Alexandra hastete den Korridor entlang. Sie hielt die Wäsche ihrer Herrin verkrampft an ihre Brust gedrückt, und die Schritte ihrer bloßen Füße auf dem Steinboden erklangen verräterisch laut. Ihr Blick flackerte über den verlassenen Innenhof auf ihrer linken Seite und schoss dann wieder zurück zu den offenen Türen entlang des Korridors.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Hinter jeder dieser Türen konnte er stehen.
Sie hasste diesen Teil des Hauses, in dem sich die Schlafzimmer der Familie befanden. Wenn die Familienmitglieder untertags ihren Geschäften nachgingen, hielt sich hier niemand auf, nicht einmal andere Sklaven.
Hier war niemand, der ihre Schreie hören würde.
Ihr Herz hämmerte, während sie sich beeilte, den belebten Bereich des Hauses zu erreichen. Dort fühlte sie sich sicher, obwohl ein Teil von ihr wusste, dass sie sich damit nur etwas vormachte. Sie gab sich der Illusion hin, sich zwischen den anderen Sklaven verstecken zu können, zwischen den Wachleuten, den Hauslehrern der Kinder und all den Geschäftsleuten und Besuchern, die die Familie empfing. Alexandra wollte einfach im Hintergrund verschwinden wie ein Geist, nur damit sie seiner Aufmerksamkeit entging.
Eigentlich sollte Alexandra die privaten Gemächer der Familie gar nicht betreten. Die Hausherrin hatte nämlich befohlen, dass Alexandra ihr nicht unter die Augen treten sollte, und normalerweise wagte es niemand, der Ehefrau des Hausherrn zu widersprechen. Nur aufgrund der Erkrankung der Haushälterin war Alexandra an diesem Tag in den Schlafbereich der Familie geschickt worden.
Doch es war nicht die Hausherrin, die Alexandra fürchtete, während sie den Korridor entlangeilte. Im Gegenteil, wenn sie ihre Arbeiten in den anderen Teilen des Gebäudes verrichtete, war es ihr recht, wenn die Ehefrau des Hausherrn zugegen war. Denn sie war die Einzige, in deren Gegenwart Alexandra in Sicherheit war.
Beinahe die Einzige, rief sich Alexandra mit einem leisen Hoffnungsschimmer in Erinnerung. Der Hausherr würde es nicht wagen, im Beisein seiner eifersüchtigen Gemahlin Hand an eine Sklavin zu legen.
Gleich hatte sie den öffentlichen Teil des Hauses erreicht. Sie musste nur noch an einem Raum vorbei, seinem Schlafzimmer. Alexandra beschleunigte ihre Schritte.
»Bleib stehen.«
Sie erkannte die kalte, überlegene Stimme. Sie schloss die Augen und ihre Finger krampften sich um die Stoffballen in ihren Armen.
»Dreh dich um.«
Ganz langsam, ohne ihn anzusehen, gehorchte Alexandra. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und ihr Blick schoss Hilfe suchend über den Korridor.
Da war niemand. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen.
»Komm herein.« Largius Macedos Ton duldete keinen Widerspruch. Alexandra zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und betrat das Schlafzimmer. Largius Macedo war doppelt so alt wie sie. Seine Toga spannte sich über seinen fetten Bauch, während er sie zu sich heranwinkte. Sein Gesicht war gerötet und glänzte, ebenso wie seine Halbglatze. In seinen winzigen Augen lag unverhohlene Begierde.
Alexandra kannte diesen Blick. Seit sie vor drei Wochen in Macedos Haus gekommen war, hatte er sie mit diesem hungrigen Ausdruck in den Augen angesehen. In der Zwischenzeit waren noch zwei weitere Sklaven zur Dienerschaft hinzugefügt worden und Alexandra hatte von der Haushälterin erfahren, dass Claudia, Macedos Ehefrau, dafür sorgte, dass die Dienerschaft regelmäßig aufgestockt werden musste. Claudia Macedo war dafür gefürchtet, dass sie ihre Sklaven oft aus einer Laune heraus verkaufte – oder auf andere Art verschwinden ließ.
Die Herrin entstammte einer sehr reichen und einflussreichen Familie und Largius Macedo war durch die Heirat mit ihr gesellschaftlich aufgestiegen. Er selbst war ein erfolgreicher Geschäftsmann, doch es waren vor allem Claudias Geld und ihre soziale Stellung, die ihnen das luxuriöse Leben ermöglichten, das sie führten. Aus diesem Grund hütete Macedo sich davor, seine Frau zu verärgern, denn er wusste, dass sie ihn genauso schnell zu Fall bringen konnte, wie sie ihn durch ihre Eheschließung emporgehoben hatte. Außerdem war Claudia rachsüchtig und setzte ihren Willen oft auf gnadenlose Art durch, wie die Haushälterin Alexandra hinter vorgehaltener Hand anvertraut hatte, als sie zum ersten Mal voller Entsetzen den Pranger im Hinterhof gesehen hatte. Claudias Grausamkeit wurde nur noch von dem sadistischen Aufseher Barates übertroffen, der bereitwillig jede Strafe ausführte, die sich die Hausherrin für ihre Sklaven ausdachte.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Largius Macedo seine jungen Sklavinnen in sein Bett holte. Alexandra hatte das nicht erst von der Haushälterin erfahren müssen, sie hatte Macedos Absichten in seinen Augen erkannt, als er sie das erste Mal angeblickt hatte. Es war dasselbe lüsterne Verlangen gewesen, das auch jetzt aus seiner Miene sprach. Sein Blick auf ihrem Körper verursachte Alexandra Übelkeit. Sie trug ein schlichtes Kleid aus grobem Stoff und hielt die Wäsche wie einen Schild vor ihre Brust gedrückt, während Macedo sich ihr näherte.
»Warum so schüchtern?« Seinem Mund entwich ein Schmatzen, als er den Speichel zurückzog. Er streckte seinen Arm nach ihr aus.
Alexandra wich aus seiner Reichweite zurück. »Eure Gemahlin wird böse werden, Herr, wenn ich ihre Wäsche nicht rechtzeitig fertig habe«, sagte sie, ohne das Zittern in ihrer Stimme verbergen zu können. Alles an Macedos aufgedunsenem Körper gab ihr deutlich zu verstehen, dass sie diesen Raum nicht verlassen würde, ehe Macedo bekommen hatte, was er wollte. Alexandra presste die Lippen aufeinander, um ein Würgen zu unterdrücken.
»Meine Gemahlin kehrt nicht vor dem Abend zurück«, erwiderte Macedo mit schmeichelnder Stimme. »Wir haben endlich Zeit für uns allein.«
Alexandra begriff, dass Macedo auf seine eigene, widerliche Art um sie zu werben schien. Nur, dass er ihre Reaktion auf seine Annäherung schon für sie entschieden hatte. Dachte er wirklich, dass sie ihn begehrenswert fand? Mit aller Kraft kämpfte Alexandra ihre Übelkeit nieder.
