DIE AUTORIN
Foto: © Angelika Censebrunn
Franziska Fischer, geboren 1983 in Berlin, studierte Spanische Philologie und Germanistik an der Universität Potsdam. Heute arbeitet sie als freie Lektorin und Autorin für Gegenwartsliteratur und Jugendbücher. Reisen nach Mittelamerika und Mexiko haben sie zu ihrem Debütroman »Das Meer, in dem ich schwimmen lernte« inspiriert. Derzeit lebt sie in Klagenfurt am Wörthersee.
Von Franziska Fischer ist bei cbt erschienen:
Himmelhoch. Alles neu für Amelie (Band 1)
Mehr zu cbt auf Instagram @hey_reader
Franziska Fischer
Himmelhoch
Alles wegen Isa
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten,
so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,
da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf
deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt
und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen
unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie
die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung,
Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung,
insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und
kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
1. Auflage 2018
Originalausgabe September 2018
© 2018 by Franziska Fischer
© 2018 by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Scriptzz, www.scriptzz.de.
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie
Umschlagmotiv: © Gettyimages (Hero Images);
Shutterstock (Irtsya, Ksenia Lokko, vso)
MI • Herstellung: eR
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-16246-7
V002
www.cbj-verlag.de
Sonntag, 19. Februar
Amélie
Wie siehst du denn aus?«
Ich streiche mir über die fettigen Haare. »Bei uns ist heute Familienentlausung. Und bei dir so?«
Isa verzieht das Gesicht und weicht einen Schritt zurück. »Wie, Entlausung? Wascht ihr euch nicht?«
»Das hat damit nichts zu tun. Grundschule, Hort, viele Kinder, viele Haare, abendliche Familienkuschelstunde. Ein Paradies für Läuse. Kommst du rein? Es ist nämlich ziemlich frisch draußen und ich würde gern die Tür wieder schließen.«
Isa schlüpft an mir vorbei, bewahrt aber einen Sicherheitsabstand. Wenn man keine kleinen Geschwister hat, vergisst man solche Kindheitsplagen wahrscheinlich schnell. Für uns ist es schon die zweite Entlausung in diesem Schuljahr, wenn auch die erste, die gleich die komplette Familie erwischt hat. Sogar Papa. Dabei hat er beim ersten Mal geprahlt, auf seine Halbglatze würden sich die Viecher nicht verirren. Man darf sie eben nicht herausfordern.
»Und was genau ist das, was du in den Haaren hast?«, fragt Isa, nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hat. Sie riecht nach Winter und Meer und ein bisschen nach Pferdestall, aber sie lächelt nicht so wie sonst.
»Anti-Läuse-Lotion aus irgendwelchen Ölen. Noch fünf Minuten, dann kann ich das Zeug auswaschen.«
Gemeinsam betreten wir das Wohnzimmer, wo ein gemütliches Ferienfeuer im Kamin knistert und der Rest der Familie mit ebenso fettigen Haaren wie ich auf dem Sofa kauert und in Büchern und Zeitschriften blättert.
»Isa, ich habe Läuse«, ruft Paul und springt auf, um meine Freundin zu umarmen, wie er das immer macht. In letzter Sekunde kann meine Mutter ihn zurückhalten, bevor er auch Isabellas Klamotten mit dem Öl vollschmiert. Wir anderen haben unsere Ladung bereits erhalten.
»Habe ich schon gehört. Herzlichen Glückwunsch, alle zusammen.«
Meine Mutter lächelt, während sie aufsteht und Richtung Küche geht, wo noch ein Rest heißer Schokolade im Topf zurückgeblieben ist. Mit einer Tasse in der Hand kehrt sie zurück.
»Setz dich, Isabella. Es ist auch noch Kuchen da, wenn du magst.«
»Danke, nein. Ich habe immer noch Weihnachten auf den Hüften.« Sie schaufelt sich trotzdem Sahne in ihre Schokolade, so viel, dass Paul ganz große Augen bekommt. Bevor er jedoch um eine zweite Tasse Kakao betteln kann, schickt meine Mutter ihn zusammen mit meinem Vater nach oben ins Bad. Hinter meinen Ohren und im Nacken kribbelt es immer noch, obwohl das Läusemittel längst die gesamte Kolonie ausgerottet haben müsste.
»Wie geht es Manuela? In letzter Zeit habe ich sie kaum gesehen.«
»Ach, okay, denke ich. Sie ist selten zu Hause, das neue Friseurgeschäft läuft noch immer nicht so wie erwartet.«
Meine Mutter nickt nachdenklich, als wäre das etwas, das sie vorausgeahnt hat. Dabei kennt sie Isas Mutter erst seit einem halben Jahr, seit wir hier, im Haus neben dem von Isas Familie, eingezogen sind.
»Grüß sie mal von mir.« Damit geht meine Mutter ebenfalls nach oben, um zu überprüfen, ob die beiden Männer allein zurechtkommen. Vermutlich nicht. Das Badezimmer wird bereits überschwemmt sein.
