Impressum
Autorin: Manuela du Bois-Reymond
Herausgeber: Florian Söll
Satz und Layout: Sarah Hruschka s.hruschka@hundertprozentich.com
Cover: Paul du Bois-Reymond unter Verwendung der arabischen Schriftzüge der Familienmitglieder von Sabah
Bibliografische Informationen der Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter
www.dnb.de abrufbar.
Sabah: Rede und Antwort
© 2021 Manuela du Bois-Reymond
Erste Auflage 2021Manuela du Bois-Reymand
Herstellung und Verlag: BoD, Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783753475028
Der Titel „Sabah: Rede und Antwort“ verweist auf das zentrale Thema dieses Buches, es geht offensichtlich um Gespräche, Dialoge. Wer sind nun die Gesprächspartner, wer unterhält sich mit wem?
Die Autorin M.d.B.R. lernte Sabah und ihre Familie durch ihre ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit kennen, zunächst als eine von vielen Teilnehmerinnen in einem Integrationssprachkurs. Aber da war mehr – ein noch unausgesprochener Wunsch auf beiden Seiten, die Grenzen der formalen wöchentlichen Begegnung im Unterricht zu erweitern, mehr miteinander zu reden als über Grammatik und die richtige Aussprache in der fremden Sprache.
Aus diesem gemeinsamen Wunsch, der schnell deutlich wurde, entstand eine mehrjährige Beziehung, die bis heute andauert und hier dokumentiert wird.
Eine eigenartige und eigenwillige Beziehung, denn die Hauptperson, Sabah, konnte nicht wissen, dass ihre empathische Gesprächspartnerin nicht nur über Sabahs Alltag und ihre Erfahrungen in ihrem neuen Heimatland reden wollte, sondern dass sie sich selbst in diesen Gesprächen beobachtete und eben diese Reflexionen thematisieren wollte.
Dieses Interesse der Autorin erklärt den Titel des Buches, Rede und Antwort. Es geht der Autorin in einem umfassenden Sinn um Sprache, um die Frage: können Sprechen und Sprache Fremdheit überwinden?
Antworten auf diese Frage liefern „Sprachspiele“, in denen die beide Gesprächspartner ihr wechselseitiges Einfühlungsvermögen dazu benutzen, die vielen Schwierigkeiten in der Verständigung zu überwinden – oder auch zu akzeptieren.
Der Vokabelschatz einer Syrerin in einer ihr fremden Sprache ist extrem gering, der der Autorin in der arabischen Sprache Null. Wie ergeht es den Beiden unter diesen Bedingungen? Das Buch steht voller Beispiele des Erfindungsreichtums, mit dem sie über alle Sprachhürden hinweg in Rede und Antwort Sinn erzeugen.
Hier liegen Anknüpfungspunkte für die (ehrenamtliche) Arbeit mit Neuankömmlingen aus den Fluchtländern in europäische Aufnahmegesellschaften. Denn über alle Landesunterschiede sowohl der Geflüchteten wie derer in den Gastländer hinweg, ist das Problem überall dasselbe: wie kann Integration gelingen und welche Rolle spielt dabei Sprache?
Dass das Buch Sabah: Rede und Antwort im Nachbarland Holland – korrekt: den Niederlanden – entstand, ist sekundär. Jeder und jede, die je mit Geflüchteten zu tun hatten, sei es professionell oder informell, wird die dort geschilderten Situationen erkennen. Dies umso mehr, als nicht nur Sabah und ihre Familie die Bühne bevölkern, sondern auch viele andere weibliche und männliche, junge und alte Protagonisten, die die Autorin in den Integrationskursen begleitet hat und darüber in kurzen Situationsskizzen berichtet. Sie schildern sowohl gelungene wie misslingende Szenen. So werden zum Beispiel Situationen beschrieben, wie verletzt ältere Kursteilnehmer sind, wenn sie wie unmündige Kinder behandelt werden, ganz nach dem Rollenklischee Schüler – Lehrer. Und wie schwierig es für alle Beteiligten ist, sich aus derartigen Klischees zu befreien.
Die in dem Buch berichteten Erfahrungen können didaktisch genutzt werden, so die, dass die „neuen Lerner“ (m/w) hoch motiviert sind, sowie die Lehrpersonen an ihre alte und neue Lebenswelt anknüpfen, oder auch mal etwas von sich selbst erzählen; wenn also Biografisches wechselseitig kommuniziert wird.1
Besonders anzuerkennen ist in diesem Zusammenhang, dass die Autorin sich nicht scheut, auch misslingende Kommunikation darzustellen und zwar gerade im Bereich biografischer Erfahrungen. Wo ist die Grenze, muss sie sich einige Male selbstkritisch fragen, zwischen engagierter Sympathie und Respekt vor dem Recht auf Aussageverweigerung?
Schließlich ist dieses Buch ein bedenkenswertes Dokument, wenn es darum geht, die Chancen der Integration von Menschen zu ermessen, die nicht aus freiem Willen ihre Heimat verlassen haben und sich nun den ungeheuren Anstrengungen unterziehen müssen, nicht nur eine ihnen wildfremde Sprache erlernen zu müssen, sondern weit darüber hinaus sich in einer Kultur und Welt einzuleben, die nicht die ihre ist, aber werden soll, um ein einigermaßen zufriedenes Leben zu führen. Hier liegen ungenutzte Chancen für interkulturelles Lernen auf beiden Seiten.
Sabah, verheiratet und Mutter von sechs Kindern, ist zufrieden mit dem Leben im Kreis ihrer Familie, das ist ihre Welt. Es werden ihre Kinder sein, die über Schule und Ausbildung die entscheidenden Schritte tun, um eine Perspektive auf die Möglichkeiten zu bekommen, die sich ihnen bieten. Es gilt, so meint auch die Autorin dieses persönlichen Buches, mit so vielen verallgemeinerbaren Erfahrungen, die kulturellen Ressourcen der neuen Bürger und Bürgerinnen mit Neugierde und Fantasie in den gesamten Integrationsprozess einzubinden.
Florian Söll (Hrsg.)
1 Zu diesen Themen hat die Autorin als Jugend- und Bildungssoziologin ausgiebig publiziert. Vgl. z.B. du Bois-Reymond, Manuela/Behnken, Imbke (2016): Netzwerklerner und informelles Lernen in Peergruppen. In Köhler, S.M./Krüger, H.H./Pfaff, N. (Hrsg.)“ Handbuch Peerforschung. Opladen.Berlin.Toronto: Verlag Barbara Budrich (365–382).
Kommt
Geht durch das große Zimmer
Auf bloßen Füßen
Schuhe im Flur gelassen
So üblich zuhause
Tastet sich Schritt für Schritt
durch fremdes Wohngebiet
Weiches unter den Sohlen
Sagt leise ganz leise nur für sich
Mein Zimmer klein
Ich nie allein
Zieht dann die Schuhe wieder an
Geht
Fremd ist der Fremde
nur in der Fremde.
