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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Zur Wahrung der Persönlichkeitssphäre haben wir die Namen aller in diesem Buch vorkommenden Personen geändert oder gekürzt. Gegebenenfalls wurden biographische Einzelheiten verfremdet, um Rückschlüsse auf die wahre Identität der beschriebenen bzw. interviewten Personen zu verhindern.

» Urteile nicht über einen anderen Menschen, bevor du nicht zwei Monde lang in seinen Mokassins gelaufen bist. «
Sprichwort der Cheyenne-Indianer

Für Gerhard und Eva
 
 
 
Für Ines, unsere treue Freundin,
die alles miterlebt hat, und für alle
Erwachsenen, die bereit sind, eine
Weile in den Mokassins von Jugendlichen
zu laufen.
 
 
 
 
Wir danken den Menschen, die uns in unseren Interviews ihre Situation mit so viel Offenheit geschildert und unsere Fragen so bereitwillig und geduldig beantwortet haben.

Wir
Ulla und Lina. Ein Team. Aber nicht nur das. Wir sind Mutter und Tochter. Vor ein paar Jahren haben wir uns schon einmal zusammengesetzt, um unsere Geschichte aufzuschreiben – die Geschichte von Lina und ihrer Entscheidung, in die Partyszene abzutauchen und jede Menge Drogen zu konsumieren; und die Geschichte der Höhen und Tiefen, durch die wir als Familie dabei gegangen sind. Lieber high als stinknormal? heißt das Buch, das damals entstanden ist. Es ist ein Buch für Jugendliche. Seit es erschienen ist, sind wir weit herumgekommen und haben an vielen, vielen Schulen, in Drogenberatungsstellen, Stadtbüchereien, Gemeindesälen und Stadthallen landauf, landab Vorträge gehalten. Und immer wieder sind Eltern und Lehrer auf uns zugekommen und haben gefragt, warum wir nicht ein zweites Buch schreiben. Ein Buch für sie als Erwachsene. Eines für die, die tagtäglich mit Jugendlichen zu tun haben und sich von dem ganzen Thema Sucht und Drogen überfordert fühlen. Und so haben wir uns ein zweites Mal zusammengesetzt. Das Ergebnis ist das Buch, das Sie hier in Händen halten. Schon bei Lieber high als stinknormal? waren Interviews die Basis unserer Zusammenarbeit. Lina war damals in einer (relativ) cleanen Phase, aber es wäre kaum für sie möglich gewesen, ihre Erlebnisse und Erfahrungen selbst aufzuschreiben. Und so verbrachten wir damals viele Stunden in einem Frankfurter Café und zeichneten auf Tonband auf, was Lina erzählte. Ich, Ulla, hörte damals nur zu. (Was sich sehr viel leichter anhört, als es in Wirklichkeit war.) Und wenn ich alles aufgeschrieben hatte, gingen wir regelrecht in den Clinch miteinander.
»Das habe ich so nicht gesagt! Du hast mal wieder gar nix gepeilt!« Bei unserer ersten Sitzung war Lina völlig aus dem Häuschen, bis sie begriff, dass man an Texten so lange feilen kann, bis sie genau so dastehen, wie man es will. Danach verstanden wir uns. In dieser Phase wurden wir zum Team.
Im Prinzip sind wir unserer Arbeitsweise auch bei diesem Buch treu geblieben, nur ist es diesmal nicht Lina, die ihre Geschichte erzählt, auch wenn das Persönliche hier ebenfalls einen wichtigen Stellenwert für uns hat. Diesmal wollten wir über den Tellerrand unseres eigenen Erlebens hinausschauen und eine möglichst breit gefächerte Palette anderer Erfahrungen mit einbeziehen. Und so haben wir uns beide mit einem Aufzeichnungsgerät auf Tour begeben und unzähligen Leuten zugehört, die hautnah mit dem Thema Drogen und Sucht zu tun haben. Da wir beide Seiten hören wollten, ging Lina zu den Jugendlichen und ich zu den Erwachsenen.
Ich, das heißt in diesem Buch: Ulla. Denn zum einen wenden wir uns diesmal an Erwachsene, sodass der Schwerpunkt in den autobiographischen Schilderungen auf meiner Perspektive – sprich: der Eltern-Sicht – liegt. Und zum anderen bin ich diejenige, die die von uns beiden zusammengetragenen Materialien in Texte umgesetzt hat. Dennoch haben wir auch diesmal so lange gemeinsam an jedem einzelnen Satz gefeilt, bis wir uns beide mit dem Ergebnis identifizieren konnten.
Eines sei klargestellt: Auch wenn Interviews und autobiographische Schilderungen einen wichtigen Teil in unserem Buch einnehmen, ist dies hier keine weinerliche Betroffenheitsgeschichte nach dem Motto »Mutter rettet Tochter aus dem Drogensumpf«. Wenn einer den Drogenkonsumenten retten kann, dann er selbst und niemand sonst. So hat Lina trotz unserer intensiven Begegnung durch die Arbeit an unserem ersten Buch noch Jahre gebraucht, um aus eigenem Willen und aus eigener Kraft den Absprung aus dem Drogenkonsum wirklich zu schaffen. Nur für sich selbst ist sie clean geworden, nicht für mich. Und nur deswegen hat ihr Ausstieg jetzt Bestand.
Den persönlichen Bezug halten wir aber dennoch für bedeutsam, weil er uns den Einstieg in eine möglichst praxisnahe, informative Darstellung des Themas Sucht und Drogen ermöglicht. Erwachsene, die mit Jugendlichen zu tun haben, müssen immer ein Ohr an der Schiene der Zeit haben. Sie müssen wissen, was abgeht. Sie müssen lernen. Und am Beispiel lernt es sich noch immer am besten.
Lieber high als stinknormal? fängt mit folgenden Worten an:
Dass wir dieses Buch überhaupt zusammen geschrieben haben, ist ein Wunder. Es gab eine Zeit, da hätten wir es nicht für möglich gehalten, je wieder auch nur ein einziges Wort miteinander zu reden. Da war jede von uns in einer völlig anderen Welt und dazwischen lag ein Meer von Wut und Hass, von Lügen und Heuchelei, von Drogen, Drogen, Drogen.
Inzwischen staunen wir nicht mehr täglich über dieses Wunder. Doch ein Wunder ist es immer noch. Was sich geändert hat? Heute schleichen wir nicht mehr auf Samtpfoten umeinander herum. Wir haben, was vielleicht das Allerwichtigste ist, das gegenseitige Vertrauen wiedergefunden. Unsere Begegnungen finden heute nicht mehr im Ausnahmezustand, sondern im Alltag statt. Ulla und Lina. Mutter und Tochter. Und außerdem: ein Team.
Ulla und Lina Rhan