»Ehrlich, ich hätte auch gern so eine Mutter wie du«, meint Isa seufzend und rührt in ihrer halb vollen Tasse. »Meine hat mir schon seit Ewigkeiten keinen Kakao mehr gemacht. Falls sie das überhaupt jemals getan hat, ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Ach komm, sei nicht so ungerecht. So schlimm ist sie doch gar nicht.«
»Na ja.« Isa rollt mit den Augen, dann trinkt sie in einem Zug die restliche Schokolade aus. »Du hättest das Theater gestern Abend erleben sollen, als ich sie gefragt habe, ob Salim mal bei mir schlafen kann. Sie soll froh sein, dass ich sie überhaupt frage und ihn nicht einfach in mein Zimmer schmuggle, wenn sie nicht da ist. Gelegenheit dazu hätte ich allemal.«
»Oh.« Ich zögere. Manche Fragen drängen sich einem einfach auf, auch dann, wenn man sie gar nicht beantwortet haben will. Zum Beispiel, ob der älteste und allerbeste Freund schon mit der Nachbarin und besten Freundin geschlafen hat. Nicht dass ich das nicht wüsste, Isa erzählt einem solche Sachen quasi direkt nach dem Geschehen. Wenn man Glück hat, hat sie sich wenigstens vorher angezogen. Trotzdem, vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht würde sie mir das doch nicht erzählen, nicht einfach so, und vielleicht würde Salim das auch nicht tun. Nicht mehr.
Ich atme tief ein und wieder aus. Mama meinte, es wäre normal, eifersüchtig zu sein. Bisher musste ich Salim mit niemandem teilen. Und ich hatte nie eine beste Freundin, die ich mit jemandem hätte teilen müssen.
»Du hast auch noch nie bei ihm übernachtet, oder?«
Isa schüttelt den Kopf. »Wann denn, du weißt doch, wie es bei denen zugeht. Ingo ist den ganzen Tag zu Hause und arbeitet, und weil Noemi fast immer unterwegs ist, nervt Alessia dann uns, wenn ihr langweilig ist. Also eigentlich immer. Sobald ich den halben Nachmittag dort bin, will ich nur noch in mein Zimmer.«
»Hm, kann ich verstehen.« Zumal die Wohnung, in der die Familie lebt, nicht gerade groß ist und fast komplett von Alessias Spielzeug belagert wird.
Isa kratzt die letzten Schokoladenreste aus ihrer Tasse, sagt aber nichts mehr. Es kommt selten vor, dass ihr die Worte fehlen.
»Ich gehe schnell duschen, du kannst oben in meinem Zimmer warten, wenn du willst.« Bevor sie antworten kann, bin ich bereits ins Treppenhaus verschwunden. Wenn ich ihr Zeit lasse, verabschiedet sie sich vielleicht. Ich würde das jedenfalls so machen. Jetzt kann sie nicht einfach gehen, jetzt kann sie nur oben auf meinem Bett oder in meinem Lesesack sitzen und warten und sich überlegen, weshalb sie eigentlich gekommen ist, ob es da noch mehr gibt, das sie mir erzählen möchte.
Das Bad gleicht, wie erwartet, einem Tropenhaus, und Paul kräht in seinem Zimmer herum. Vermutlich wird er gerade mit dem Läusekamm traktiert und bereut mittlerweile, dass er lieber als Prinz Eisenherz herumläuft, anstatt sich regelmäßig die Haare schneiden zu lassen.
Ich dusche so schnell, wie es eben möglich ist, wenn man sich eine halbe Flasche öliger Läuselotion aus den Haaren waschen muss, kämme selbige eilig mit Bürste und Läusekamm durch, ohne die toten Tiere zu zählen, die darin hängen bleiben, dann gehe ich nach oben in mein Zimmer.
Isa hat tatsächlich gewartet. Sie blättert in dem Buch, das auf meinem Bett lag. Salim meinte, ich solle unbedingt einmal etwas von Salman Rushdie lesen, und jetzt arbeite ich mich durch die Satanischen Verse, weil man mit diesem Roman von ihm anfangen muss. Sagt Salim. Und dann erzählte er mir die gesamte Lebensgeschichte des Autors, und ganz ehrlich, wegen eines Buches für ein Kopfgeld von über drei Millionen Dollar gesucht und mit dieser Gefahr den Rest seines Lebens verbringen zu müssen, das ist schon ziemlich wild.
Isa klappt den Wälzer zu und legt ihn auf mein Bett zurück. »Und, noch Krabbelviecher in den Haaren?«
»Ich hoffe nicht.«
Sie zieht die Füße hoch auf den Sitzsack, als wolle sie sich für längere Zeit darauf einrichten. Ich warte ein paar Sekunden lang, doch da sie immer noch nichts sagt, frage ich schließlich: »Weshalb bist du eigentlich gekommen?«
»Nur so.« Nachdenklich starrt sie auf ihre Zehen, und ich muss unwillkürlich an Alessia denken, die häufig in genau dieser Haltung dasitzt, wenn sie tödlich beleidigt ist.
»Wenn du nur so vorbeikommst, redest du normalerweise mehr.« Langsam setze ich mich auf das Bett und wippe etwas auf und ab.
