Per Olov Enquist
Das Buch der Gleichnisse
Ein Liebesroman
Aus dem Schwedischen
von Wolfgang Butt
Carl Hanser Verlag
Die schwedische Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel Liknelseboken. En kärleksroman
bei Norstedts in Stockholm.
ISBN 978-3-446-24430-6
© Per Olov Enquist 2013
Schutzumschlag:Peter-Andreas Hassiepen, München,
unter Verwendung eines Gemäldes
von Georges Seurat/Musée d’Orsay © Corbis
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2013
Satz: Greiner & Reichel, Köln
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Inhalt
Kapitel 1
Das Gleichnis vom wiedergefundenen Notizblock
Kapitel 2
Das Gleichnis von der zerknirschten Großkusine
Kapitel 3
Das Gleichnis von der Tante, die es wagte
Kapitel 4
Das Gleichnis von der Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden
Kapitel 5
Das Gleichnis vom innersten Raum
Kapitel 6
Das Gleichnis vom veruntreuten Pfund
Kapitel 7
Das Gleichnis von den fünf Tulpen
Kapitel 8
Das Gleichnis vom Postfräulein
Kapitel 9
Das Gleichnis von Jesu zweiter Wiederkehr
Kapitel 1
Das Gleichnis vom
wiedergefundenen Notizblock
Dem Arbeitsbuch zufolge ist er ihr nur dreimal begegnet.
Das erste Mal an einem Sonntagnachmittag im Juli 1949, da benutzt er die rätselhafte Bezeichnung »die Frau auf dem astfreien Kiefernholzboden«. Das zweite Mal am 22. August 1958, in Södertälje. Das dritte Mal im November 1977.
Er hatte offenbar versprochen, niemals etwas zu erzählen, niemandem.
Aber inzwischen sind ja so viele Jahre vergangen. Da kann es jetzt auch egal sein.
Viele Jahre später bereut er, im Gemeindehaus nach der Beerdigung der Mutter 1992 keine bessere Rede gehalten zu haben.
Sie hätte einfacher sein sollen, nicht so humoristisch. Er war ausgewichen, er hätte direkter reden sollen, nicht drum herum, als er zusammenfassen sollte. Er hatte seitdem, schon nach wenigen Jahren, den Wunsch gehabt, eine revidierte Ausgabe der Rede zu schreiben, sie vielleicht nur in zehn Exemplaren zu drucken, um sie an die Enkelkinder zu verteilen, einen ganz ruhigen Text, ohne biblisches Erschauern.
Es für Kinder zu erzählen oder niederzuschreiben war jedoch nicht leicht. Er fragte sich oft, was eigentlich falsch gelaufen war. Er hatte ja Erfahrung mit dem Schreiben. Hatte es schon als Kind gelernt, dann damit weitergemacht.
Wenn er schrieb, hatte er nie Angst, aber nur dann.
Deshalb mischte er sich zusammen. Es war, als läge der Bücherhaufen vor seinen Füßen, und dann trat er zu, als sei er nicht schuldig! Es war, als teile er sich auf. Ein Teil von ihm war der niedergeschriebene Teil, den er benannte. Ein anderer war der Bruder, der schon als Neugeborenes gestorben war, nach zwei Minuten, gerade dem gierigen Schoß der Mutter entrissen. Der hatte die Lösung. Als man den kleinen, bereits erstarrten Körper fotografierte, hatte dieser jedoch nicht wie ein Fisch an Land das Maul aufgesperrt, sondern ein süßliches Aussehen gehabt. Und dies kann sich übertragen haben! Auf den zwei Jahre später kommenden Bruder! Also ihn selbst! Und sichtbar geworden sein bis weit ins hohe Alter. Das Süßliche steckte an! Und es war dieses Süße, das ihn daran gehindert hatte, einen Liebesroman schreiben zu können.
Man fasst sich an den Kopf!
Es gab gute Gründe dafür, Angst zu haben, wenn man es recht bedachte, das hatten ja viele.
Man konnte bei der Revision der Grabrede auch die schwarzen Löcher aufsuchen. Oder das, was zwischen dem Gesagten lag, vielleicht war noch Zeit. Sich in den Spalt der Geschichte hineindrängen. Als ob das einfacher wäre! Es war ja das Ausgelassene, was am meisten schmerzte. Die Löcher und die Spalte waren nicht selbstverständlich, sie waren hauptsächlich wie Mitteilungen, deren Zeilen sich überlagerten, so dass die ursprünglichen Wörter, wieder aufgesucht, langsam überdeckt und grau und dann schwarz und am Ende ganz unbegreiflich wurden. Sie überdeckten sich selbst.
So war es mit dem Einfachen. Es war wie Selbsterlösung.
*
Im September fuhr er hinauf ins Dorf.
Er wollte, der Sicherheit halber, Granholmen besuchen, mit den vieltausendjährigen Tannen, mindestens tausend Jahre alt!, wie seine Mutter ihm in den vierziger Jahren versichert hatte, wenn sie auf dem Stein gesessen und übers Wasser gestarrt hatte, als der Ehemann tot und nur der kleine Junge noch da war, wenn man Trost suchte. Aber er war mager und eher rank.
