versuchskaninchen? Eines der Experimente schlägt fehl, ein Experiment, in dem der Feuerschädel eine große Rolle spielte. Sir William verliert den Verstand. William/Billy und Harrison erhalten Besuch von einem geheimnisvollen Fremden – Tourelle. Er hat eine Maschine erbaut, die Menschen wahnsinnig macht. Zugleich verspricht er, einen Weg zu kennen, William/Billy zu heilen. Gleichzeitig bereitet er sich vor, weil er weiß, dass die Insel untergehen wird. Dorian erinnert sich bis an den Punkt, als eben dieser Untergang beginnt …

In der Gegenwart taucht Olivaro erneut bei Lucinda Kranich auf und offenbar ihr, dass er einst als Tourelle eine Maschine baute, die nun ihrer beider Probleme lösen kann. Sie verbünden sich, um die versunkene Insel erreichen zu können.

Dort ist Dorian Hunter inzwischen einen Schritt weiter – er durchschreitet den geheimnisvollen Schutzschirm jenseits der Totenfeier für David Hadley. Und erkennt dessen wahre Natur …!

 

 

 

 

Erstes Buch: Dämonendunst

 

 

Dämonendunst

 

von Susanne Wilhelm

 

Prolog

 

Die Hand des Fahrers lag auf Cocos Knie.

Die beiden jungen Männer, die sie auf der Straße angehalten hatte, waren überglücklich gewesen, sie ein Stück mitzunehmen. Der blonde Luc hatte sogar den Beifahrersitz für sie geräumt. Nun schien er es zu bereuen, denn er warf Jean, dem Fahrer, immer wieder düstere Blicke zu.

Offensichtlich war er der Meinung, dass sein Freund den ganzen Spaß hatte, während er auf der Rückbank versauerte. Doch Jean ließ sich davon nicht beirren und schob seine Hand noch ein Stück weiter Cocos Oberschenkel hinauf.

Sie lächelte und rekelte sich in ihrem Sitz. »Ich muss zum nächsten Flughafen. Der liegt nicht zufällig auf eurem Weg?«

»Na ja …« Jean wirkte unentschlossen. »Nicht direkt, aber …«

»In Bonifacio gibt es keinen Flughafen«, unterbrach Luc ihn. »Der nächste liegt in der Nähe von Porto Vecchio. Das wäre ein ziemlich großer Umweg.«

»Ein Umweg, den ihr doch sicher gerne in Kauf nehmt.«

Coco lehnte sich vor und versuchte Jeans Blick einzufangen.

Sie wollte keine Zeit damit verlieren, nach einer anderen Mitfahrgelegenheit Ausschau zu halten. Irgendwer hatte keine Mühen gescheut, um sie von den Scilly-Inseln fernzuhalten. Die beiden Dämonen Ksha und Kashipu hatten sie aus der Villa in London entführt und nach Korsika gebracht. Dort hatten sie ihr vorgegaukelt, sie habe Dorian im Auftrag von Asmodi getötet und sei immer noch ein Mitglied der Schwarzen Familie. Nur mit der Hilfe von Jeff Parker und einem Freak namens Fleury hatte sie die beiden Brüder besiegen können.

Dieser ganze Aufwand, der betrieben worden war, um sie daran zu hindern, Dorian auf die kleine Inselgruppe südwestlich von Land's End zu folgen, hatte ihre Neugierde und ihre Sorge geweckt. Schwebte Dorian womöglich in Gefahr? Woran genau hatte derjenige, der ihre Entführung veranlasst hatte, Coco hindern wollen? Das musste sie so schnell wie möglich herausfinden.

Sobald Jean zu ihr herüberschaute, sah sie ihm tief in die Augen, um ihn zu hypnotisieren.

Doch dazu kam sie nicht.

Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte das Auto. Hatten sie irgendetwas gerammt? Vor Schreck verriss Jean das Lenkrad und trat im nächsten Moment hart auf die Bremse. Coco wurde in ihren Gurt geworfen. Sie schrie auf. Das Fahrzeug schlingerte gefährlich über die schmale Straße. Die Kante der steilen Kalksteinklippe links von ihnen kam immer näher. Tief unter ihnen gischtete die Brandung gegen den Fels.