»Ja, okay, du hast recht.« Endlich sieht sie auf. Sie lächelt, allerdings nur kurz, dann trübt sich ihr Blick, und für einen Moment glaube ich tatsächlich, sie würde anfangen zu weinen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es aussieht, wenn Isabella weint. Als wäre das unmöglich. Als könne sie niemals traurig sein. »Es ist nicht nur Alessia. Salim hat fast nie Zeit für mich, und wenn, dann verlaufen unsere Treffen so, wie ich es vorhin beschrieben habe. Wir sind nie wirklich irgendwo allein. Wir gehen ins Kino, oder wir essen im Restaurant seines Vaters, ansonsten sind wir meistens bei ihm zu Hause. Um diese Jahreszeit kann man ja nicht mal eben mit dem Motorroller irgendwo hinfahren und zum Ausreiten hat er keine Zeit. Außerdem mag es Ramona nicht so, wenn Leute auf den Hof kommen, die dort nicht regelmäßig sind und die die Tiere nicht gut kennen.«
»Ehrlich? Aber Salim geht doch nur mit dir ins Tierparadies, nie allein, oder?«
»Ja, schon. Trotzdem.«
Ramona gibt alles für ihren kleinen Hof, sie liebt ihre Tiere und achtet darauf, dass sich die Reitschüler gut um die Pferde kümmern, dass sie zueinanderpassen. Solche Dinge sind ihr wichtiger als die Einnahmen, die Gelegenheitsreiter wie Salim einbringen würden, sosehr sie sie auch braucht. Dominik, der Besitzer von Isas Reitpferd Wolfsblut, würde das vermutlich anders sehen, weil hungernde Pferde auch keine glücklichen Pferde sind. Nur denkt Ramona nicht in Zahlen.
»Was meinst du?«
»Wie bitte?« Irritiert sehe ich Isa an. Eigentlich will ich mich schon seit Längerem mit ihr über das Tierparadies Waldtümpel unterhalten, daher sind meine Gedanken so sehr an dem Thema hängen geblieben, dass ich nicht mitbekommen habe, was sie danach gesagt hat.
»Hast du gar nicht zugehört?«
In manchen Momenten würde ich gern lügen können. Richtig lügen, ohne rot zu werden, ohne herumzustammeln, aber normalerweise geschieht beides, falls mir überhaupt so etwas wie eine Alternative zur Wahrheit einfällt. »Tut mir leid, ich habe nur gerade über den Hof nachgedacht. Was hast du gesagt?«
Sie seufzt, scheint aber nicht wirklich sauer auf mich zu sein. »Ich habe dich gefragt, ob du glaubst, dass Salim und ich überhaupt zusammenpassen.«
Die Frage erschreckt mich fast noch mehr. Ob Salim und Isa zusammenpassen. So etwas sollte man seine Freunde nicht fragen. Salim ist nicht irgendein Typ, niemand, vor dem ich Isabella warnen müsste, niemand, über den ich keine Meinung habe. Wenn deine beiden besten Freunde eine Beziehung miteinander anfangen, kannst du nur hoffen, dass sie glücklich sind. Alles andere bedeutet, dass man zwischen ihnen stehen wird, unweigerlich, und dass man sich irgendwann entscheiden muss. Vor einem halben Jahr noch, selbst vor vier oder drei Monaten wäre das ganz leicht gewesen. Aber heute nicht mehr. Heute habe ich zum ersten Mal eine beste Freundin, eine, die ich mitten in der Nacht angerufen habe, als ich nicht schlafen konnte und draußen diese Art von kalter Dunkelheit herrschte, die mir Angst macht. Eine, die einfach so herüberkommt, nur um einen Tee mit mir zu trinken und über alles Mögliche zu reden oder gar nichts.
»Also?«
»Ich weiß nicht, Isa. Ich weiß es nicht. Und ich will mich nicht in eure Beziehung einmischen. Salim kann sehr schwierig sein. Er entscheidet alles für sich allein. Er kennt viele Leute, aber es gibt nur wenige, die ihm nahestehen. Ich glaube schon, dass du zu diesen Menschen gehörst.«
»Das ist alles?«
»Das ist eine ganze Menge.«
Sie spielt mit dem Ärmel ihres Pullovers, der schon ein bisschen ausgeleiert an ihrem Arm herunterhängt. »Trotzdem hast du mir meine Frage nicht beantwortet«, sagt sie schließlich. Ihre blauen Augen glänzen.
»Habt ihr euch gestritten?«
Mit einem merkwürdigen Laut, der wie eine Mischung aus Seufzen und Schluckauf klingt, lehnt sie sich zurück und starrt an die Decke. »Natürlich haben wir uns gestritten. Wir streiten uns ständig, wenn wir uns sehen, das ist schlimmer als mit meiner Mutter. Und jetzt weiß ich einfach nicht, ob wir diese ganze Sache nicht ein bisschen zu schnell angegangen sind. Mir kam das letztes Jahr nicht so vor, weil ich ewig dachte, dass Salim sowieso nicht auf mich steht. Und außerdem war ich so sehr in ihn verliebt, dass ich nur an ihn denken konnte, und natürlich habe ich mich dann voll reingestürzt, als er endlich mal reagiert hat.«
»War?«
»Na ja, du weißt doch, wie das ist. Alles ist schön, jeder gemeinsame Moment macht einen glücklich, und ich dachte eben, dass er der Richtige ist. Jetzt sind wir seit bestimmt drei Monaten zusammen, und ich habe das Gefühl, dass gar nicht wirklich etwas zwischen uns passiert. Eigentlich müsste es doch irgendwie weitergehen, oder?«
Ich zögere einen Moment, unsicher, ob ich überhaupt mehr wissen will. »Wie meinst du das?«, frage ich, nachdem ich zu dem Ergebnis gekommen bin, dass mir Isa ohnehin alles erzählen wird, was sie loswerden will, wenn nicht heute, dann an einem anderen Tag.
