Ein Jürgen Moltmann-Brevier
Ausgewählt von Reiner Strunk
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © fcscafeine – iStockphoto.com
ISBN 978-3-641-27341-5
V001
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Vorwort
Ein Brevier lädt ein zur Besinnung. Man liest es nicht wie ein gelehrtes oder unterhaltsames Buch, um die Entfaltung eines Themas oder die Entwicklung einer Geschichte zu verfolgen. Das Brevier ist in Abschnitte unterteilt und will in kleinen Einheiten beachtet sein: von Woche zu Woche, von Tag zu Tag. Sein Tempo setzt auf Verlangsamung, sein Rhythmus auf Zäsuren im Zeitablauf. Breviere dienen der Meditation. Wer nach ihnen greift, sucht nach einer Gelegenheit, zur Besinnung zu kommen.
Das Projekt eines Moltmann-Breviers hat einen äußeren und einen inneren Grund. Der äußere Grund ist das Datum seines 95. Geburtstages im April 2021: Der Lehrer der Hoffnung soll geehrt und mit Dankbarkeit gefeiert werden. Der innere Grund ist der Gesamtcharakter seines theologisch-literarischen Lebenswerks: Geiko Müller-Fahrenholz hat es treffend als eine explicatio orationis, eine »Entfaltung des Gebetes«, bezeichnet. Jürgen Moltmann war und ist systematischer Theologe. Doch in seiner Art zu denken und zu schreiben, pflegt er nicht nur den akademischen Diskurs, sondern auch das Spiel der Phantasie, das sich in meditativen und poetischen Sprachmustern niederschlägt. Nicht zufällig beginnt das Buch, das ihn weit über die deutschen Grenzen bekannt machte – die ›Theologie der Hoffnung‹ –, mit einer »Meditation über die Hoffnung«. Dabei war seine Absicht nie, durch Meditation zu einem Leben in frommer Innerlichkeit anzuleiten, vielmehr Beiträge zu liefern, um vitale und spirituelle Kräfte des Lebens zu entdecken und dadurch personale, soziale und politische Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
Natürlich gewährt die vorliegende Sammlung auch einen Eindruck von Moltmanns Theologie über den langen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert hin. Darin zeigt sich ein hohes Maß an Kontinuität im Ganzen, aber auch an Nuancen im Detail und vor allem ein ständiger Zuwachs an Fragestellungen und Themen. Entscheidend ist aber, was man die vorherrschende ›Bodenhaftung‹ seiner Theologie nennen könnte. Sie kommt aus Erfahrung und zielt auf Erfahrung. Sie erzählt und deutet menschliches Leben in der Fülle seiner Gestalten, in den Abgründen erlittener Not und in den Aufschwüngen eines belebenden Geistes.
Die in diesem Brevier zusammengestellten Textstücke sind natürlich Fragmente, aber auch Konzentrate. Sie eignen sich dazu, in der Betriebsamkeit des Alltags zeitweise die befreiende Ruhe des Nachdenkens zu finden; eine Ruhe, in der sich die Kräfte versammeln und entwickeln können, die es möglich machen, mit neuer Energie in den Lebenshorizont der Hoffnung einzutreten.
Reiner Strunk
1. Woche
Sonntag
Weiter Raum
Wenn das Herz weit wird und die Glieder sich strecken und wir die neue Lebendigkeit überall spüren, dann entfaltet sich das Leben in uns. Es braucht für seine Entfaltung aber einen Lebensraum, in dem es sich entfalten kann. Das ›Leben im Geist‹ ist ein Leben in jenem ›weiten Raum, da keine Bedrängnis mehr ist‹ (Ijob 36,16). Darum erfahren wir im neuen Leben den Geist als ›weiten Raum‹, als Freistatt für unsere Freiheit, als Lebensraum für unser Leben, als den einladenden Horizont für die Entdeckungen des Lebens. ›Der weite Raum‹ ist die verborgenste und verschwiegenste Gegenwart des Geistes Gottes bei uns und um uns herum. Aber wie anders könnte das ›Leben im Geist‹ verstanden werden, wenn der Geist nicht jener Raum wäre, ›in‹ dem sich dieses Leben entfalten kann? Wir ermessen die Tiefe dieses Raumes durch das Vertrauen des Herzens. Wir erkunden die Länge dieses Raumes durch die ausschweifende Hoffnung. Wir ermessen die Breite dieses Raumes durch die Ströme der Liebe, die wir empfangen und die wir geben. Der Geist Gottes umgibt uns von allen Seiten und wo immer wir sind (Ps 139).