Auf der Rückbank rief Luc nutzlose Anweisungen. »Nach rechts, Jean! Lenk nach rechts! Willst du uns umbringen?«

»Ich versuch's ja! Ich versuch's!«

»Uns umzubringen? Das merke ich. O mein Gott, die Klippe!«

Unaufhaltsam rutschten sie auf die Leitplanke zu. Das Metall der Absperrung verbog sich unter dem Aufprall wie billiges Blech. Dahinter tat sich ein gähnender Abgrund auf. Der Sturz war unvermeidlich.

Coco Zamis tat das Einzige, was ihr noch blieb – sie versetzte sich in den schnelleren Zeitablauf.

Mit einem Mal stand der Wagen still. Seine Schnauze hing wie schwerelos über der Kante, und die weit nach außen gebogene Leitplanke wirkte wie ein zum Zerreißen straff gespanntes Gummiband. Die Gesichter von Jean und Luc waren zu einem Ausdruck bodenlosen Entsetzens erstarrt.

Sofort begann zwischen Cocos Schläfen ein dumpfer Schmerz zu pochen. Der Kampf gegen Ksha und Kashipu hatte sie schwer mitgenommen. Lange würde sie sich nicht im schnelleren Zeitablauf halten können. Sie musste sich beeilen.

Hastig öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus. Mit schnellen Schritten eilte sie um den Wagen herum. Zuerst öffnete sie die hintere Tür und zerrte Luc heraus. Achtlos ließ sie ihn los – er würde auf die Straße fallen. Er sollte froh sein, dass er nicht unten im Meer landete. Sie hatte keine Zeit, um Rücksicht zu nehmen.

Das Auto war schräg in die Leitplanke gekracht, und im Gegensatz zur Beifahrertür hing die Fahrertür bereits halb über dem Abgrund. Coco schluckte, Schweiß trat ihr auf die Stirn. So dicht sie es wagte, schob sie sich an die Kante heran und öffnete die Tür. Um Jean herauszuziehen, musste sie sich gefährlich weit vorbeugen. Sie brauchte all ihre Willenskraft, um nicht nach unten zu sehen.

Der junge Mann kam ihr schwerer vor als sein Freund. Für einen Moment baumelte sein linkes Bein über dem Abgrund. Sein Gewicht zog schwer an ihren Armen. Keuchend zerrte sie ihn vom Auto und der Klippe fort. Ihre Knie zitterten, als sie endlich weit genug entfernt war, dass das Fahrzeug sie bei seinem Sturz nicht mit sich in die Tiefe reißen würde.

Erschöpft fiel sie in die normale Zeit zurück.

Sofort drang das Kreischen von Metall an ihre Ohren und der Geruch von verschmortem Gummi stieg ihr in die Nase. Die Leitplanke gab nach und fetzte auseinander. Das Auto verschwand über den Rand der Klippe.

Gleichzeitig knallte Luc auf den Boden. »Was zur Hölle …?« Er rappelte sich auf und sah sich irritiert um. Für ihn war keine Zeit vergangen. Im einen Augenblick hatte er noch im Auto gesessen und nun stand er auf der Straße.

Coco machte sich nicht die Mühe, den beiden jungen Männern die Zusammenhänge zu erklären. Stattdessen sah sie sich um. Irgendetwas musste den Unfall verursacht haben.

In der Nacht zuvor war sie von ganzen Horden korsischer Dämonen gejagt worden. Die Gründe dafür waren ihr nun, da sie die Illusion von Ksha und Kashipu durchschaut hatte, noch schleierhafter als zuvor. Doch das änderte nichts daran, dass dies womöglich eine Falle war.

Aber alles, was sie entdecken konnte, war ein unförmiges, braunes Gebilde mitten auf der Straße. Was konnte das sein? Ein entwurzelter Baumstumpf vielleicht? Hatte er das Auto ins Schleudern gebracht?

Ihr Gefühl sagte ihr, dass hinter diesem Gebilde mehr steckte. In der Nähe stritten Jean und Luc, doch Coco achtete nicht darauf. Stattdessen machte sie einen Schritt auf den vermeintlichen Baumstumpf zu. Er schien tatsächlich aus Holz zu sein. Wurzelartige Auswüchse streckten sich in alle Richtung.

Und sie bewegten sich!