»Ich hätte auch gern mit meiner Tochter angegeben...«
Klassentreffen. Die meisten der Leute hier habe ich seit gut 20 Jahren nicht gesehen, und es ist, wie es auf Klassentreffen eben so ist. Alle scheinen nur eines im Sinn zu haben: den anderen zu zeigen, was aus ihnen geworden ist. Nachdem das übliche Weißt-du-nochdamals und der Tratsch über unsere alten Lehrer ausgetauscht sind, tischen wir uns gegenseitig Geschichten über unsere beruflichen Höhenflüge auf. Wenn man den mit leuchtenden Augen vorgetragenen Schilderungen zuhört, könnte man meinen, in der verräucherten Nebenstube des Wicküler am Bahnhofsplatz hätte sich ein repräsentativer Querschnitt der bundesdeutschen Crème de la Crème versammelt.
Wir sind ganz berauscht von all den vielen Erfolgsmeldungen aus unseren eigenen Reihen (und dem einen oder anderen Glas Bier oder Wein), als auf einmal das Thema im Raum steht, das ich so gern vermieden hätte: Die Familie und vor allem: der Nachwuchs. Schlagartig werde ich leise. Meine Stimmung ist wie ausgelöscht. Während sich meine ehemaligen Mitschüler mit den Einser-Notendurchschnitten, musischen Begabungen und sportlichen Höchstleistungen ihrer Wunderkinder brüsten, würde ich am liebsten wie ein Chamäleon die Farbe des Hintergrunds annehmen, um bloß ja nicht angesprochen zu werden. Aber irgendwann kommt sie doch, die Frage: »Und ihr, Ulla. Ihr habt doch auch zwei Töchter?« Alle Augen richten sich gespannt auf mich.
»Ja«, antworte ich und der Kloß in meinem Hals ist so dick, dass es mir schwerfällt, weiterzureden. »Und?« Meine ehemalige Banknachbarin strahlt mich erwartungsvoll an.
»Tja«, seufze ich. »Was soll ich sagen...« Lügen? Die Wahrheit sagen? Ich fasse meinen ganzen Mut zusammen. »Unsere Lina ist 14, und sie ist auf Drogen. Ungefähr vor einem Jahr fing es an. Wir haben alles probiert, aber sie ist uns total entglitten. Wir haben keinen Einfluss mehr auf sie. Innerhalb von ein paar Wochen ist sie völlig abgestürzt. In diesem einen Jahr ist sie überall rausgeflogen – erst aus dem Gymnasium, dann aus zig anderen Schulen. Sie hat eine totale Null-Bock-Einstellung.«
Kaum habe ich es gesagt, stecke ich schon wieder in diesem zähen Brei aus Angst und Wut und Selbstvorwürfen, der mich beim kleinsten Gedanken an meine Tochter verschlingt. Hätte ich sie nicht wenigstens an diesem einen Abend aus meinem Hirn, aus meinem Herzen verbannen können? Muss sich denn immer alles um sie drehen?! Gerhard und ich haben doch noch eine andere Tochter. Warum habe ich nicht einfach von Eva erzählt. Unserer tollen, unkomplizierten, immer liebenswerten, unübertrefflichen Eva?!
Doch es ist, als hätten meine Worte in mir eine Schleuse geöffnet. Jetzt, wo ich einmal zu reden angefangen habe, muss ich Linas ganze Geschichte loswerden. Ich kann irgendwie nicht anders. Und so schiebe ich alle Selbstzweifel beiseite, hole tief Luft und erzähle weiter.
»Tagelang kam Lina nicht nach Hause, und wir wussten nicht, wo sie war. Dauernd rief die Polizei an, weil sie wieder irgendwo bei einem Diebstahl erwischt worden war. Dann kam eine räuberische Erpressung dazu, und das Jugendamt hat sie in einem geschlossenen Heim untergebracht. Jetzt ist sie in Gauting in der Nähe von München. Sie da einweisen zu lassen, war die einzige Möglichkeit, die uns allen noch einfiel, um sie in geregelte Bahnen zu lenken und sie dazu zu kriegen, einen Schulabschluss zu machen. Bis gestern Abend habe ich gedacht, dass es klappen könnte. Dann kam der Anruf von der Heimleitung: Ihre Wohngruppe hat einen Ausflug in den Englischen Garten gemacht, und Lina hat die Gelegenheit genutzt, um sich in die Büsche zu schlagen. Jetzt weiß ich wieder nicht, wo sie ist.«
Betretenes Schweigen. Es ist so still im Raum. Man könnte eine Stecknadel fallen hören.
Das habe ich nicht gewollt, denke ich und ärgere mich, den anderen die Stimmung kaputt gemacht zu haben. Eigentlich hätte ich ja auch gern mit meinem Kind angegeben. Warum hab ich’s nicht getan? Ich hätte den Leuten doch bloß irgendeine Geschichte aufzutischen brauchen. Oder einfach von Eva erzählen!!!
 