KARL VALENTIN
Das vorliegende Buch ist aus einem privaten Projekt hervorgegangen, ich schreibe frei, aber nicht nur für mich. Ich schreibe für eine Frau, die dieses Buch nie lesen können wird, denn sie ist eine geflüchtete syrische Frau, die als Mutter von sechs Kindern schon genug damit zu tun hat, sich das erforderliche Minimum an holländischer Sprache anzueignen, das sie für ihr Leben in dieser europäische Gesellschaft benötigt, in der sie gelandet ist und bleiben wird. Seit ich sie durch meine ehrenamtliche Arbeit in Integrationskursen kennenlernte, gehe ich mit ihr durch alle Erfahrungen, die ich mit dem Fremden, dem Anderen mache. Sabah ist für mich schon lange keine Fremde mehr, und wenn sie es je war, nur für eine sehr kurze Zeit. So geht es mir mit allen geflüchteten Menschen, mit denen ich zu tun habe: Wenn ich mit ihnen spreche, und sie mit mir, sind sie Personen mit einem Namen und dem Gefühl von Fremdsein, das sie von mir trennte, aufs erste entkommen. Hingegen ist das Fremde, das Andere als ein Allgemeines, etwas Unpersönliches, über den Personen Stehendes – drohend Hängendes. Simmel spricht in seinem Exkurs über den Fremden von der „Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält.“ (Simmel 1958, S. 509)
Es ist diese komplizierte, oft unverstandene Einheit, die ich im Laufe meiner Beziehung mit Sabah erfuhr. Sie ist mir gegenwärtig, auch wenn ich gar nicht konkret an sie denke. Ich gehe zum Beispiel durch den Supermarkt und sehe eine Schwarze, ich schaue ihr ins Gesicht und lasse ihr Schwarzsein auf mich wirken; fremd – aber wie fremd? Was ist es, was sie mir fremd macht, und umgekehrt ich ihr? Was verbindet uns (sie ist eine Frau) und was trennt uns (ich habe keinerlei Wissen über ihr Land und Leben, und sie weiß nichts von mir)? Oder auch: ich lese die Biografie einer berühmten polnisch-russischen Revolutionärin, an der mir klar wird, wie weit, weit weg heute jene ideologischen Fragen auf Leben und Tod sind, die das Leben dieser Frau bestimmten. Welche Fragen nach dem Sinn und Verlauf der Geschichte stellen wir, stellte sich meine Generation vor fünfzig Jahren und stellen sich Dreißigjährige heute? Es sind Fragen, auf die ich Antwort für Sabahs Lebensaussichten suche. Und natürlich schaut sie mir Abend für Abend über die Schulter, wenn ich die Nachrichten im Fernsehen aus ihrem Land zur Kenntnis nehmen muss, die keinerlei Antworten auf solche Fragen haben.
Eine Weile lang beließ ich das vielfach Fremde, das in den Sprachkursen auf mich einwirkte, im vorderen Erlebnisbereich, ich schaute, wie die Fremden mit der unbekannten Sprache umgehen, woran sie scheitern, welche Hilfen sie brauchen und welche an ihren Bedürfnissen vorbeigehen. Vieles wiederholte sich im Unterrichtseinerlei, wenig änderte sich. Mich befriedigte meine Arbeit nicht, auch wenn sie nötig ist, ich wollte mehr von den Menschen erfahren als mir im Klassenunterricht möglich war. Mir kam zum Bewusstsein, dass es nichts Exotisches war, dem ich nachgehen wollte und das Menschen aus fremden Ländern umgibt, nein das war es nicht. Ich traf auf eine alte Erfahrung, die mich durch mein ganzes, auch wissenschaftlich schreibendes Leben begleitet hat, so wie mich jetzt Sabah begleitet, und ich sie.
Immer war es mir darum gegangen, merkte ich jetzt (oder ich drücke es jetzt so aus), das mir Fremde näher an mich heranzuziehen. Das mir Unbekannte auf diese Weise vertraut und verstehbar zu machen, ob es sich nun um die Kinder und ihre Eltern handelte, die in einem mir fremden Milieu lebten und mit denen ich vor vielen Jahrzehnten als Sozialforscherin und Pädagogin zu tun hatte, oder um Übersetzungsprobleme, die sich in europäischen Forschungsprojekten manifestierten, wenn es um das wechselseitige Verständnis des gemeinsam Erforschten ging, das sich in einer jeweils vom Anderen unverstandenen Sprache äußerte. Wie lässt sich Bedeutungsäquivalenz in unseren interdisziplinären und interkulturellen Diskussionen herstellen, ohne die keine sinnvollen Ergebnisse erreichbar sind? Ich trauerte jeder sprachlichen Nuance nach, die verloren zu gehen drohte – und oft in den schließlich veröffentlichten Abschlussberichten und wissenschaftlichen Artikeln für immer verloren ging.
Verständigungsfragen spielen naturgemäß in Integrationskursen für Geflüchtete die Hauptrolle, aber sie werden nicht ins reflexive Bewusstsein der Anwesenden gehoben.2
All diese verschiedenen Fremden, die nicht nur ihre Lehrer, sondern oft auch einander nicht verstehen können! Wie konnte ich meiner Frustration Herr werden, wenn im Unterricht achtlos über unverstandene Wortbedeutungen hinweggegangen wurde, und also der Sinn unverstanden blieb? Keiner ist schuld, die Lehrer nicht und nicht die Schüler, denn mit einer Gruppe von 12–15 Personen verschiedenen Alters und drei bis fünf verschiedenen Sprachen, für drei Stunden in einem Raum beisammen und dann wieder jeder für sich allein woanders, kann es nur um Durchschnittliches gehen, in jeder Hinsicht, im Lehr- und Lernvollzug, im Interesse am einzelnen Schüler, wie in der Vermittlung des Stofflichen.
Ich war mit meinen Bedürfnissen nach mehr Nähe und Genauigkeit am falschen Ort, hier konnte ich die Möglichkeiten von Sprache zur Überwindung von Fremdheit nicht ausloten. Ich musste, trotz meiner Unfähigkeit arabisch zu sprechen (und es in meinem Alter auch noch zu lernen) eine Fremde finden, die ihrerseits ihre Unkenntnis der neuen Sprache überwinden wollte, und damit das Fremde, das auch sie von mir und anderen trennte.
Diese Fremde war Sabah, ihr habe ich deshalb dieses Buch gewidmet.