Erst war es nur ein leichtes Zittern. Dann streckten sie sich. Sie wanden sich umeinander, immer schneller, bis es wirkte, als würde man in ein Schlangennest schauen. Aber nach einem Moment erkannte Coco, dass diesem Gewimmel eine gewisse Ordnung zugrunde lag. Die Wurzelstränge ordneten sich. Sie bildeten eine annähernd menschliche Gestalt. Aus dem Wurzelknäuel formte sich ein Wesen, das Coco gerade mal bis zum Knie reichte. Es schüttelte einen unförmigen Kopf und gab dabei ein lautes, knarzendes Geräusch von sich. Im nächsten Augenblick fixierte es sie aus dunklen, stechenden Augen, die unter wulstigen Brauen lagen.

»Warum hast du diese beiden Nichtsnutze gerettet?«, fragte es mit rauer, krächzender Stimme. In den Worten schwang ein Vorwurf mit.

»Was?« Coco war verwirrt. Sie hatte mit einem Angriff gerechnet, aber nicht mit dieser Frage.

Das Wurzelwesen verdrehte die Augen. »Die beiden Menschen.« Es deutete auf Jean und Luc. Die jungen Männer hatten inzwischen aufgehört zu streiten und starrten die seltsame Erscheinung in der Mitte der Straße mit offenen Mündern an.

»Wir brauchen die nichtsnutzigen Menschen nicht. Aber es wäre lustig gewesen, sie fallen zu sehen. Die meisten schreien, bis sie ganz unten sind. Du solltest es dir einmal anhören. So süß.«

»Lass uns hier lieber schleunigst verschwinden.« Jean packte Coco am Arm und wollte sie mit sich ziehen. Die Angst war ihm deutlich anzusehen, aber offensichtlich wollte er nicht ohne sie gehen.

»Nein.« Coco sprach das Wort aus, bevor sie sich selbst ganz im Klaren war, dass sie einen Entschluss gefasst hatte. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass sie von diesem Wurzelwesen etwas erfahren konnte. Es gehörte nicht zu den korsischen Dämonen, die sie in der vergangenen Nacht angegriffen hatten. Die hatten sich nicht die Mühe gemacht, mit ihr zu reden.

Die schöne Hexe zog den Arm aus Jeans Griff und sah ihm in die Augen. Diesmal gelang es ihr, ihn zu hypnotisieren. Sobald er unter ihrer Kontrolle stand, wandte sie sich Luc zu. Ihn hypnotisierte sie ebenfalls.

»Au ja, au ja, au ja!« Das Wurzelwesen sprang vor Aufregung auf und ab. Dabei wurde unter ihm ein Loch im Asphalt sichtbar. Wurzelstränge zogen sich daraus zurück in die Füße des Wesens. Nun ähnelte es ein wenig einem Gnom. Es hatte sich offensichtlich tief in der Erde verankert, um beim Zusammenstoß mit dem Wagen nicht davongeschleudert zu werden.

Es hatte genau geplant, wie es das Auto aufhalten konnte. Wozu? Einfach nur aus Spaß? Nein, es schien irgendetwas von Coco zu wollen.

»Jetzt sag ihnen, dass sie ins Wasser springen sollen.« Der Gnom trat ein paar Schritte näher, ein hoffnungsvoller Ausdruck stand auf seinem knorrigen Gesicht. »In das Wasser tief unten am Fuß der Klippe.«

»Das werde ich ganz sicher nicht tun.« Coco wandte sich an Jean und Luc. »Gebt mir euer Geld. Dann geht die Straße entlang bis zur nächsten Ortschaft.«

Mit steifen Bewegungen taten die beiden jungen Männer, was sie ihnen befohlen hatte.

Die Hexe schob die Scheine in ihre Hosentasche und sah noch eine Weile zu, wie ihre Begleiter die gewundene Küstenstraße entlanggingen.

»Du hast keinen Sinn für Kunst«, beschwerte sich das Wurzelwesen. Es trat einen weiteren Schritt auf Coco zu, hielt aber immer noch einen gewissen Mindestabstand. Hatte es Angst vor ihr oder wollte es sie nicht verschrecken?