»Bitte, Herr«, flehte sie. »Eure Gemahlin …«
»Ist nicht hier«, unterbrach er sie, jetzt mit mehr Ungeduld in der Stimme. »Nun zier dich nicht! Ich weiß, dass du schon seit Wochen darauf wartest, dass ich dir ein wenig Aufmerksamkeit schenke.« Er griff nach ihr und Alexandra wich verzweifelt zurück. Bevor sie wusste, was sie tat, schlug sie seine Hand von ihrem Körper fort, stolperte ein paar Schritte rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Wand.
Macedo erstarrte, überrumpelt von der unerwarteten Zurückweisung. Seine Augen verengten sich und er bewegte sich schwerfällig auf Alexandra zu. »Du wagst es, mir zu widersprechen?«, fuhr er sie an. »Du wirst tun, was ich sage, du undankbare …« Er erhob die Hand gegen sie und Alexandra zuckte in Erwartung seines Schlages zusammen, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel ein goldenes Schimmern wahrnahm. Ohne erkennbare Ursache begann die steinerne Säule neben ihr zu schwanken. Macedo drehte den Kopf und beobachtete ungläubig, wie die schwere Säule immer stärker schwankte und schließlich kippte, gemeinsam mit der riesigen Vase, die darauf stand. Im letzten Moment konnte der Hausherr sich zur Seite werfen, bevor die Säule auf ihn niederstürzte. Unter ohrenbetäubendem Lärm brach der Stein in zwei Teile und die Vase zerbarst auf dem Fliesenboden. Macedo fluchte.
Alexandra wusste, dass sie keine zweite Chance bekommen würde. Sie schlüpfte aus dem Raum und rannte den Korridor entlang in Richtung des Wohnbereichs. Sie hielt die Wäsche noch immer umklammert, zitterte am ganzen Körper und ihr Herz schlug bis zum Hals.
»Danke«, hauchte sie kaum hörbar. In ihrem Innern hielt sie das Bild des goldenen Schimmers fest, weil sie ahnte, dass sie ihm ihre wundersame Rettung zu verdanken hatte.
Nathaniel griff nach den Schriften und zog sie von meinem Schoß.
»Vorsicht«, murmelte ich und stand hastig vom Sofa auf, um das brüchige Papier von Lazarus' Chronik zu stützen. Dabei flatterte ein anderer Stoß Blätter zu Boden und die computergetippten Seiten verteilten sich über den Teppich meines Schlafzimmers. »Melinda bringt mich um, wenn auch nur eine einzige Seite reißt!«
»Beruhige dich.« Nathaniel schmunzelte und hielt die Chronik sicher in seiner Hand. »Schließlich habe ich das hier schon einmal durchgearbeitet, erinnerst du dich? Und du hast es tatsächlich in einem Stück zurückbekommen, ohne Kaffeeflecken oder Eselsohren.« Er grinste.
Ich grummelte und kniete mich auf den Teppich, um die getippten Seiten einzusammeln.
»Nicht, dass ich mir nicht liebend gern die Nächte für dich um die Ohren schlage, mein Herz«, sagte Nathaniel und schnappte sich ebenfalls ein paar Blätter, die zu seinen Füßen lagen, »aber möchtest du mir verraten, warum ich Wochen damit verbracht habe, diese uralte Chronik für dich zu übersetzen, wenn du offensichtlich doch lieber das Original liest?«
Ich erhob mich seufzend, griff nach den Seiten, die Nathaniel mir reichte, und fügte zu sie meinem Stapel hinzu. »Ich lese das Original nicht. Das ist alles auf Latein und ich verstehe kein Wort davon. Was ich lese, ist das hier.« Ich wedelte mit den Seiten in meiner Hand, Nathaniels Übersetzung. »Es ist nur so, dass diese alte Schrift … ich weiß auch nicht, sie fasziniert mich einfach.«
»Kaum zu übersehen.« Nathaniel runzelte die Stirn. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass Melinda Lazarus' Chronik tatsächlich rausgerückt hat. Du hast ihr zwar deswegen ein Loch in den Bauch geredet, trotzdem hätte ich nicht damit gerechnet, dass sie es wirklich tun würde.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Lazarus ist tot, also was soll's? Wer interessiert sich noch für die Chronik eines gefallenen Schutzengels, der als Dämon vernichtet worden ist?«
»Du, offenbar.« Nathaniel tippte mir auf die Nase und gab mir die brüchige Chronik zurück.
»Danke für die Übersetzung.« Ich biss mir auf die Lippe. »Und dafür, dass du dich wochenlang durch zweitausend Jahre altes Latein gewühlt hast.«
»Du kannst mich um alles bitten, das weißt du«, flüsterte er und drückte einen Kuss auf meine Stirn. Obwohl er es zu verbergen versuchte, spürte ich die Anspannung in seinem Körper.
»Geht's dir besser?«, fragte ich leise.
»Es geht mir gut.«
»Das ist nicht wahr. Meinst du, mir fällt nicht auf, dass etwas nicht stimmt?«
Er strich sanft über meinen Arm. »Kein Grund, dir Sorgen zu machen. Ich bin in Ordnung.«
»Ich mache mir aber Sorgen. Du bist schon seit Tagen so unruhig, das spüre ich doch ganz deutlich. Und glaub nicht, dass du mich täuschen kannst, indem du dein Feuer unter Kontrolle hältst. Ich brauche keine Flammen auf deinem Körper zu sehen, um zu merken, dass dir etwas zu schaffen macht.«
Es hatte vor ein paar Tagen angefangen. Zuerst hatte ich gedacht, dass Dämonen oder Inferni in unserer Nähe gewesen waren, denn Nathaniels Schutzengelfeuer war immer wieder aufgelodert. Doch es hatte keine unmittelbare Bedrohung gegeben und trotzdem war Nathaniel ständig angespannt und nervös gewesen.
Er lächelte gequält. »Manchmal denke ich, du kennst mich zu gut, mein Herz. Aber ich bin derjenige, der dich beschützen sollte. Mach dir keine Gedanken um mich.«
»Du wirst doch nicht krank?« Ich legte meine Hand auf seine Stirn. »Du bist noch nicht lange ein Erdengänger, wahrscheinlich weißt du gar nicht, wie sich Kranksein anfühlt. Engel und Dämonen werden nie krank, oder?« Er schüttelte den Kopf. Ich schürzte die Lippen. »Fieber hast du jedenfalls nicht.«
»Vielleicht bin ich einfach nur ein wenig müde. Ich habe in den letzten paar Wochen wenig geschlafen.«
Ich bekam ein schlechtes Gewissen. »Die Übersetzung der Chronik hätte doch noch etwas warten können.«
»Das habe ich gern für dich getan.« Dann lachte er leise. »Obwohl ich die Nächte lieber mit dir verbracht hätte.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
»Mhh … verlockend«, murmelte er, doch dann schob er mich seufzend ein Stückchen von sich fort. »Aber ich fürchte, wir müssen los. Der Unterricht beginnt in einer halben Stunde.«
Ich schmiegte mich an ihn. Er protestierte halbherzig, doch gleichzeitig schlang er seine Arme um mich und zog mich zärtlich an seinen Körper. Ich fühlte, wie mein Atem an seinem Hals ihm einen Schauer über die Haut jagte. Seine schwarzen Flammen begannen zu knistern.