(GL 193)
Montag
Atmen der Seele
Beten ist nichts absonderlich Religiöses, sondern etwas zutiefst Menschliches. Beten ist das Atmen der Seele, hat man gesagt. Beten ist nicht einmal nur etwas Menschliches: Die ganze Schöpfung betet im Atem des göttlichen Geistes ohne Unterlass.
(GFL 200)
Dienstag
Gemeinschaftswissen
Wir wollen nicht erkennen, um zu beherrschen; wir wollen erkennen, um teilzunehmen. Solches Erkennen stiftet Gemeinschaft und kann gegenüber dem Herrschaftswissen als Gemeinschaftswissen bezeichnet werden. Es lässt Leben sein und fördert seine Lebendigkeit.
(Sch 47)
Mittwoch
Hoffnung für die Welt
Auferstehung ist kein vertröstendes ›Opium des Jenseits‹, sondern die Kraft zur Wiedergeburt dieses Lebens. Die Hoffnung richtet sich nicht auf eine andere Welt, sondern auf die Erlösung dieser Welt.
(WJC 264)
Donnerstag
Erwartet, nicht geduldet
Umgibt Gott uns mit der Geduld der Hoffnung, dann gewinnen wir den Eindruck, dass er uns erwartet. Wir sind bei Gott nicht ›Geduldete‹, sondern Erwartete. Gott wartet nicht nur in seiner Hoffnung auf uns, sondern erwartet uns mit Freuden wie der Vater seinen verlorenen Sohn: wir sind zum göttlichen Gastmahl erwartet.
(GBS 42)
Freitag
Phantasie für das Reich Gottes
Theologie ist für mich keine kirchliche Dogmatik und keine Glaubenslehre, sondern Phantasie für das Reich Gottes in der Welt und für die Welt in Gottes Reich und darum immer und überall öffentliche Theologie, aber niemals und nirgendwo religiöse Ideologie der bürgerlichen und politischen Gesellschaft, auch nicht der sog. ›christlichen‹.
(KG 15)
Samstag
Lachen
Jeder Mensch hungert nach Glück und Freude. Aber es gibt in unserer Welt nicht viel zu lachen. Lachen kann man nur in Freiheit. Aber diese Freiheit ist selten geworden. Man lacht, wo man dem entrinnt, was einen bedrückt. Man lacht, wo die Schwere von einem genommen wird, wo die Fesseln fallen, wo der Widerstand nachlässt und die Schranken weichen. Dann hüpft das Herz im Leibe, und man bekommt eine leichte Hand im Umgang mit Menschen und Verhältnissen. Man gewinnt Abstand zu sich selbst, und was man vorhat, gelingt ohne Krampf. Natürlich kann man auch verzweifelt in Gelächter ausbrechen, andere höhnisch auslachen, überheblich lächeln oder zynisch grinsen. Aber das jubelnde Lachen der Freiheit ist stets unbeschwert und schwerelos, unbekümmert und beschwingt.
(FSch 9)
2. Woche
Sonntag
Schön
Das Geliebte ist immer das Schöne und Anziehende, nicht schon das Gute an sich, sondern das Gute, das sich als schön erweist, und das Schöne, das sich als gut erweist, ist es, wie Platon schon wusste. Selbst die göttliche Gnade zeigt sich in der Grazie einer Gestalt und im unbewussten Liebreiz eines Wesens. Es war kein guter Gedanke, das moralisch Gute und das ästhetisch Schöne auseinanderzunehmen und die Moral über die Ästhetik zu stellen, wie es die theologischen Liebeslehren des Mittelalters taten. Die Ausstrahlungen des göttlichen Geistes aus den Geschöpfen erwecken den Eros und der Eros heiligt das geschaffene Leben, indem er es liebt und bejaht.
(GL 274)
Montag
Messiashoffnung
Die Messiashoffnung war nie die Hoffnung der Sieger und der Herrschenden, sondern immer die Hoffnung der Besiegten und der Unterworfenen.