»Was ist daran Kunst, Menschen umzubringen?«

»Die süßen Schreie.« Ein träumerischer Ausdruck trat auf das knorrige Gesicht. »Die zappelnden Arme, als würden sie hoffen, dass ihnen in letzter Sekunde noch Flügel wachsen. Der ferne Aufschlag, der das …«

»Das reicht.« Abscheu stieg in Coco auf. Am liebsten hätte sie dieses seltsame Wesen einfach stehen lassen. Doch da war immer noch dieses Gefühl, dass es ihr etwas Wichtiges sagen konnte. Sie hatte gelernt, ihren Gefühlen zu vertrauen. »Sag mir lieber, was du bist und was du willst.«

»Gaius.« Das Wesen vollführte eine steife Verbeugung. »Du musst mit mir kommen.«

Misstrauisch runzelte Coco die Stirn. »Wohin?«

»Zu einem Ort«, war die wenig aussagekräftige Antwort.

Das Gefühl, dass das Wurzelwesen wichtig war, verstärkte sich. Es fühlte sich … richtig an, mit ihm zu gehen. Woher kam diese Eingebung? Wurde sie vielleicht manipuliert? Aber es erweckte nicht den Eindruck. Coco fühlte keinen fremden Einfluss in ihrem Geist. Ihre Gedanken waren vollkommen klar. Dennoch wollte sie ihrem neuen Bekannten nicht blind folgen.

»Wenn du mir sagst, wohin es gehen soll, begleite ich dich.«

»Wenn du mich begleitest, zeige ich dir, wohin es gehen soll.«

Sie seufzte. Wahrscheinlich konnten sie noch bis zum nächsten Morgen auf dieser Küstenstraße stehen und diskutieren. Aber das würde Dorian nicht helfen.

»Also gut. Geh vor.«

Gaius trat zu Coco und nahm ihre Hand. Sie erwartete, raue Borke zu fühlen, doch zu ihrer Überraschung spürte sie glatte Haut. Da fiel ihr auf, dass Gaius sich veränderte. Die Wurzeln verwuchsen miteinander, bis es nicht mehr wirkte, als würde ihr seltsamer Begleiter aus einem Gewirr hölzerner Stränge bestehen. Stattdessen wuchsen ihm schillernde Schuppen. Während er Coco an den Rand der Klippe führte, spross eine dünne Hautschicht zwischen Gaius' Körper und seinen Armen. Mehrere knochige Dornen stießen aus seinem Rücken. Auch zwischen ihnen bildete sich eine halb transparente Membran. Und er wuchs. Innerhalb von Augenblicken reichte er Coco erst bis zur Schulter und überragte sie dann.

Zwei Schritte vor dem Abgrund blieb Coco stehen. Ihr Begleiter wollte sie weiterziehen, aber sie stemmte sich dagegen. Sie ahnte, was er vorhatte, und es gefiel ihr ganz und gar nicht. »O nein.«

»O doch.« Mit einem Ruck, der schmerzhaft an ihrer Schulter riss, zog Gaius Coco zu sich. Er schloss sie in eine Umarmung fest wie ein Schraubstock. Dann machte er einen gewaltigen Satz – und sprang über die Klippe.

 

 

1. Kapitel

 

Gegenwart

Der Schirm war ein Gefängnis. Diese Erkenntnis traf Dorian Hunter wie ein Hammerschlag. Ein Gefängnis für eine mächtige, entsetzliche Kreatur. Die Kreatur, die sich nun zwischen ihm und den Irren erhob.

Zuerst hatte Dorian sie für einen Teil der Landschaft gehalten. Ein unförmiger Hügel aus Erde und Lehm. Doch nun hob sie den Kopf. Mehrere Tentakel sprossen aus einer gefurchten Stirn. Die Kreatur hatte einen Schnabel, unter dem wiederum bartartige Tentakel hervorwuchsen. Panzerplatten aus braunem Horn schabten übereinander, als der Dämon sich träge regte. Es war, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. Ein Schlaf, der vielleicht ebenso lange gedauert hatte, wie diese Insel bereits auf dem Meeresgrund lag?

Der Blick roter Augen strich über den Hügel, auf dem Dorian in Deckung lag. Konnte der Dämon ihn sehen? Er hatte sich extra im Schutz einiger Büsche herangepirscht. Nun duckte er sich tiefer. Dennoch erweckte es den Eindruck, als würde das Monstrum durch die Zweige und Blätter hindurchschauen und ihn mustern.

Schwerfällig erhob es sich. Die Klauen, in denen seine Füße ausliefen, zerfurchten die Erde. Stacheln schoben sich aus seinen Schultern und Armen.