Die Tannen waren gewaltig, der Holm nur siebzig Meter im Durchmesser, das Haus hatte der Vater zuerst als Sommerwohnung zehn Meter vom Grünen Haus entfernt errichtet. Dann starb er, mir nichts, dir nichts!, und der Großvater und die Brüder hatten alles zusammen abgebaut und im Winter mit dem Pferd übers Eis nach Granholmen geschafft und dort aufgebaut.
Es war in der Zeit, als man noch Häuser bauen konnte.
Die Familie hatte eingegriffen, weil sie vom Tod des Vaters auf eine nahezu unbegreifliche Weise erschüttert worden waren. Annen Elof hatten sich ja große Hoffnungen geknüpft. Er war in gewissem Sinne speziell, aber keineswegs anderst gewesen, und die Familie hatte ihr eine Art Geschenk machen wollen. Sie war ja eingeheiratet und stand somit genau genommen außerhalb der Familie, aber der kleine Junge gehörte ja dazu, also genauer genommen. Der Großvater, P.W., hatte ihr außerdem ein Ruderboot gebaut. Es ließ sich schwer rudern, war aber stabil, damit der Junge keiner Gefahr ausgesetzt würde.
Er nahm nicht eine Öre dafür. Er wollte vielleicht zeigen, dass man zusammenhielt.
Das Dorf hatte fünfzig Jahre später – nachdem er angefangen hatte zu erscheinen, und wo er in dem Erschienenen in gewissem Maße Szenen niedergeschrieben hatte, wie die Mutter dort auf dem Holm saß – Granholmen in Majaholmen umgetauft. Es war wohl zum Gedenken daran, dass sie dort gesessen hatte, in den Sommern, allein mit dem kleinen Jungen. Und eine andere Sommerwohnung gab es damals ja nicht auf dem Holm, also war der Name wohl richtig.
Das Ruderboot des Großvaters war im September 2007 noch da, erstaunlicherweise. Es hatte allerdings eine Kunststoffbeschichtung bekommen und war jetzt weiß. Durch die Beschichtung konnte man die Bolzen sehen, die vielleicht Klinker hießen; nein, dies war sicher nicht die richtige Bezeichnung. Großvater P.W. war ja Dorfschmied, konnte aber auch Ruderboote bauen, er wusste vielleicht besser, ob es Klinker hieß. Das Heck war jetzt gekappt und gerade, um einem Außenborder Platz zu machen. Es war zwar etwas seltsam, aber im Grunde war dies zweifellos P.W.s Boot. Außen Kunststoff, der Kern 1935 gebaut.
Es war wie ein biblisches Gleichnis, wenn man es so sehen wollte, was viele taten.
Gunnar Hedman setzte ihn über. Sie landeten auf der Nordseite, und er sah sofort, dass der Holm in schlechtem Zustand war. Die riesigen Tannen, unter denen er als Kind gespielt hatte – also lange bevor er selbst gealtert und jetzt von den sterbenden Freunden umgeben war, die misstrauisch tuschelnd argwöhnten, er sei ins Dorf hinaufgefahren, um die Wahrheit über die erste Frau auszugraben und diese dann für immer zu begraben! Die sterbenden Freunde, die sich also jetzt um ihn scharten wie ein Tannenhain! – und auf deren Ästen er weit nach außen hatte gehen und nach feindlichen Kriegsschiffen Ausschau halten können.
Diese Tannen waren jetzt, im Herbst 2007, alle abgeholzt.
Drei Geräteschuppen waren hinzugekommen sowie zwei neue Sommerhäuschen, die beinahe zu verfallen schienen. Ein Hühnerhof mit rostigem Zaun deutete auf menschliches Leben hin. Fünf Hühner liefen mit kurzen Schritten darin umher. Ihr eigenes Sommerhaus schien sich gleich zu sein, wie vor siebzig Jahren, verfiel aber inzwischen zusehends und wurde als Aufbewahrungsort für Abfall oder Gerümpel benutzt; er versuchte durchs Fenster zu schauen, aber es tat nur weh.
Der Holm war vergewaltigt. Der Stein am Ufer, auf dem die Mutter gesessen hatte, sah jedoch aus wie früher.
Er nahm sich zusammen und ging um den Holm herum, wie in seiner Kindheit, und wusste, dass dies nicht revidiert oder korrigiert werden konnte; es war, wie es war, und hatte sich verändert, alles war beschmutzt.
Warum war er zurückgekommen. Dies hieß nicht, in den Fluss des Pfeils hinabzusteigen, wie er es als Kind in Kiplings Kim gelesen hatte. Einsicht musste er sich selbst und an anderer Stelle verschaffen, wenn es nicht schon zu spät war. Der große Stein fünf Meter vom Ufer des Holms entfernt, zur Nordseite hin, war jedoch völlig unberührt.
Sie war so schön gewesen, wie sie da auf dem Stein saß.
*
Er flieht, auf irritierende Weise schnüffelnd: wie ein Hund, der auf seine eigene Witterung stößt und erschrickt.
Ist es nötig, dies hinzuschreiben. Er hat keine Angst vor dem Tod. Aber der Weg dahin macht ihn immer erschrockener.