Wir hatten in meinem kleinen Gartenzimmer wunderbare Stunden zusammen, wir spannten eine Brücke über unsere verschiedenen Sprachen hinweg, über die wir stöckelnd, stolpernd und manchmal zwei Schritte auf einmal nehmend, hin und her liefen und uns dabei, je länger umso besser, kennenlernten. Unser gemeinsames Interesse an der Bedeutung von Sprache – sie will das holländische Äquivalent zu einem arabischen Wort wissen, ich es ihr so vermitteln, dass sie die Bedeutung erschließt – verbindet uns. Dabei konnte ich meine Schwäche, nicht nur die arabische Sprache nicht zu beherrschen, sondern auch die holländische nicht perfekt (immer noch ist Deutsch meine Sprachheimat), ummünzen in ein tieferes Verständnis des unerhörten Fremdheitsgefühls, das jeden von uns befällt, wenn wir nicht in der Lage sind, so zu sprechen wie uns der Schnabel gewachsen ist.
Waren wir uns nach langem Hin und Her über die Bedeutung eines holländischen Wortes oder Ausdrucks einig geworden, hatte ich Sabahs fragendes niet begrijp (nicht verstehe) nach so vielen vergeblichen Versuchen, es mit immer neuen Umschreibungen und Beispielen, auch nicht-verbalen, anschaulich zu machen in ein begrijp, begrijp (verstehe, verstehe) verwandelt, so bogen wir uns vor Lachen über den Erfolg, und manchmal bat ich sie, aus reinem Spaß an der Freude, mir den Bedeutungsfund auf Arabisch zu nennen.
Dies also ist das Buch, das unsere gemeinsamen Anstrengungen, die Trennungsmauern einzureißen, dokumentiert. Es waren zwar nach einer Weile, und sind es bis heute, immer noch Anstrengungen, aber mich trug wachsende Neugier am Fremden, am Anderen, umgekehrt Sabah ihre Freude an unserer Nähe. Aber Halt! Neugier? An was? Anfangs machte ich mir darüber noch nicht gleich Gedanken, zunächst überwog die Befriedigung, einen gangbaren Weg, wie mir schien, ins fremde Land gefunden zu haben; Sabah-Land. Dann kam ein Unbehagen. Warum, fragte ich mich, frage immer nur ich sie etwas, kaum je sie mich? Gehört nicht zu wachsender Nähe ein wachsendes Interesse am Anderen, ich an ihrem Leben, sie an meinem?
Meine Versuche, mehr „Informationsausgleich“ zu schaffen, indem ich sie aufforderte, sie solle doch auch einmal mich etwas Persönliches fragen, das sie interessiere, verunsicherten sie, ich hörte sie denken: was meint sie? was will sie? Sie verstand mich ganz einfach nicht, und das war nicht ihrer geringen holländischen Sprachfähigkeit geschuldet – wir bewältigen, wenn es sein muss, viel schwierigere Themen –, sondern ihrem Unvermögen, sich unsere Beziehung als eine von gleich zu gleich vorzustellen. Nach wie vor bin ich zwar nicht mehr mevrouw M., sondern benutzt sie auch bei sich zuhause meinen Vornamen (wie ich aus Gesprächen mit ihren Kindern oder ihrem Mann weiß) und redet sie mich, wie ich sie, mit Vornamen an, aber Freundschaft würde ich es nicht nennen. In einer Freundschaft wissen die Freunde etwa gleich viel voneinander, und ich weiß von Sabah mehr, wesentlich mehr, als sie von mir. Ich bin für sie außerhalb meiner Rolle einer vertrauten Sprachvermittlerin und ja, auch guten Nachbarin, eine völlig Unbekannte.
Mir gefällt das nicht, ich will dieses Ungleichgewicht ausgleichen, weil es eben doch eine Mauer ist, wenn auch eine niedrigere als die meisten zwischen denen da und uns hier.
Ein Experiment: frag mich drei Dinge, die du von mir wissen willst, egal, alles was du willst. Also erstens? Jetzt kann sie reagieren, es ist eine Aufgabe, die ich ihr stelle, das ist sie gewohnt. Ich erwarte eine persönliche Frage, etwa, wie ich nach Holland gekommen bin (denn dass ich aus Deutschland stamme, weiß sie), oder wie alt mein Enkelkind ist (denn dass ich eins habe, sieht sie an seiner Spielecke), oder wie alt ich bin (eine Frage, die uns Lehrkräften in der Klasse gern gestellt wird, wenn sich dazu die Gelegenheit ergibt). Aber all das fragt Sabah nicht, sondern ganz elementar und gegenwartsbezogen, was ich heute Abend koche. Ich antworte, dass heute mein Mann kocht und stelle, gleichsam automatisch, nun wieder die didaktisch Versierte spielend, die Frage, ob ihr Mann auch manchmal kocht, übrigens in der vorurteiltsbereiten Erwartung, dass er das nicht tue; manchmal, antwortet sie lachend und wäre gern bei diesem Thema geblieben, denn Essen und Malzeiten kochen gehören zu ihren Lieblingsthemen.
Ich fordere sie auf, ihre zweite Frage an mich zu stellen. Sie fragt brav, ob ich heute gearbeitet habe, und ihre dritte Frage ist, ob ich heute saubergemacht habe. Meine Gegenfrage führt sie auf ein Gebiet, das sie völlig beherrscht, nämlich dass sie genug Zeit und Energie hat um ihr Haus zu putzen und gut für ihre Familie zu sorgen. Nicht, dass ich das Frage-Antwort-Spiel nicht benutzt hätte, ihr mehr von mir zu erzählen – Uni-Arbeit, Bücher über Schule schreiben, Schulen wie die, die ihre Kinder besuchen, saubermachen (tut bei uns eine Putzfrau, für Sabah ein Unding) etc. Es wurde durchaus ein angeregtes Gespräch (mit den implizierten sprachlichen Vereinfachungen), an dem sie sicher interessiert war, aber ein Gespräch von gleich zu gleich, wie zwischen Freundinnen, wurde es nicht.
Auch als ich ihr einmal ein Fotoalbum aus den ersten Jahren meines Enkels zeigte, fand sie das „leuk“ (schön), aber abgesehen von einer höflichen Bemerkung, mein Enkel sähe mir ähnlich, blieb’s dabei; keine weiteren Fragen über meine Familie. Kein einziger weiterführender Vergleich zwischen ihrer und meiner Situation, den ich hätte ausnutzen können, um über Ähnliches und Unähnliches mit ihr zu sprechen.
Vielleicht sollte ich mir darüber keinen allzu heißen Kopf machen: Sabah geht ohnehin davon aus, dass unsere Leben auf verschiedenen Schienen laufen, das macht doch nichts? Am Ende unserer wöchentlichen Stunden sagt sie: Was? Ist Stunde schon fertig? Und fügt hinzu: wij twee aardige vrouwen (wir zwei gute Frauen)! Kann ich mir mehr wünschen?