Dann kam der Dämon genau auf Dorian zu. Er war sich der Anwesenheit des Dämonenkillers bewusst! Mit jeder Sekunde wurden seine Bewegungen zielgerichteter und geschmeidiger.

Dorian Hunter zog seine Waffe. Er hatte nicht mehr viel Munition, doch wenn er sie nun nicht einsetzte, würde er vielleicht nie wieder die Gelegenheit erhalten, auf irgendetwas zu schießen. Gut möglich, dass nicht einmal Silberkugeln diesem Monstrum etwas anhaben konnten, aber er musste es zumindest versuchen.

Der Dämon streckte einen Arm aus – und ein Tentakel schoss aus seiner Hand. Reflexartig rollte sich Dorian zur Seite. Haarscharf pflügte der Tentakel neben ihm durch die Erde. Ein Schauer aus Dreck und zerfetzten Blättern ging auf den Dämonenkiller nieder.

Was war das für ein Biest? Wieso wurde es hier unten auf dieser Insel, die eigentlich eine Höhle war, gefangen gehalten? Bisher passte dies alles noch nicht mit den Erinnerungen an sein elftes Leben zusammen. Das Letzte, was Dorian über Sir William David Hadley wusste, war, dass er den Untergang der Insel miterlebt hatte. Bisher sah es so aus, als würde er dabei sterben. Wie sollte man eine solche Flut auch überleben? Aber wo kam dann dieser Dämon ins Spiel?

Dorian drückte ab. Der Schuss peitschte laut durch die Landschaft unter dem Schirm. Ein paar der Irren begannen panisch zu kreischen. Die Kugel grub einen Krater in die Hornpanzerung des Dämons. Doch ansonsten richtete sie keinen Schaden an.

Wenn er diesen Kampf gewinnen wollte, brauchte er eindeutig stärkere Waffen.

Ein weiterer Tentakel zischte über Dorians Kopf hinweg und riss den Busch, der ihm als Deckung gedient hatte, endgültig aus dem Boden. Wieder regnete Dreck auf den Dämonenkiller herab.

Doch was war das? In der aufgewühlten Erde blitzte etwas golden. Ein Amulett! Hunters geübter Blick erkannte sofort ein Horusauge. Ein weißmagisches Zeichen, das vor dämonischen Einflüssen schützte.

»Da sag noch mal einer, ich sei kein Glückskind.«

Es kümmerte ihn nicht, wer ein solches Amulett ausgerechnet an dieser Stelle verloren hatte. Solche Fragen konnte er auch später noch klären. Dorian hechtete darauf zu. Im selben Moment hörte er Stoff reißen. Die Krallen des Dämons gruben sich dicht neben ihm in den Boden.

Erst als er das Amulett packte, fühlte er den brennenden Schmerz im Oberschenkel. Das Biest hatte ihn erwischt! Dorian fluchte. Ungeschickt rollte er ab, kam auf die Knie wieder hoch und hielt mit einer Hand das Horusauge vor sich, mit der anderen die Waffe.

Der Dämon erstarrte. Die Klauenhand hatte er bereits wieder zum Schlag erhoben, der Schnabel war weit aufgerissen. Aber er rührte sich nicht mehr.

Eine durchschlagende Wirkung für ein kleines Amulett. Dorian wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Du?« Das Wort kam grollend aus dem Schnabel des Monsters. »Meister?«

Vor Überraschung stand dem Dämonenkiller der Mund offen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass nicht das Horusauge für seine Rettung gesorgt hatte. Dieser Dämon nannte ihn Meister, genau wie Harrison. Wie konnte das sein? Wie viel seltsamer würde sein Ausflug unter den Meeresspiegel noch werden? Die nächsten Worte des Monsters schienen zumindest die letzte Frage beantworten zu wollen.

»Ich?«, grollte es. »Wo bin ich?«

»Was soll das nun wieder bedeuten?« Nichts in den Erinnerungen an sein elftes Leben hatte Dorian darauf vorbereitet. Jeder an diesem Ort schien in ihm seinen Meister sehen zu wollen. Dabei war William Hadley die Hälfte der Zeit ein sabbernder Idiot gewesen. Es ergab alles keinen Sinn.