Zurückgelassen war ein Wort, das er ausprobierte, es sollte Eingänge ins Projekt schaffen, weil es jetzt eilte, eilte war ein anderes Wort, er wusste nicht, wie viele Jahre ihm noch blieben. Er konnte die Antwort in den Augen der sterbenden Freunde sehen, es war, wie wenn, vor dem Tod, die Augen tränten, und dass die, die bald sterben würden, vielleicht lange, lange nach ihm, ihn jetzt mit flehenden Augen betrachteten, als bäten sie ihn um etwas. Erinnerten an den Jungen Siklund, der ihn 1974 aufgesucht hatte, bevor dieser Siklund verrückt wurde und starb. Er erinnerte sich an Siklunds Augen, die entlarvend waren und wahnsinnig; aber danach war Siklund erlöst worden, und die Katze war auferstanden, und dieser Siklund hatte, indem er seinen Tod zu einem biblischen Gleichnis zusammenknetete, ihn während einiger Tage beinahe neu bekehrt zu dem wegstudierten Glauben.
Die Katze!
Er fing sich schnell. Gab es nicht ein kleines Vergehen, mit dem er die Zeit vertreiben konnte? Aus der Kindheit! Er könnte kleine nachdenkliche Briefe an sich selbst schreiben, oder vielleicht eher nachsinnende. Die vom Vater hinterlassenen Blätter schienen vom Tod zu sprechen, von der Liebe und vielleicht vom ewigen Leben. »Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige.« Musste ein Zitat sein, abgeschrieben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass er sich so ausgedrückt hat. Selbst hatte er keine Erinnerungen. Die Rede im Gemeindehaus musste Erinnerungen enthalten. Konnte eingeleitet werden mit etwas, was er verheimlicht hat, aber etwas Ungefährlichem. Wie dieses komische kleine Verbrechen, das sich im Kriegssommer 1940 ereignet haben muss, im Juli, als er die Katze auf ein zurechtgezimmertes Floß setzte und sie davontreiben ließ, einem sicher furchtbaren Tod entgegen.
Oder der Tod und die Wiederauferstehung des Spielkameraden Håkan auf dem Bursee!
Nimm dich zusammen!, flüstert er ständig. Sei nicht lächerlich! Nur eine Sache zur Zeit! Es gab die kleinen Sünden, die zur Hand zu haben praktisch war, wenn er nervös wurde. Die Katze, zum Beispiel. Das konnte bewahrt werden. Dann gab es das Unbewahrte, Widerreden den Tod betreffend, und da war jetzt Eile vonnöten, alle Kameraden standen schwankend und klagend am Ufer des Flusses. Und erinnerten daran, dass er nicht dazu taugte, diesen Liebesroman niederzuschreiben.
Kraft sammeln! Er erinnerte sich an die Begegnung in einer Bibliothek in Södertälje. Eine Frau war bei der Diskussion hinterher aufgestanden, es ging um eine erotische Passage in dem historischen Roman, aus dem er gelesen hatte, und der seine eigenen Erfahrungen so gut verbarg, dass er nicht entblößt wurde; historische Romane waren ja die besten, die er sich vornehmen konnte, wenn er nervös wurde und etwas verdecken wollte. Die Frau hatte, bekannte sie ganz schlicht, gelesen und plötzlich eine solche Wärme im Körper verspürt, und im Unterleib, wie sie sie beim Lesen in ihrem ganzen Leben noch nicht gespürt hatte. Und dafür wollte sie danken! Vielleicht hatte sie die Worte Wärme im Schoß benutzt. Es war wie ein Raunen durchs Publikum gegangen, weil die Frau sich nach ihrer Äußerung mühsam und beinahe knirschend gesetzt hatte. Und was sie gesagt hatte, war sehr schön. Aber vor allem – jedermann sah, dass sie unerhört alt war! Vielleicht neunzig Jahre! Oder mehr! Und bekannte, dass sie immer noch Lust empfunden hatte!
Aber dass sie es gewagt hatte! – er selbst hatte plötzlich Tränen in den Augen, nur weil sie so unerhört alt war – gewagt hatte, vor allen anderen aufzustehen und von der Lust zu sprechen. Und auf irgendeine Weise war sie ihm bekannt vorgekommen, obwohl auch wieder nicht.
Aber das war noch nicht das Ende. Nachher war sie nach vorn gekommen, mühsam, weil sie unsicher auf den Beinen war, und da hatte er gesagt: Sind wir uns nicht schon einmal begegnet? War das nicht auf dem Larssonhof? Nein!, hatte sie brüsk gesagt, gleichsam zu Tode erschrocken auf dem Absatz kehrtgemacht und war hinausgeschlurft.
Aber dies in die Rede im Gemeindehaus einfügen? Unmöglich!
War es so, zusammenzulegen? Nur kleine Lächerlichkeiten und dann, plötzlich, wie ein Keulenschlag! Die Tür geöffnet! Das Tor!
Und jemand hatte gerufen: Dies war das Leben!