»Hör auf«, murmelte er, doch seine Fingerspitzen strichen dabei über meinen Rücken. »Sonst vergesse ich, dass ich so etwas wie Selbstbeherrschung besitzen sollte.«
Die Papiere mit Nathaniels Übersetzung flatterten wieder zu Boden, als seine Flammen höher schlugen und das goldene Feuer in seinen Augen keinen Zweifel daran ließ, dass er schon nicht mehr beabsichtigte, mich irgendwohin gehen zu lassen.
»Lass uns den Ferienbeginn vorziehen«, flüsterte ich atemlos. »Es ist ohnehin der letzte Schultag.«
Anstelle einer Antwort beugte sich Nathaniel zu mir, um mich zu küssen. Doch in diesem Augenblick ertönte aus dem Nichts eine barsche Stimme direkt neben uns.
»Das könnt ihr vergessen, klar? Los, ab in die Schule, macht schon!«
Wir fuhren auseinander. Ramiel war neben uns aufgetaucht, stand breitbeinig und mit verschränkten Armen da und starrte uns verärgert an. Sein bronzener Schimmer flackerte ungeduldig und ließ meinen Verstandesengel noch attraktiver aussehen. Ganz objektiv betrachtet war Ramiel ein äußerst gut aussehender Kerl, aber ich hatte nur Augen für Nathaniel.
»Verdammt, Ra!«, fauchte Nathaniel. »Schon mal was von Privatsphäre gehört? Was ist dein Problem?«
»Mein Problem? Schon mal was von Schulpflicht gehört? Der berühmte Erdengänger Nathaniel Van den Berg hat das vielleicht nicht nötig, aber Victoria schon, kapiert?«
Nathaniel schnaufte abfällig. »Und was bitte habe ich während der letzten Monate gemacht? Mit Victoria die Schulbank gedrückt, falls es dir entgangen sein sollte!«
Ich schnappte meine Schultasche, grinste Ramiel wissend an und zog meinen aufgebrachten Schutzengel hinter mir her aus dem Zimmer. »Komm schon, Nathaniel. Er will doch nur Palomela vor den Ferien noch mal sehen.«
Ramiel hielt verdutzt inne, während Nathaniel sich von mir fortziehen ließ.
»Übrigens«, sagte ich über die Schulter zu Ramiel, »ich bin achtzehn und Nathaniel ist neunzehn, also zieht das Schulpflicht-Argument nicht, tut mir leid. Was ist jetzt, kommst du mit oder nicht?«
Kurze Zeit später fuhren wir mit Nathaniels Jeep auf den Schulparkplatz. Kaum waren wir ausgestiegen, sprang mir meine beste Freundin Anne freudestrahlend entgegen. Ramiels Ärger war wie weggeblasen, er lächelte charmant und begann ein wenig abseits eine Unterhaltung mit seiner unsichtbaren Gesprächspartnerin – Palomela, Annes Schutzengel.
»Warum bist du denn so gut drauf?«, fragte ich Anne, die von einem Ohr zum anderen grinste.
»Oh, das Wetter ist herrlich und es ist der letzte Schultag vor den Osterferien«, sagte sie im Plauderton, um mich auf die Folter zu spannen. Ihre Augen funkelten und ich hatte das Gefühl, dass sie fast platzte, weil sie es nicht erwarten konnte, mir ihre Neuigkeiten mitzuteilen. »Und außerdem fahre ich morgen mit Toms Familie auf Skiurlaub!«
»Wir fahren alle gemeinsam«, sagte Chrissy, Toms Schwester, die hinter Anne zu uns herübergeschlendert kam. Sie war mit Mark zusammen, Toms bestem Freund, der seinen Arm um ihre Schultern legte.
»Klingt gut«, sagte ich und grinste Anne an. »Wann habt ihr das denn entschieden?«
»Ich habe erst heute Morgen erfahren, dass ich mitfahren kann«, sprudelte Anne hervor. »Meine Oma war sich erst nicht sicher, weil es doch so teuer ist, sie wusste nicht, ob wir es uns leisten …« Sie verstummte und wurde rot.
»Meine Eltern mieten eine große Ferienwohnung in Salzburg«, lenkte Chrissy ab. »Wir fahren jedes Jahr dorthin, und wenn Mark und Anne mitkommen, wird's bestimmt viel lustiger als sonst.«
»Bestimmt.« Mark verdrehte die Augen. »Vor allem, wenn ich auf dem Hintern den Hang runterrutsche, während du und Tom die Piste hinunterwedelt!«
Chrissy winkte ab, doch Annes Gesicht wurde lang. »Kann Tom so gut Ski fahren? Ich kann's nämlich nicht. Bis auf den Schulskikurs vor vier Jahren habe ich nie Skiurlaub gemacht«, erklärte sie missmutig.
»Keine Sorge«, sagte Chrissy aufmunternd. »Tom, äh, fährt gar nicht so gut Ski, weißt du.«
»Weil er nämlich Snowboard fährt«, warf Mark ein. »Er ist ein Ass.«
Chrissy trat ihm auf den Fuß und Anne wurde blass. Mark lachte und klopfte Anne auf die Schulter. »Mach dir nichts draus, du und ich, wir werden dafür beim Après-Ski unschlagbar sein!«
Wir alle lachten – außer Chrissy, die die Lippen aufeinanderpresste und ihren Freund böse anstarrte.
»Was ist mit euch? Pläne für die Osterferien?«, fragte Anne und hängte sich bei mir ein, während wir den Parkplatz überquerten und auf das Schulhaus zugingen. Die anderen fielen hinter uns ein paar Schritte zurück, während Chrissy Nathaniel über St. Moritz ausfragte, wo die Van den Bergs ein Ferienhaus besaßen. Amüsiert hörte ich, wie Nathaniel, der in seinem gerade mal viermonatigen Erdengängerdasein niemals auf Skiern gestanden hatte, freimütig von dem Schweizer Nobel-Skiort, den Pistenverhältnissen und von Familienurlauben erzählte, die er dort als Kind angeblich verbracht hatte. An mir nagte das schlechte Gewissen, meine Freunde anzulügen, doch es war schlicht und einfach notwendig, um Nathaniels Identität zu schützen. Alle hielten ihn für den Sohn von Sophie und Marcellus Van den Berg, einem milliardenschweren Medientycoon. Nur ein paar Eingeweihte wussten, dass er mein gefallener Schutzengel war, der aus der Hölle zurückgekehrt war und jetzt an meiner Seite als Erdengänger lebte. Auf unserer Verlobungsparty im vergangenen November hatten meine Freunde die Van den Bergs kennengelernt und keiner hatte mitbekommen, dass ich von dem Dämon Lazarus entführt und beinahe umgebracht worden wäre, wenn Nathaniel mich nicht gerettet und Lazarus vernichtet hätte. Anne war die Einzige unter meinen Freunden, die von Nathaniels wahrer Identität wusste, und ihr hatte ich auch von der Entführung und Lazarus' Vernichtung erzählt. Ich vertraute ihr, dass sie dieses gefährliche Wissen für sich behalten und unter keinen Umständen ausplaudern würde.