Diesen Moment der Verwirrung nutzte das Monster aus. Seine Klauenhand fuhr herab. Aber anstatt den Dämonenkiller zu zerfetzen, schlug es ihm nur das Amulett aus der Hand. Das Horusauge entglitt Dorians Fingern und flog in hohem Bogen davon. Er fluchte.

Im nächsten Augenblick durchfuhr ihn ein grauenhafter Schmerz. Er schrie auf und krümmte sich zusammen. Mit den Händen stützte er sich auf dem Boden ab, um nicht nach vorn zu fallen. Der Schmerz schien ihn schier zu zerreißen. Er fraß sich wie Feuer durch seinen Körper, bis Dorian das Gefühl hatte, vollständig in Flammen zu stehen. Beinahe glaubte er, den Geruch von verbranntem Haar und Fleisch zu riechen.

Doch das war erst der Anfang.

Als er schon glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, zog sich der Schmerz in seinem Inneren zusammen. Er wurde konzentrierter, stechender. Und dann explodierte er. Es schien Dorian, als stülpe sich sein Inneres nach außen.

Ein Ruck ging durch ihn. Er hatte das Gefühl, nach vorne gerissen zu werden, und doch blieb er unverändert am Boden hocken.

Ein weiterer Ruck, und der Schmerz steigerte sich ins Unermessliche. Etwas riss an ihm. Riss ein Stück aus ihm heraus. Nein, nicht nur irgendein Stück. Dorian fühlte den Verlust von etwas Wichtigem. Aber es fiel ihm schwer zu sagen, was es war. Auf seltsame Art verdoppelte sich seine Wahrnehmung. War er derjenige, aus dem etwas herausgezogen wurde, oder derjenige, den eine unbekannte Macht unerbittlich ans Licht zerrte?

Wieder schrie Dorian, doch diesmal bildete der Schrei eine weiße Wolke vor seinem Mund. Im ersten Moment glaubte er, er müsse gleich merken, dass die Temperatur schlagartig gesunken war. Doch es blieb unverändert warm. Dennoch strömte ihm bei jedem keuchenden Atemzug weißer Dunst aus Mund und Nase.

Aber er verflog nicht. Er blieb vor Dorians Gesicht hängen.

Und dann schaute der Dunst ihn an.

Oder schaute Dorian sich selbst an? Plötzlich sah er sein eigenes schmerzverzerrtes Gesicht. Doch gleichzeitig starrte er weiter in den weißen Dunst. Geisterhafte Augen erwiderten von dort seinen Blick. Seine eigenen Augen.

Dorian Hunter starrte sich selbst in die Seele. Und seine Seele starrte zurück.

Aber nicht alles in dem Dunst war Teil von ihm. Er spürte gleichzeitig eine fremde Macht darin. Etwas Dämonisches? Der Dämonendunst hüllte sein Ich ein und zerrte es weiter unerbittlich aus seinem Körper heraus.

Für einen Augenblick noch sah der Dämonenkiller gleichzeitig den Dunst vor seinem Gesicht und sich selbst, wie er sich vor Schmerzen krümmte. Nicht nur aus Mund und Nase quoll es weiß heraus, sondern auch aus seinen Augen wanden sich rauchartige Fäden.

Dann war es vorüber. Der Schmerz ließ nach, gleichzeitig sah er das Leben in seinen eigenen Augen erlöschen. Dorian streckte geisterhafte Hände nach seinem Körper aus. Aber er griff durch ihn hindurch. Hilflos musste er zusehen, wie er selbst zur Seite kippte und reglos liegen blieb.

Hätte er nicht gewusst, wie es war zu sterben, hätte er geglaubt, er sei tot. Doch dies hier fühlte sich nicht an wie seine zehn anderen Tode, an die er sich erinnerte. Was auch immer mit ihm geschah, es war eine vollkommen neue Erfahrung für den Dämonenkiller.

Dorian stand auf. Er sah an sich selbst hinunter, erkannte aber nichts als wabernden Dunst. Der Anblick war fast noch beunruhigender als der seines eigenen leblosen Körpers. Dennoch konnte er sich bewegen, als hätte er weiterhin eine feste Gestalt. Wie durch Watte fühlte er sogar den Boden unter seinen Füßen.

Er drehte sich um und schaute zu dem Dämon auf. Dessen massive Gestalt hockte nun wieder reglos da. Die roten Augen blickten auf Dorian hinab. Oder auf seinen Körper?

