Uwe Vigenschow ist Abteilungsleiter bei Körber Pharma Software. Er ist seit 20 Jahren Führungskraft, Berater, Trainer und Coach in verschiedenen Firmen und Branchen und Experte für Agilität, Leadership, Wissenstransfer, Veränderungsprozesse und den Aufbau flexibler, dynamikrobuster Teams und Abteilungen. Er hat bereits mehrere Bücher u.a. über agiles Projektmanagement, Soft Skills für Ingenieure und Führungskräfte geschrieben wie auch zahlreiche Artikel zu diesen Themen verfasst.
Mit Beiträgen von …
Dr. Andrea Stricker startete nach dem Chemiestudium in Hamburg mit Promotion in der Polymerchemie im Jahr 2000 als Produktentwicklerin bei 3M in Neuss. Es folgten Positionen im technischen Kundenservice, Business Development, Produktsicherheit und Innovationsmanagement. Sie hat dabei für verschiedene Industrien, wie der Druck-, Automobil- und Elektronikindustrie, gearbeitet. Kundennähe, Netzwerke und die Übersicht über die verschiedenen Technologieplattformen bei 3M sind die Schwerpunkte ihrer Arbeit.
(Foto mit freundlicher Genehmigung durch 3M)
Dr. Michele Ceccarelli, Certified Lean Six Sigma Master Black Belt, ist EMEA Operational Excellence Manager bei Rotork in Lucca, Italien. Michele führt konzernweite Operational-Excellence-Programme durch, mit denen er kulturelle Veränderungen fördert und die leitenden Angestellten bei der Anpassung ihrer Führungsaufgaben unterstützt. Dabei erhöht er die Performanz, eliminiert überflüssige Prozessschritte, minimiert Produktqualitätsschwankungen und entwickelt die Fähigkeiten der Mitarbeiter und die Unternehmenskultur weiter. Er ist Autor eines Buches zu Lean Six Sigma und zahlreicher Artikel.
Zu diesem Buch – sowie zu vielen weiteren dpunkt.büchern – können Sie auch das entsprechende E-Book im PDF-Format herunterladen. Werden Sie dazu einfach Mitglied bei dpunkt.plus+: www.dpunkt.plus |
Das Management komplexer Aufgaben und
Strukturen zukunftssicher gestalten
Mit Beiträgen von Andrea Stricker und Michele Ceccarelli
Uwe Vigenschow
uwe@vigenschow.com
Lektorat: Christa Preisendanz
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg
Satz: Uwe Vigenschow
Herstellung: Stefanie Weidner
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
Print978-3-86490-798-2
PDF978-3-96910-126-1
ePub978-3-96910-127-8
mobi978-3-96910-128-5
1. Auflage 2021
Copyright © 2021 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
Hinweis:
Dieses Buch wurde auf PEFC-zertifiziertem Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft gedruckt. Der Umwelt zuliebe verzichten wir zusätzlich auf die Einschweißfolie.
Schreiben Sie uns:
Falls Sie Anregungen, Wünsche und Kommentare haben, lassen Sie es uns wissen: hallo@dpunkt.de.
Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.
Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.
5 4 3 2 1 0
Agilität kann doch nicht das Allheilmittel sein, die Silberkugel, die alle unsere Probleme löst. Wie geht es also weiter? Diese Gedanken kamen mir während der Projektarbeit der letzten Jahre. Agilität ist sicher ein zentrales Element einer dynamischen Organisation, doch braucht es mehr. Nur was fehlt?
Im Reflektieren über meine Erfahrungen aus den letzten 20 Jahren als Führungskraft, Berater, Trainer und Coach erkannte ich in der Zusammenarbeit mit anderen Wissensarbeitern verschiedene Muster. Muster, die funktionieren, und solche, die es nicht tun, sogenannte Antipattern. Für ihre Analyse brachte ich verschiedene Wissensstränge zusammen, die ich mehr oder weniger unabhängig voneinander in der Zeit aufgebaut habe. Ein Konzept entstand durch die Leitlinie meiner Arbeit: direkte Arbeit mit den Menschen auf Basis fundierter Methoden.
Eine Analyse der von mir eingesetzten Methoden lieferte eine schwer handhabbare Menge an Ideen, Einflüssen und Techniken. Ein Muster war jedoch erkennbar: Es geht immer wieder darum, in der Zusammenarbeit verschiedene wertvolle Aspekte in eine Balance zu bringen oder diese wieder herzustellen. Das erinnerte mich an das Wertemodell aus dem Agilen Manifest1. So wendete ich die Idee der Wertepaare auf mein Analyseergebnis an und kam analog zu einem Wertemodell, den Werte unterstützenden Prinzipien und konkreten Praktiken, um diese Prinzipien anzuwenden. Dazu nahm ich wieder die grundlegende Literatur von Organisationsentwicklern wie Peter Senge, Ikujirō Nonaka und Hirotaka Takeuchi, Managementvordenkern wie Peter Drucker, Gary Hamel, Henry Mintzberg, Robert Kaplan und David Norton, aber auch Systemtheoretikern wie Gregory Bateson und Niklas Luhmann in die Hand. Im Kontext mit neueren Veröffentlichungen von Lernexperten wie David A. Kolb, Chris Argyris und Donald Schön, Vordenkern des »New Work« wie Frederick Laloux, Markus Väth, Gerhard Wohland und Matthias Wiemeyer sowie etablierten Organisationsexperten wie James March oder Stefan Kühl, die mich in den letzten zehn Jahre inspiriert haben, zeigte sich, wie die unterschiedlichen Konzepte weiterentwickelt wurden. So entstand für mich ein in sich geschlossenes Bild, das meine Erfahrungen beim Auf- und Ausbau von dynamikrobusten und damit zukunftssicheren Organisationseinheiten wiedergibt und für mich ausreichend fundiert ist.
Diese Synthese zeichnet das Buch aus. Mir ist keine Veröffentlichung bekannt, in der versucht wird, die verschiedenen Stränge aus Organisationslehre, Systemtheorie, Wissensmanagement, Agilität und erfahrungsbasiertem Lernen unter einem Dach zusammenzuführen, um ein Modell einer lernende Organisation zu schaffen. So entstand die Idee für dieses Buch.