(WJC 29)
Dienstag
Der Schrei
Wer von der Freiheit reden will, der muss bei der Befreiung anfangen. Wer aber Befreiung will, der muss zuerst auf den Schrei aus der Tiefe hören. Aus dem Mund der Hungernden, der Gefangenen, der Zerstörten und Behinderten kommt der Schrei aus der Tiefe an unser Ohr und in unser Herz. Bei ihnen liegt auch der Schlüssel für unsere Freiheit. Solange sie nicht frei werden, sind auch wir nicht wirklich frei.
(MRF 95)
Mittwoch
Gott ist schön
Die Herren umgeben sich mit dem Glanz des Reichtums, die Könige mit der Ehre ihrer Autorität, und auch Nationen suchen ihre ›gloire‹. Gott aber zeigt seine Kraft in den Schwachen, seine Ehre in der Niedrigkeit und seine Pracht im Kreuz Christi. Seine Herrlichkeit ist nicht die Pracht überirdischer Übermacht, sondern die Schönheit der Liebe, die sich selbst entäußern kann, ohne sich zu verlieren, und die vergeben kann, ohne sich etwas zu vergeben.
(FSch 47)
Donnerstag
Originale
Gott schafft Originale, keine Replika. Gott schafft einmalig und wiederholt sich nicht. Daraus folgt das Verständnis der Individualität jeder menschlichen Person, der Originalität jeder Lebensgestalt und die Einmaligkeit jedes gelebten Augenblicks.
(KG 133)
Freitag
Sinn des Lebens
Der Sinn des Lebens gibt dem Menschen einen festen, inneren Halt, und dieser prägt dann auch die äußere Haltung. Leben, das bewusst erlebt wird, gestaltet sich und bekommt Format. Der Mensch verarbeitet seine Erfahrungen und entwirft sich auf seine Zukunft. Im Wechselspiel zwischen Person und Geschichte, im Leiden und Handeln entsteht die Persönlichkeit.
(KKG 302)
Samstag
Wohn-Raum
Der Mensch kann im grenzenlosen Raum nicht wohnen. Zwar besitzt er keine feste, artspezifische Umwelt wie die Tiere. Doch kann er auch nicht in reiner Weltoffenheit existieren. Immer und überall schafft er sich seine eigene Umwelt. Erst in ihr findet er Frieden und fühlt sich ›zu Hause‹. Alle menschlichen Kulturen sind in dieser Hinsicht Wohnungen des Menschen. Das menschliche Subjekt bestimmt seinen Raum durch jene Umgrenzung, die in unserer Sprache auch ›Umfriedung‹, ›Einfriedung‹ oder ›Einhegung‹ heißt. Innerhalb dieser Umfriedung ist die Heimat, außerhalb die Fremde. Innerhalb der Grenze herrscht der Hausfriede, außerhalb kann das Leben feindlich sein. Drinnen ist es heim-lich, draußen un-heim-lich. Im Wohnraum ist es behag-lich, draußen un-behag-lich. Diese Worte, die heute nur noch Gemütswerte zum Ausdruck bringen, sind alte Bezeichnungen der Grenze jener Umgebung, innerhalb deren menschliches Leben überhaupt erst möglich wird. Der Raum des Lebendigen ist immer umgrenzter Raum.
(Sch 154)
3. Woche
Sonntag
Osterikone
Die orthodoxe Osterikone zeigt den kollektiven Charakter der Auferstehung Christi gut: Sie beginnt in der Totenwelt. Der Auferstandene zieht mit der rechten Hand Adam und mit der linken Eva und mit ihnen die ganze Menschheit aus der Welt des Todes in die verklärte Welt des ewigen Lebens. Sein neuer Anfang in seinem Ende ist der Anfang der neuen Welt Gottes im Vergehen dieser Welt. Ob diese Welt zu einem Ende kommt und zu welchem Ende sie immer kommen mag, die christliche Hoffnung sagt: Die Zukunft Gottes hat schon begonnen. Mit der Auferstehung Christi aus der Katastrophe von Golgatha ist der neue Anfang schon gemacht, ein Anfang, der nicht wieder vergeht, weil er aus der Überwindung der Vergänglichkeit hervorgegangen ist.
(EA 60)
Montag
Menschenwürde
Man darf die Gottesebenbildlichkeit nicht auf die Seele oder das Herz des Menschen beschränken. Soll er ganz und überall zu seiner Wahrheit kommen, dann muss er auch ganz und überall Gott entsprechen können. Das aber heißt, der Mensch ist ganz und gar und überall Person. Ist der Mensch Person für Gott, dann ist er mehr als ein Produkt seiner sozialen Verhältnisse. Er ist auch etwas anderes als ein gedachtes oder eingebildetes Subjekt.