»Vic?« Anne stieß mich sanft in die Seite. »Was habt ihr in den Osterferien vor?«
»Ähm … nichts Besonderes.« Ich riss meine Aufmerksamkeit von dem Gespräch zwischen Chrissy und Nathaniel los. »Eigentlich gar nichts. Marcellus und Sophie fahren nach Italien, um dort irgendeinen Freund von Marcellus zu treffen, also wird es wohl eine ruhige Woche für uns werden.« Ich senkte die Stimme. »Nathaniel hat Lazarus' Chronik endlich fertig übersetzt. Ich habe heute Morgen begonnen, sie zu lesen und konnte sie kaum aus der Hand legen.«
»Und? Was steht drin?«, flüsterte Anne gespannt.
»Es ist die Geschichte von Alexandra und Lazarus«, erwiderte ich leise, »bevor Lazarus gefallen ist, als er noch Alexandras Schutzengel gewesen ist.«
Anne machte große Augen. »Lazarus ist sehr alt gewesen, als Nathaniel ihn vernichtet hat, oder nicht?«
»Über zweitausend Jahre«, bestätigte ich. »Die meiste Zeit davon hat er als Dämon für Luzifer gearbeitet, aber ursprünglich ist er einmal ein Schutzengel gewesen.«
»Hier in Wien?«
»Nein, in Brescia, in Norditalien. Das ist damals eine römische Kolonie gewesen.«
»Lazarus war Italiener?«
Ich schmunzelte. »Na, zumindest war Alexandra eine römische Sklavin. Und die ganze Chronik ist auf Latein, ich wäre aufgeschmissen gewesen, wenn Nathaniel sie nicht für mich übersetzt hätte.«
»Hat Alexandra Lazarus erkannt?«
»So weit bin ich noch nicht. Sie hat wohl geahnt, dass da etwas war, aber ich glaube, sie hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass sie die Nähe ihres Schutzengels gespürt hat.«
Anne schüttelte den Kopf. »Wie kann jemand nur so böse werden wie Lazarus? All die schrecklichen Dinge, die er euch angetan hat …«
»Eben darum fasziniert mich die Chronik ja so. Ich will wissen, wie Lazarus war, bevor er zu diesem Monster wurde. In der Nacht, als Lazarus mich entführt hat … du warst nicht dabei, Anne, du hast nicht gesehen, wie er sich verändert hat, als Nathaniel Alexandra aus der Hölle geholt hat. Es war einfach so … so traurig, dass ich ihn nicht mehr hassen konnte, nicht einmal nach all dem, was er uns angetan hat. Ich glaube, Nathaniel versteht nicht, warum mir so viel daran liegt, Lazarus' Engelschronik zu lesen.«
Anne lächelte. »Trotzdem hat er sie für dich übersetzt.« Sie schwieg einige Augenblicke. »Ich glaube, ich weiß, warum dich diese Geschichte nicht loslässt. Und ich kann auch Nathaniels Reaktion verstehen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde sehr ernst. »Nach allem, was du mir erzählt hast, sind eure Schicksale einander ähnlicher, als Nathaniel es wohl wahrhaben möchte. Ich glaube, er will nicht darüber nachdenken, wie knapp ihr zwei am gleichen Schicksal vorbeigeschrammt seid. Und zwar mehrfach«, fügte sie hinzu. »Du fühlst dich Lazarus und Alexandra dadurch verbunden. Das nennt man Mitgefühl.«
»Danke, Dr. Anne Freud«, murmelte ich. »Vielleicht solltest du nach dem Schulabschluss Psychologie studieren.«
Anne legte den Kopf schief und überlegte. Ich hielt den anderen die Tür zum Schulgebäude auf.
»Was habt ihr denn zu flüstern?«, wollte Chrissy wissen. »Worum geht's?«
»Annes Berufswahl.« Ich grinste und wir gingen gemeinsam die Treppen hinauf.
»Profi-Skiläuferin werde ich schon mal nicht.« Anne stapfte ein wenig missmutig vor mir her. »Davon könnt ihr euch ab morgen selbst überzeugen.«
Während Mark und Chrissy Anne mit ein paar Scherzen aufmunterten, warf ich einen Blick in Nathaniels Gesicht. Er hatte mein Gespräch mit Anne in meinen Gedanken verfolgt und eine undurchschaubare Miene aufgesetzt.
Ist es wahr?, dachte ich. Ziehst du dich deshalb zurück, weil dir Lazarus' und Alexandras Geschichte zu nahegeht?
Nathaniels Finger schlossen sich um meine Hand. Er zog sie an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf meine Fingerknöchel.
»Ich ziehe mich nicht zurück«, sagte er leise. »Ich kenne Lazarus' Geschichte.« Ein Schatten legte sich über seine goldbraunen Augen. »Ich habe dich so viele Male beinahe verloren … seinetwegen.« Der Schmerz in seiner Stimme schnürte mir die Kehle zu.
Ich verstehe. Du kannst ihm nicht vergeben.
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Niemals. Er hat so viele schreckliche Dinge getan, die unentschuldbar sind.« Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. »Doch andererseits weiß ich nicht, wozu ich fähig gewesen wäre, wenn ich an Lazarus' Stelle gewesen wäre und Luzifer dich in seiner Gewalt gehabt hätte.«
Als wir nach der letzten Stunde gemeinsam auf dem Parkplatz standen, diskutierten Chrissy und Mark heftig über Marks Vorstellung einer Après-Ski-Party.
»Mann, das wird super«, sagte Mark. »Wir starten nach der letzten Abfahrt gleich mit der ersten Runde. Ach was, den ersten Jägermeister gibt's schon oben auf der Skihütte! Dann laden wir die Skier daheim ab und ab geht's auf die Party-Piste. Wie ist denn die Hausbar deiner Eltern bestückt? Sollen wir ein paar Flaschen Wodka mitnehmen? Dann können wir schon vorglühen.«
Chrissy wurde wütend. »Wir werden uns nicht im Skiurlaub mit meinen Eltern betrinken! Ich dachte, wir wollten alle gemeinsam Spaß haben, aber wenn es dir nur darum geht, dich volllaufen zu lassen, dann bleib doch daheim.«
»Du klingst wie meine Mutter! Wozu fährt man denn sonst auf Skiurlaub? Doch bestimmt nicht nur zum Skifahren.«
Anne und ich blickten betreten zu Boden, während Chrissy Mark ärgerlich klarmachte, wohin er sich seine Saufpläne stecken konnte. Nathaniel versteifte sich neben mir, seine Hände zu Fäusten geballt.
Alles in Ordnung?
Er reagierte nicht, doch seine Kiefermuskeln arbeiteten. Ich ergriff seine Hand und öffnete seine Faust. Er atmete heftig.
Chrissy und Mark waren in ihren Streit vertieft. Nur Anne bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Ein besorgter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht und ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
Und dann sah ich es.
Es war ein durchscheinendes Schimmern direkt neben Nathaniel, als würde sich etwas in einer Fensterscheibe spiegeln. Ich nahm es nur aus dem Augenwinkel wahr und als ich den Kopf wandte, war der dunkle Schimmer verschwunden. Langsam beruhigte sich Nathaniel wieder. Irritiert blickte ich mich um, doch ich konnte nichts Ungewöhnliches mehr entdecken.