»Ach, keine Ahnung. Manchmal ist die gemeinsame Zeit wirklich schön, aber an anderen Tagen hocken wir nur zusammen und machen Hausaufgaben oder so öden Kram. Es kommt sogar vor, dass wir gar nicht wirklich miteinander reden.«
»Man muss doch nicht immer reden. Schweigen kann auch sehr verbindend sein.«
»Kommt auf das Schweigen an.«
Ich quetsche mich neben sie auf den Sitzsack und sie lehnt den Kopf gegen meine Schulter.
»Beziehungen sind einfach nur anstrengend«, sagt sie dann. »Keine Ahnung, wieso ich das unbedingt wollte.«
»Ich glaube, das, was man will, ist nicht die Beziehung, sondern einfach nur seine Zeit mit einer bestimmten Person zu teilen. Der Großteil dieser Zeit heißt nur leider Alltag.«
»Okay, und wie ist das mit dir und Brar? Wie viel Zeit willst du mit ihm teilen?«
Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, sie würde nicht danach fragen. Seit meinem Geburtstag, auf dem Brar und ich uns kennengelernt und in betrunkenem Zustand ziemlich intensiv … nun ja, uns nähergekommen sind, sind mittlerweile vier Monate vergangen. Auch wenn wir uns in der Zeit häufig getroffen und uns auch ein paar Mal geküsst haben, kann ich nicht gerade sagen, wir wären wirklich vorangekommen. »Ich weiß es nicht«, antworte ich daher wahrheitsgemäß. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ach Amy, du machst es dir selbst echt schwer. Brar ist ein netter Typ und er bemüht sich ernsthaft um dich. Kein Prinz würde so lange seine Prinzessin umwerben, wenn sie sich dermaßen ziert. Spring einfach rein, dann wirst du schon sehen, was dabei rauskommt.«
Spring einfach rein. So ist sie, Isabella, aber ich springe nicht, ich renne nicht, ich stehe immer am Rand und versuche im Voraus zu erahnen, was passieren wird. Eine Beziehung, das ist dermaßen viel Wasser, dass man auch ertrinken könnte.
»Hast du mir nicht gerade erzählt, dass du es bereust, einfach so reingesprungen zu sein?«
»Nein, ich habe dir erzählt, wie doof ich es finde, dass die Gefühle nicht mehr so intensiv sind wie am Anfang. Und dass Salim und ich kaum Zeit füreinander haben. Trotzdem würde ich immer wieder reinspringen. Sonst fängt man doch gar nicht richtig an.«
»Ach so. Na dann fange ich wohl völlig falsch an.«
»Endlich verstehst du das mal.« Isa stößt mir freundschaftlich in die Seite. »Wann seht ihr euch das nächste Mal?« Nun rückt sie ein Stückchen von mir weg, sofern man auf diesem Sitzsack überhaupt irgendwohin rücken kann, um mich anzusehen.
»Morgen. Wir sehen uns morgen.« Ich seufze leise. Auch wenn mir inzwischen nicht mehr jedes Mal schlecht wird, bevor Brar und ich uns treffen, habe ich immer noch das Gefühl, lieber nicht zu einer Verabredung gehen zu wollen.
»Lass einfach los, Amy. Du solltest nicht immer vor allem so viel Angst haben.«
»Gut. Habe ich nicht. Aber dann versprich mir, dass du und Salim euer Problem in den Griff kriegt, okay? Ich kann nur einen Scherbenhaufen aufsammeln und ich will mich nicht entscheiden müssen.«
Sie lächelt, auf diese sanfte, strahlende Art, in der nur Isa lächeln kann. »Okay. Abgemacht. Ab morgen führen wir beide die glücklichsten Beziehungen, die man in unserem Alter haben kann.«
»Abgemacht.«
»Gut. Aber jetzt sind wir einfach nur Mädchen, plündern deine Schokovorräte und gucken Downton Abbey.«
Also machen wir das so. Denn Schokolade und Period Dramas sind das beste Mittel gegen jede Art von Sehnsucht. Das haben wir statistisch bewiesen.
Montag, 20. Februar
Amélie
Der erste Montag nach den Ferien fühlt sich immer anders an als die anderen Tage. Alle Schüler scheinen es eiliger zu haben, das Schulgebäude zu verlassen, als könnten sie noch gar nicht wirklich glauben, dass die freie Zeit bereits wieder vorüber ist.
Ich wickle mir den dicken, petrolfarbenen Schal um den Hals, den meine Mutter für mich gestrickt hat. Eines meiner Weihnachtsgeschenke. Isa meint, er würde mir gut stehen, nur beim Fahrradfahren schwitze ich damit.