Erst viel später, als sich die Kriegslage in Idlib, ihrer Heimat, zu einer immer größeren Katastrophe entwickelt, verändert sich unser Verhältnis. Regelmäßig frage ich sie nun, wie es ihren Anverwandten und Bekannten dort geht. Sie zeigt mir auf ihrem Smartphone ihre Lieblingsschwester, die auch sechs Kinder hat. Die Kleinsten winken mir auf dem Bildschirm zu, es ist sehr unwirklich, aber merkwürdigerweise nicht fremd, eher nah.
Nicht nur durch die Zeitung höre ich nun von Hunger und Kälte. Sabah gesteht mir umstandslos zu, mit Geld etwas zu helfen, wir finden es beide selbstverständlich. In unserer Beziehung wurde sie die Informierende, ich die Lernende.
Neben meiner Arbeit mit Sabah setzte ich meine Tätigkeit als Hilfskraft in den Sprachkursen fort. Denn Unterstützung tut dort Not. Ich nutzte die Stunden, um weitere Beobachtungen über das Fremde und das Andere zu machen – welche verschiedenen Seiten es hat, dieses Fremde, Andere, wo sich ein Fenster öffnet, durch das ich hindurchschauen kann, und was ich dann sehe.
Dies sind meine beiden Haupterkenntnisquellen: Sabah und ihre Familie, und die vielen Bruchstücke aus dem Unterricht, die ich während meiner Arbeit in den Integrationsklassen zusammentrug und notierte. Das Material aus diesen beiden Quellen habe ich in bewährter essayistischer Tradition und mit Montagetechniken verarbeitet und dafür auch Kunstquellen geschaffen, zum Beispiel quasi-fiktive Briefe, die mir erlaubten, die Perspektive zu wechseln, ich die Fremde, die Andere bin, über die gedacht und geschrieben wird. Es entstanden auf diese Weise im Laufe von fünf Jahren hunderte von Detailbeobachtungen und Reflexionen.3
Mein Leitfaden bei der Materialauswahl für dieses Buch ist das Prinzip des Exemplarischen, auch dies eine alt bewährte Darstellungsform neben klassischen wissenschaftlichen oder (auto-) biografischen Monografien und Forschungsberichten. Das Exemplarische legt mir keinen Zwang zu einer chronologischen Darstellung auf, das kommt mir bei der Art meines Materials entgegen, denn es handelt sich oft um lose, winzige Beobachtungen, oder um unverbundene, noch dazu notgedrungen unvollständige Kurzbiografien. Der Faden, der alle diese Teile und Teilchen zusammenhält, ist weit von der offiziellen Flüchtlings- und Integrationspolitik entfernt, ihr gilt mein Interesse hier nur am Rande, allerdings ist es ein breiter Rand. Eine europäische Flüchtlingspolitik gibt es noch nicht. Dafür gibt es viele Gründe, es wird darüber auch viel geschrieben – aber es sind andere Bücher als meines.
2 Vgl. Tannous/Hachmöller (2020), es ist ein interkontinentaler, interkultureller und zwischenmenschlicher Dialog eines Syrers und eines Deutschen über Integration.
3 Alle Personen spreche ich mit ihren Vornamen, aber nie mit Nachnamen an.
Es ist der 23. September 2015, als ich die steile Wendeltreppe des ehemaligen Großbäckereibetriebs hochsteige, ein altes Gebäude an einer der schönen Leidener Grachten. Dort ist auch das Büro des Vereins Vluchtelingenwerk Nederland (VWN). Ich werde von einem freundlichen jungen Mann empfangen, der mir gern meine Fragen beantwortet.
Der Verein VWL arbeitet überwiegend mit Ehrenamtlichen, sie unterstützen die Dozenten in den Integrationskursen oder betreuen Flüchtlinge mit Aufenthaltsrecht individuell. Ich möchte einmal die Woche in einem Sprachkurs assistieren und gebe Mario einen kurzen Abriss meines beruflichen Hintergrundes. Nach diesem Einführungsgespräch unterschreibe ich einen Vertrag, der den Datenschutz der Beteiligten regelt, und muss eine Unbedenklichkeitserklärung des Justizministeriums beibringen.
Die Haupt-Fluchtländer: Syrien, Eritrea, Iran, Irak, Sudan, Afghanistan. Wie in anderen europäischen Ländern werden die Asylsuchenden in Asylzentren untergebracht und warten dort auf den Bescheid, ob ihrer Anfrage stattgegeben wird. Bei dieser für sie lebensentscheidenden Prozedur werden sie von Juristen und Dolmetschern des Vereins VWN unterstützt, es ist eine seiner wichtigsten Aufgaben. Ist der Anfrage stattgegeben, werden die Geflüchteten einer Gemeinde zugewiesen, die ihnen eine ihrem bürgerlichen Stand zukommende Wohnung verschafft, sowie Krankenversicherung und Sozialkosten bezahlt. Hinzu kommt ein Regierungsdarlehn für den Besuch einer Sprachschule. Seit ich meine ehrenamtliche Arbeit vor sechs Jahren begann, haben sich die Einbürgerungsbestimmungen mehrfach verändert und verschärft, der bürokratische Aufwand wuchs; ich beschreibe den letzten Stand später ausführlich (Kap. 9).
Formalisiert hat sich in den letzten Jahren auch die Bewerbung und Annahme von Ehrenamtlichen. War dies in meinem Fall noch recht informell, wurde ich danach meinem Schicksal überlassen, mich mit der Dozentin zu verständigen, ohne weitere Vorbereitung auf die Arbeit in der Klasse, so hat der Verein VWN inzwischen seine Organisationsstruktur professionalisiert, die Ehrenamtlichen absolvieren nun obligatorische Einführungsseminare und weiterbildende Veranstaltungen.
Für mich aber war die erste Stunde in dem mir zugewiesenen Integrationskurs noch ein Sprung ins kalte Wasser. Nach einem kurzen Bekanntmachungsgespräch folge ich meiner Dozentin J. in den Klassenraum, der vom Verein in einem Nachbarschaftsheim angemietet ist. Sie unterrichtet einen Anfängerkurs, unter den Teilnehmern sind Analphabeten, die auch in ihrem Heimatland nie eine Schule besucht haben. Fünf Teilnehmer (m/w) kommen aus Eritrea, vier aus Syrien, zwei aus Irak, jeweils einer aus dem Sudan und Somalia, eine aus Nepal und ein letzter aus Äthiopien. Nicht alle wohnen in Leiden, sondern kommen mit Rad oder Bus aus umliegenden Dörfern und Gemeinden, wo sie wohnen und gemeldet sind.
Der Klassenraum enthält nur die nötigsten Hilfsmittel, er ist auf dem Stand einer Grundschule aus den 1980er Jahren und früher, nur dass für die Tafel statt Kreide jetzt Filzstifte benutzt werden. Ein langer Tisch mit Stühlen, die Dozentin an der Schmalseite vor der Tafel. Für Kleingruppenarbeit kann der Tisch in Einzeltische auseinandergestellt werden, aber der Unterricht erfolgt frontal oder in Stillarbeit. An den Wänden Abbildungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs: Früchte, Verkehrsmittel, Tiere, Möbel; kein Globus, keinerlei digitale Medien außer PCs mit einem Intranet Programm, worauf die Lehrmittel abgestimmt sind.