»Wenn wir die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.« Bei aller Theorie beschreibt dieses Zitat von Johann Wolfgang von Goethe sehr gut, was ich praktisch damit versuche, zu erreichen. Oder wie es im letzten Jahrhundert William McKnight, ehemaliger Präsident und Aufsichtsratsvorsitzender des Unternehmens 3M, sagte: »Wer Zäune um Menschen baut, bekommt Schafe. Geben Sie Menschen den Raum, den sie brauchen!« Es geht darum, mit Menschen in Gruppen und in Teams zu arbeiten. Dabei ist unser Umfeld in den letzten Jahrzehnten durch die Globalisierung und Digitalisierung schrittweise immer komplexer und dynamischer geworden. Die traditionellen Konzepte greifen nicht mehr und Alternativen sind erst am Entstehen. Der Weg kann nur über die Mitarbeiter und Kollegen gehen. Führung bedeutet daher für mich stets, die Mitarbeiter sich weiterentwickeln zu lassen, sie dabei zu unterstützen, neue Türen in noch unbekannte Räume aufzustoßen und so die Flexibilität und Kreativität in einer Abteilung, einem Fachbereich oder einer ganzen Organisation zu entfalten.
Dabei gibt es keine einfachen Lösungen für die komplexen Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Oder wie es der amerikanische Autor, Satiriker und Journalist Henry Louis Mencken im Jahr 1921 sagte: »Erklärungen gibt es und hat es seit ewigen Zeiten gegeben; stets weiß man für jedes menschliche Problem eine Lösung – sauber, einleuchtend und falsch.« Die Führungskräfte geben den Mitarbeitern die notwendige Sicherheit und Orientierung, um gemeinsam passende Antworten zu finden. Dabei transformieren sie Irritation in Information, wie Niklas Luhmann es sinngemäß treffend beschreibt2. Bei den Führungskräften liegt für mich der Schlüssel zu einer lernenden Organisation. Weil diese Transformation einer Organisation so komplex und damit kaum planbar ist, können wir uns dabei nur auf unsere Tugenden verlassen. Die Disziplin jeder einzelnen Person innerhalb einer Organisation bildet die Grundlage dafür, kreativ und innovativ zu sein.
Dieser Gedanke führt zu einer Einschränkung: Der Fokus in diesem Buch liegt auf Wissensarbeit. Damit sind Banken, Versicherungen, Beratungshäuser und zahlreiche Dienstleister gemeint sowie die Ingenieurbereiche wie z.B. der Maschinen-, Automobil-, Flugzeug- und Schiffsbau oder die Softwareentwicklung bzw. die Automatisierungsbranche oder die chemische Industrie und Pharmazeutik. Das sind nur einige Beispiele. Überall dort, wo hoch qualifizierte Menschen zusammenarbeiten, um ein komplexes Ergebnis zu schaffen, dominiert die Wissensarbeit. Dieser Teil der Wirtschaft ist bereits riesig und wächst ständig.
Wir wissen bisher nur grob, was uns im 21. Jahrhundert erwartet. Nach John P. Kotter, Professor für Führungsmanagement, ist eine fundamental neue Form von Organisation notwendig und der Begriff Strategie bedarf einer Neudefinition. Lassen Sie sich auf die Reise einstimmen, auf die ich Sie in diesem Buch mitnehmen möchte. Eine Reise auf dem Weg in die lernende Organisation. Und bleiben Sie trotz aller guter Ideen in diesem Buch kritisch, denn »mit nichts ist man freigiebiger als mit Ratschlägen, und mit nichts sollte man zurückhaltender sein«, wie es François de La Rochefoucauld so passend anmerkt.
Hamburg, im November 2020
Uwe Vigenschow
Scheitern ist Silber, Lernen ist Gold – ein Einstieg
IDie Ausgangslage
1Wir brauchen lernende Organisationen
1.1Ein Lernmodell für Organisationen
1.2Erfolgsfaktoren: Dynamik und Innovation
2Organisationen lernen sich anzupassen
2.1Die fünf Disziplinen
2.2Der Wandel ist in vollem Gange!
IIKonzepte für die lernende Organisation
3Überblick über die Konzepte
4Innovation und Wissensarbeit
4.1Konkurrenz belebt das Geschäft
4.2Innovationen erzeugen Marktdruck
5Organisationstheorie
5.1Organisation – eine Definition
5.2Firmenstrategie und ihre Umsetzung
5.3Ziele, ihre Struktur und Erfolgsgrößen
5.4Wie lernen Organisationen?
5.5Führung in Organisationen
5.6Organisationen entwickeln
6Theorie komplexer Systeme
6.1Komplexe Systeme
6.2Direkte und indirekte Regelkreise
6.3Retrospektive Kohärenz – die Steuerung
7Systemisches Denken
7.1Konstruktivismus und Systemik
7.2Systemgesetze
7.3Bedeutung in der Praxis
8Gruppendynamik
8.1Emergenz: 2 + 2 = 7
8.2Erkenntnisse aus der Organisationspsychologie
9Agilität
9.1Definition
9.2Rahmen für die Praxis
9.3Regeln zur Entscheidungsfindung
10Werte und Kulturveränderung
10.1Werte im Zusammenspiel
10.2Werte, Kultur und Mindset
11Diversität
11.1Was steckt hinter Diversität?
11.2Der Preis für Diversität
11.3Langfristig wirksame Entscheidungen
12Erfahrungsbasierter Lernprozess
12.1Lernen – Was steckt dahinter?