Er hatte bis spät am Abend des 27. Februar 2011 gearbeitet (sic! Seine eigene Bezeichnung! Heuchelei!) und unruhig geschlafen, war dann gegen vier Uhr aufgewacht und hatte beschlossen, das Projekt zwar zu Ende zu bringen, es aber nie nach außen zu tragen.
Welche Erleichterung! Nur für die Enkelkinder!
Vollkommen still bei den Bäumen, den Freunden, der sterbenden Schar. Sie bewachten ihn. Es waren sieben Bäume, die sich vor dem Fenster scharten wie eine Kuhherde, sie glichen sich selbst, wie am Tag zuvor, im Jahr zuvor. Er hatte versucht, sie hinzuzeichnen, um auf diese Weise sein abbildendes Leben wiederaufzunehmen, doch die Bäume blieben sich gleich, von Tag zu Tag. Schließlich begann er zu ahnen, dass es so bleiben würde, bis die sieben Bäume tot waren. Gegen vier Uhr, notierte er im Arbeitsbuch, leben die sieben Tannen noch! Der Hund hatte da den Kopf gehoben und ihn traurig oder ungeduldig angesehen. Dann fiel sein Kopf herab, offenbar in tiefen Schlaf.
Was hatten Hunde für Träume? Und würden Hunde bei Jesu zweiter Wiederkehr wirklich mitgenommen in den Himmel?
Er hatte sich immer gefragt, ob es auch für Hunde ein ewiges Leben gab, und ob er diesen Hund mitnehmen konnte über die Grenze. Den Tod stellte er sich als ein Dasein mit dem Hund an seiner Seite vor, auch nachdem sie das jenseitige Ufer des Flusses erreicht hatten.
Das würde dann das endgültige Projekt sein.
Er dachte viel an den Tod, sagte sich aber zum Trost, dies hänge sicher damit zusammen, dass alle seine Freunde im Begriff schienen zu sterben. Oder schon ihr Leben abgeschlossen, ihre Körper jedoch gedankenlos am Ufer des Flusses zurückgelassen hatten, als sei es noch nicht fertig, zusammengefasst, zurechtgelegt.
Das Projekt, das er jetzt zu Ende zu führen hatte, war eine revidierte Fassung der Rede für die Mutter, als sie gestorben war, die in dieser berichtigten und aktualisierten Fassung (bald komme ich! warte auf mich! ich bringe den Hund mit!) die Struktur dieses Innehaltens beschrieb, aber ohne die heitere Klarheit und Entschiedenheit der früheren Rede. Hatte er nicht ein Recht auf Unklarheit? Dies würde vielleicht Sibelius’ Achte Sinfonie werden können! die dieser Finne! der Säufer!, den er so bewunderte!, nie geschafft hatte!
Aber diesmal nicht Sibelius’ Achte, sondern nur seine eigene, unsichtbar und unhörbar für die anderen. Das Lästige am verhinderten Tod der Freunde schien zu sein, dass einige von ihnen sich zuerst dem Tod entschlossen unterworfen, dann jedoch gezögert, mitten im Schritt verharrt hatten, wie zum Beispiel nach einer schwereren Gehirnblutung: als wäre dieser entschlossene und mutige Tod gerade in ihrem Fall etwas Voreiliges.
Die Freunde waren in mehreren Fällen schwer zu deuten. Es gab etwas unklar Glänzendes oder Blankes in ihren Augen, wenn er, dienstags und freitags bei ihnen zu Besuch, ihre genuschelten Bitten ablas. Ihre Augen glänzten und flehten: Fass zusammen! Sie waren in den letzten Monaten sieben an der Zahl geworden, waren jetzt eine Schar, bald kamen bestimmt noch drei weitere hinzu, eine Art Wäldchen, das auf die Abholzung wartete, nun gut. Er hatte sich lächelnd und optimistisch gezeigt, um seine Machtlosigkeit zu verbergen und seine Angst, wenn er vorübergehend von ihnen Abschied nahm.
Aber wie sie ihn ansahen! Als wollten sie etwas fragen. Über den Tod vermutlich. Oder das sehr bald aufgebrauchte Leben. Als wäre er ein Experte, oder auf jeden Fall ein Ratgeber. Was für eine Frechheit!
Sie hatten ja früher auf seinen Rat gehört. Warum nicht jetzt! Aber er konnte ihnen ja nicht raten, den letzten Schritt zu tun. Tut ihn!, konnte er nicht sagen, tut ihn! Sonst tue ich es selbst!
Das wäre ja unmenschlich, vielleicht nicht einmal klug.
Am Abend zuvor hatte er seine Abhandlung über die Liebesgeschichte des dänischen Königs Christian IV. mit Kirsten bearbeitet.
Sie ließ ihn nicht los. Die absonderliche Geschichte von der Liebe Christians IV. zu einer Frau, die behauptete, ihn zu hassen, und ihn deshalb! – dieses deshalb zu begreifen war er zu unschuldig – mit Hilfe des Brenneisens, wie Lisbeth!, vor sich her trieb in den Untergang.
Etwas musste er jedoch tun, mit gemessenen Handbewegungen und ruhigem Lächeln, und mit Einsichten, die völlig unanwendbar waren, etwas musste er tun.