Die Atmosphäre im Klassenzimmer ist freundlich, die Dozentin J. redet alle mit Du an und wird ihrerseits von den meisten Kursteilnehmern mit ihrem Vornamen angeredet, das ist in den Niederlanden üblich. Es wird manchen der Lernenden fremd vorkommen, dieses Duzen, so wie es mir fremd vorkommt, Erwachsene aller Altersstufen zwischen Mitte zwanzig und Ende fünfzig als „Schüler“ zu bezeichnen.
Unterrichtet wird an drei Tagen in der Woche, insgesamt 8 Stunden. Meine Rolle und Funktion ist mir zunächst unklar, ich schaue und höre erst einmal zu und verrichte kleine Hilfsdienste wie Kopieren oder Arbeitsbögen verteilen, beginne aber sofort, auf eigene Faust Informationen über die Kursteilnehmer zu sammeln, denn ich habe keinerlei Dokumente über sie zur Vorbereitung erhalten, ich weiß also nichts über ihre Schulbildung, eventuelle europäische Fremdsprachenkenntnisse (Englisch in einigen Fällen), ihre Familiensituation (in den Herkunftsländern zurückgebliebene Familienangehörige; Aussicht auf Familienzusammenführung?), Ankunftsjahr in den Niederlanden, und wie lange der Aufenthalt in den Asylzentren dauerte.
Die Dozentin darf Einsicht in die Dossiers nehmen, aber sie nutzt diese Möglichkeit bewusst nicht, wie sie mir auf meine erstaunte Frage sagt: das alles bedeute Zusatzarbeit und mache ihr das Unterrichten auch nicht einfacher. Sie wird auf Stundenbasis bezahlt, jede Minute außerhalb des reinen Unterrichtens ist unbezahlte Arbeit, nur wenige Lehrkräfte haben eine feste Anstellung. Außerdem, erklärt sie mir, kann es bei der Weitergabe der Dossiers Probleme mit Datenschutzbestimmungen geben. Wenn ich etwas wissen wolle, solle ich die Kursteilnehmer selbst fragen. Das tue ich, wo und wie sich mir eine Gelegenheit bietet, in den kleinen Zeitzwischenräumen im Unterricht, vor Beginn der Stunde, in den Pausen. Über alles, was ich auf diese Weise erfahre, mache ich mir Notizen, auch über den Unterricht selbst. Bald ist es jeder und jede gewöhnt, Kursteilnehmer und Lehrkräfte, dass ich mit einem Notizblock herumlaufe.4
Wann habe ich zum letzten Mal in einer Klasse gearbeitet? Das ist schon annähernd fünfzig Jahre her, im Berlin der 1970er Jahre. Ich war dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Forschungsprojekt beteiligt, in dem ein neues Curriculum für Vorschulkinder entwickelt werden sollte.5 In meinem Berufsleben habe ich viele Schulen und Klassenzimmer besucht, mich mit Fragen der Lehrerausbildung und Schülerbiographien beschäftigt, mit Lern- und Unterrichtsstrategien, nicht nur in Deutschland und den Niederlanden, sondern auch in anderen europäischen Ländern.
Trotz einer unvergleichbaren Situation mit meiner heutigen Arbeit als ehrenamtliche Helferin, gibt es Wiedererkennungserlebnisse. Das typische Verhalten, das an den Rollen von Schülern und Schülerinnen gegenüber ihren Lehrern und Lehrerinnen hängt, charakterisiert das Klassenklima über Landes- und Altersgrenzen und kulturelle Unterschiede hinweg. So fand ich auch hier, im Sprachkurs für Geflüchtete, auf beiden Seiten, Lehrern und Belehrten, Motivierte und eher Gleichgültige, ich fand Leerlauf und Routine, unausrottbare Langeweile und daneben einige wenige Momente einer geglückten Unterrichtsstunde. Das Neue, dem ich nun begegnete, war mir nicht gänzlich neu.
Mein Interesse am Anderen, am Unbekannten, am Weggeschobenen (woher kommt eine, wohin will einer, was hindert sie, ihre Chancen zu nutzen?) ist mein Antrieb. Ich betreibe diese Arbeit nicht nur als eine Ehrenamtliche, die im Unterricht hilft, sondern auch in eigener Sache. Ein Hauch von Undercover spielt dabei mit. Wenn ich nach fünf oder sechs Jahren wiederauftauche, werde ich die Bruchstücke meiner Recherchen vor mir ausbreiten und auf ihren Erkenntniswert befragen
Bereits in meiner ersten Stunde, am 6. Oktober 2015, enthüllen sich mir die Probleme der Sprachkurse, die für die Geflüchteten mit (zeitlich begrenztem) Bleiberecht innerhalb von drei Jahren zur Integration in die ihnen fremde Gesellschaft führen sollen. Trotz Niveau-Einteilung sind die Lernvoraussetzungen der Kursteilnehmer nicht vergleichbar. Ihr unterschiedliches Alter, ihre verschiedenen Herkunftsländer und familiären Situationen – Mütter mit jungen Kindern, alleinstehende Männer, nicht zu reden von ihren Fluchtmotiven, würde einen individuellen Unterricht erfordern – unmöglich unter den herrschenden Umständen. Auch werden aus organisatorisch-finanziellen Gründen Anfängergruppen zusammengefügt, in denen vielleicht Analphabeten oder fast-Analphabeten mit Menschen sitzen, die schon weiter sind. All diese Unterschiede und persönlichen Umstände muss das unterrichtende Personal berücksichtigen. Es wurde mir schnell klar, dass damit alle überfordert sind, und drei Tage in der Woche, drei Stunden am Tag viel zu wenig sind.
Da es sich um eine völlig unbekannte Sprache, oft auch Schrift und Alphabet handelt, ist nicht nur der Erwerb der Schrift wichtig, sondern mindestens so wichtig ist es, die Teilnehmer zum Sprechen zu animieren. Und nicht allein zum Sprechen, sondern, wie ich schon an diesem ersten Tag schmerzlich erfahre, zu einer korrekten Aussprache; ich verstehe viele der gelernten holländischen Wörter aus den mühsam artikulierenden Mündern schlicht nicht. Natürlich ist das auch Übungssache, denn die Lehrer verstehen mehr als ich. Trotzdem bleibt mir diese Erfahrung in allen Jahren meiner Arbeit. Der Unterricht legt auf diesen Aspekt des Sprachlernens nur einen geringen Wert. Ich habe deshalb meine Funktion als Zusatzkraft oft dazu benutzt, in Einzelarbeit die richtige Aussprache des Gelernten zu üben. Dabei kam mir meine eigene Erfahrung als eingewanderte Ausländerin zugute, ich konnte mich in die Situation der Neuankömmlinge hineinversetzen, wenn sie mit bestimmten holländischen Vokalen (ui, oe) und Konsonanten (das gutturale g) Probleme hatten. Daran gemessen, offenbart der Sprachunterricht eine Hauptschwäche: es gibt kaum Zeit, um Sprechen zu üben. Die alte Schultradition, der Lehrer spricht, die Schüler schweigen im Verhältnis 80:20, heute in den meisten normalen Schulen durchbrochen, beherrscht die Ausländerkurse mit zu wenig Lernzeit, zu wenig hierfür qualifizierten Lehrkräften, zu schematischem Lehrmaterial.