12.2Vom Wissen zum Können
12.3Lernen in Organisationen
12.4Experiential Learning Theory
13Wissensmanagement
13.1Daten, Informationen und Wissen
13.2Kreislauf des Wissensmanagements
13.3Wissen schaffen im Unternehmen
IIISo funktioniert eine lernende Organisation
14Lernmodell und Werte
14.1Archetyp des Lernmodells
14.2Das Wertesystem
15Prinzipien und Praktiken
15.1Grundlegende Prinzipien
15.2Zentrale Praktiken
16Die vernetzten Konzepte
16.1Ziele – das Führungskonzept
16.2Rhythmus – das Steuerungskonzept
16.3Miteinander reden – der Kommunikationsplan
16.4Experiential Learning – das Lernkonzept
16.5Werte vermitteln – Personalentwicklung
16.6Beratung – das Kontrollkonzept
16.7Kultur – das Wissensmanagementkonzept
16.8Exzellenz – das Erfolgskonzept
16.9Verantwortlichkeiten – das Rollenkonzept
16.10Supervision – das Metakonzept
17Ziele einer lernenden Organisation
17.1Universelle Lernziele
17.2Lernziele durch Lernpläne erreichen
17.3Nutzen und Wert ermitteln
18Lernen lernen in Organisationen
18.1Lernen in drei Dimensionen
18.2Die drei Stufen des Lernens in Organisationen
18.3Ethische Höchstleitung
18.4Veränderungen gestalten lernen
19Risiken einer lernenden Organisation
19.1Typische Risiken für den Lernprozess
19.2Typische Risiken für die Organisation
20Learning on Demand
20.1Was bedeutet Lernen bei Bedarf?
20.2Vier schlanke Beispiele
20.3Ein umfassendes Beispiel
IVPraxisberichte
21Praxisbericht: Operational Excellence erreichen
21.1Veränderung und Führung
21.2Menschen, Leadership und Verantwortung
21.3Engagement führt zu Performanz
22Praxisbericht: Innovationen schaffen
22.1Wie alles begann
22.2Was bedeutet das heute?
22.3Flexibel und fokussiert bleiben
VWie kann es weitergehen?
23Wie sieht der Anfang aus?
23.1Erste Maßnahmen
23.2Aus dem Lernen ein Lernprojekt machen
24Sinnhaftes, selbstbestimmtes Arbeiten
24.1New Work
24.2Ein kurzer Blick in die Zukunft
VIAnhang
Thematische Vertiefungen
Danksagung
Referenzen
Index
Gebe ich als Suchbegriff bei Google scheitern ein, wird mir auf der ersten Seite eine bunte Sammlung von Artikeln angezeigt, die sich mehr oder weniger darum drehen, wie wichtig Scheitern für den wirtschaftlichen Erfolg ist. Da geht es um die Kunst des Scheiterns, Scheitern als Normalfall, das falsche Verhältnis zum Versagen, Scheitern als Chance usw. Aber mal im Ernst: Scheitern fühlt sich einfach nicht gut an. Warum dann der ganze Hype um das Scheitern?
Fehler begehen oder gar Scheitern alleine nützt gar nichts. Daraus zu lernen, ist die entscheidende Kernkompetenz! Doch wie funktioniert es, in einer Gruppe oder Organisation zu lernen?3
In vielen dieser Artikel geht es eher darum, dass insbesondere in unserem Kulturkreis eine destruktive Fehlerkultur herrscht. Aus Angst vor Fehlern wird lieber gar nichts gemacht und erst recht nichts entschieden bzw. Verantwortung übernommen. Fehler kommen im traditionellen Management nicht vor und Planungsabweichungen machen einfach nur Arbeit. Hier ist ein Umdenken sicherlich dringend angebracht.
Was ist ein Fehler? Jemand macht einen Fehler, wenn er wider besseres Wissen handelt. Solange man in einer konkreten Situation kein Wissen hat bzw. sich aus der Literatur, über Berater oder andere Experten keines aneignen kann, begibt man sich in eine Lernschleife. In solch einer Situation kann man keinen Fehler machen!
Dazu ein Beispiel zur Illustration: Solange jemand keine Erfahrung im Lösen von Differenzialgleichungen hat, gehören Fehler noch zum Lernprozess. Einem Auszubildenden lässt sich schlecht vorwerfen, dass er eine zu lernende Vorgehensweise noch nicht kann. Wenn jemand jedoch das Lösen von Differenzialgleichungen gelernt hat, wäre ein Fehler, der dabei gemacht wird, ein echter Fehler. Natürlich ist es durchaus wertvoll, herauszufinden, warum es zu dem Fehler gekommen ist. Doch damit ist bereits im Lernprozess die nächsthöhere Ebene erreicht.
Mir geht es in diesem Buch um den notwendigen Folgeschritt: das Lernen. Nur zu einem konstruktiven Umgang mit Fehlern zu kommen, bringt einen letzten Endes nicht weiter. Es gilt, aus ihnen zu lernen, um die Fehler konstruktiv zu nutzen. Doch was bedeutet es eigentlich, zu lernen? Und selbst wenn der Einzelne lernt, wie lernen Teams oder gar eine Organisation? Bereits 1990 hat Peter Senge zu dem Thema die erste Auflage seines Klassikers Die fünfte Disziplin herausgebracht [Senge 2017]4. Er war damit seiner Zeit voraus und hat Lösungswege aufgezeigt, die im Wesentlichen immer noch gültig sind. Doch wie verhält es sich 30 Jahre später mit der Lernfähigkeit von Organisationen? Warum ist das überhaupt noch ein Thema? Zum einen findet sich zu selten eine konstruktive Fehlerkultur in Organisationen. Zum anderen ist Lernen ein komplizierter Prozess.
Es gibt keine einheitliche Definition des Lernens. Meist werden damit »relativ überdauernde Änderungen der Verhaltensmöglichkeiten bezeichnet, soweit sie auf Erfahrungen zurückgehen« [Arnold u.a. 2007]. Der Lerntheoretiker und emeritierte Professor David A. Kolb bringt seine Definition von Lernen stärker auf den Punkt: »Learning is the process whereby knowledge is created through the transformation of experience« [Kolb 2015]. Lernen erzeugt Wissen und basiert auf Erfahrung. Das kann bewusst oder unbewusst erfolgen und mehr oder weniger gut beschreibbar oder messbar ablaufen.
Lernen ist ein Prozess und damit in seinem Ergebnis von den Rahmen- und Umweltbedingungen abhängig. Lernen ist mit der Wahrnehmung und Bewertung der Umwelt verbunden, der Verknüpfung mit Bekanntem und dem Erkennen von Mustern [Schräder 2007; Zimbardo und Gerrig 1999]. Zu Beginn eines Lernprozesses stehen alle Beteiligten auf ihrem individuellen Niveau an Erfahrung und Fertigkeiten. Nach dem Lernprozess hat sich dieses Niveau individuell verändert.