Er wusste, dass der Text, den er die Partitur nannte (wie in der Achten Sinfonie!), unter der scheinbar korrekten Oberfläche einen Rat an seine sterbenden Freunde enthalten musste, eine Art Widerrede auf ihre einfältig und beinahe aggressiv fordernden, glänzenden und verwirrten Augen. Dass er mit der Aufzeichnung der entsetzlichen Lebensgeschichte des dänischen Königs ihre Frage beantworten könnte, ganz einfach wie es zusammenhing.
So dass kein Rest blieb.
Die Liebe, sagten sie mit ihren brüchigen, dünnen Stimmen, die können wir nie erklären. Aber willst du es nicht versuchen? Eine von ihnen hatte er geliebt. Jetzt wollte sie vielleicht, trotz ihres schiefen, zuweilen sabbernden Lächelns, eine Antwort haben. Saß eingesunken, aber immer noch unerhört schön da, und die hilflosen Fragen hingen stumm zwischen ihnen in der Luft.
Willst du es nicht versuchen! Willst du es nicht versuchen! Wozu war sonst all das gut, was wir einst versucht haben! Hast du vergessen?
So ermüdend. Und er nickte immer. Hatte aber nicht vergessen.
Warum schrieb er sonst? was hatte es für einen Sinn? Er fühlte sich mit wachsender Verzweiflung sicher, dass er auch an kommenden Dienstagen und Freitagen nach dem Besuch bei den Freunden, gegen drei Uhr, nach der Stunde, die er sich zwang, unter mutlosem Gebrabbel bei ihnen zu verweilen, es nicht wagen würde, diese seine berichtigte Fassung, die Klarheit bringen würde, zu beginnen.
Er hatte einen ersten Satz des historischen Romans geschrieben, der gerade in den Zusammenhang von Tod und Lust Klarheit bringen sollte. Er lautete: Etwas später, vielleicht gegen drei Uhr am Nachmittag, wurde der entlarvte schwedische Spion an Deck geführt und fürs Erhängen fertig gemacht. Darunter hatte er mit Bleistift notiert: Historische Romane verhindern viele Möglichkeiten zu echter Liebe. Danach Leere auf dem Blatt.
Mehr wurde es nicht. Man fasst sich an den Kopf!
*
Plötzlich ging ein Riss durch alles: Im Februar 2011 wurde ihm der verbrannte Notizblock zugeschickt.
Er erkannte zuerst nicht, dass es ein Freibrief war. Es war ja der Notizblock, über den er selbst einmal geschrieben hatte.
Es war der Notizblock, auf dem sein Vater, seit sechsundsiebzig Jahren tot, seine Liebeslieder an die Mutter niedergeschrieben hatte. Als er starb, hatte sie den Block verbrannt. So war es klargestellt. Es war die Mutter, die es klargestellt hatte. Damit war es unumstößlich. Sie hatte nicht gewollt, dass ihr Mann dichtete, weil dies Sünde war, Liebesgedichte besudelten wie Sirup, auch das Gedenken des heimgerufenen Vaters, war es nicht so?
Oder war es nur der Schmutz des Lebens, der ihr Angst machte?
Die Liebe war wohl eigentlich auch der Schmutz des Lebens. Vielleicht fror man ein, und wenn man auf die Eishaut blickte, die das Gesicht bedeckte, wurde drohend klargestellt, dass dies die Liebe war. Wie das Erfrieren musste dies als Sünde gelten, und weil es so weh tat, war es Sünde, vielleicht Todsünde, es war ein wenig unklar, aber sie erklärte so in die Richtung, und es war auf jeden Fall unumstößlich. Und so wurde es klargestellt, dass sie den Block mit den Gedichten des Vaters verbrannt hatte, und damit die einzige Spur, die er selbst nach rückwärts hatte in der Geschichte des Dichtens, die ja auch seine eigene Geschichte war, und wie er wurde, und sicher den Schlüssel dafür enthielt, warum er da oben auf Island beinahe gestorben wäre.
Das einzig Sichere war, es war verbrannt.
Der Notizblock, verfeuert also, war das einzige Dokument, aus dem hervorging, dass dieser Waldarbeiter namens Elof auch Künstler war, oder sonst wie anderst, und vielleicht etwas Unbeschreibliches besaß, das durch seine schiere Erwähnung das biblische Erschauern auslösen konnte. Und dass darin unumstößlich die Erklärung dafür lag, dass das Kind, er selbst, versucht hatte, sich zu Tode zu saufen, so dass der Erlöser persönlich gezwungen gewesen war einzugreifen, obgleich der Säufer dies verneint hatte! Und dann war der Beweis verbrannt, und so war es klargestellt.
Warum benutzte er ständig das Wort klargestellt. Und unumstößlich.
Dann war ihm also im Februar der verbrannte Block zugeschickt worden. Es war unzweideutig der richtige Notizblock. Eine Verwechslung lag nicht vor. Der Vater hatte seinen vollständigen Namen daraufgeschrieben und das Datum, dann hatte er auch die Liebesgedichte daraufgeschrieben, einige davon gereimt, und obwohl der Notizblock teilweise Brandschäden aufwies, konnte man die Verse mit Leichtigkeit entziffern. Sie waren vollkommen lesbar, weil nur ein Viertel der Seiten Brandschäden hatte, am unteren Rand.