»Wir, äh, sehen uns dann morgen«, sagte Anne zu Chrissy, die Mark mit verschränkten Armen anstarrte, während er sie ignorierte. »Bist du sicher, dass Mark und du mit dem Zug fahren wollt? Wir können auch tauschen, dann nehmen eben Tom und ich eure Tickets und ihr fahrt mit euren Eltern.«
»Nein«, fauchte Chrissy. »Wenn ich mit dem da stundenlang in einem Auto eingesperrt bin, könnte es sein, dass ich ihn erwürge.«
»Äh, okay, dann komme ich morgen so gegen acht Uhr zu euch.« Anne bemühte sich um ein Lächeln.
Ohne einander anzusehen, machten sich Mark und Chrissy auf den Weg zur Busstation, während Anne mit uns zum Wagen ging.
»Seit wann ist Mark so versessen auf Alkohol?«, fragte ich.
Anne verzog vielsagend das Gesicht. »Schon immer.«
»Echt? Habe ich gar nicht gewusst.«
»Ich auch nicht. Tom hat's mir erzählt. Mark hat es ganz gut im Griff gehabt im letzten Jahr, aber vor ein paar Wochen ist es wieder schlimmer geworden. Er hängt jetzt wieder mit seiner alten Clique rum, sagt Tom, und die Typen sind bloß ein Haufen von Alkoholikern.«
»Was will Mark mit diesen Losern?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ist ihm langweilig, weil Chrissy so viel Zeit beim Training verbringt.«
»Deswegen trinkt er?«
»Tom versucht, ihn davon wegzubringen, bevor er wieder abrutscht. Als Mark noch bei Tom auf der Schule gewesen ist, war's ganz schlimm.«
Langsam kam mir ein Verdacht. »Sag mal, warum genau hat Mark damals eigentlich die Schule gewechselt?«
Anne presste die Lippen zusammen. »Ich hab Tom versprochen, es nicht zu verraten. Er ist Marks bester Freund und wenn er rauskriegt, dass ich was ausgeplaudert habe, bringt er mich um.«
»Ich kann es mir jetzt ohnehin denken«, murmelte ich.
»Diese ganze Skiurlaub-Aktion haben wir nur deshalb aufgezogen, um Mark für eine Woche von seinen sogenannten Freunden wegzulocken. Darum ist Chrissy auch so böse geworden, als er eben vom Après-Ski geschwärmt hat.«
»Verstehe.« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Diese Neuigkeiten über Mark musste ich erst mal verdauen. »Was können wir tun?«
»Du hast ja seine Reaktion gesehen, als Chrissy versucht hat, es ihm auszureden. Dasselbe passiert, wenn Tom mit ihm redet. Mark tut immer so, als würden wir ihm den Spaß verderben wollen.« Anne zuckte mit den Schultern. »Wir feiern alle gern, aber bei Mark ist das was anderes. Wenn er noch ein einziges Mal betrunken zum Unterricht kommt, dann fliegt er auch von unserer Schule, und Tom macht sich Sorgen, dass er dann komplett abrutscht.«
Ich blieb abrupt stehen. »Wann ist Mark denn betrunken zum Unterricht gekommen?«
»Das ist nicht an unserer Schule passiert«, sagte Anne. »Noch nicht.«
»Wir dürfen nicht zulassen, dass er so kurz vor dem Abi von der Schule fliegt.«
»Soll ich mal mit ihm reden?«, bot Nathaniel an.
Annes Gesicht hellte sich auf. »Das würde vielleicht helfen.«
Wir stiegen in Nathaniels Jeep und fuhren los.
»Meine Oma freut sich schon die ganze Woche darauf, dass ihr zum Kaffee kommt«, sagte Anne von der Rückbank. »Seit sie Nathaniel auf eurer Verlobungsfeier zum ersten Mal getroffen hat, ist sie ganz neugierig darauf, ihn kennenzulernen. Und weil Adalbert ständig von euch beiden erzählt.«
»Was erzählt Adalbert denn über uns?«, fragte Nathaniel in beiläufigem Ton.
»Nichts Besonderes«, winkte Anne ab. »Außerdem weiß meine Oma sowieso nichts von Adalberts und Nathaniels Geheimnis.«
Adalbert war früher ebenfalls ein Engel gewesen und lebte jetzt ein Leben als Erdengänger. Auf unserer Verbindungsfeier hatte er Annes Oma kennengelernt, worauf sich eine Romanze zwischen den beiden entwickelt hatte. Seither war der mürrische alte Mann wie ausgewechselt.
Anne wohnte im Haus ihrer Großmutter in einer Kleingartensiedlung am Stadtrand. Wir parkten direkt vor der Tür und durchquerten den Vorgarten, in dem ein Dutzend Gartenzwerge in wilden Erdbeersträuchern saßen. Das Haus war klein und verwinkelt, mit einer bunt gestrichenen Front und Geranien in den Blumenkästen vor den Fenstern. Annes Oma hatte das Küchenfenster offen gelassen und daraus strömte der Duft von frischem Apfelstrudel.
Als wir eintraten, kam die alte Dame uns entgegen. Klein, mit weißen Locken und denselben Lachgrübchen wie Anne, sah sie aus wie eine viel ältere Version meiner besten Freundin.
»Kommt herein! Ich freue mich so, dass ihr da seid.« Die alte Dame winkte uns in ihr kleines Wohnzimmer, wo sie den Tisch mit dem alten Blümchenmuster-Geschirr gedeckt hatte, das ich noch von den Spielnachmittagen bei Anne aus unserer Grundschulzeit kannte.
»Immer wenn ich hier bin, fühle ich mich, als wäre ich wieder sechs«, murmelte ich Anne leise zu.
»Für Oma sind wir das auch noch«, kicherte sie.
Die alte Frau umarmte mich und begrüßte Nathaniel herzlich. »Nenn mich Oma Runi, Schneewittchen macht das auch – oh, entschuldige, ich meine natürlich, Victoria«, fügte sie hinzu und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Oma Runi?« Adalbert erschien aus der Küche, in einer rosa Rüschen-Küchenschürze und mit einem Backblech mit heißem Apfelstrudel in den Händen.
»Ich habe damals gedacht, sie hieße so. Ich konnte mir ›Bruni‹ nicht merken.« Ich verdrehte die Augen. »Ich war sechs.«
»Sahne, Brunhilde?«, fragte Adalbert und stellte den Apfelstrudel auf den Tisch.
»Im Kühlschrank«, erwiderte Annes Oma, als wir uns setzten.
»Ich helfe Adalbert.« Ich verschwand in der Küche, ehe jemand auf die Idee kommen konnte, mir zu folgen.
»Wo ist denn das Sahnekännchen? Ach, du bist's.« Adalbert schloss die Kühlschranktür und nahm die lächerliche Schürze ab.