Der Dämonenkiller machte einen Schritt auf das Monster zu. »Was soll das? Du hast mich doch vorhin Meister genannt. Dann befehle ich dir, dies hier rückgängig zu machen!«

Doch der Dämon reagierte nicht, hockte einfach weiterhin reglos da.

Dorian Hunter hatte das Gefühl, dass die Ereignisse immer mehr seiner Kontrolle entglitten. Zuerst hatte der Feuerschädel das Kommando über die Wanderung durch die Höhlenwelt übernommen. Er hatte Dorian davon abgehalten, bei der bizarren schwarzen Messe einzugreifen, die sie beobachtet hatten. Dann hatte der Freak Harrison seine Anwesenheit an die Dämonen hier unten verraten. Und nun riss ihm diese Ausgeburt der Hässlichkeit im wahrsten Sinne der Worte die Seele aus dem Leib.

Der Dämonenkiller war es gewohnt, sich in Gefahr zu begeben. Aber dabei verstand er gerne zumindest ansatzweise, was um ihn herum geschah. Und es gefiel ihm ganz und gar nicht, von fremden Mächten herumgeschubst zu werden.

Fieberhaft überlegte er, was er nun tun sollte. Doch bevor er noch zu einem Ergebnis kommen konnte, verschwamm seine Umgebung mit einem Mal. Der Dämon, Dorians eigener Körper, alles wurde immer undeutlicher.

Er hatte das Gefühl, von einer unsichtbaren Kraft erfasst und davongewirbelt zu werden. Er stemmte sich dagegen, doch er war genauso hilflos wie ein Blatt im Sturm. Seine Umgebung war nichts als ein Durcheinander von Formen und Farben. Schemen huschten um ihn herum.

Und im nächsten Moment stand er mitten im Chaos.

Der Himmel über Dorian hatte die Farbe einer schwärenden Wunde. Wolken ballten sich dort zu dunklen Bergen zusammen. Tief unter ihm wirkte das Meer sogar noch bedrohlicher. Er stand an einer Klippe, und die Wellen gischteten mit Macht gegen den Stein. Mit jedem Anlauf schien das Wasser ein Stückchen höher zu kommen. Es schien entschlossen, das Land zu erobern. Dabei half ihm der eisige Regen, den der Wind in Schleiern über die Landschaft trieb. Hin und wieder prallte ein Tropfen vom Boden ab, hüpfte als kleiner Eisklumpen über Stein und Gras.

Wind zerrte an Dorian und drohte ihn über die Klippe zu wehen. Eilig trat der Dämonenkiller ein paar Schritte zurück. Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment leckte die Krone der ersten Welle über den Rand der Klippe.

Wasser umspülte Dorians Füße. Oder eher gesagt den weißen Dunst dort, wo seine Füße sein sollten. Noch immer hatte er keine feste Gestalt. Hieß das, die tobenden Naturgewalten ringsum konnten ihm nichts anhaben? Er fühlte die Kälte. Aber was würde geschehen, wenn er doch ins Wasser fiel? Konnte er ertrinken? Besser er sorgte dafür, das nicht herausfinden zu müssen.

Der Dämonenkiller wandte sich um, erkannte ein Stück entfernt die Schemen von Bäumen hinter einem Schleier aus Wasser. Und war das dort vorne nicht ein Haus? Er brauchte einen Unterschlupf, irgendetwas, wo er vor den Elementen geschützt war. Entschlossen setzte sich Dorian in Bewegung.

Das Wasser folgte ihm. Die Wellen brandeten mit immer größerer Wucht über die Klippe hinter ihm. Dorian rannte, doch er war nicht schnell genug. Nach wenigen Augenblicken schon watete er durch knöchelhohes Wasser. Plötzlich schienen die Fluten von überall zu kommen. Mit der nächsten Welle schwappten sie ihm um die dunstigen Knie. Der Wind heulte und kreischte. Oder war es mehr als nur der Wind? Er glaubte, Stimmen darin zu hören. Und irgendetwas an alldem kam ihm schrecklich bekannt vor.

Je weiter er kam, desto schlimmer wurde es. Ging er in das Chaos hinein, anstatt ihm zu entfliehen? Längst konnte sich der Dämonenkiller nicht mehr orientieren. Er sah nur noch prasselnden Regen und hohe Wellen.