Braunes Papier, wo das Feuer mit seinen unersättlichen Flammen geleckt hatte, darüber unbeschädigt weiß. Wie Großvaters Ruderboot!
Der untere Teil des Blocks also vom Feuer beschädigt. Aber nicht so, dass ein wesentlicher Teil der Gedichte verloren wäre. Klargestellt wurde also sehr bald, irgendwann im Februar 2011, dass genau dies der Notizblock des Vaters war, über den er selbst in zwei Büchern geschrieben hatte. Oder waren es drei. Auf jeden Fall ermüdend oft. Und darin (es waren drei!) die Mutter angeklagt hatte, diesen verbrannt zu haben, und sie auf diese Art und Weise auch angeklagt, ihm Sündenangst vor dem Gedichteten, ja vielleicht dem Erdichteten eingejagt zu haben.
Das sollte die Erklärung sein.
Die Vorstellung hatte ihn immer mehr erfüllt. Sie gab die Erklärung für die lähmende Angst, die er davor hatte, den letzten Schritt zu tun. Die Welt des Notizblocks in sich hineinzuschlingen, als wäre es ein Sündenblatt wie jenes Exemplar von Lebendiges Leben, das er einmal im Alter von elf Jahren auf Renströms Lokus aufgespürt hatte; es enthielt eine Liebesgeschichte in Fortsetzungen, jede Woche wurde neu hinzugedichtet, hatte er erfahren. Es gab einem ehrlich gesagt ein Gefühl von Sicherheit, nicht den letzten Schritt zu tun, besonders in mehr persönlichen Fragen. Da musste man sich zusammennehmen.
Auch am Ufer des Flusses.
Jetzt war jedoch der Notizblock mit der Post gekommen. Er öffnete das Päckchen, blätterte vorsichtig, und las. Auf der Innenseite des Umschlags der Name des Vaters, von diesem selbst geschrieben, ein wenig vorwärts geneigt. Kein Zweifel, Elof mit f, der Nachname mit kv, nicht qu wie er selbst. Es war vielleicht so, dass er versuchte, sich ein wenig aufzuspielen! Ein qu hatte einen vornehmeren Ton als ein kv. Er fühlte sich einen Augenblick lang beschämter als bevor das Päckchen gekommen war, nahm sich aber zusammen und las weiter.
Nachdem er gelesen hatte, blieb er sitzen.
Wie war das zugegangen?
Die folgenden Wochen fühlte er sich gelähmt, aber rastlos, und begann schließlich zu verstehen. Er besaß einen Telefonapparat. Damit rief er den Absender an, es war eine seiner Kusinen.
Sie hatte keine Antwort.
Der Notizblock war ihr zusammen mit einem Haufen Papiere zugeschickt worden. Ein Teil davon war die Hinterlassenschaft ihrer Mutter, Elofs Schwester. Ein anderes Bündel Papiere war die Hinterlassenschaft eines Dahingegangenen (der Junge! Siklund!), dem es einmal fast gelungen war, ihn neu zu bekehren, doch war er später dem Netz des Erlösers entronnen; genug davon. Siklund war im übrigen das Kind einer Kusine zweiten Grades, selbst also dritten Grades und nur auf zweifelhafte Weise mit ihm verwandt und war am 26. November 1977 im Irrenhaus, also einer Nervenheilanstalt, gestorben.
Die Absenderin des Notizblocks hatte angedeutet, dass er den Jungen ja wohl kannte. »Es ging um die Wiederauferstehung.«
Das war zweifellos wahr, dokumentiert, und unangenehm.
Deshalb wollte sie sich wohl nicht die Mühe machen, das Schicksal Siklunds näher auszumalen. Das er ja selbst einmal in einem Theaterstück geschildert hatte, zu dem sich einige in der Familie kritisch gestellt hatten. Den armen Kerl mit Schmutz bewerfen! Genug. Das Zugesandte war Siklunds Hinterlassenschaft. Sie hatte auch noch den Nachruf für’n Elof gefunden. Und beigefügt. Der Papierstapel hatte ziemlich lange unbeachtet auf dem Dachboden von Albert Lindströms Sommerwohnung (merkwürdig! Warum da, war ja nicht in der Familie!) gelegen.
Das war alles, was sie wusste.
Der Junge war ja ein Kapitel für sich. Er war verrückt geworden, irgendwie, und er selbst hatte ihn in seiner Zeit in Uppsala sehr häufig besucht, bevor er ausriss nach Kopenhagen und in eine neue Ehe, der Junge war ihm keineswegs unbekannt. Es war unangenehm. Die Besuche waren ein Misserfolg gewesen! Inklusive des mehr wissenschaftlichen Experiments mit dem Jungen und der Katze.