Menschen lernen, sobald sie auf der Welt sind [Zimbardo und Gerrig 1999]. Menschen sind Lernmaschinen. Leider hängt es von den inneren und äußeren Parametern ab, was ein Mensch in einem Lernprozess wirklich für sich lernt. Und das ist nicht immer das vom Lehrenden Gewünschte. In einem Unternehmen mit einer eher destruktiven Fehlerkultur, in der jegliche Abweichung vom Plan sofort sanktioniert wird, indem der Überbringer schlechter Nachrichten unabhängig von den Zusammenhängen zum Schuldigen erkoren wird, lernen Mitarbeiter schnell, unbemerkt mit der Gruppe mit zu schwimmen, auf keinen Fall alleine Verantwortung zu übernehmen und bei Problemen ggf. wegzuschauen. Wohin das schlimmstenfalls führen kann, zeigen die Abgasskandale in der Automobilindustrie der letzten Zeit.
Wenn Fehler als Chance zum Lernen begriffen werden, können die Dinge gelernt werden, die ein Individuum, Team und eine Organisation weiterbringen. Ein Lernprozess benötigt daher auch die entsprechende Unternehmenskultur, die ein solches Lernen nicht nur zulässt, sondern einfordert und fördert. Hier sind die Führungskräfte als Gestalter und Vorbilder gefragt [Vigenschow u.a. 2016].
Auch in einer entsprechenden Kultur läuft nur wenig von alleine. Ein expliziter Lernprozess muss daher entsprechend gestaltet sein. David Kolb hat dafür den Experiential Learning Cycle entwickelt (Abb. 1).
Abbildung 1: Experiential Learning Cycle [Kolb 2015]
Dabei werden in den Zyklus immer wieder die beiden zusammenwirkenden Gegenspieler Handlung-Reflektion (horizontaler Bezug Erfahrung umwandeln in Abb. 1) und Erfahrung-Abstraktion (vertikaler Bezug Erfahrung verstehen in Abb. 1) durchlaufen [Kolb 2015]. Es geht also in dem Kreislauf darum, Erfahrungen zu verstehen und durch deren Transformation zu neuen Ideen zu gelangen. Der Antropologe und Systemtheoretiker Gregory Bateson bezeichnet diese Ebene als Lernen 2. Ordnung: Menschen lernen zu lernen. Auf dieser Ebene liegt auch die Basis für eine lernende Organisation.
Man kann nicht nicht lernen [Simon 2007]. Selbst wenn man aus dem Erleben einer problematischen Situation keine neuen Denk- oder Verhaltensweisen ableitet, hat man gelernt, gleiche Muster zu wiederholen. Diese Muster sind in destruktiven Fehlerkulturen z.B. das In-Deckung-Gehen vor und das starre Aushalten der Schelte vom Chef. Gregory Bateson bezeichnet diese Fähigkeit, bestimmten Situationen immer wieder mit denselben Mustern zu begegnen, als Lernen 0.
Mit Lernen I (Lernen 1. Ordnung) bezeichnet Bateson das klassische schulische Lernen, indem ein definierter Lernstoff den Schülern vom Lehrer vermittelt wird. Wer lernt, wie er lernt, hat bereits einen Teil von Lernen II erreicht. Das Lernen 2. Ordnung beinhaltet des Weiteren noch das Verstehen der Zusammenhänge und Herausbilden eigener Sichtweisen. Außerdem wird das Gelernte und auch der Lernprozess mit den Werten in Beziehung gebracht. Die eigene Lebens- und Praxiserfahrung wird damit als zusätzliche Ressource nutzbar.
Lernen III kann als Persönlichkeitsentwicklung betrachtet werden, in der Sichtweisen entwickelt und verändert werden und auch dieser Veränderungsprozess bewusst gelernt wird. Mit Lernen IV wird eine Ebene erreicht, die kein einzelnes Lebewesen mehr erreichen kann, sondern in der der Evolutionsprozess selbst als lernfähige Einheit betrachtet wird [Bateson 1981].
Warum braucht es eine lernende Organisation? Zum einen bedarf es einer hohen Flexibilität, um neue Ideen zu generieren und auf Ideen von Konkurrenten, über die sie auf den Markt Druck ausüben, schnell reagieren zu können. Flexibilität wird benötigt, um immer wieder zügig neue Technologien, Vorgehensweisen usw. zu lernen, da immer häufiger komplexe Projekte zu bewältigen sind. Diese unterscheiden sich von komplizierten Projekten dadurch, dass sie nicht wirklich planbar sind, und daher iterativ vorgegangen wird. Die Iterationen haben dabei den Charakter einer Lernschleife.
Es ist daher unvermeidlich, Organisationen lernfähig zu machen, um langfristig wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Das Topmanagement steht dabei in der Verantwortung, durch sein eigenes Vorbild und Handeln eine konstruktive Fehlerkultur zu ermöglichen. Doch was bedeutet das für die einzelnen Abteilungen und Teams? Gerade die mittlere Führungsebene ist der Schlüssel zum Erfolg. Teams benötigen, um lernende Organisationseinheiten zu werden, drei Dinge: Vertrauen, Freiräume und Moderation.
Die Teammitglieder können bei der Bewältigung komplexer Aufgaben das Vertrauen ihrer Kollegen und Führungskräfte in ihre Arbeit genießen. Ich gehe davon aus, dass jeder gemäß seinen Möglichkeiten und unter den äußeren Rahmenbedingungen sein Bestmögliches geben wird. Ich bin immer wieder überwältigt, wie viele Menschen ein in sie gesetztes Vertrauen bestätigen. Vertrauen bildet den Rahmen dafür, dass sich Mitarbeiter eigenverantwortlich einbringen und motiviert bleiben [Sprenger 2007]. Dieses Vertrauen kommt von den Führungskräften! Deren Rolle ist es, über inhaltliche Visionen und Ziele sowie Randbedingungen und grundsätzliche Regeln den Raum und die Leitplanken zu schaffen, in dem bzw. zwischen denen sich die Organisation durch Lernen weiterentwickeln kann.