»Ich kann dir den Campbell ja mal ausleihen«, sagt Linus gerade. Sein komischer Freund André, der kaum mehr als zwei zusammenhängende Sätze hintereinander rausbringt, ist bereits verschwunden.
»Ja, klingt gut. Das Bio-Buch ist total unlogisch aufgebaut, ich blicke darin gar nicht durch, und die Abbildungen sehen auch nicht besser aus als die Bilder, die Paul malt.«
»Deshalb habe ich mir ja den Campbell gewünscht.«
Vermutlich ist Linus der einzige Sechzehnjährige, der sich ein Biologielehrbuch zu Weihnachten schenken lässt, während andere Smartphones und Netflix-Abos haben wollen. Oder, wie Isa, eine neue Reitausrüstung und einen Gutschein für Stoffe fürs Leben, ein Stoff-, Schnittmuster- und Nähzubehörgeschäft in Lübeck.
Salim wünscht sich immer Bücher, genau wie ich, oder CDs. Manchmal auch Schallplatten.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, habe ich schon merkwürdige Freunde.
Gemeinsam verlassen Linus und ich den Bioraum und dann das Schulgebäude. Draußen scheint die Sonne, die Luft ist so klar wie nach einem Regenguss, aber kalt, voller Wind. Ich bleibe stehen und atme sie tief ein. Selbst mitten in Wismar riecht es frischer als in Berlin, nach Meer und Salz und Winter.
»Wie lange dauert es eigentlich noch, bis du dir das abgewöhnst?«, fragt Linus. Er grinst und kneift das rechte Auge dabei ein bisschen zusammen, wie er das häufig tut. Ich frage mich, ob der das selbst überhaupt weiß.
»Ein paar Jahre vielleicht.« Nebeneinander laufen wir zu den Fahrradständern.
»Stimmt, du lernst ja eher langsam.«
Obwohl ich weiß, dass er das nicht ernst meint, verursacht seine Aussage ein kurzes Ziehen in meinem Bauch. Noch einmal atme ich tief ein, dann ist es schon wieder verschwunden. Vielleicht habe ich doch nur etwas Komisches gegessen. »Nicht immer«, sage ich schließlich, während ich mein Rad von Linus’ und Isabellas befreie. Wenn er könnte, würde Linus vermutlich alle auf dem Schulhof parkenden Fahrräder aneinanderschließen, mit seinem in der Mitte, nur damit es auf keinen Fall gestohlen wird.
»Fahren wir zusammen zurück?«
»Heute nicht. Ich bin noch verabredet.«
»Oh, ein Date?« Wieder grinst er auf diese Art, doch ich zucke nur mit den Schultern.
»So was in der Art.«
»Na, dann viel Spaß!« Er zögert einen Moment, als wolle er noch etwas sagen, doch dann verabschiedet er sich und fährt davon. Sogar den Helm hat er aufgesetzt, was er meistens vermeidet, aber seit Anfang des Jahres ein Junge aus unserer Schule von einem Auto angefahren wurde und nur wegen seines Helmes keine bleibenden Kopfverletzungen davongetragen hat, sind viele Schüler ein bisschen vorsichtiger geworden. Zumindest für eine Weile.
Ich schiebe das Rad über die Straße und durch die Fußgängerzone. Eigentlich bin ich schon ziemlich spät dran, allerdings ist Brar auch nicht gerade der Pünktlichste. Vermutlich werde ich immer noch vor ihm an unserem Treffpunkt im Park ankommen.
Um diese Jahreszeit ist wenig los auf den Nebenstraßen. Ich laufe durch Seitengassen, durch kühle Stille hindurch, und unwillkürlich habe ich Lust darauf, Salim anzurufen und mit ihm eine heiße Schokolade trinken zu gehen. Es ist so eine Minute, die ich gern teilen würde, diese Ruhe in meinem Inneren, der Geruch der frischen, kalten Meeresluft, die Klarheit des Himmels. Doch noch während ich nach dem Handy in meiner Jackentasche taste, verfliegt das Gefühl, und nichts bleibt als das Geräusch meiner Schritte auf dem Pflaster und das leise Bimmeln der Fahrradglocke immer dann, wenn das Rad über einen Absatz holpert.
Wenig später komme ich am Park an. Brar wartet bereits an einen kahlen Ahorn gelehnt, zumindest glaube ich, mich zu erinnern, dass es sich um einen Ahorn handelt. Im Winter, ohne Blätter, kann ich Baumarten kaum voneinander unterscheiden.
Brar grinst, dann kommt er auf mich zu, umarmt mich kurz und nimmt mir das Rad ab.
»Schön, dass du da bist«, sagt er, während er es neben mir herschiebt.
»Ja, finde ich auch.«
Der Park ist leer und still, nur ein, zwei Hundebesitzer führen ihre Vierbeiner spazieren.
»Was machen wir hier?«
»Ich habe ein Picknick vorbereitet.« Er sieht so stolz und fröhlich aus, dass ich die dumme Bemerkung, weshalb wir denn mitten im Winter ein Picknick veranstalten wollen, hinunterschlucke. Er wird sich schon etwas dabei gedacht haben und irgendwie ist die Idee ja ganz süß.