Natürlich kann kein Sprachkurs das freie Sprechen in Alltagssituationen mit Einheimischen ersetzen. Es ist nicht nur meine Erfahrung, dass fast niemand der Eingewanderten auch nur annähernd genügende Sprechanlässe außerhalb der Sprachkurse hat. Es ist bedrückend, wie wenige Kontakte mit einheimischen Stadtbewohnern sich ergeben. Im besten Fall bleibt es, außer Arzt- und Besuchen bei offiziellen Stellen, bei oberflächlichen Kontakten mit Nachbarn, die oft nicht nur von den Fremden nicht gesucht werden, sondern umgekehrt auch von den Einheimischen nur in seltenen Fällen. Als Ersatz müssen organisierte Initiativen herhalten, die zu eben diesem Zweck des Kennenlernens und miteinander Sprechens angeboten werden, wie wöchentliche informelle Kaffeekränzchen in den Räumen der Stadtbibliothek, bei denen sich Ausländer mit Ehrenamtlichen treffen, kirchliche oder andere gemeinnützige Vereine, oder Mütter-Kind Treffen. Aus ihnen entwickeln sich im günstigsten Fall Bekanntschaften aus denselben Herkunftsländern, viel seltener mit Einheimischen.
Maximal, stellte ich in meiner ersten Stunde fest, entfallen auf einen Schüler (m/w) in drei Unterrichtsstunden 2 Min. Sprechzeit, und diese nicht an einem Stück, sondern zerteilt in Sekundeneinheiten, wenn auf eine Lehrerfrage mit Ein- oder Zwei-Wörtern in zu leiser und/oder falscher Aussprache geantwortet wird. Eine nicht geringe Anzahl der Teilnehmer schweigt die ganze Zeit.
Die Abschlusstests der Sprachkurse werden zentral über Internet abgenommen. Zwischen 40–60% schaffen es nach einer oder mehreren Wiederholungen, die wenigsten Kursteilnehmer beim ersten Versuch. Sie werden auf diese Prüfungen vorbereitet, indem sie entsprechend ihren Fähigkeiten schneller oder langsamer die vorgeschriebenen Lehrmaterialien innerhalb und außerhalb des Unterrichts durcharbeiten. Die Prüfungen bestehen aus fünf Teiltests: Lesen, Schreiben, Hören, Sprechen, Grundkenntnisse über zentrale gesellschaftliche und politische Werte der Niederlande (Gleichberechtigung von Mann und Frau; Demokratie; Anforderungen des Arbeitsmarktes). Die Tests beruhen auf Multiple-Choice-Aufgaben, die eine zentrale Verarbeitung und Bewertung erlauben. Nur der handgeschriebene Schreibtest erfordert eine individuelle Beurteilung. Diese Art der Leistungsbeurteilung und die begrenzte Lernzeit lädt nicht zu didaktischen Experimenten ein, die Lehrkräfte sind froh, wenn es ihnen gelingt, die Basiskenntnisse in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit zu vermitteln.
Die Lehrbücher sind an praktischen Alltagsthemen orientiert: ein Arzt- oder Zahnarztbesuch, ein Telefonat mit der Lehrerin der Schulkinder, die Benutzung von Verkehrsmitteln, der Umgang mit öffentlichen Instanzen, Besuch auf dem Wochenmarkt, etc. Außer hin und wieder einem arabischen Namen eines Kindes, das zusammen mit holländischen Gleichaltrigen Fußball spielt, gehen die Lehrbücher nicht auf die Herkunftsländer und Kulturen der Flüchtlinge ein. Ich habe oft festgestellt, dass viele (nicht selten die meisten) Kursteilnehmer die Texte lesen, ohne den Inhalt zu verstehen. Wenn ich nach der Bedeutung eines Wortes fragte, sahen die Kolleginnen das nicht gern und erklärten mir, es sei zunächst wichtig, dass gelesen werde, Bedeutung komme später. Anfangs empörten mich solche Antworten, nach einer Weile begriff ich, dass sie mit ihrer Zurückhaltung recht haben: es kostet Zeit, die Bedeutung eines Wortes zu erklären, es in variierende Kontexte zu setzen und dabei das Risiko einzugehen, dass die Erklärung selbst wieder nicht von allen verstanden wird; kostbare Zeit, so das Argument, die nutzbringender im Hinblick auf die Prüfungen angewendet werden sollte, und für weitere Erklärungen seien ja auch wir, die Hilfslehrkräfte da.
Selten werden im Sprachunterricht die Potenzen von Musik und Rhythmik, von Rollenspiel, Wettkampf mit Wortspielen, gemeinsames Nachsprechen von Sätzen etc. ausgenutzt. Ein Lied gemeinsam singen, Wörter rhythmisch zergliedern, in die Hände klatschen, eine Szene aus dem täglichen Leben aufführen – all diese aus der Kindergarten- und der Grundschulpädagogik bekannten und erprobten Techniken kommen nicht zum Einsatz, obgleich sie gerade hier die Sprachkompetenz von Menschen fördern würden, die zwar keine Kinder mehr sind, aber wie diese die Handhabung von Sprache lernen müssen. Die wenigen Momente, die ich bei Dozenten erlebte, die diese Techniken hin und wieder einsetzten, überzeugten mich umso mehr: die Gruppe lebte auf, lachte und agierte mit dem Vorführer einer Rolle mit, bewegte schon bei den ersten Tönen eines holländischen oder englischen Songs Hände und Arme, vergaß den trägen Gang durch die Stunde bis zur ersehnten Pause. Derartige Aufgaben, bei denen nicht an das Individuum appelliert wird, sondern an die Gruppe, schätzen die erwachsenen Schüler auch deshalb, weil sie sich dann als Kollektiv mit gemeinsamer Verantwortung für den Lernprozess erleben, nicht als unmündige Kinder.