Lernen benötigt Zeit und Lernschleifen erst recht. Auch komplexe Projekte profitieren von einer iterativen Planung, selbst wenn man weiß, dass sich viele Aufgaben nicht wirklich planen lassen, weil sie zu viele unvorhersehbare Überraschungen beinhalten. Auch das benötigt Zeit, ebenso wie das erneute Ansetzen einer weiteren Lernschleife. Je nach Komplexität des Projekts braucht es dafür unterschiedlich große Freiräume im Sinne nicht verplanter Zeit bzw. Kapazität. Ein komplexes Projekt kann daher nicht effizient ablaufen, aber effektiv im Sinne des Ergebnisses und seiner Bewertung durch den Kunden. Ohne ausreichende Freiräume kann kein Lernen erfolgen, das über das Lernen des Individuums hinausgeht.
Moderation bedeutet hierbei, nicht nur Meetings zu organisieren und durchzuführen, sondern vielmehr verantwortlich für den Lernprozess zu sein. Im Lernen 1. Ordnung hätte diese Rolle der Lehrer inne. Ab dem Lernen 2. Ordnung, und dabei geht es bei einer lernenden Organisation, kann es keinen Lehrer geben, der die Lösungswege bereits kennt. Daher ist eine Moderation bzw. Begleitung notwendig, die das Lernen ab der 2. Ordnung mit dem Team gestaltet und die Verantwortung für den Lernprozess trägt. Eine Moderator*in ist also die Prozessexpert*in, während das Team aus den Lösungsexperten besteht. Wenn bereits qualifizierte Moderator*innen in einer Organisation vorhanden sind, können diese dafür eingesetzt werden. Anderenfalls werden geeignete externe Personen hinzugezogen.
Der Lernprozess selbst kann als entwicklungsfokussiertes Lernen gesehen werden, wobei es ebenso um die Entwicklung der einzelnen Personen wie auch um die Entwicklung von Organisationseinheiten und die Gestaltung des Lernprozesses selbst geht. Damit wird Lernen zu einem Veränderungsprozess, der von einer in solchen Prozessen und systemischen Grundlagen erfahrenen Person begleitet wird. Die systemische Ordnung in Gruppen ist dabei ebenso von zentraler Bedeutung wie der Dreiklang aus Bindung (Zugehörigkeit), Ordnung und Ausgleich. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Aspekte ergeben sich systemische Grundregeln für das Verhalten von Menschen in Gruppen. Ursachen für Probleme und ihre sichtbaren Auswirkungen können dabei auf verschiedenen Ebenen liegen (Abb. 2) [Vigenschow u.a. 2016].
Abbildung 2: Das Zusammenspiel aus Bindung (Zugehörigkeit), Ordnung und Ausgleich [Vigenschow u.a. 2016]
Damit aus dem Lernprozess über das Wissen und dessen Anwendung ein praxisrelevantes Können bei jedem einzelnen Teammitglied aufgebaut werden kann, läuft der Lernprozess parallel zur Bewältigung des komplexen Vorhabens ab. Das Lernen ist damit am Thema und am fachlichen Ergebnis orientiert. Es wird das gelernt, was eine Gruppe zur Bewältigung der Aufgaben benötigt. Damit wird ein Team mit der Zeit flexibler und lernt, im Kontext der Organisation zu lernen.
Da agile Verfahren dafür geschaffen wurden, um mit ihnen komplexe Aufgaben zu bewältigen, sollte es eine enge Beziehung zwischen der hier dargestellten Lerntheorie, lernenden Organisationen und Agilität geben. Am Beispiel Scrum wird dies schnell deutlich. Der Inspect-and-adapt-Regelkreis aus Abbildung 3 ist ein vereinfachter Lernprozess, wie er in Abbildung 1 dargestellt ist [Sutherland und Schwaber 2017]. Die oben benannte Rolle der Moderator*in ist der Scrum Master.
Abbildung 3: Regelkreis nach Scrum: Inspect and adapt inkl. der notwendigen Retrospektive [Vigenschow 2015]
Agile Verfahren sind adaptive Verfahren, die um einen Lernprozess herum aufgebaut sind. Das zentrale Schlüsselelement des Lernens ist die rückblickende Reflektion, die auch in Abbildung 1 dargestellt ist. In agilen Vorgehensweisen wird dies durch die regelmäßigen Retrospektiven erreicht [Derby und Larsen 2006; Kerth 2005]. Das ganze Team nutzt diese Meetings am Ende jeder Iteration, um auf den Projektverlauf und die Zusammenarbeit zurückzublicken, auftretende Muster zu erkennen, daraus Erkenntnisse abzuleiten und kurzfristig umsetzbare Maßnahmen zu initiieren. So kann bereits der Verlauf der nächsten Iteration weiter verbessert werden [Vigenschow 2015].
Das Mittel der Retrospektive kann universell eingesetzt werden, um den Lernprozess aus Abbildung 1 zu ermöglichen (reflektierendes Beobachten). Unterstützt wird der Lernprozess durch die Planung der nächsten Iteration (Konzept), ihre Umsetzung (experimentieren und Erfahrungen machen). In der Retrospektive versucht ein Team die Erfahrungen zu verstehen und erst in neues Wissen und dann durch das praktische Ausprobieren in der Folgeiteration in Können umzuwandeln.
Dieser Lernprozess wird auf jeder Hierarchieebene von Teams über Abteilungen zu Bereichen bis in die Geschäftsführung aufgesetzt. Für den iterativen Lernprozess auf jeder Ebene ist es unwichtig, ob alle Iterationen aufeinander abgestimmt sind. Auch dieses Prozessdetail unterliegt den Erfahrungen aus dem Lernprozess. Das bedeutet, dass es auf jeder Ebene, Vertrauen, Freiräume und Moderator*innen gibt. Das klingt aufwendig, ist es auch und gleichzeitig ist das der Weg, eine lernende Organisation zu schaffen und die Flexibilität zu erhöhen.
Warum ist die Retrospektive ein so zentrales Element in Regelkreisen und damit auch im Lernprozess selbst? Damit das Lernen durch Ausprobieren in komplexen Situationen kein planloses Herumstochern im Nebel wird, sondern ein Team gezielt weiterbringt, benötigt es innerhalb des Lernprozesses feste Orientierungsphasen, in denen es den aktuellen Zustand bewertet und Veränderungsideen entwickelt. Dies erfolgt in regelmäßigen Intervallen in Form einer Retrospektive.