»Im Schrank über der Spüle«, antwortete ich automatisch. Ich hatte als Kind so viele Nachmittage in diesem Haus verbracht, dass ich mich immer noch blind zurechtfand. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Adalbert runzelte die Stirn. »Was gibt's?«
Aus dem Wohnzimmer drangen die Stimmen der anderen zu uns herein, doch ich sprach trotzdem in gedämpftem Ton weiter, damit sie uns nicht hörten. »Ich glaube, mit Nathaniel stimmt etwas nicht. Er streitet es zwar ab, aber ich bin mir sicher, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
»Inwiefern?«
»Er ist irgendwie, ich weiß nicht, aggressiver als sonst. Nicht mir gegenüber«, fügte ich rasch hinzu, »Aber er scheint ständig unter Strom zu stehen, irgendetwas regt ihn furchtbar auf und dann ist es plötzlich wieder vorbei. Ich kapiere nicht, was los ist.«
Adalbert zog die Brauen hoch. »Und der Unterschied zu seinem normalen Verhalten ist …?«
Ich verzog das Gesicht. »Das ist nicht komisch.«
»Er ist zur Hälfte ein Dämon, Victoria. Auch wenn er noch immer dein Schutzengel und für die Erzengel zum Erdengänger geworden ist, ein Teil von ihm ist dämonisch. Und Dämonen sind leicht reizbar, das weiß doch jeder.«
»Aber das ist etwas anderes«, beharrte ich. »Es ist fast so, als würde ihn irgendetwas belasten. Aber es kommt und geht, ohne erkennbare Ursache. Und heute war da dieses Schimmern.«
Adalbert horchte auf. »Was für ein Schimmern?«
»Nach der Schule, auf dem Parkplatz, da hat es wieder angefangen. Er hat sich aufgeregt und ich habe so eine seltsame Spiegelung bei ihm gesehen.« Ich wappnete mich innerlich dafür, dass Adalbert mich für verrückt erklären würde. »Ich weiß, es klingt merkwürdig, und vielleicht ist es auch nur eine Lichtreflexion gewesen, ich habe es auch nicht richtig sehen können.«
»Was genau hast du denn gesehen?« Adalberts Gesichtsausdruck war ernst und zeigte keine Spur von Spott. Das ließ mich erst recht nervös werden.
»Nicht viel.« Ich versuchte, mich zu erinnern. »Da war eben so ein dunkles Schimmern, aber als ich richtig hingesehen habe, war es verschwunden. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet.«
Er neigte nachdenklich den Kopf. »Du sagst, dass Nathaniel unruhig gewesen ist, als du dieses Schimmern gesehen hast?«
»Er hat sich total verkrampft, so als würde er gleich in die Luft gehen. Aber da ist kein Dämon in der Nähe gewesen, nichts, was normalerweise so eine Reaktion bei ihm auslöst.«
Adalbert grübelte. »Er wird sich doch nichts eingefangen haben.«
»Eingefangen? Sie meinen, er ist krank?«
»Nein, Mädchen. Ich glaube, er könnte heimgesucht werden.«
Ich starrte ihn an. »Was?«
»Deiner Beschreibung nach könnte es sich um Höllengeister handeln, die deinen Engel heimsuchen. Sie sind unsichtbar für Menschen und für übernatürliche Wesen, aber sie bewirken bei Engeln und Dämonen dieselben Angstzustände und Panikattacken, die Inferni bei Menschen auslösen. Es wäre allerdings ungewöhnlich, wenn du sie tatsächlich wahrnehmen könntest, aber bei euch beiden überrascht mich langsam gar nichts mehr.«
»Wieso wären diese Höllengeister hinter Nathaniel her?«
Adalberts Gesichtsausdruck wurde sehr düster. »Wahrscheinlich ist er verflucht worden. Höllengeister sind die Manifestation eines übernatürlichen Fluches.«
»Klingt ja furchtbar«, stöhnte ich. »Was können wir dagegen tun?«
»Gar nichts.«
Ich blinzelte Adalbert an. »Was soll das heißen, gar nichts? Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
Er lehnte sich an die Spüle. »Ich selbst habe noch nie erlebt, dass ein Engel oder ein Dämon verflucht worden ist. Alles, was ich dir gerade erzählt habe, ist bloß Hörensagen. Ihr braucht jemanden, der sich in diesen Dingen besser auskennt als ich.«
»Wer sollte das sein?«, fragte ich unbehaglich. Bei dem Gedanken daran, was für eine Art Wesen sich mit dämonischen Flüchen auskennen würde, dehnte sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend aus.
»Wendet euch fürs Erste an Melinda«, schlug Adalbert vor. »Vielleicht kann sie euch weiterhelfen.«
»Bertl?« Annes Oma steckte den Kopf zur Küchentür herein. »Machst du die Sahne selbst oder warum dauert das so lange?«
»Nein, Brunhilde, wir kommen schon.« Adalbert warf mir einen langen, vielsagenden Blick zu und folgte Annes Oma ins Wohnzimmer.
Als ich mich neben Nathaniel an den Tisch setzte, runzelte er die Stirn. Was er von meiner Unterhaltung mit Adalbert in meinen Gedanken mitverfolgt hatte, schien ihm ebenso wenig zu gefallen wie mir.
Obwohl wir einen netten Nachmittag mit Anne und ihrer Oma verbrachten, schweiften meine Gedanken immer wieder zu Adalberts Worten ab. Konnte Nathaniel tatsächlich verflucht worden sein? Ich bekam den leckeren Apfelstrudel kaum herunter, weil sich mein Magen wie ein Steinklumpen anfühlte.
»Ich hoffe, es war nicht zu langweilig für euch«, murmelte Anne entschuldigend, als wir uns an der Tür von ihr verabschiedeten.
»Quatsch. Deine Oma ist toll.« Ich umarmte Anne und winkte ihrer Oma und Adalbert zum Abschied. »Viel Spaß im Skiurlaub. Passt auf Mark auf, okay?«
»Wir tun unser Bestes.« Anne sah nicht sehr zuversichtlich aus.
Kaum waren Nathaniel und ich in den Wagen gestiegen, drehte er sich mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck zu mir um. »Was sollte das?«
»Was meinst du?«
»Warum sprichst du hinter meinem Rücken mit Adalbert über mich?«
Sein Ton gefiel mir nicht. »Weil ich mir Sorgen um dich mache und du dich weigerst, mit mir zu reden. Irgendetwas muss ich doch tun.«
»Ich habe dir gesagt, dass es mir gut geht.«
»Nach der Schule vorhin habe ich gesehen, wie gut es dir geht«, fauchte ich zurück. »Warum gibst du nicht einfach zu, dass etwas nicht in Ordnung ist? Dann können wir gemeinsam versuchen, eine Lösung zu finden.«
»Ich löse dieses Problem allein, hast du verstanden?«
Ich schrak zusammen. Nathaniel war selten so wütend auf mich.
Plötzlich fiel mir auf, dass er seine Hände um das Lenkrad krampfte.
»Es ist wieder so weit, oder?«, fragte ich. »Es passiert wieder, genau jetzt, nicht wahr?«
»Es ist gleich wieder vorbei«, sagte er zähneknirschend.
Ich legte meine Hand auf seine. »Was kann ich tun?«, flüsterte ich.