(MRF 20)
Dienstag
Letztes Wort
Das Urteil Gottes im Jüngsten Gericht ist nicht Gottes letztes Wort. Sein letztes Wort heißt: ›Siehe, ich mache alles neu.‹ Das Jüngste Gericht ist vorläufig. Endgültig ist die Neuschöpfung. Darum ist es nicht zu fürchten, sondern zu erhoffen.
(OS 135)
Mittwoch
Leiblichkeit
Wirkliches Leben ist die Leiblichkeit, die ich bin: ungelebtes Leben ist die entfremdete Leiblichkeit, die ich habe. Wie wäre es, wenn wir im Glaubensbekenntnis von der Auferstehung des gelebten Lebens sprechen würden? Wir würden dann auch das Sterben als Teil des Lebens akzeptieren und an den Sieg des Lebens über den Tod glauben.
(NG 63)
Donnerstag
Theologie
Theologie ist wie ein Flußsystem wechselseitiger Beeinflussungen und gegenseitiger Herausforderungen und keineswegs eine Wüste, in der jeder Einzelne mit sich und seinem Gott allein ist. Der theologische Zugang zur Wahrheit des dreieinigen Gottes ist für mich dialogisch, kommunitär und genossenschaftlich. Theologia viatorum ist ein anhaltendes kritisches Gespräch mit den Generationen vor uns und den Zeitgenossen neben uns in der Erwartung derer, die nach uns kommen.
(ED 13)
Freitag
Antijudaismus
Nicht jeder, der Jesu Eigenart erkennt und anerkennt, ist ein ›Antijudaist‹, sondern nur derjenige, der Jesu Eigenart durch Herabsetzung des Judentums und auf seine Kosten so hervorhebt, dass mit der Einzigartigkeit Jesu die Existenzberechtigung der ›ungläubigen Juden‹ bestritten wird.
(WJC 14)
Samstag
Arbeitsfrei
Wenn immer mehr Menschen immer kürzere Zeiten arbeiten müssen, dann wird es zum Problem, wer noch arbeiten darf. Dann lässt sich die Grundthese, auf die das Menschenbild, die Erziehungs- und Moralsysteme bisher aufgebaut sind, dass nämlich der Mensch durch Arbeit gerecht und respektabel werde, nicht mehr aufrechterhalten. Der Mensch wird vom Arbeiten freier als in früheren Zeiten. Wozu wird er dann aber frei, und wie wird er seine Freiheit erfahren? Wird er seine Freiheit als Angst vor seiner eigenen Überflüssigkeit erfahren? Wird seine Arbeit dann ganz spurlos vorübergehen, ohne einen persönlichen Abdruck im Leben zu hinterlassen? Geht das Leben, in dem die Arbeit bedeutungsloser wird, dann leer aus? Wird der Mensch die Tatsache, dass er nicht mehr so gebraucht wird wie früher, als seine eigene Belanglosigkeit verstehen? Wird ihn die äußere Zwecklosigkeit seines Lebens als innere Sinnlosigkeit seines Lebens anfechten? Oder wird er seine automatisierte Arbeitswelt dann endlich gebrauchen, um sich an der Schönheit Gottes und dem Wert seines eigenen Daseins zu erfreuen?
(FSch 69f.)
4. Woche
Sonntag
Vitalität
In der Erfahrung des Geistes beginnt die Quelle des Lebens in uns wieder zu fließen. Wir beginnen zu blühen und werden fruchtbar. Eine ungeahnte Liebe zum Leben erwacht in uns und vertreibt die Keime der Resignation und heilt die schmerzlichen Erinnerungen. Wir begegnen dem Leben mit der Erwartung der Wiedergeburt alles Lebendigen und machen mit dieser Erwartung die Erfahrung der eigenen und der gemeinsamen Wiedergeburt.