»Ich kann mir vorstellen, was du da im Augenblick durchmachst«, kommt es auf einmal von Elke, die eben noch vom Einser-Abitur ihres Ältesten geschwärmt hatte. »Meine Jüngste ist magersüchtig. Sie wiegt nur noch 39 Kilo. Bei 1,70 m Körpergröße. Momentan ist sie gerade mal wieder in der Klinik. Ich kann machen, was ich will – ich komme einfach nicht an sie ran. Es fühlt sich so an, als hätte sie sich hinter einer Wand aus Eis verschanzt.«
Kaum hat Elke von den Problemen mit ihrer Tochter berichtet, meldet sich Hiltrud zu Wort. Sie hatte eigentlich gar keine Kinder haben wollen – bis sie vor zwei Jahren einen »Pillenunfall« hatte. Resultat: Zwillinge. Die es noch dazu eilig hatten, auf die Welt zu kommen: In der 34. Schwangerschaftswoche drängten sie ans Licht. Und mit ihnen brachen all die vielen Komplikationen des Frühchen-Eltern-Daseins über Hiltrud und ihren Mann herein. Und auf einmal reden alle durcheinander. Das Eis ist gebrochen und einer nach dem anderen legt die strahlende Maske des Achwie-bin-ich-toll-Geschwätzes ab. Jeder von uns hat irgendetwas zu erzählen, das nicht so gut gelaufen ist. Götter gibt es eben keine unter uns. Wir sind doch alle menschlich.
Es wird eine lange Nacht. Um halb zwei fängt die Wirtin im Wicküler an, die Stühle an den Nebentischen hochzustellen. Langsam wird es Zeit zu gehen. Es fällt uns schwer, Abschied zu nehmen. Es ist so viel Nähe zwischen uns, wir verstehen uns so gut, fühlen uns so verstanden.
Draußen vor der Tür werden die letzten Visitenkarten ausgetauscht. Und die üblichen Versprechen, sich künftig nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Das Merkwürdige an der Sache: Die drei Frauen, die zu Schulzeiten meine besten Freundinnen waren, haben sich tatsächlich gemeldet. Inzwischen treffen wir uns gelegentlich in dieser Vierer-Runde. Und wenn eine von uns jemanden zum Reden braucht, findet sie in diesem Kreis immer ein offenes Ohr.