Übungen für rhythmisches Sprechen und damit Verständnis für ein Wort, statt eines unbegreiflichen Lautbreis, wendete ich fortan gern in Einzelarbeit an, indem ich Wörter in ihre Silben zerlegte und rhythmisch nachsprechen ließ. Ein Dozent aus einem späteren Kurs, dem ich als Klassenhilfe zur Seite stand, setzte den Anruf einer Mutter, sie könne heute nicht zum Unterricht kommen, auf seinem Smartphone in rhythmische Sprache mit unterstützendem Händeklatschen um und ließ die Kursteilnehmer mehrere Male hintereinander mitsprechen und mitklatschen: sor-ry - ik kan niet ko-men - ik ben ziek - ik heb een afspraak - met de huisarts (sorry ich kann nicht kommen ich bin krank, ich hab einen Termin beim Hausarzt). Hätten er und seine Kolleginnen das nur öfter getan!
Die Macht und Ohnmacht von Sprache: Überall werden in europäischen Aufnahmeländern zehntausende Geflüchtete von Lehrern und Lehrerinnen und von Ehrenamtlichen mit den unbekannten neuen Sprachen bekannt gemacht – und immer noch gibt es keine verbindliche Sprachmethode und Didaktik, die auf diese Menschen zugeschnitten ist. Die gängigen bilingualen Zusatzausbildungen für Lehrer und Quereinsteiger werden den Anforderungen an die Sprachkurse nicht gerecht.
Aber zurück zu meinen ersten Erfahrungen und Beobachtungen: Dass die Beziehungen zwischen den Sprachdozenten und ihrer Klientel in aller Regel freundlich und informell sind, will nicht sagen, dass nicht auch in diesen Klassenzimmern Machtverhältnisse herrschen. Die Dozenten befinden sich dabei im Vergleich mit ihren Kollegen in Normalschulen in der bequemen Position, dass sie nicht um die Aufmerksamkeit ihrer Schüler kämpfen müssen: die Teilnehmer sind aus eigenem Willen im Unterricht, es ist ihr Geld (ein einmaliges Regierungsdarlehen), das sie für ihren Lernprozess anwenden, und es ist ihnen klar, dass die zugebilligte Lernzeit von drei Jahren knapp ist, sie notfalls das Darlehn zurückzahlen müssen und ihr Aufenthaltsrecht aufs Spiel setzen. Die Sanktionsgewalt liegt daher nicht bei der Lehrperson, sondern in den Regeln, die für eine Einbürgerung gelten. Die Notengebung als Herzstück von Lehrermacht fällt zwar nicht völlig weg, wird aber in den Integrationskursen flexibel angewendet. In meiner Organisation findet eine monatliche Evaluation des erreichten Leistungsniveaus jedes Kursteilnehmers zwischen Lehrkraft und Vertretern des Auftragsinstituts statt, das die Kurse anbietet. Es muss sich rechnen, zu viele Versager schaden dem Marktimage des Auftragsinstituts, zu langsame Fortschritte verlangsamen entsprechend die Aufnahme neuer Lernberechtigter.
Zwar haben die Teilnehmer formal das Recht, sich bei der Institutsvertretung über eine Lehrkraft zu beschweren, falls sie sich ungerecht beurteilt oder behandelt fühlen. (Ich habe das bis auf eine Ausnahme nie erlebt, dabei ging es um eine Dozentin, die nicht nur bei den Teilnehmern aneckte, sondern auch bei der Leitung; sie wurde entlassen.) Die Beurteilung – von ihr hängt der Übergang in das nächst höhere Niveau bzw. die Empfehlung für die Abschlusstests ab – geschieht nach meinen Beobachtungen konfliktfrei und nach einem festgelegten Schema: Die Kursteilnehmer zeichnen ein Formular gegen, auf dem ihr Leistungsniveau verzeichnet ist; zumeist tun sie das automatisch, viele ohne das Formular genauer durchzulesen (oder seinen Sinn zu verstehen). Es finden in der Regel keine Unterrichtsbesuche, schon gar gemeinsame Konferenzen aller am Unterricht Beteiligten, also auch der Ehrenamtlichen, statt.
Soviel zur Sanktionsmacht der Lehrpersonen. Diese ist, wie zu ersehen, aufgrund der Selbstverantwortung der Teilnehmer gering, und das wird von den Dozenten als angenehm erfahren; ein Großteil des üblichen Schulstresses entfällt, für manche ein Grund, lieber hier als in der Regelschule zu unterrichten, trotz schlechterer finanzieller und rechtlicher Position.
Nun zur „Schülerrolle“ in den Machtbeziehungen. Die Erwachsenen haben, abgesehen von ihrem formalen Recht in der Evaluation, kaum Möglichkeiten, den Unterricht zu beeinflussen, etwa ihre Dozenten zu einem anderen Unterrichsstil aufzufordern oder die Lehrmittel zu kritisieren; das verbietet sich nicht nur aus sprachlich begrenztem Vermögen, sondern ganz allgemein aufgrund ihres Flüchtlingsstatus. Sie müssen dankbar sein – und sind es. Sie sind dankbar, die Flucht geschafft zu haben und in diesem Land angekommen und aufgenommen worden zu sein. Sie sind dankbar, eine angemessene Wohnung erhalten zu haben und genug Geld zum Leben. Sie sind dankbar für die Freundlichkeit ihrer Dozenten, die sie jeden Tag mit einem munteren Wort begrüßen (Standardfrage: Hoe gaat het? – wie geht es? Standardantwort: Goed). Sie haben, mit anderen Worten, ihrer eigenen Meinung nach, aber auch der sie betreuenden Professionellen, allen Grund zur Dankbarkeit.
Diese Dankbarkeit äußern sie ihren Dozenten und den ehrenamtlichen Helfern gegenüber oft gern direkt: Nach einer gelungenen Unterrichtsstunde oder einer individuellen Einzelarbeit sagen sie: dank u/je voor de les (ich danke Ihnen/Dir für die Stunde). Mich hat dieser verbale Dank anfangs merkwürdig berührt, ich war dankbar für diese Anerkennung meiner Bemühungen – bis ich mich daran gewöhnt hatte. Aber unter dem Dank liegt auch Frustration: der Unterricht ist streckenweise langweilig, die Zeit geht nicht rum, die wenigen Worte, die man in der neuen Sprache beherrscht, reduzieren das Rede- und Mitteilungsbedürfnis aufs Unerträglichste. Wie gut, dass bald Pause ist und man endlich wieder frei in der eigenen Sprache reden kann! Nur schlimm für die, die keinen Landsmann oder -frau in der eigenen Sprache im Kurs haben! – Schlimm auch, wenn man von der Dozentin wie ein Kind behandelt wird. Even wachten (warte bis ich Zeit für dich habe), in bester Absicht – zumindest in keiner bösen – ausgesprochen, aber ohne Gefühl, wie kindisch es für einen gestandenen Mann oder eine alte Frau klingen muss.