In einem komplexen System können die Wirkungen einer Ursache nicht deterministisch vorhergesagt werden. Dies definiert ja gerade Komplexität. Es kann nur jeweils im Nachhinein erkannt werden, welche Idee wie funktioniert hat. Derartige Erkenntnisgewinne können nur rückblickend herausgezogen werden. Das Verhalten eines komplexen Systems wird allein im Rückblick kohärent. Dies bezieht sich nicht nur auf das Gesamtsystem als Ganzes, sondern im Gegenteil primär auf einzelne Aspekte des Systems. Daher ist die Retrospektive eine Maßnahme, die regelmäßig parallel zu den laufenden Prozessen in einem System durchgeführt wird.
Dieser Weg des Erkenntnisgewinns heißt daher retrospektive Kohärenz. Für die Optimierung von Abläufen oder anderen Veränderungen in komplexen Systemen ist daher der rückblickende Erkenntnisgewinn die einzige Möglichkeit, Erklärungen und Zusammenhänge für ein spezifisches komplexes System zu erkennen. Diese Retrospektiven müssen, damit sie auch wirklich durchgeführt werden, von vornherein regelmäßig eingeplant werden, denn nur rückblickend wird ein bewusstes Lernen möglich.
Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Einführung auf die Eingangsfrage zurückkommen. Je komplexer, also weniger planbarer, ein Vorhaben ist, desto weniger lassen sich Lernschleifen durch Scheitern vermeiden. Wenn etwas nicht vorab geplant werden kann, bleibt nichts anderes übrig, als verschiedene Ideen und Ansätze auszuprobieren. Um komplexe Vorhaben zu bewältigen, braucht es daher iterative Prozesse. Echte Fehler, also Handlungen wider besseres Wissen, können so vermieden werden. Notwendige Lernschleifen jedoch nicht.
Die Kunst besteht darin, diese Lernschleifen so zu gestalten, dass sie das Vorhaben nicht wirtschaftlich gefährden. So beginnt der Weg zu einer dauerhaft lernenden Organisation, die sich immer wieder neu erfindet und dabei kreative Produkte schafft, die Konkurrenten unter Zugzwang setzen und Kunden zufriedenstellen.
Immer mehr Unternehmen haben komplexe Aufgaben zu lösen. Wo stehen diese Unternehmen im Jahr 2020? Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs. Die Modelle und Konzepte des 20. Jahrhunderts passen nicht mehr zu den Herausforderungen, denen sich die Unternehmen im 21. Jahrhundert stellen müssen. Was waren die Treiber in ihren Geschäftsmodellen und was werden die zukünftigen Treiber sein?
In diesem Teil des Buchs werden die Zusammenhänge am Ausgang des 20. Jahrhunderts und die Veränderungen der letzten 20 Jahre analysiert. Die hohe Dynamik in den Veränderungen der Rahmenbedingungen und der Druck, der aus Innovationen entsteht, führen dazu, auch die Organisationen flexibler aufzustellen. Meine These dazu lautet, dass der zentrale Erfolgsfaktor dafür die Fähigkeit ist, eine lernende Organisation zu schaffen. Nur so kann die notwendige Flexibilität und Kreativität erreicht werden.
Warum sollten Sie ein Buch über lernende Organisationen lesen? Ist eine agile Organisation nicht automatisch auch eine lernende Organisation? Und über Agilität gibt es doch bereits zahlreiche Veröffentlichungen.
Da Agilität der Weg ist, komplexe Aufgaben zu bewältigen, lernen agile Teams im Laufe eines Projekts eine Menge. Sie sind gezwungen zu lernen, um die Aufgabe bewältigen zu können.
Agilität ist daher notwendig für eine lernende Organisation, jedoch nicht hinreichend. Die Herkunft der Agilität liegt im Projektmanagement. Der Fokus ist klar und verglichen mit den strategischen Themen einer Organisation eher kurzfristig. Ein Projekt ist auf den Projekterfolg ausgerichtet. Wenn wir das auf eine Organisation übertragen, bleiben Fragen offen. Welche Ziele sollen auf der Ebene einer Organisation erreicht werden? Was soll bei deren Verfolgung genau gelernt werden? Wie können agile Teams überhaupt lernen? Wie wird das erlernte Wissen geteilt? Wie kann eine ganze Organisation lernen und welchen Nutzen hat sie davon? Wie gelingt der Kulturwandel hin zu einer agilen und darauf aufbauenden, lernenden Organisation?
Die zentrale Aufgabe einer Organisation ist nicht die Entwicklung einer erfolgreichen Strategie, sondern deren Umsetzung. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Hier geht es um Innovationen. Diese können Produkte, Prozesse oder Dienstleistungen betreffen.
Wenn eine Organisation lernen möchte, wie ihre Strategie erfolgreich umgesetzt wird, geht das weit über Agilität hinaus. Seit Peter Senges Grundlagenwerk zu lernenden Organisationen aus dem Jahr 1990 [Senge 2017] ist klar, dass die Systemtheorie und systemisches Denken sowie Gruppendynamik die Basis bilden. Aus der Organisationstheorie nach James March ist bekannt, dass Organisationen erfahrungsbasiert lernen [March 2016]. Ein erfahrungsbasiertes Lernkonzept ist von David A. Kolb seit den 1970er-Jahren kontinuierlich entwickelt und 2015 zur Reife gebracht worden [Kolb 2015]. Wissensarbeit im Sinne von Peter Drucker ist dabei ebenso elementar wie Wissensmanagement nach Hirotaka Takeuchi und Ikujirō Nonaka. Agilität und Organisationsentwicklung runden diese Sammlung ab.
Aus diesen Bausteinen setzt sich zusammen, was eine lernende Organisation ausmacht und wie sie entwickelt werden kann. In meinem Lernmodell für Organisationen, das später ausführlich dargestellt wird, werden diese Konzepte miteinander vernetzt. Ein Rollenmodell mit definierten Aufgaben bildet das Gerüst für seine Umsetzung. Machen Sie sich und Ihre Organisation fit für eine Zukunft, die längst begonnen hat.