Rückblende: Wie alles begann

Das will doch jede(r)...
... gut dastehen vor den anderen.
Oder?
 
Und dann das:
Am frühen Nachmittag – ich sitze gerade vor dem PC und brüte über einer schwierigen Textpassage – klingelt das Telefon. Noras Mutter ist am Apparat. Frau Borchert. Nora ist Linas beste Freundin und geht mit ihr in eine Klasse. Die beiden sind vom ersten gemeinsamen Schultag an unzertrennlich gewesen. Frau Borchert sagt, sie müsse mal mit mir über Lina reden. Sie würde sie in letzter Zeit gar nicht mehr wiedererkennen. Und dann erzählt sie mir, meine Tochter hätte der ihren aus heiterem Himmel die Freundschaft gekündigt. Gnadenlos habe sie sie mit der neuen Clique, mit der sie sich in letzter Zeit herumtreibe, fertiggemacht. Nora traue sich seither kaum noch in die Schule und sie verstehe die Welt nicht mehr, wo doch Lina immer ihre allerbeste Freundin gewesen sei und sie alles, aber auch wirklich alles, zusammen gemacht hätten. Zu einer Party hätte ihr Lina eine Einladungskarte mit den Worten geschrieben: »Komm ruhig vorbei. Wir haben noch einen schönen Platz in der Mülltonne für dich!«
Ich bin sprachlos. Was ist denn in Frau Borchert gefahren? denke ich. So etwas würde Lina doch nie tun. Warum erzählt sie mir so einen Mist?!
 
Drei Tage später. Die Mutter einer anderen Mitschülerin beklagt sich am Telefon, Lina hätte ihrer Tochter den Rucksack geklaut. Lina steht neben mir. Ich stelle sie zur Rede. Sie ist so geschockt über diese Anschuldigung, dass sie kreidebleich wird. Damit habe sie garantiert nichts zu tun! »Sie müssen sich irren«, sage ich zu der Frau. »Meine Tochter hat das nicht getan. Ich würde meine Hand für sie ins Feuer legen!«
 
Und schon wieder eine Vorladung in die Schule. Mal wieder geht es um Frau Franz, eine Lehrerin, mit der ich selbst meine Schwierigkeiten habe. Zusammengekniffene Lippen sind ihr Markenzeichen, und ich habe den Eindruck, dass sie ihre Schüler hasst. Diesmal hat Lina ihr einen üblen Streich gespielt. Frau Franz hatte ihr nicht erlaubt, während des Unterrichts zur Toilette zu gehen. Die Lehrerin ist in der ganzen Schule als vehemente Gegnerin des »WC-Tourismus« bekannt, und jeder weiß, dass sie selbst in dringenden Fällen keine Ausnahme macht. Lina hatte also mit dem Nein gerechnet und war bestens präpariert: Sie zog heimlich einen triefend nassen Schwamm aus dem Fach unter ihrem Tisch heraus und drückte ihn aus, sodass die mit Kreide gelb eingefärbte Brühe auf den Boden tropfte. Erst als sich dort ein kleiner See gebildet hatte, gab sie sich zufrieden. Dann legte sie in einer schauspielerischen Glanzleistung einen hysterischen Anfall hin. Sie habe einfach nicht länger einhalten können und Frau Franz sei schuld an ihrer Misere. Völlig überfordert mit dieser Situation stürmte die entsetzte Lehrerin aus dem Klassenzimmer.
Hätte Lina den Mund gehalten, wäre es dabei geblieben. Tat sie aber nicht. Sie prahlte auf dem Schulhof so lautstark mit der Geschichte, dass einer der aufsichtführenden Lehrer das Ganze mitbekam. Und so saß ich wieder einmal wie eine Büßerin in der Besprechungszelle neben dem Lehrerzimmer. Verdammt. Lina! Warum tust du mir das an? (Und doch: Ehrlich gesagt, bin ich auf ihrer Seite. Der Ausdruck von der klammheimlichen Freude fällt mir ein.)
 