Es war zum Gotterbarmen, hatte er sich in einem Buch nicht auch den Vornamen des armen Kerls geliehen! Nicanor! Was hatte er sich nicht geliehen! Und nie würde er vergessen, dass der Junge gesagt hatte, Ich bin in dich und die Bücher hineingekrochen!, aber dann wollte er wieder herauskriechen. Und als das nicht ging, wurde ihm Onkel Arons Schicksal zuteil, also nicht, dass er sich durchs Eis der Burebucht hindurchhackte, aber ein Tod durch Ersticken war es auf jeden Fall, unumstößlich. Nicht im Wasser, sondern mit einer Plastiktüte.
Es war die Zeit des theologischen Experiments im Irrenhaus. Er hatte einen Halbverwandten mit Namen Martin Lönnebo um Hilfe bitten wollen, er war ja immerhin Bischof, aber gebracht hatte es nichts.
Plötzlich Vollbremsung!, wie Knüppel auf ’n Quappenkopp. Er ist wie gelähmt von einem abrupten Gedanken. Warum das beinahe Verbrannte?
Es war, als ob genau da etwas in seinem Inneren auf Stopp schaltete. Er hatte sich ja viele Jahre in der Öffentlichkeit den Fakten in den Legenden angepasst! Fakten!! Die Brandstiftung der Mutter war ja klargestellt! Eingebrannt! Wie ein Brenneisen in ein unschuldiges Tier! Wie eine schreiend ungespielte Geige! Die Legende in mehreren seiner meistgelobten Werke gedruckt! Und jetzt also eine Kehrtwendung? Total! Man musste sich hier fragen: Wie konnte man, ohne faktischen Grund, sich jetzt auf einmal etwas ganz Umgekehrtes vorstellen! Hinzudichten! Ein Geschehen, ohne Verantwortung zu übernehmen!
Ein Freibrief sollte ja Erlaubnis geben. Aber wo kam man dann hin?
Man konnte sich ja, nur als Beispiel, vorstellen, dass in der Nacht, während der Vater auf der Krankenstation in Bureå im Sterben lag, etwas geschehen war. Gerade als er starb. Und man konnte sowohl ausmalen als auch in gewissem Maße Farben auftragen, man konnte die junge Mutter mit gewissen Gefühlen ausstatten, seine Mutter also, die gerade noch die Hand des Vaters gehalten und sie erkalten gefühlt hatte, wenn denn die Hand des Toten wirklich mit solcher Schnelligkeit erkaltete, dass dies von der trauernden Witwe, also der gerade Verwitweten, wahrgenommen werden konnte. Dann konnte das Ausmalen auch das Krankenzimmer umfassen, und die Leere, vielleicht auch das Echo in diesem ansonsten so sterilen und kahlen Krankenzimmer. Der hohe Ton, sein eigener hoher Ton!, konnte sich da ausbreiten!!! Die plötzliche Erleichterung, von ihm frei zu sein, zerbrach für einen Augenblick ihr Schweigen, deformierte das Weinen und schuf eine Art verzweifeltes Meckern wie von einem Widderlamm.
So, vielleicht.
Möglicherweise eingeschrieben ein bestürzter Arzt, Hultman!, der in der Tür innegehalten und dann mit einem Ausdruck von Resignation den Todesfall zur Kenntnis genommen hat, der Gewohnheit gemäß, indem er die Augenlider des Toten anhebt und seine Pupillen untersucht! Also dies alles, ihr meckerndes Schluchzen eingeschlossen – wie könnte dies nicht ausgemalt werden!
Aber sollte er? Nein!
Das Rätsel war ja, dass der Notizblock teils verbrannt war, teils danach aus der schonungslosen Umarmung der Flammen gerettet wurde, teils anschließend auf Abwege gekommen war. Dies waren zwei oder drei Rätsel, und er konnte sich nicht entscheiden, welches am schwersten zu verstehen war. Man musste es sich vorstellen, beinahe zusammendichten, auch wenn man Widerwillen dagegen empfand. Es wäre besser, man wüsste es ganz sicher, doch das schien schwierig, vielleicht ganz und gar unmöglich.
Unfug! Er musste sich damit begnügen, es sich vorzustellen. Folgendes war da geschehen und später durch die Aussage der jetzt toten Mutter klargestellt. Der Mann, den man Elof nennen kann, hatte drei Tage mit furchtbaren Bauchschmerzen dagelegen, er war an der Porphyrie erkrankt, die jedoch fälschlich als geplatzter Blinddarm diagnostiziert wurde, war am Ende ermattet und hatte trotz der Tränen und Klagen der Ehefrau aufgehört zu atmen. Er war ganz einfach weggestorben.
Sie hatte dann den Bus nach Hause genommen. Der Bus hatte gegen 18.15 Uhr unterhalb des Grünen Hauses gehalten, um sie, die flennte, abzusetzen. Der Chauffeur, es war Marklin!, hatte da, der Legende zufolge, seiner barschen Art zum Trotz, und weil Tiefschnee bis zum Haus hinauf lag, gefragt, ob niemand da sei, der sich der Frau erbarmen könne. Doch sie war allein in der Dunkelheit durch den Schnee zum Grünen Haus hinaufgestapft. All dies war in der Legende fest belegt, doch jetzt begann das Schwere.