Warum sind eine lernende Organisation, Agilität und das Management von Komplexität heute so angesagte Themen? Es hat sich doch eigentlich in den letzten 20–30 Jahren nicht viel in der Arbeitswelt verändert. Weshalb weisen zahlreiche Veröffentlichungen darauf hin, dass heute vieles von dem, was die Menschen bislang in ihrem Berufsleben erfolgreich gemacht haben, auf einmal nicht mehr sinnvoll sein soll? Was hat sich verändert?
Für viele kaum merkbar haben sich die Rahmenbedingungen drastisch verändert. Unter dem Oberbegriff der Globalisierung hat sich in der Wirtschaft ein grundsätzlicher Wandel vollzogen. Diese Veränderung hat eine Dynamik zur Folge, die sich fundamental auf die Arbeitswelt auswirkt, natürlich nicht auf jeden Arbeitsplatz gleichermaßen und von Branche zu Branche unterschiedlich. Und dennoch wirkt sich diese Veränderung auf Firmenkultur, Arbeitsweisen, Strukturen und Führung in zum Teil radikaler Weise aus. Zu erkennen ist diese Veränderung in der Zunahme der Komplexität, mit der es die Menschen in Organisationen zu tun haben. Dabei stoßen viele der bewährten Managementkonzepte an ihre Grenzen, da sie nur für gut vorab planbare, aber nicht für komplexe Verhältnisse funktionieren. Andere Handlungsstrategien und Konzepte sind dafür wirkungsvoller [Wohland und Wiemeyer 2012].
Bevor es tiefer in das Thema lernende Organisation geht, lassen Sie mich einen Blick darauf werfen, warum die Globalisierung eine solche Auswirkung haben konnte. Dabei setze ich sie als Rahmenbedingung voraus und bewerte nicht ihre politischen oder sozialen Auswirkungen, sondern nur ihre Konsequenzen hinsichtlich der Zunahme komplexer Aufgaben in der Arbeitswelt.
Wenn ich auf die letzten 150 Jahre zurückblicke und die dominierenden Wirtschaftsstrategien betrachte, lassen sich um 1900 und 2000 vergleichbare Verdrängungseffekte erkennen (Abb. 1.1). Der erste Effekt Anfang des 20. Jahrhunderts ist unter dem Namen Taylorismus bzw. treffender als Scientific Management bekannt. Er beginnt am Übergang von der handwerklichen Manufaktur zur industriellen Massenproduktion. Ermöglicht wurde dieser Wechsel im Wesentlichen durch Erfindung von dampf-, dieseloder elektrisch betriebenen Produktionsmaschinen und einer durch Eisenbahn und Dampfschifffahrt sprunghaft verbesserten Logistik [Wohland und Wiemeyer 2012].
Abbildung 1.1: Die Taylor-Wanne – die führenden Wirtschaftsstrategien einst und jetzt [Wohland und Wiemeyer 2012]
Der amerikanische Ingenieur Frederick Taylor erkannte diesen Umbruch und die damit verbundenen Möglichkeiten. Der vielseitig gebildete, metallurgische Forscher und spätere Unternehmensberater begründete das Scientific Management. Nach ihm wurde das Konzept der industriellen Fertigung später auch als Taylorismus bezeichnet.
Um zu verstehen, was das Besondere am Scientific Management war, geht es noch etwas weiter in die Vergangenheit zurück. Zu Zeiten der durch Handwerksbetriebe geprägten Manufaktur waren die Märkte überwiegend lokal begrenzt, da die Transportkosten vergleichsweise hoch waren und die handwerkliche Fertigung eher individuellen Charakter hatte. Auch waren nationale oder gar internationale Standards, die eine Austauschbarkeit von Waren erleichtern, noch nicht ausreichend vorhanden.
Die Handwerker waren hoch qualifiziert und in der Lage, alle notwendigen Produktionsschritte selbst bzw. in ihrer Werkstatt auszuführen. Vieles entstand nach Maß bzw. wurde individuell gefertigt. Auch wenn eine gewisse Planbarkeit und Vorhersehbarkeit gegeben war, so war die Qualifikation der Handwerker deutlich höher als die der Arbeiter im frühen 20. Jahrhundert und damit auch die Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben (Abb. 1.1, links). Die einzelnen Handwerksberufe waren seit dem Mittelalter durch Zusammenschlüsse in Zünften geschützt und intern geregelt. Die Märkte waren lokal begrenzt und Methoden sowie Werkzeuge waren gut daran angepasst.
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden durch die vereinfachten und verbilligten Transportmöglichkeiten völlig neue Märkte, die fast beliebig aufnahmefähig für billige Massengüter waren. Die Manufakturen waren jedoch nicht in der Lage, die Nachfrage dieser Massenmärkte zu befriedigen. Eine Manufaktur kann dafür u.a. aufgrund fehlender Handwerker nicht ausreichend skalieren. Hier kommt nun Taylors Konzept zum Tragen. Es markiert den Übergang von der Manufaktur- zur Fabrikorganisation und basiert auf fünf Grundsätzen [Taylor und Wallichs 2007]:
Damit wollte Taylor die Arbeiter zur vollständigen Erbringung ihrer Arbeitsleistung bewegen. Dabei ging es ihm durchaus um die Gleichwertigkeit der Ansprüche der Unternehmer und der arbeitenden Gesellschaftsschichten. Durch die Planbarkeit und Messbarkeit sah er eine sinnvolle Basis, um Konflikte zu entschärfen. Für ihn war Arbeit Arbeit und Freizeit Freizeit und beide hatten für ihn keinen direkten Bezug zueinander. Diese Einstellung ist auch an den sechs Prinzipien zu erkennen, auf denen seine Methoden basieren [Taylor und Wallichs 2007]:
Diese Prinzipien berücksichtigen realistische Störungen wie Verspätungen, Krankheit oder produzierten Ausschuss nicht weiter, sodass bei der Umsetzung z.B. ein deutlich aufwendigerer bürokratischer Überwachungsprozess und zusätzliche Reserven berücksichtigt werden müssen als vorher. Dennoch war das Scientific Management im 20. Jahrhundert anderen Organisationsformen überlegen und setzte sich bereits in kurzer Zeit in den Industrienationen durch (Abb. 1.1 in der Mitte).