Im nächsten Moment war er von wirbelndem Wasser umgeben. Es riss ihn mit sich. Verzweifelt tastete er nach irgendetwas, woran er sich festhalten konnte. Doch da war nichts. Er verlor jeden Sinn für Richtung. Er musste an die Oberfläche, aber wo war oben? Er brauchte Luft!

Dorian kämpfte gegen die Wassermassen an, versuchte zu schwimmen, doch es nützte nichts. Wieder fühlte er sich wie ein Blatt im Wind. Er war machtlos. Er würde sterben.

Oder etwa nicht? Eine scheinbare Ewigkeit wirbelte ihn das Wasser herum, aber noch immer spürte er kein Brennen in den Lungen. Er hatte nicht das Gefühl, zu ertrinken. Mit seinem Körper hatte er offensichtlich auch das Bedürfnis zu atmen zurückgelassen.

Dorian entspannte sich. Er konnte nichts weiter tun, als sich treiben zu lassen, aber immerhin war er nicht in unmittelbarer Gefahr. Dennoch griff er instinktiv zu, als er einen massiven Schemen an sich vorbeihuschen sah. Ein Baumstamm!

Er fühlte einen schwachen Widerstand. Für einen Moment schien es, als könnte er sich tatsächlich an dem Baum festhalten. Er fühlte die raue, vom Wasser durchweichte Borke. Doch dann glitten seine Nebelfinger einfach durch das Holz. Erneut wurde er mitgerissen und verlor jeden Sinn für Richtung. Warum erfasste ihn das Wasser, wenn er andere Dinge einfach durchdrang?

Gefühlte Ewigkeiten verbrachte er als Spielball der Naturgewalten. War er überhaupt noch an Land? Was, wenn er nun für immer in diesem Sturm gefangen war? Vielleicht war er ja doch tot. Vielleicht war es deshalb anders, weil ihn kein neues Leben mehr erwartete. Die Hölle hatte er sich zwar immer etwas wärmer vorgestellt, aber ausreichend ungemütlich kam es ihm in all dem Wasser vor …

Doch schließlich war es vorbei. Die Flut spülte ihn an einen sanften Hügel, und die Welle lief aus, zog sich zurück. Unsicher mühte sich Dorian auf die Beine und sah sich um. Er blickte auf eine Spur der Verwüstung.

Umgeknickte Bäume und Palmen. Trümmer bildeten eine unregelmäßige Linie, wo die Welle an Kraft verloren hatte. Wie Strandgut im Sand, nur dass dies bis vor Kurzem noch ein Feld gewesen zu sein schien. Platt gedrückte Kornehren überall.

Ein jämmerliches Meckern hallte durch das Tosen des Sturms, und der Dämonenkiller entdeckte eine Ziege in der Krone eines Baums. Das Wasser musste das Tier dorthin getragen und dann zurückgelassen haben.

In der Ferne glaubte er ein Haus zu erkennen. Es war ein anderes als das, auf das er zuvor zugehalten hatte. Ein wenig größer, außerdem fehlte ihm ein Teil des Dachs. Wieder hatte Dorian das Gefühl, dies alles kennen zu müssen.

Und dann traf es ihn wie ein Schlag. Natürlich hatte er diese Landschaft schon einmal gesehen …

 

Vergangenheit 1758

Krachend traf die Welle das Haus. Das Dach stürzte ein. Balken und Ziegel prasselten herab. Schützend hob Harrison die Arme über den Kopf. Irgendetwas traf ihn schmerzhaft am Ellenbogen. Kleine Splitter rieselten auf ihn herunter. Doch wie durch ein Wunder blieb er ansonsten unversehrt.

Dann gaben die Fenster nach. Sie zerbrachen unter dem Ansturm der Fluten. Das Wasser drang durch jede Ritze. Es schoss in den Raum und drohte Harrison davonzureißen. Verzweifelt klammerte er sich an der verfluchten Maschine fest, in der Tourelle vierzig Menschen wahnsinnig gemacht hatte. Das Ding war zu schwer, um davongespült zu werden.

Doch würde ihn das retten? Es geschah genau so, wie der Dämon es angekündigt hatte. Die Insel ging unter! Gewaltige Kräfte rissen sie in die Tiefe. Niemand konnte das überleben.