Ich habe einige der mehr oder weniger offenen Widerstandsstrategien der „Schüler“, vor allem in Anfängerkursen, miterlebt, mit denen sie sich gegen Dozenten oder den Unterricht auflehnten, hier eine kleine Typologie:
Der Klassenclown: Er ist männlich und jung, widersetzt sich der Routine, indem er sie mit einem clownesken Akt unterbricht, und sei es nur einer Grimasse mit zum Himmel verdrehten Augen; alle sind für diese kurze Unterbrechung dankbar, sie lachen, nicht selten auch der Dozent.
Die Zuspätkommer (männlich, jung und alt). Mütter (seltener Väter), die zu spät kommen, weil sie ihre Kinder zur Schule bringen müssen, zum Arzt oder zu einer Behörde, zählen hier nicht. Sondern es geht um Leute, die regelmäßig zu spät kommen, vor Unterrichtsbeginn auf der Straße noch schnell eine Zigarette rauchen und auf diese Weise den Unterricht um 5–10 Min. verkürzen. Je nach Temperament, lassen die Dozenten das kommentarlos durchgehen (ist ja ihre eigene Lernzeit, müssen sie selbst wissen), oder sie bitten, vergeblich, um mehr Pünktlichkeit, ohne Strafsanktion.
Die Schweiger (männlich und weiblich, jung und alt): Sie schweigen, um damit zu demonstrieren, dass sie es für ausgeschlossen halten, auch nur mit einem einzigen Wort auf eine Frage antworten zu können, verschanzen sich hinter einer demütigen Haltung: Seht, ich kann’s einfach nicht (eher weiblich). Andere Schweiger (eher männlich) geben ihrem Unmut Ausdruck durch eine abwehrende Miene: keine Lust, ist mir alles zu mühsam. Beide Typen sind für die Unterrichtenden eine pädagogische Herausforderung, die sie aber aus Zeitmangel oder auch Gleichgültigkeit selten annehmen.
Schließlich die Kurs-Verlasser (männlich und weiblich): Sie melden sich bei einem anderen Sprachkurs an, weil sie von einer Freundin oder einem Bekannten gehört haben, dass sie dort mehr Ware für ihr Geld erhalten, zum Beispiel einen eigenen Computer. Oder sie denken, dass sie woanders schneller ans Ziel kommen, zum Beispiel in einem universitären Kurs, wenn sie dafür die Voraussetzungen haben (seltene Fälle).
Wie in den meisten regulären Schulen, halten sich die meisten Lernenden aber im Mittelfeld auf, sie befolgen die Anweisungen der Lehrer, wollen weiterkommen und bemühen sich nach Kräften.
Ich überlasse nun das Unterrichtsgeschehen, wie ich es hier in groben Zügen skizziert habe, sich selbst und kehre zu meiner Hauptperson, Sabah und ihrer Familie, zurück.
Sabah, wie lange ist es her, seit ich mir die ersten Informationen über Dich verschaffte, seit ich im zweiten Jahr meiner Tätigkeit eine Pause im Unterricht benutzte, um Dich nach Deinen Lebensumständen zu fragen. Du warst mir aufgefallen, wie Du aufmerksam dem Unterricht folgtest – und wie gern Du lachtest. Du warst damals gerade ein Jahr hier. Ich fragte Dich nach Deinem Wohnort in Syrien. Ich verstand nicht gleich: kamst Du aus der Millionenstadt Idlib oder aus einem Dorf in der Umgebung? Lag mein Unbegriff an meinen schlechten Ohren oder an der Aussprache, mit der Du die wenigen holländischen Worte sagtest, die Du erst kanntest? Oder kam die Verwirrung zustande, weil mir nicht klar war, dass Du mit Deiner Familie vor Eurer Ankunft in den Niederlanden mehrere Jahre im Libanon gelebt hast? Ich weiß es nicht mehr.
Sie kommt mir weit weg vor, unsere erste private Begegnung. Die fing an, als ich Dich fragte, warum Du nicht bei mir vorbeigekommen warst, wie wir verabredet hatten als wir feststellten, dass unsere Häuser kaum 200 m entfernt voneinander liegen. Du zeigtest mir daraufhin wortreich (auf arabisch) Dein Smartphone mit einem Foto meiner Haustür, Nr. 40. Da hattest Du mir den ersten Hinweis auf Deinen Einfallsreichtum gegeben, um Sprachgrenzen zu überwinden und mir verständlich zu machen, dass Du unsere Verabredung keineswegs vergessen, ich offenbar die Klingel im Garten nicht gehört hatte.
Du hast mein Angebot, einander über den Sprachkurs hinaus näher zu kommen, sehr schnell als das begriffen, was es war: eine Chance, in diesem neuen Land eine Einheimische kennenzulernen. Du freutest Dich und ich nehme an, Du hast zuhause Deinem Mann und Deinen Kindern erzählt, dass da eine mevrouw im Unterricht mithilft, die nett ist. Stellt euch vor, sagtest Du, auf einer der vier dunkelbraunen massiven Couchelemente sitzend, Klein-Sara auf dem Schoß, Shaimaa dicht an Dich gedrückt, die älteren Kinder und Dein Mann verteilt im Wohnzimmer, sie ist richtig interessiert an uns, wie viele wir sind, alle eure Namen wollte sie wissen, wie alt ihr seid und woher wir kommen. Ich hab ihr das mit Idlib und Libanon zu erklären versucht, aber ich glaube, das hat sie nicht so ganz verstanden, ist auch nicht so wichtig. Und als sie dann noch sagte, ich solle doch mal vorbeikommen und mir ihre Adresse gab, hab ich das natürlich gemacht, wisst ihr ja, ist ja um Ecke. Ich war erst enttäuscht, dass sie nicht da war. Ich hab ein Foto von ihrer Haustür gemacht, als Beweis, das hab ich ihr das nächste Mal in der Klasse gezeigt. Sie war überrascht. Warum? Ich hab mein Telefon doch immer dabei!
So, oder so ähnlich, stelle ich mir vor, war mein Eintritt in Sabahs Familie. Dass sie das Foto gemacht hat und sich darüber amüsierte, wie erstaunt ich war, erzählt sie auch in der Klasse, auf arabisch. Alle lachen, in allen Sprachen.
Wir haben die Verabredung nachgeholt, ich lud Dich auf den kommenden Samstag um 11.00 Uhr ein und erwartete Dich mit einiger Spannung. Es klingelt auf den Punkt genau. Aber vor der Tür stehst nicht Du, sondern einer Deiner drei Söhne, denn Du hast außer drei Töchtern noch drei Söhne. Jetzt steht Houssein mit seinem Fahrrad vor der Tür, einer der zwei mittleren Jungen, Klein-Sara auf dem Rücksitz. Er schaut mich mit denselben dunklen Augen an wie ich sie gleich bei Shaimaa, seiner jüngeren Schwester sehen werde. Ich spürte Deinen Stolz auf Deine Kinder, wie er aus diesem Jungen mit dem mir fremden Vornamen strahlte.