Am Wochenende haben wir Freunde zum Brunchen eingeladen. Wir sitzen noch immer gemütlich am Essplatz in der Küche, als Lina gegen 14.00 Uhr völlig verpennt zur Tür hereinkommt. Wortlos und ohne uns eines Blickes zu würdigen, schaut sie in den Kühlschrank.
»Hey, Lina, wir sind auch noch da«, sage ich. »Könntest du nicht mal guten Morgen sagen?«
»Oh, Mann!«, motzt Lina mit einer Aggressivität, die uns alle vom Hocker haut. »Lass mich doch einfach mal in Ruhe! Ich hab jetzt keinen Bock auf dein Scheißgelaber. Kann man sich hier nicht mal in Ruhe ein Brot schmieren!?«
 
Mittwochs gegen 11.00 Uhr vormittags kommt ein Anruf von der Polizei. Lina ist bei einem Ladendiebstahl erwischt worden. Wir sollen bitte vorbeikommen, um sie abzuholen. Unsere Lina?! Ladendiebstahl? Um elf Uhr? Sie müsste doch eigentlich in der Schule sein?!
 
Lina darf nicht mit auf die geplante Klassenfahrt nach Frankreich. Nach der Franz-Affäre und diversen anderen Verstößen gegen die Regeln des guten Tons hat sich das Lehrerkollegium mehrheitlich gegen Linas Teilnahme ausgesprochen. Im Ausland, so die Begründung, träten die Schüler schließlich als Botschafter unseres Landes auf, und eine wie Lina könne man einer Gastfamilie schlichtweg nicht zumuten. »Wer wie Ihre Tochter bereits im Vorfeld Zweifel an seiner Fähigkeit zum guten Benehmen aufkommen ließ, wird in dieser Hinsicht zu einem untragbaren Risikofaktor.« Ich meine, Lina grinsen zu sehen, als ich ihr den Brief vorlese. Es blitzt fast so etwas wie Stolz über diese Glanzleistung aus ihren Augen. Doch als sie erfährt, dass sie die Zeit in der Parallelklasse absitzen muss und nicht schulfrei hat, fängt sie an zu maulen. Eine Sauerei sei das. Eine ganz große Sauerei! Und nur weil die alte Franz sie auf dem Kieker habe.
Natürlich bin ich irgendwie sauer auf das Kind. Andererseits aber tut sie mir auch leid. Wir waren doch alle mal jung und auch wir haben den Lehrern Streiche gespielt. Ob diese Strafe nicht etwas überzogen ist?
 
Eine Woche vor Beginn der Sommerferien klaut Lina das Klassenbuch, um auf diese Weise ihr Schwänzen zu vertuschen. Der Verdacht fällt sofort auf sie. Wer sonst wäre zu so einer Tat fähig? Etwa zur gleichen Zeit fehlt wieder ein Rucksack. Er ist aus der Mädchenumkleidekabine in der Sporthalle verschwunden. Mehrere Schüler wollen die Täterin gesehen haben. Ihre Beschreibung passt auf... Lina.
Der Direktor bestellt meinen Mann und mich noch vor den Ferien zu sich ins Büro. Er macht es dringend und besteht darauf, dass wir beide kommen. »Lina ist für diese Schule nicht mehr tragbar«, eröffnet er uns. Und er stellt uns vor die Wahl: Entweder wir nehmen sie freiwillig vom Gymnasium oder er leitet ein Schulausschlussverfahren ein. Wir sind wie vom Donner gerührt. Und doch denke ich: Vielleicht ist’s besser so. Dauernd diese Probleme. Auf einer anderen Schule wird sie sich bestimmt viel wohler fühlen. Und dann wird alles wieder gut...
Wir suchen gemeinsam mit Lina ihre ganz persönliche Ideal- und Wunsch-Schule. Und wir finden sie – eine Gesamtschule. Tolle Empfangshalle, alles topmodern. (Die völlig maroden Klassenzimmer enthält man uns bei der Besichtigung vor.) Linas Episode dort währt ganze fünf Wochen. Dann teilt uns der Schulleiter mit, dass sie die Probezeit leider nicht bestanden habe.
 
Inzwischen habe ich kapiert, was mit Lina ist: Ich weiß, dass sie Drogen nimmt. Weiß, dass sie kifft. Und wer weiß, was sie sonst noch alles nimmt. Die Erkenntnis kommt mir, als ich sie eines Tages völlig zugedröhnt auf dem Sofa sitzen sehe. Erst in diesem Augenblick lasse ich den Gedanken zu, dass in all den vielen Klagen, die es in der letzten Zeit gegen Lina gehagelt hatte, doch mehr als ein Körnchen Wahrheit steckte. Mir wird klar, wie sehr ich den Kontakt zu ihr verloren habe und wie wenig ich von ihr weiß.
Und dann geht alles Schlag auf Schlag:
Erst auf die Realschule.
2 Wochen.
Dann auf die Hauptschule.
3 Tage.
Und dann?

Gar keine Schule mehr.