Er atmete heftig. Dann flammte plötzlich sein Feuer auf und die Flammen schlugen um seinen Körper.
»Es ist … gleich wieder vorbei«, stieß er hervor.
»Nathaniel!« Alarmiert umklammerte ich seine Hand. Dann sah ich wieder diesen düsteren Schimmer, der um ihn herumflackerte und im nächsten Augenblick wieder verschwunden war.
Nathaniels Atem beruhigte sich.
»Besser«, keuchte er. »Gib mir noch eine Minute.« Er starrte vor sich auf das Lenkrad und zwang seine Flammen zurück.
Ich beobachtete ihn besorgt.
»Alles in Ordnung«, knurrte er, ohne mich anzusehen.
»Gar nichts ist in Ordnung«, sagte ich entschieden und zog mein Telefon hervor. »Wir fahren jetzt auf der Stelle zur Uni. Ich rufe Melinda an und sage ihr Bescheid, damit sie im Büro auf uns wartet.«
»Ich brauche wirklich nicht …«
»Das war keine Bitte, Nathaniel. Wenn an dieser Fluch-Sache was dran ist, dann müssen wir etwas dagegen unternehmen. Melinda? Hier ist Victoria. Sind Sie noch im Büro? Nathaniel und ich sind auf dem Weg zu Ihnen.« Ich warf Nathaniel einen dunklen Blick zu. »Ich fürchte, wir haben ein höllisches Problem.«
Nathaniel sprach kein Wort mehr mit mir, bis wir in Melinda Seemanns Büro angekommen waren. Die Engelschronistin, die in der Universitätsbibliothek arbeitete, war selbst eine Erdengängerin und kannte sich mit überirdischen Dingen sehr gut aus. Jetzt saß sie zurückgelehnt in ihrem Schreibtischstuhl und hörte mir schweigend zu, während ich Adalberts Vermutung wiederholte. Sie unterbrach mich nicht und der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde immer ernster. Nathaniel stand mit verschränkten Armen neben mir und ärgerliche Flammen kräuselten sich auf seiner Haut. Als ich mit meinem Bericht fertig war, schwieg Melinda noch eine Weile. Ihre klugen Augen ruhten auf Nathaniel.
»Das ist eine ernste Sache«, sagte sie schließlich. »Wer könnte ein Interesse daran haben, dich zu verfluchen?«
»Wer sagt, dass es überhaupt ein Fluch ist?«
Ich hatte noch nie gehört, dass Nathaniel Melinda derart angeblafft hatte. Doch sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Hast du eine andere Erklärung, Nathaniel?«
»Ich kapiere nicht, warum ihr euch alle einmischt! Ich kann diese Sache allein regeln, ich habe das im Griff.«
»Ich behaupte doch gar nicht das Gegenteil.« Ich griff nach seiner Hand, doch er entzog sich mir. Es war wie ein Stich mit einem Messer. »Du passt ständig auf mich auf, warum lässt du mich dir jetzt nicht helfen?« Ich fühlte mich verletzt und ich tat nichts, um das zu verbergen.
»Genau das ist der Punkt«, stöhnte er. »Ich passe auf dich auf. Nicht umgekehrt. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst, um mir zu helfen. Mit einem Höllenfluch ist nicht zu spaßen, Victoria.«
»Dann hast du es gewusst?« Ich starrte ihn ungläubig an. »Du hast die ganze Zeit gewusst, was los ist, und hast es mir nicht gesagt?«
»Warum hätte ich es dir sagen sollen? Damit du wieder losrennst und irgendetwas Waghalsiges tust, um mich zu beschützen?«
Ich schnappte nach Luft. »Damit ich dir helfen kann, diesen Fluch loszuwerden, du Idiot!«
Mir war klar, dass Nathaniel und ich uns in diesem Moment in Melinda Seemanns Büro befanden und uns direkt vor der Nase der aristokratischen Chronistin anschrien, doch Nathaniels Sturheit regte mich so auf, dass ich nicht anders konnte, als diese Tatsache zu ignorieren.
»Es ist meine Entscheidung, ob und von wem ich mir helfen lasse!«, fauchte Nathaniel und die schwarzen Flammen auf seinem Körper loderten immer höher. »Und wenn es um etwas so Gefährliches wie einen Höllenfluch geht, dann stehst du bestimmt nicht ganz oben auf meiner Liste!«
»Tut mir leid, aber du wirst dich damit abfinden müssen, dass ich dir trotzdem helfe!« Ich starrte ihn zornig an. »Ich frage dich nicht um Erlaubnis.«
Er fuhr mit den Händen fassungslos durch die Luft. »Weißt du überhaupt, wie gefährlich diese Sache werden kann?«
»Nein, aber du scheinst es ja genau zu wissen. Du hast mich angelogen, Nathaniel, seit Tagen lügst du mich an! Ich frage dich, was los ist, und du sagst mir immer wieder, dass alles in Ordnung ist. Gar nichts ist in Ordnung!«
»Ich habe dir nur deshalb nicht die Wahrheit gesagt, weil ich gewusst habe, dass du dann sofort irgendeine Dummheit machen würdest, um mir zu helfen.«
»Eine Dummheit, so nennst du das? Ich versuche, eine Lösung zu finden, verdammt noch mal!«
»Und ich will nicht, dass du dich einmischst und damit in Gefahr begibst!«
Die Chronistin räusperte sich. »Wenn ich kurz etwas einwerfen darf?«
Ich hatte schon fast vergessen, dass Melinda anwesend war.
»Wenn es wirklich ein Höllenfluch ist, Nathaniel, dann wird er früher oder später Auswirkungen auf Victoria haben …«, begann Melinda, doch Nathaniel ließ sie nicht aussprechen.
»Ich weiß, genau aus dem Grund will ich sie ja aus der Sache raushalten.«
»Da du ihr Schutzengel bist, kannst du dich nicht von ihr fernhalten«, fuhr Melinda ungerührt fort. »Sie wird irgendwann von den Auswirkungen des Fluchs betroffen sein. Also bleibt dir nur, den Fluch so schnell wie möglich unschädlich zu machen. Um Victorias Sicherheit Willen.«
Nathaniel schnaufte frustriert, schwieg aber.
»Was schlägst du vor?«, fragte er schließlich, nicht ohne einen finsteren Seitenblick in meine Richtung zu werfen.
Melinda wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Computer zu. »In Europa stammen die meisten Höllenflüche von den Zaubersprüchen keltischer Druiden.« Sie tippte etwas in ihren Computer und machte dann ein paar Notizen auf einem Stück Papier, das sie uns reichte. »Ich habe eine Bekannte in Venedig, die eine Spezialistin auf dem Gebiet der keltischen Geschichte ist. Ihr Name ist Isabella Biasini. Wenn euch jemand weiterhelfen kann, dann sie.«
»Ist sie eine Erdengängerin?«, fragte ich.
Melinda nickte. »Sie arbeitet im völkerkundlichen Museum von Verona. Ihr Spezialgebiet ist die Mythologie der keltischen Druiden.«
»Danke.« Ich verstaute den Zettel in meiner Tasche.