Brar parkt das Rad neben einer Bank, dann setzt er sich auf selbige und sieht mich erwartungsvoll an. Vielleicht hat er sich diesen Blick in den letzten Jahren angewöhnt, seit er in Bands spielt und Liveauftritte absolviert. Ich schätze, auf viele Mädels wirkt er verführerisch und geheimnisvoll. Mein Herz beschleunigt seinen Rhythmus, als ich mich neben ihn setze. Er legt den Arm um meine Schultern und zieht mich dichter an sich und ich rieche das Shampoo in seinem Haar und ein bisschen Zigarettenrauch.
»Also?«, frage ich nach einer Weile.
»Also was?«
»Wo ist das Picknick?«
Er lacht und lässt mich los, um in seinem Rucksack herumzuwühlen. »Alles hier, Puschel, alles hier.« Neben einer blauen Tupperdose befördert er zwei Bananen aus seinem Rucksack. »Käsetoast. Sehr viel mehr kann ich nicht. Auf die Hälfte habe ich extra keine Salami gemacht.«
Ich nehme mir einen Toast aus der Box. Weißbrottoast mit Käse, Ketchup und einem Salatblatt. »Danke«, sage ich und beiße davon ab, obwohl ich gar keinen Hunger habe. In den Winterferien hat meine Mutter damit begonnen, sich mit dem Backen von Brot zu beschäftigen, und nach den ersten nicht besonders überzeugenden Versuchen kriegt sie mittlerweile ein wahnsinnig leckeres Dinkelvollkornbrot mit gerösteten Kürbiskernen hin. Wenn es noch warm aus dem Ofen kommt, essen wir immer gleich die Hälfte auf.
»Wie waren deine Ferien?«, fragt Brar. In den letzten beiden Wochen haben wir uns kaum gesehen und uns nur ab und zu SMS geschickt, weil bei ihm Intensivproben mit seinen Jungs anstanden. Für das Frühjahr haben sie tatsächlich ein paar Auftritte und Konzerte ergattert, für die sie sogar Geld bekommen, und seitdem nimmt Brar die Sache mit der Musik noch ernster als vorher. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die ihm für die restliche Ferienzeit Mathenachhilfe und einen Online-Englischkurs aufgebrummt haben, damit die Schule nicht zu kurz kommt.
»Ganz okay. Viel habe ich nicht gemacht. Die Tage, die Paul nicht in den Hort wollte, habe ich auf ihn aufgepasst, ein paar Mal war ich mit Isa auf dem Reiterhof, einmal mit Linus und Isa im Kino. Sehr viel mehr ist nicht passiert.« Mir kommt mein Bericht selbst furchtbar langweilig vor, aber ich kann mir ja auch nicht einfach irgendetwas Wildes ausdenken, nur um Brar zu unterhalten.
»Cool.« Er nimmt sich seinen zweiten Salami-Käse-Toast. »Klingt doch so, als hättest du auch Spaß gehabt.«
»Ja. Klar. Und du?«
»Weißt du ja. Musik, Mathe, Englisch. Bescheuerte Kombi, echt. Meine Mutter versteht einfach nicht, dass ich mich viel mehr reinhängen muss, wenn ich später Gitarre studieren will. Die nehmen ja auch nicht jeden und die Aufnahmeprüfungen haben es in sich.«
»Schon, aber dafür muss man sicher auch einen guten Abidurchschnitt haben. Und der Englischkurs hilft bei den Songtexten.«
»Kann sein.«
Ich beobachte die wenigen Spaziergänger. Eine junge Frau mit Kinderwagen und roten Handschuhen sieht so aus, wie ich mir meine Mutter in einer jüngeren Version vorstelle, vor siebzehn Jahren etwa, als ich das Baby war, das im Kinderwagen lag. Die Frau hat so ein Gesicht, in dem immer ein Lächeln liegt. Bei solchen Menschen sieht Glück so einfach aus.
»Wie stellst du dir denn deine Zukunft vor?«, frage ich leise.
»Was? Meine Zukunft? Keine Ahnung, wie kommst du denn darauf? Wegen dieser Mathesache? Am liebsten würde ich halt richtig geil Gitarre spielen können und als Solokünstler berühmt werden. Ich könnte ständig unterwegs sein. Stell dir vor, du reist durch die ganze Welt und bist jeden Tag woanders. Das wäre doch cool, oder?«
»Hm, ja, wahrscheinlich. Aber es wäre dann ziemlich schwierig, eine Familie haben.«
Er schweigt und runzelt die Stirn, als würde er sich nur schwer vorstellen können, wie das mit der Familie aussehen könnte. »Die bleibt dann halt zu Hause oder ich nehme sie mit. Es gibt Künstler, die machen das so, wenn sie auf Tour gehen.«
»Und wenn deine Kinder in die Schule kommen?«
»Dann reisen sie halt nicht mehr mit. Keine Ahnung, darüber muss ich mir jetzt echt noch keine Gedanken machen. So was wie Kinder kommt doch erst viel später, auf jeden Fall will ich erst mal ganz viel reisen. Stell dir mal so eine riesige ausverkaufte Konzerthalle vor. Das wäre so geil.«
Am Ende des Parks betritt ein Junge mit einem mittelgroßen, strubbelig wirkenden Hund den Park. Sie laufen beide recht langsam und trotz der Winterkleidung sieht der Junge schmächtig aus. Erst nach einer Weile erkenne ich, dass es Melvin aus meiner Schule ist. Der schwarze Mischling trippelt ganz ruhig neben ihm, bleibt ab und an stehen, um einer Spur hinterherzuschnuppern. Melvin blickt nur einmal kurz in unsere Richtung, doch als ich grüßend die Hand hebe, schaut er gleich wieder weg.