Das Kind (er selbst!) war im übrigen zu einer Schwester des Vaters gegeben worden. Es war Tante Valborg. Auf sie wird später zurückzukommen sein. Für jetzt genug davon.
Nach der Beerdigung, und nachdem Fotograf Amandus Nygren das Leichenfoto im Sarg gemacht hatte, und die Mutter ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte (der Tote war ja Waldarbeiter, aber in der Endphase seines Lebens Lährarinn’mann) – da ging es ans Aufräumen. Und dabei hatte sie den Notizblock gefunden, und gelesen.
Die Legende besagte, dass sie stark angerührt worden war, aber gefunden hatte, dass diese an sie (über sie!!? oder über eine andere Frau? dieses Unruhemoment!!!) gerichteten Liebesgedichte von einem Charakter seien, der nicht nur der der Dichtung war, sondern auch etwas Erfundenem glich. Also aus dem Rahmen quoll. Vielleicht wurden die Gedichte erlebt, als seien sie klebrig, wie die Melasse, an der Grenze zum Geschwafel. Und als auf diese Weise ihr starkes Gefühl, ihre Aufgewühltheit über den Tod ihres Mannes, ihre Verzweiflung, ihre Verwirrung, weil die Gefühle des Ehemanns in dieser Form in Worte gekleidet waren, die Verse waren, ja vielleicht auch Gedichte, und ihr Misstrauen gegen das Hinzugedichtete zusammenkamen: Da hatte ihre Aufgewühltheit sich zu Entschlossenheit gesteigert.
Sie hatte die Klappe des eisernen Herds in der Küche geöffnet, in dem das Feuer loderte wie fast immer morgens, wenn es so kalt gewesen war, dass der Urin im Pisseimer zu einem runden gelben Klumpen gefroren war, der hinausgetragen und in die Schneewehe geworfen werden musste (das Tragen der Pissklumpen war jedoch etwas später, etwa im Alter von sechs Jahren!), und sie also durch Befeuern des Herds Leben in ihre und des Kindes steifgefrorene Glieder bringen musste, und da hatte sie den Notizblock gegriffen und ihn mit einer heftigen Bewegung in den eisernen Herd gestopft, damit die Gedichte ihres Ehemanns Elof für immer in dem schonungslosen, aber reinigenden Feuer brennen sollten.
Da war das Unfassbare eingetreten. Das ein Rätsel schuf, das schwerer zu beantworten war als das erste, das von der verbotenen Dichtung. Sie hatte ins Feuer gestarrt und dann hineingegriffen, mit der bloßen Hand, und die jetzt flammende Schrift gepackt und trotz des brennenden Schmerzes den Notizblock vor der Vernichtung gerettet.
So hatte ihn der Block, sechsundsiebzig Jahre später, erreicht. Er zweifelte keine Sekunde. Eine Botschaft von der anderen Seite des Flusses. Und die Botschaft war leicht zu deuten. Zu dichten war keine Sünde, aber die Hitze des Fegefeuers war nötig, um die Wahrheit herauszuschweißen. Wie es in den Sprüchen Salomos zu stehen pflegte.
So begann er im Frühjahr 2011 langsam, die Gedichte aus den geretteten Seiten herauszulesen, um damit, durch diese postume Botschaft, zur Wahrheit vorzudringen, bevor es zu spät wurde und bevor die glänzenden Augen der Freunde in sein Leben eindrangen und ihn an das Leben erinnerten. Dass es mehr nicht war. Und es damit vielleicht beendeten. Er las die Gedichte langsam, und mit angehaltenem Atem.
Jetzt, bald.
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Es war ja selbstverständlich, dass dies, der Freibrief, »Texte« waren, also aneinandergereihte Wörter.
Es stellte eine Art Nekrolog dar, der von einem Leben handelte, und einer Liebe. Die Mutter, die junge Frau, die also bereute und ihre bloße Hand den brennenden Flammen aussetzte, hatte geglaubt, dass das Geschriebene klebrig sei wie der klebrige Sirup, aber erkannt, dass sie sich geirrt hatte.
Das Kind – jetzt sechsundsiebzig Jahre alt – machte sich diese neue Wirklichkeit unmittelbar zunutze. Über diese – nicht sirupklebrige – Liebe würde er schreiben. Solange die Zeit reichte! und er nicht von den stummen, aber vorwurfsvollen und wässerigen Augen der Freunde aufgescheucht wurde, die besagten, dass auch ihn bald der Schlag treffen würde.
Er hat Angst. Wie kann er dies, also die Angst, in die Rede im Gemeindehaus einfügen? Oder hindert ihn der Chor der Stimmen seiner Kameraden am Ufer des Flusses daran, den Liebesroman niederzuschreiben, vor dem er sich ängstlich duckt?
Schon im Mai 2011 beginnt er im übrigen, den wiedergefundenen Notizblock als bedrohlich oder irritierend zu erleben.
Es sind neun herausgerissene Blätter, die ihm Angst einjagen. Aber dazu später.
Er war ja davon ausgegangen, dass alles ein Bild ungeteilten Glücks wäre. Warum hatte die Mutter sonst, mit bloßer Hand!eine Einsicht, die überwältigend war