Diese Liebe zum Leben verbindet die Menschen mit allen anderen Lebewesen, die nicht nur leben, sondern auch leben wollen, und spricht Menschen doch auf ihre eigenartige Freiheit dem Leben gegenüber an, denn Leben, das bewusst verneint werden kann, muss bejaht werden, damit es gelebt wird. Die Liebe zum Leben bejaht das Leben, seinen Krankheiten, Behinderungen und Schwächen zum Trotz und führt zu einem ›Leben gegen den Tod‹. Aus Liebe zum Leben geboren ist diese Vitalität nichts anderes als wahre Humanität und hat darum nichts mit den Gesundheitsidolen der spätbürgerlichen Gesellschaft zu tun, die Vitalkraft als ›Leistungsfähigkeit‹ anbetet. Es ist die Angst um das Schwinden der Sinne für das wirkliche Leben, die moderne Menschen nach vitalitätssteigernden Mitteln greifen lässt. Die Lebendigkeit, die aus der Liebe zum Leben entsteht, muss heute nicht nur gegen die Erstarrungen des Lebens in den Routinen der technologischen Gesellschaft, sondern auch gegen den krankmachenden Gesundheitskult der modernen Leistungsgesellschaft verteidigt werden.
(GL 107, 98)
Montag
Spielend befreit
Man befreit sich im Spiel und wohl immer zuerst spielend vom Zwang des gegenwärtigen Lebenssystems und erkennt lachend, dass es gar nicht so sein muss, wie es ist und sein zu müssen behauptet wird. Man probiert den aufrechten Gang, wenn einem plötzlich die Fesseln abgenommen sind. So kann man auch in den Spielen produktiver Phantasie Probierhaltungen für Freiheit im Ausdruck und für einen anderen Umgang mit Menschen entfalten.
(FSch 20)
Dienstag
Experiment Hoffnung
Das Experiment Hoffnung ist weder ein sicherer noch ein leichter Weg, aber es ist der Weg des Lebens mitten im Tode. Es nicht einzugehen, wäre wie nicht leben wollen, um mit dem Schmerz der Enttäuschung auch das Glück der Liebe zu vermeiden. Es wäre, wie nicht handeln wollen, um mit dem Schuldigwerden auch die Vergebung der Schuld zu vermeiden.
(ExH 10f.)
Mittwoch
Evolution
Es gibt eine Schöpfung der Evolution, weil Evolution nicht aus sich erklärbar ist. Es gibt eine Evolution der Schöpfung, weil die Schöpfung der Welt auf das Reich der Herrlichkeit hin entworfen worden ist und deshalb sich selbst zeitlich transzendiert. Der Begriff der Evolution ist als ein Grundbegriff der Selbstbewegung des göttlichen Geistes der Schöpfung zu verstehen.
(Sch 32)
Donnerstag
Phantasie Gottes
Das Fest der ewigen Freude wird von der Fülle Gottes und dem Jubel aller Geschöpfe bereitet. Könnte man nur vom Wesen und vom Willen Gottes sprechen, würde man seiner Fülle nicht gerecht. Bei aller Unangemessenheit der menschlichen Analogie sprechen wir im Blick auf die Fülle Gottes am besten von der unerschöpflich reichen Phantasie Gottes und meinen damit seine schöpferische Einbildungskraft.
(KG 367)
Freitag
Augenblick
Kinder und Jugendliche, Erwachsene und Alte finden den Sinn ihres Lebens in ihrer jeweiligen Gegenwart. Jeder gelebte Augenblick hat Ewigkeitsbedeutung und stellt schon ein erfülltes Leben dar. Denn ›erfülltes Leben‹ bemisst sich nicht nach der Länge der durchlebten oder irgendwie zugebrachten Jahre, sondern nach der Tiefe der Lebenserfahrung.
(EA 19)
Samstag
Sabbat
Ist der Sabbat die jüdische Kathedrale, der jüdische Götterberg? Räume, Bereiche und Bezirke werden nach Macht und Besitz verteilt, die Zeit aber ist für alle gleich, denn die Zeit ist für alle da. Im Tempel berühren sich nach archaischer Auffassung Himmel und Erde. Im Sabbat berühren sich nach jüdischer Auffassung Ewigkeit und Zeit. Wird der Sabbat geheiligt, dann wird eine Zeit geheiligt, die für die ganze Schöpfung da ist. Wird der Sabbat gefeiert, dann wird er für alle Geschöpfe gefeiert. Die primäre Orientierung an der Zeit, die durch die Heiligung des Sabbat begründet wird, wirkt auf Völker, die ihre Kulturen an heiligen Räumen und Götterbezirken ausrichten, atemberaubend.
(Sch 286)