»Irgendwie ist es ja noch ein bisschen früh, jetzt schon über solche Dinge nachzudenken, oder?«
»Weiß nicht. Nächstes Jahr machen wir Abi. Meinst du nicht, wir sollten bis dahin wenigstens ein bisschen wissen, wie wir uns unser Leben vorstellen?«
»Ach, das ist doch noch ewig bis dahin.«
Ich schiebe die Hände unter den Po, da sie trotz der Wollhandschuhe eisig geworden sind. Wenn man so still herumsitzt, kriecht einem die Kälte langsam durch die Kleidung bis auf die Knochen, und irgendwann hat man dann das Gefühl, gar nicht mehr aufstehen zu können.
»Willst du noch was?«
Ich schüttle den Kopf.
Brar packt die Picknicksachen wieder ein. »Ist dir kalt?«
»Ja, ein bisschen.«
»Wenn du magst, können wir zu mir gehen. Dann spiele ich dir den neuen Song vor, den ich am Wochenende geschrieben habe. Er ist noch nicht ganz fertig, ich habe ihn bisher nicht mal den Jungs gezeigt. Du bekommst also so eine Art Premiere.«
»Okay«, sage ich ganz ruhig, obwohl mein Herz schon wieder eine Spur schneller schlägt. Ich war noch nie bei Brar zu Hause. Meistens hatte er keine Lust darauf, dass ich seine Eltern kennenlerne, und die arbeiten beide nur halbtags und sind deshalb schon relativ zeitig zu Hause. Wenn nicht, hängt noch mindestens einer seiner Brüder, die beide jünger sind als er, bei ihnen herum. Heute scheint ihn das nicht zu stören, zumindest schiebt er mein Rad gut gelaunt neben uns her. Er wohnt in einer Parallelstraße einen Block weiter, wo er das Fahrrad vor dem Haus anschließt.
»Meine Eltern sind bei meinen Großeltern«, erklärt er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er öffnet die Wohnungstür und ein Schwall Heavy Metal, der vorher nur als unförmiges Brummen in den Hausflur drang, schlägt uns in voller Lautstärke entgegen. »Jonte scheint aber zu Hause zu sein.«
Wir streifen die Winterjacken und Stiefel ab, dann folge ich Brar in das angrenzende Wohnzimmer. Es riecht nach Rauch, auf dem Couchtisch liegen verschiedene Zeitschriften, dazwischen steht eine Vase mit blassroten Tulpen. An den Fenstern hängen altmodische, leicht vergilbte Gardinen, die das dämmrige Winterlicht noch mehr filtern. Und mitten im Zimmer hüpft ein ziemlich dürrer Junge, fünfzehn Jahre alt, unkontrolliert im Rhythmus der Musik herum. Vielleicht leidet er auch unter irgendwelchen Zuckungen, die dringend ärztlich untersucht werden sollten.
»Bin zu Hause«, brüllt Brar in den Raum, doch bevor sein Bruder darauf reagieren kann, hat er die Wohnzimmertür wieder geschlossen. »Komm«, sagt er und zieht mich den Flur entlang zu einer anderen Tür, der letzten.
Sein Zimmer ist nicht groß, vielleicht vierzehn Quadratmeter, an der Wand hängen Poster von The Kills und System of a Down und Autos, auf dem Bett und dem Schreibtischstuhl verteilt liegen Klamotten. »Sorry, ich habe nicht daran gedacht, wie chaotisch es hier aussieht.« Eilig sammelt er ein paar Sachen zusammen und wirft sie auf einen Haufen in einer Ecke neben dem Schreibtisch. Unschlüssig bleibe ich stehen. Die Tür hat Brar hinter uns geschlossen.
»Okay, also, es ist noch nicht so richtig fertig, an der Melodiesequenz muss ich noch feilen.«
»Ja, hast du gesagt, aber das ist doch egal. Spiel einfach.«
Brar nimmt die Gitarre aus dem Ständer und setzt sich auf seinen Schreibtischstuhl. Ich lasse mich ihm gegenüber auf dem Bett nieder, weil das der einzige nicht mit irgendwelchem Kram belegte Sitzplatz ist, und er beginnt zu spielen. Für einen Moment befürchte ich, der Song könnte mir nicht gefallen, und dann müsste ich lügen, aber nach einigen Takten findet Brar den richtigen Rhythmus und fängt an zu singen, ganz anders als sonst. Auf der Bühne klingt seine Stimme kräftiger und rauer, aber dieser Song ist sehr ruhig, fast zerbrechlich leise und traurig, und genau so verwandelt sich auch Brars Stimme, als gehöre sie zu einer anderen Version von ihm.