Beflügelt wurde das Scientific Management durch eine Entwicklung aus dem Automobilbau: Henry Ford perfektionierte die von Ransom Olds eingeführte Fließbandproduktion. Die Trennung der Arbeitsschritte konnte nun auf einzelne Handgriffe reduziert werden. Damit einher ging die dramatische Reduktion der Komplexität in den Produktionsprozessen, die durch angelernte Arbeiter durchgeführt werden konnten. Gleichzeitig wuchs die Produktivität innerhalb weniger Jahrzehnte um das Fünfzigfache [Drucker 1999].
Bis in die 1990er-Jahre waren die auf dem Scientific Management basierenden Organisationsformen enorm erfolgreich. Auch das von Taiichi Ohno entwickelte Toyota-Produktionssystem, auf dem die Konzepte von Kanban, Just-in-Time-Produktion und Kaizen basieren und mit dem Toyota seit den 1960er-Jahren die Produktionsverfahren nicht nur im Automobilbau revolutionierte, ist im Kern tayloristisch. Aufgrund der Verfügbarkeit hochwertig ausgebildeter Arbeiter konnte ein Teil der Verantwortung wieder vom Management an die Arbeiter zurückfließen. Oberstes Ziel ist aber weiterhin der konstante Produktionsfluss [Ohno 1993].
Die Wende kam in den 1990er-Jahren, als die wichtigsten Märkte global wurden und damit kurze Zeit später an ihre Grenzen stießen. Es veränderten sich die Rahmenbedingungen. Die schnell wachsenden Unternehmen können nicht mehr weiter wachsen und erfahren einen bislang unbekannten Marktdruck durch dynamische Unternehmen, die sich schneller an diese Veränderungen anpassen. Diese dynamischen Unternehmen verdrängen mehr und mehr die trägeren Organisationen. Durch die Enge haben trägere Unternehmen keine Ausweichmöglichkeit mehr für ihr Wachstum.
Was macht die Trägheit einiger Unternehmen aus und was die Dynamik anderer? Flexible Unternehmen überraschen weniger flexible mit neuen Ideen! Der Marktdruck entsteht wie bereits 100 Jahre vorher durch Konkurrenten, die eine Idee haben, wie sie mit veränderten Rahmenbedingungen sinnvoll umgehen können.
Diese Erkenntnis ist wichtig: Marktdruck entsteht durch innovative Ideen der Konkurrenten und nicht durch die Kunden bzw. Käuferinnen. Daher trägt auch Marktforschung, die die Kunden im Fokus hat, nichts zur Lösung dieses Problems bei. Die Kunden kennen nur, was es bereits gibt. Auf Henry Ford soll das bekannte Zitat zurückgehen: »Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.« Innovation kommt entweder aus dem eigenen Unternehmen oder von der Konkurrenz.
Dynamische Unternehmen, die Marktdruck erzeugen wollen, erhöhen die Komplexität der Arbeit, um reaktionsfähiger zu werden und neue Ideen im direkten Kontakt mit dem Markt zu entwickeln und auszuprobieren. In Abbildung 1.1 ist rechts der erneute Anstieg der Komplexität für eher dynamische Unternehmen zu sehen. Doch was genau macht den Marktdruck dynamischer Unternehmen aus? Sie reagieren schneller und hochwertiger auf Veränderungen der Rahmenbedingungen bzw. schaffen durch innovative Ideen neue Rahmenbedingungen. Eher träge Unternehmen geraten damit unter Zugzwang. Für die Lösung der dadurch entstehenden Probleme benötigen sie jedoch andere Methoden und Strukturen, als die, mit denen sie bislang erfolgreich am Markt agiert haben.
Prominente Beispiele gibt es viele: So hat z.B. der Handymarkt bereits mehrere solche Phasen durchlaufen, wobei ehemalige Marktführer innerhalb kurzer Zeit vor riesige Probleme gestellt wurden. So wurde Siemens u.a. durch den Trend zu Klapphandys überrascht und ist in der Folge vor Jahren aus dem damaligen Markt ausgeschieden. Noch fundamentaler war der Einstieg von Apple in den Smartphone-Bereich. Hier lagen die innovativen Ideen weniger in der Hardware, sondern in der Bedienung und im Design. Als großer Gegenspieler ist Samsung aktiv, ein dynamisches Unternehmen, das überhaupt erst mit seinen Smartphones am weltweiten Handymarkt sichtbar wurde. Ehemalige Marktführer wie Nokia oder RIM hatten das Nachsehen, wobei für die Blackberrys von RIM auch noch der Use-your-own-Device-Trend negative Auswirkungen hatte, da die Blackberrys primär als Firmengeräte eingesetzt wurden. Gerade an einem mit ein bis zwei Modellwechseln pro Jahr extrem dynamischen Markt wie dem der Handys/Smartphones lässt sich diese Dynamik besonders gut erkennen. Natürlich ist diese knappe Darstellung stark vereinfacht und lässt z.B. die Betriebssystemthematik außen vor, die alleine für sich genommen bereits ein weiteres Beispiel für eine veränderte Marktdynamik ist.
Auch reine Softwareunternehmen sind von der erhöhten Dynamik betroffen. So ist der Markt der UML-Werkzeuge durch die Einführung der UML 2 als weltweiten Standard auf den Kopf gestellt worden. Ehemalige Marktführer konnten ihre Produkte nicht schnell genug an die durchgängig metamodellbasierte UML 2 anpassen und wurden von dynamischeren Unternehmen an den Rand gedrängt, die entweder mit brauchbaren Produkten deutlich günstiger waren oder deutlich leistungsfähigere sowie besser bedienbare Produkte hatten. Hier sind die alten Marktführer u.a. durch ihre Softwarealtlasten im Vergleich zu ihren Konkurrenten zu träge geworden. Oder anders ausgedrückt: Der große Erfolg der alten Produkte ging zulasten von Neuentwicklungen. Neueinsteiger in den Markt, die diese Altlasten nicht hatten, konnten freier und damit schneller agieren.