»Seht zu, dass ihr diese Sache in den Griff bekommt«, sagte Melinda in warnendem Ton, als sie uns verabschiedete. »So ein Höllenfluch kann verdammt gefährlich werden.«
Ihr durchdringender Blick ruhte auf Nathaniel, der mich mit einem Knurren zur Tür hinausschob.
»Was hat Melinda mit ›verdammt gefährlich‹ gemeint?«, fragte ich vor der Tür.
Nathaniel ignorierte meine Frage und stapfte grimmig neben mir her.
»Adalbert hat gesagt, dass diese Höllengeister auf Engel und Dämonen so wirken wie Inferni auf Menschen«, fuhr ich fort, ohne auf seine abweisende Art zu reagieren. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es sich angefühlt hat, von den Inferni heimgesucht zu werden.« Mir lief ein kalter Schauer über den Körper. »Ich habe das Gefühl gehabt, als würden die Wände um mich herum einstürzen und mich unter sich begraben. Es ist erdrückend gewesen, beängstigend und hoffnungslos.«
Nicht einmal sein momentaner Ärger auf mich konnte Nathaniel davon abhalten, instinktiv seinen Arm um meine Schulter zu legen und mich an sich zu ziehen. Seit wir Michaels Siegel trugen, hatten uns die Inferni nicht mehr belästigt.
»Wenn du das Gleiche durchmachst, dann musst du mir das sagen«, flüsterte ich. »Wir werden einen Weg finden, dich von diesem Fluch zu befreien.«
Nathaniel hielt mich an seinen Körper gedrückt, doch seine Hand verkrampfte sich um meine Schulter.
»Was ist?«, fragte ich leise. »Was ist da noch, was du mir verschweigst?«
»In meiner Zeit in der Hölle habe ich von diesen Flüchen gehört«, sagte er düster. Dann machte er eine Pause. »Ich habe nie von einem Verfluchten gehört, der sich davon befreien konnte.«
Ich blieb stehen.
»Deshalb sind sie so gefürchtet, Vic. Weil man sie nicht bekämpfen kann. Die Höllengeister sind unsichtbar, und selbst wenn ich sie sehen könnte, meine Kräfte wirken nicht gegen sie.«
»Soll das heißen, sie sind immun gegen dämonische Flammen und Schutzengelfeuer?«
Er nickte. »Es geht einfach durch sie hindurch.«
Ich schlang meine Finger in seine. »Wir werden einen Weg finden, sie zu bekämpfen. Wir rufen diese Isabella an und fragen sie. Es muss irgendeine Möglichkeit geben.«
Ein freudloses Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Wir können sie anrufen, wenn du willst. Aber ich habe ernst gemeint, was ich vorhin gesagt habe: Ich habe das im Griff. Das ist die einzige Art und Weise, mit einem Höllenfluch umzugehen. Ich kann die Höllengeister weder vertreiben noch bekämpfen und ich kann ihrem grauenhaften Einfluss auf mich nicht entkommen. Alles, was ich tun kann, ist, zu lernen, ihre Auswirkungen auf mich zu beherrschen.«
Ich riss die Augen auf. »Du meinst, du willst damit leben?«
»Er wird nicht sehr lange damit leben.« Ramiel tauchte plötzlich neben mir auf. Mein attraktiver Verstandesengel hatte eine sehr ernste Miene aufgesetzt. »Dann bist du also endlich mit der Wahrheit rausgerückt, Nathaniel?«
»Sie hat mit Adalbert geredet«, erwiderte Nathaniel grimmig.
»Du hast davon gewusst?« Ich wandte mich entsetzt an Ra, der abwehrend die Arme hob.
»Nathaniel hat darauf bestanden, dass er es selbst regeln will. Außerdem, was hätte es schon geändert, wenn du es gewusst hättest?«
»Was es …?« Ich schnappte nach Luft. »Habt ihr sie noch alle? Ich habe ein Recht, davon zu wissen. Und was meinst du überhaupt damit: Er würde nicht sehr lange damit leben?«
»Ich habe gemeint, dass …«
»Ramiel!«, fuhr Nathaniel dazwischen. Seine dämonischen Flammen flackerten so stark auf, dass Ramiel zurückwich.
»Jetzt, wo sie es weiß, sollte sie auch den Rest erfahren, oder nicht?« Mein Verstandesengel hielt Nathaniels bedrohlichem Blick stand. »Verfluchte ertragen die Anwesenheit der Höllengeister nur eine gewisse Zeit lang. Irgendwann wird die unaufhörliche Überschwemmung mit negativen Gefühlen, Angst und Panik zu viel für sie. Dann verlieren sie den Verstand«, fügte er leise hinzu. Dabei zeigte sich echte Sorge in seinem Gesicht.
Ich hatte das Gefühl, ins bodenlose Nichts zu stürzen.
»Ramiel, halt endlich den Mund«, fauchte Nathaniel. »Du machst ihr eine Heidenangst.« Er wandte sich mir zu. »Ich verliere nicht den Verstand«, sagte er eindringlich. »Ich habe das im …«
»Sag nicht immer wieder, du hättest das im Griff!« Meine Stimme klang hysterisch und ich riss mich von ihm los. »Wann hast du vorgehabt, mir das alles zu erzählen? Wenn es schon zu spät gewesen wäre?«
»Nein«, erwiderte er und ließ resigniert die Arme sinken. »Sondern gar nicht.«
Zu fassungslos, um etwas darauf zu erwidern, ließ ich die beiden Engel stehen und marschierte auf das Auto zu. »Sobald wir zu Hause sind, rufe ich diese Isabella an!«
»Das muss noch ein wenig warten«, sagte Ramiel vorsichtig und hielt einen Sicherheitsabstand zu mir, während er mir folgte. »Marcellus schickt mich. Er muss dringend mit euch sprechen. Es gibt ein Problem.«
»Oh, gut«, giftete ich und warf mich auf den Beifahrersitz. »Davon haben wir gerade nicht genug.«
Ra seufzte und verschwand. Nathaniel setzte sich schweigend ans Steuer und fuhr los. Diesmal war ich es, die während der ganzen Fahrt kein Wort sprach.
Marcellus' und Sophies Penthouse lag im Van-den-Berg-Tower, in dem Marcellus' Medienkonzern untergebracht war und auch Nathaniel und ich seit unserer Verbindung ein Apartment bewohnten. Es war nicht einfach gewesen, meinen Vater davon zu überzeugen, mich dort einziehen zu lassen. Schließlich hatte aber Ludwigs Geschäftssinn gesiegt und er hatte zugestimmt, vermutlich nicht zuletzt, weil er sich von meiner Verbindung mit Nathaniel einen Profit von Marcellus' einzigartiger internationaler Vernetzung erhoffte.
Marcellus war ein einflussreicher Erdengänger im Dienst der Erzengel und er leitete den Medienkonzern Europa. Die Erzengel hatten ihn zu Nathaniels Mentor ernannt, der ihm bei seinem Erdengängerdasein zur Seite stehen sollte. Für alle anderen Menschen, einschließlich meiner Freunde und meines Vaters, war Nathaniel schlicht und einfach Marcellus' und Sophies Sohn.