Er spielt ein Liebeslied, vielleicht handelt es auch von Freundschaft, ganz sicher bin ich mir nicht. An einigen Stellen ist die Melodielinie tatsächlich noch nicht ganz harmonisch, manchmal verhaspelt sich Brar, als wüsste er nicht, welche Noten als Nächstes kommen, doch der Song hat eine für ihn ungewöhnliche Wärme und Tiefe.
Die letzten Töne verklingen. Brar stellt die Gitarre zurück und blickt mich erwartungsvoll an.
»Wunderschön«, ist alles, was ich sage, und er lächelt stolz, fast glücklich.
»Ich habe es für dich geschrieben.«
Augenblicklich wünsche ich mir, ich hätte noch besser zugehört, noch mehr auf die Feinheiten der lyrics geachtet.
»Danke.«
Er stellt die Gitarre in den Ständer zurück und setzt sich neben mich auf das Bett. Mit einem Mal ist er unglaublich nah, näher als alles andere, selbst die hämmernde Musik aus dem Wohnzimmer wird zu etwas in einer fernen Welt.
Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass wir uns küssen, doch nie war es so wie jetzt. Nie lange, nie mit dieser Nähe. Ich versuche, mich seinen Vorgaben anzupassen, aber ich komme nicht dahinter, weshalb er manchmal die Zunge benutzt und manchmal nicht, und dann spüre ich seine Hand unter meinem T-Shirt, eine raue, forsche Hand.
Isa sagt, ich solle mich einfach fallen lassen. Nichts ist für immer, schon gar keine Beziehungen, die man in unserem Alter beginnt, also sollte man sich einfach nehmen, was einem guttut, und nicht so viel darüber nachdenken, ob es einen verletzen könnte. Aber Isa ist Isa und ich bin ich. Vielleicht ist jetzt der Moment, jemand anderes zu sein.
Dabei ist es schon spät, es wird bereits dunkel, und im Dunkeln fahre ich die Strecke nach Hause nicht gern mit dem Rad, wenn die Schatten aus den Wäldern kriechen, wenn es anders riecht als tagsüber, schwer und feucht. Bald schon wird auch meine Mutter aufbrechen, und wenn ich noch mit in ihr Auto schlüpfen will, muss ich demnächst los, in einer Viertelstunde oder einer halben, ich sollte sie anrufen vorher, ihr Bescheid geben.
Brar hat mit einer Hand meinen BH geöffnet und knetet an meinen Brüsten herum, als wären sie Hefeteig. »Nicht so doll«, sage ich, und augenblicklich wird er sanfter, wandert hinunter zu meiner Jeans und öffnet erst den Knopf, dann den Reißverschluss.
Meine Mutter hat schon häufiger mit mir über Verhütung gesprochen, und ich war immer diejenige, die die Pille nicht nehmen wollte, weil ich nicht wusste, weshalb, auch in den letzten Monaten nicht, seit ich mit Brar befreundet bin. Oder zusammen. Oder irgendwas dazwischen. Ich sollte etwas sagen, als er mich sanft aufs Bett legt und mir die Hose herunterzieht und mich dort unten zu küssen beginnt. Es kribbelt ein bisschen, ich muss kurz kichern, doch als er mir den Slip abstreifen will, richte ich mich ruckartig auf.
»Lieber nicht«, sage ich, stehe auf und ziehe die Jeans wieder hoch.
»Wieso nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?« Er wirkt mehr erschrocken als wütend.
»Ich bin gerade nicht so in der richtigen Stimmung. Außerdem muss ich los, meine Mutter fährt gleich nach Hause.« Eilig schließe ich den BH, zupfe die Kleidung zurecht und verlasse Brars Zimmer. Er folgt mir in den Flur und schaut mir schweigend dabei zu, wie ich in meine Stiefel schlüpfe und die Jacke überstreife.
»Wir sehen uns aber bald wieder, oder? In zweieinhalb Wochen haben wir unser nächstes Konzert. Wirst du kommen?«
»Ich denke schon.« Es fällt mir schwer, ihm in die Augen zu blicken, die groß sind und glänzend vor Enttäuschung. Am liebsten würde ich noch etwas sagen, ihm etwas erklären, doch ich weiß selbst nicht, was denn eigentlich.
»Okay.« Er lächelt, dann umarmt er mich kurz. »Ich ruf dich an.«
»Ja. Mach das.«
Eilig laufe ich die Treppenstufen hinunter und vergesse fast, mein Rad mitzunehmen. Unterwegs rufe ich meine Mutter an und treffe mich mit ihr vor Pauls Schule, wo ich auch das Fahrrad abstelle. In unseren Golf passt es nicht rein.
»Hattest du einen schönen Nachmittag?«, fragt sie und lächelt dabei, so wie schon seit Wochen, seit ich ihr das erste Mal von Brar erzählt habe.
»Ja, danke. War okay.« Ich schlüpfe auf den Rücksitz, neben Paul. Unterwegs werden wir noch meinen Vater aufsammeln und hinten habe ich meine Ruhe. Wenn ich hier sitze, wird sie keine weiteren Fragen stellen. Nur Paul wird reden, die ganze Fahrt über, und seine Worte reichen für uns beide. Mindestens.